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Mika Waltari

In diesem Zeichen

Kuebler Verlag

DER AUTOR

Mika Waltari (1908–1979) gehörte zu den produktivsten finnischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Er ist in seiner finnischen Heimat nach wie vor äußerst populär und hat dort den Status eines modernen Klassikers. Sein Werk umfasst rund hundert Titel, darunter Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Reiseberichte, Drehbücher und Hörspiele. Im Ausland wurde er besonders durch seine historischen Romane bekannt, denen oftmals der Sprung auf die Bestsellerlisten gelang (Sinuhe der Ägypter, Michael der Finne, Michael el-Hakim, Johannes Angelos, Turms der Unsterbliche, Minutus der Römer und andere). Sie zeichnen sich sämtlich durch sorgfältige Recherche aus und schildern auf packende Weise menschliche Schicksale in verschiedenen Epochen.

DER ROMAN

Der römische Patrizier Marcus Mezentius Manilianus kommt auf seiner Reise durch den Osten des Römischen Reiches nach Jerusalem, wo er im Frühling des Jahres 30 nach christlicher Zeitrechnung eintrifft, am gleichen Tag, an dem dort ein gewisser Jesus aus Nazareth gekreuzigt wird. In einer Reihe von Briefen, die er an seine ehemalige Geliebte Tullia in Rom richtet, versucht Marcus, sich über diesen Jesus klar zu werden: Wer war dieser »König der Juden«, und worin besteht sein Geheimnis? Zu diesem Zweck sucht Marcus auch den Kontakt zu den Jüngern des Gekreuzigten.

In diesem packenden historischen Roman schildert Waltari seine Sicht von der Entstehung des Christentums. Der Bogen spannt sich von der Kreuzigung und Auferstehung Jesu bis hin zu den Ereignissen um Pfingsten.

DER HERAUSGEBER

Die Reihe Mika Waltaris historische Romane, in deren Rahmen In diesem Zeichen erscheint, wird von Andreas Ludden betreut und herausgegeben. Der Herausgeber, der diese Romane auch teilweise neu übersetzt hat, gilt als Kenner der Werke Waltaris und lehrt Finnisch am Baltischen Institut der Universität Münster.

Mika Waltari

In diesem Zeichen

Elf Briefe des Marcus vom Frühjahr des Jahres 30 n. Chr.

Herausgegeben von Andreas Ludden

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Mehr Informationen: www.kueblerverlag.de

Impressum

Erste Auflage 2016

Copyright © 2015 by Kuebler Verlag, Lampertheim

© The Estate of Mika Waltari and WSOY

Original title »Valtakunnan salaisuus«

First published in Finnish by WSOY in 1959, Helsinki, Finland

Bearbeitet von Maximilian Vonderheidt unter Mitbenutzung der Übersetzung von Josef Tichy und der englischen

Übertragung von Naomi Walford.

Herausgeber der Reihe »Mika Waltari«: Andreas Ludden

Umschlaggestaltung: Daniela Hertel, Grafissimo!

unter Verwendung von Fotos und Grafiken von Vadimsadovski, Argus, malkani und Guiseppe Porzani, alle fotolia.com

ISBN Buchausgabe: 978-3-86346-083-9

ISBN Digitalbuch: 978-3-86346-255-0

I

Marcus Mezentius grüßt Tullia

In meinem vorigen Brief, Tullia, schrieb ich dir von den Reisen, die mich den Strom Ägyptens entlang führten. Bis zum Einbruch der Herbststürme habe ich vergebens auf dich gewartet und bin dann den Winter über in Alexandria geblieben. Die Liebessehnsucht machte mich kindisch; kein noch so reicher Kaufmann und kein noch so neugieriger Bummler hätte bei jeder Einfahrt von Seglern aus Ostia oder Brundisium eifriger zum Hafen eilen können. Solange noch Schiffe verkehrten, habe ich mich Tag für Tag am Hafen herumgetrieben, sodass ich schließlich mit meinen Fragen den Wächtern, Zöllnern und Hafenbeamten lästig fiel.

Sicherlich ist dabei mein Wissen bereichert worden, und ich habe vielerlei über ferne Länder erfahren. Aber wer lange vergebens auf das Meer hinausgeblickt hat, dem beginnen schließlich die Augen zu tränen; als das letzte Schiff eingelaufen war, musste ich mir gestehen, dass du wortbrüchig geworden bist. Es ist jetzt ein Jahr her, Tullia, seit wir uns das letzte Mal sahen; und nun stellt sich heraus, dass du mich damals mit falschen Beteuerungen und Zusagen dazu gebracht hast, Rom zu verlassen.

Ich war von Bitterkeit erfüllt, als ich dir jenen Brief schrieb, worin ich dir für immer Lebewohl sagte und die Absicht kundtat, nach Indien – dort herrschen in fremdartigen Städten noch heute griechische Könige, Abkömmlinge der Heerführer Alexanders – auszuwandern. Doch schon neige ich zur Annahme, dass es mir mit dem, was ich schrieb, kaum Ernst gewesen sein mag; ich konnte einfach den Gedanken nicht ertragen, dich, Tullia, niemals mehr wiedersehen zu sollen.

Ein Mann, der das dreißigste Lebensjahr hinter sich hat, darf nicht mehr der Sklave seiner Liebe sein. Ich bin bestimmt ruhiger geworden und die Flammen der Leidenschaft lodern nicht mehr so hoch. In Alexandria hatte meine Unrast mich in zwielichtige Gesellschaft getrieben, und dieses Leben hat meiner Gesundheit sehr zugesetzt. Ich bedaure das nicht; niemand kann den Lauf der Dinge rückgängig oder Getanes ungeschehen machen. Aber da nichts mich befriedigen konnte, weiß ich jetzt umso bestimmter, dass ich dich liebe. Deshalb möchte ich dich daran mahnen, geliebte Tullia, dass eines Tages auch deine blühende Jugendlichkeit welken, Dein glattes Gesicht Runzeln bekommen und der Blick deiner Augen sich trüben wird, dass dir die Haare ergrauen und die Zähne ausfallen werden. Vielleicht wird es dir dann leidtun, deine Liebe dem Ehrgeiz und politischem Einfluss geopfert zu haben. Denn dass du mich liebtest, davon bin ich überzeugt. An deinen Schwüren kann ich nicht zweifeln; sonst würde mir nichts auf dieser Welt jemals mehr etwas bedeuten. Du hast mich geliebt; ob du es aber noch tust, weiß ich nicht.

In meinen besseren Augenblicken glaube ich, dass du wirklich nur mir zuliebe – um mich vor Gefahren zu schützen, die mein Eigentum und vielleicht sogar mein Leben bedrohten – mich mit trügerischen Versprechungen bewogen hast, Rom zu verlassen. Ich wäre nie gegangen, wenn du mir nicht geschworen hättest, auch nach Alexandria zu kommen und den Winter dort mit mir zu verbringen. Viele andere hochgestellte Damen sind schon, ohne ihre Ehemänner, für den Winter nach Ägypten gereist und werden es, falls meine Kenntnis der Römerinnen mich nicht ganz täuscht, auch weiterhin so halten. Jetzt, da der Schiffsverkehr wieder aufgenommen wurde, hättest du heimfahren können. Eine Reihe von Monaten aber wären wir beisammen gewesen, Tullia.

Stattdessen habe ich mir während dieser Monate Körper und Geist zerrüttet. Eine Zeitlang war ich auf Reisen, bis ich es müde wurde, deinen Namen und meine Liebe auf uralten Denkmalen und Tempelsäulen einzuritzen. Aus lauter Überdruss ließ ich mich sogar in die Isis-Mysterien einweihen; aber offenbar war ich älter und verhärteter als in jener unvergesslichen Nacht zu Baiae, da wir beide, du und ich, uns dem Dionysos weihten. Die damalige Verzückung blieb mir nun versagt. Ich vermochte nicht, diesen Priestern mit ihren kahlgeschorenen Köpfen Glauben zu schenken. Nachher hatte ich bloß die Empfindung, ein sehr belangloses Stückchen Wissen weit überzahlt zu haben.

Denke indessen keineswegs, dass ich nur mit Isispriestern und ihren Tempelfrauen Umgang pflegte! Auch mit Schauspielern und Sängern habe ich Bekanntschaften geschlossen und sogar mit Stierkämpfern aus der Arena. Ferner habe ich mir einige alte griechische Theaterstücke angesehen, die es wert wären, dass jemand sie, wenn ihn nach dieser Art Ruhm gelüstet, ins Lateinische übersetzt und für unsere Bühnen bearbeitet. Ich erwähne das alles, um zu zeigen, dass mir die Monate in Ägypten nicht zu lang wurden. Alexandria ist eine Weltstadt – verfeinerter, abgelebter, kräfteverschleißender als Rom.

Immerhin habe ich die meiste Zeit im Museion verbracht, in der Bibliothek nahe dem Hafen. Eigentlich handelt es sich um eine Anzahl von Bibliotheken und Forschungseinrichtungen, um eine Gebäudegruppe, die ein ganzes Stadtviertel bildet. Die alten Beamten dort, die noch in der Vergangenheit leben, haben mir darüber geklagt, wie armselig die Büchersammlung jetzt sei; nie mehr könne sie ihren alten Glanz wiedergewinnen, seit Julius Cäsar hier belagert wurde und die ägyptische Flotte im Hafen in Brand schoss. Bei diesen Kämpfen gingen auch einige Bibliotheksgebäude in Flammen auf und mit ihnen an die hunderttausend unersetzliche Bücherrollen mit Werken der alten Schriftsteller.

Trotzdem brauchte ich Wochen, ehe ich auch nur die Kataloge benützen lernte und den Dingen, nach denen ich forschte, auf die Spur kam. Es gibt allein Zehntausende von Rollen mit Anmerkungen zur Ilias, gar nicht zu reden von den in je einem eigenen Gebäude untergebrachten Kommentaren zu Plato und Aristoteles. Darüber hinaus liegen hier zahllose Rollen, die nie in einem Katalog verzeichnet und wahrscheinlich seit ihrer Aufnahme in die Sammlung kaum je von einem Menschen gelesen wurden.

Aus naheliegenden politischen Erwägungen gaben die Beamten sich keine besondere Mühe, mir die alten Weissagungen zugänglich zu machen oder auch nur bei der Suche darnach zu helfen. Ich war gezwungen, mich auf Umwegen vorzutasten und das Vertrauen der Bibliothekare durch Geschenke und Bewirtungen zu gewinnen. Diese Leute sind kärglich entlohnt und selber vermögenslos, so wie gewöhnlich die großen Gelehrten und wie jene Männer, die Bücher höher schätzen als ihr Leben, höher als ihr Augenlicht.

So gelang es mir schließlich, in verborgenen Winkeln der Bibliothek eine ganze Reihe teils berühmter, teils vergessener Prophezeiungen aufzustöbern. Natürlich wurden zu allen Zeiten und bei allen Völkern gleichartige Vorhersagen gemacht. Sie sind durchwegs dunkel und von ärgerlicher Vieldeutigkeit, wie die Aussprüche eines Orakels. Häufig habe ich, offen gestanden, diesen ganzen Kram beiseitegeschoben und mich in eine griechische Erzählung vertieft, mit ihrem unbeschwerten Geflunker über Reisen und Abenteuer. Und dann fasste mich das Verlangen, jene einander widersprechenden Prophezeiungen auf sich beruhen zu lassen und nach dem Muster dieser Fabeleien selbst ein Buch ganz eigener Erfindung zu verfassen. Aber trotz meiner Abkunft bin ich zu sehr Römer, um irgendetwas frei Erdachtes niederzuschreiben.

In der Bibliothek gibt es auch Schriften über die Liebeskunst, bei deren Lektüre unser guter Ovid sich wie ein Waisenknabe vorgekommen wäre. Einige davon sind griechischen Ursprungs, andere stellen Übersetzungen alter ägyptischer Bücher ins Griechische dar, und ich weiß wirklich nicht, welchen der Vorzug gebührt. Aber wenn man ein paar dieser Bücher gelesen hat, bekommt man bald genug von ihnen. Seit den Tagen des göttlichen Augustus werden diese Werke in besonderen Geheimräumen verwahrt, und man darf sie nicht abschreiben. Auch das Lesen ist nur zu Forschungszwecken gestattet.

Um jedoch auf die Prophezeiungen zurückzukommen – es gibt da alte und neue. Die alten hat man schon auf Alexander bezogen und jetzt selbstredend auch auf Caesar Augustus, der die Welt befriedet hat. Aus den verschiedenen Deutungen dieser Vorhersagen wird mir immer klarer, dass es für einen Gelehrten keine größere Versuchung gibt als die, solche Sprüche im Licht seiner eigenen Zeit und seiner eigenen Erwartung zu sehen.

Trotzdem bin ich von einem überzeugt, und alles, was wir selbst erlebt haben, bestärkt nur diese Überzeugung, die sogar von den Sternen bekräftigt wird: die Welt tritt in eine neue Ära, deren Zeichen sie von allen vergangenen Zeitaltern unterscheiden. Diese Tatsache ist so klar und augenscheinlich, dass Astrologen in Alexandria und Chaldäa, Rhodos und Rom sich darüber einig sind; ihnen allen scheint es natürlich und sinnvoll, mit dem Sternbild der Fische die Geburt eines Weltherrschers in Verbindung zu bringen.

Vielleicht ist damit Cäsar Augustus gemeint, der in den Provinzen schon bei Lebzeiten als Gott verehrt wurde. Aber wie ich dir in Rom erzählte, hat mein Pflegevater Marcus Manilius in seinem Werk Astronomica eine Konjunktion von Saturn und Jupiter in den Fischen erwähnt. Bei der Herausgabe seines Buches hat er zwar diesen Hinweis aus politischen Gründen gestrichen; aber auch in Ägypten beziehen die Sterndeuter sich auf diese Konstellation. Allerdings müsste der künftige Weltherrscher, wenn er damals zur Welt gekommen wäre, jetzt siebenunddreißig Jahre alt sein, und inzwischen hätte man sicherlich etwas von ihm gehört.

Du wirst dich wohl darüber wundern, dass ich jetzt so offen in einem Brief auf etwas zu sprechen komme, was ich dir, als in Baiae die Rosen blühten und ich glaubte, niemand in der Welt verstände mich so gut wie du, Tullia, eines Morgens als tiefstes Geheimnis ins Ohr geflüstert habe. Aber jetzt bin ich erfahrener und kann zu solchen Prophezeiungen als erwachsener Mann Stellung nehmen. Ein halbblinder Greis in der Bibliothek hat spöttisch zu mir bemerkt, Vorhersagen seien etwas für junge Leute. Wenn man einmal tausend Bücher gelesen habe, beginne einem eine niederschmetternde Wahrheit zu dämmern; nach dem zehntausendsten werde man trübsinnig.

Auch aus einem anderen Grund schreibe ich offen und zwar deshalb, weil heutzutage ohnedies niemand etwas geheim zu halten vermag. Selbst das vertraulichste Gespräch kann belauscht und weitererzählt werden und es gibt keinen Brief, den nicht ein Unberufener lesen und nötigenfalls abschreiben könnte. Wir leben in einer Zeit des Misstrauens, und ich bin zu dem Schluss gelangt, dass man am besten durchkommt, wenn man freimütig spricht und schreibt, genauso wie man denkt.

Dank der letztwilligen Verfügung, von der du weißt, bin ich so wohlhabend, dass ich mir alles Nötige leisten kann, aber nicht so reich, dass es sich lohnen würde, mich umzubringen. Infolge meiner Abkunft kann ich mich um kein Staatsamt bewerben und ich würde es auch gar nicht wünschen. Diese Art von Ehrgeiz ist mir fremd.

Ostwärts wiesen mich die Sterne. Um mich loszuwerden, hast du, falsche Tullia, mich dazu überredet, Rom zu verlassen, weil ich dir lästig geworden bin. Habe ich nicht schon seinerzeit voll trotziger Verwegenheit geschworen, den künftigen Weltbeherrscher ausfindig zu machen, weil es hoch an der Zeit sei, dass er kommt? Ich wollte einer seiner ersten Gefolgsleute sein; ich wollte in seinen Dienst treten und seinen Sold nehmen, um eines Tages würdig zu sein, dein vierter oder fünfter Gatte zu werden. Wie musst du mich innerlich ausgelacht haben!

Sei übrigens unbesorgt! Nicht einmal dieses Vorhaben wird irgendwen veranlassen, mir nach dem Leben zu trachten. Bisher hat man keinerlei Anzeichen für einen Weltherrscher gesehen oder gehört. So etwas wäre sofort bekannt geworden, besonders in Alexandria, dem Nabel der Welt, dem Mittelpunkt allen Klatsches und Ränkespiels und aller Philosophie. Nebenbei bemerkt, auch Tiberius selbst kennt diese Konjunktion von Jupiter und Saturn vor siebenunddreißig Jahren. Und jener Mann, dessen Name in einem Brief nicht erwähnt zu werden braucht, weiß ebenfalls von all dem. Aber er ist fest davon überzeugt, dass dieser König nicht aus dem Osten kommen wird.

Tullia, Geliebte, mir ist sehr wohl bewusst, dass dieses Studium der Weissagungen für mich nur ein Lückenbüßer war, bloß ein Mittel, um mich von dir abzulenken. Wenn ich morgens erwache, bist du mein erster Gedanke, wenn ich abends einschlafe, mein letzter. Ich habe von dir geträumt und lag deinetwegen wach. Keinem Mann ersetzt eine Bücherrolle die Frau, die er liebt.

Aus den Prophezeiungen bin ich an die Heiligen Schriften der Juden geraten. In Alexandria wirkt ein jüdischer Philosoph namens Philo, der diese Schriften symbolisch deutet, wie Griechen und Römer es mit Homer tun. Er meint, auf diese Weise die jüdische Religion mit Hilfe der griechischen Philosophie verständlich machen zu können.

Du kennst die Juden und ihren Glauben. Auch in Rom sondern sie sich ja ab und opfern unseren Göttern nicht. Deshalb empfinden manche Leute ehrfürchtige Scheu vor ihnen, und eine Anzahl von Familien hat schon die Sitte übernommen, jeden siebten Tag nach Art der Juden als Ruhetag zu halten. Im Allgemeinen jedoch verachtet man die Juden, weil sie nur einen einzigen Gott haben und von ihm, soviel man weiß, nicht einmal ein Abbild besitzen.

Jedenfalls ist in ihren Heiligen Büchern eine Weissagung von den ältesten Zeiten her lebendig geblieben: sie bezieht sich auf einen künftigen Weltherrscher. Ihre Propheten haben sie mehrfach wiederholt, sodass sie unter allen Vorhersagen am getreulichsten überliefert ist. Den erwarteten Weltherrscher nennen sie Messias. Sobald er zur Macht gelangt, werden die Juden, so erhoffen sie sich, über die gesamte Erde gebieten. Diese Anmaßung entspringt zweifellos den Wunschträumen des ganzen Volkes, dessen Schicksal so unglücklich und beschämend war: eine Zeit der Sklaverei in Ägypten und dann eine ähnliche Knechtschaft in Babylon, bis die Perser ihnen die Rückkehr in ihre Heimat gestatteten. Auch ihr Tempel ist einige Mal zerstört worden, erst jüngst wieder durch Pompeius, obwohl das unabsichtlich geschehen sein mag. Sie unterscheiden sich von anderen Völkern auch dadurch, dass sie bloß einen einzigen Tempel haben; er steht in ihrer Heiligen Stadt, in Jerusalem. Die Synagogen, die sie überall besitzen, sind keine Tempel, sondern Versammlungshäuser, wo sie ihre Heiligen Schriften gemeinsam in lauten Gesängen rezitieren und einander auslegen.

Diese Weissagung, unter den Juden werde ein Weltkönig geboren werden, durch den sie einst die ganze Erde beherrschen würden, trägt ihnen viel Hass ein. Darum rühmen sie sich nicht mehr ihres Wissens, sondern behalten es im Allgemeinen bei sich und schließen sich von anderen Völkern ab.

Andererseits machen sie aus der Prophezeiung kein Geheimnis. Wenn ihre Gelehrten einem Fremden wirkliches Interesse anmerken, helfen sie ihm bereitwillig bei der Ergründung ihrer Heiligen Schriften. Zumindest in Alexandria verhält es sich so. Manche Autoritäten, darunter Philo, legen die Messiasverkündung als Gleichnis aus; andere jedoch haben mir versichert, sie sei buchstäblich aufzufassen. Ehrlich gesagt, man müsste wohl von Kind auf in ihrer Religion aufgewachsen sein, um diesen vieldeutigen Schriften irgendwelchen wirklichen Glauben entgegenzubringen. Im Vergleich mit den verworrenen Wahrsagereien der übrigen Welt muss ich allerdings gerade die erwähnte jüdische Prophezeiung als die klarste anerkennen.

Die jüdischen Gelehrten in Alexandria sind Freidenker, und zweifellos gibt es unter ihnen echte Philosophen, die sogar bereit sind, sich mit einem Fremdling an einen Tisch zu setzen. Mit einem von ihnen bin ich gut Freund geworden und wir haben gemeinsam ungewässerten Wein getrunken. Solche Dinge gibt es in Alexandria! Als er bezecht war, sprach er sehr begeistert vom Messias und von der künftigen Weltherrschaft der Juden.

Zum Beweis dafür, wie buchstäblich die Juden – auch ihre Führer – an die Messias-Weissagung glauben, erzählte er mir, ihr großer König Herodes habe ein paar Jahre vor seinem Tod in einer ganzen Ortschaft alle kürzlich geborenen Knaben ermorden lassen. In diese Ortschaft waren nämlich, einem Stern folgend, Weise aus Chaldäa gereist und hatten dann dem Herodes ganz harmlos berichtet, dort sei der künftige König zur Welt gekommen. Herodes aber wünschte, den Thron für seine eigene Familie zu sichern. Diese Geschichte deutet darauf hin, dass er so misstrauisch war wie ein gewisser anderer Herrscher, der sich als alter Mann auf eine Insel zurückzog.

Du wirst verstehen, Tullia, dass die grausige Geschichte mir im Kopf herumgegangen ist. Aus dem Todesjahr des Herodes kann man leicht zurückrechnen, dass die Metzelei gerade zur Zeit der Begegnung von Saturn und Jupiter stattgefunden haben muss. Der Vorfall beweist, dass die Sternkonstellation unter den Juden und den Weisen des Ostens ebenso viel Aufsehen erregte wie in Rhodos und Rom.

Ich fragte: »Glaubst du also, dass der künftige Messias schon in der Wiege umgebracht wurde?«

Der junge jüdische Gelehrte mit seinem weinfeuchten Bart lachte und sagte: »Wer könnte den Messias töten? Herodes war krank und ein Wirrkopf.«

Immerhin erschrak er ein wenig und fügte, um sich blickend, hinzu: »Du darfst aber nicht meinen, dass damals wirklich der Messias zur Welt kam. Ein Zeitpunkt dafür ist in den Prophezeiungen nirgends angegeben. Unterdessen hätten wir bestimmt schon etwas von ihm gehört. Übrigens taucht in jeder Generation irgendein falscher Messias auf und stiftet in Jerusalem unter den einfältigen Leuten Unfrieden.«

Doch der von mir aufgeworfene Gedanke ließ ihn nicht los, und als wir noch mehr Wein getrunken hatten, sagte er beziehungsvoll: »In jenen Tagen sind aus Jerusalem und anderen Orten viele Menschen hierher nach Ägypten geflohen. Manche blieben, die meisten aber gingen nach dem Tod des Herodes wieder heim.«

»Zielst du darauf ab«, fragte ich, »dass der Messias vielleicht doch zur Welt gekommen ist und vor Herodes nach Ägypten in Sicherheit gebracht wurde?«

Er antwortete: »Ich bin Sadduzäer.« Damit wollte er andeuten, er sei ein Mann von Welt und fühle sich an die überlieferten Bräuche der Juden nicht allzu sehr gebunden.

»Deshalb betrachte ich die Dinge kritisch«, fuhr er fort. »Ich glaube auch, im Gegensatz zu den Pharisäern, nicht an die Unsterblichkeit der Seele. Wenn der Mensch stirbt, welkt er hin und hat keinen Bestand. So steht es geschrieben. Da wir nur dieses eine Mal auf der Erde leben, ist es bloß vernünftig, dem Dasein einiges Vergnügen abzugewinnen. Unsere großen Könige haben sich nichts versagt; ein Übermaß an Lebensgenuss hat allerdings schließlich das Gemüt des weißen Salomo verdüstert. Indessen gibt es auch bei dem gebildetsten Menschen einen Winkel des Herzens, wo sich noch kindliche Frömmigkeit verbirgt. Und besonders wenn man – was ja zu den verbotenen Genüssen gehört – ungewässerten Wein getrunken hat, glaubt man Sachen, die man bei klarem Kopf ablehnen würde. Darum will ich dir jetzt eine Geschichte erzählen, die ich gehört habe, als ich zwölf Jahre alt und ein junger Mann geworden war.«

Er begann: »An unserem Ruhetag darf niemand körperliche Arbeit verrichten. Nun war zur Zeit des Königs Herodes auch aus Bethlehem im Land Judäa ein alter Handwerker geflohen, mit seinem jungen Weib und einem neugeborenen Kind. In Ägypten, mitten in den Balsamgärten, hatten sie sich niedergelassen und wohnten dort. Durch seiner Hände Arbeit erhielt der Mann sich und seine Familie, und niemand konnte den Leuten etwas Übles nachsagen. Eines Sabbats aber ertappten einige Juden des Dorfes den drei Jahre alten Flüchtlingsjungen dabei, wie er Tonfiguren von Schwalben formte und brannte. Die Männer holten die Mutter herbei, weil er gegen das Gesetz und die Sabbatruhe verstoßen habe. Aber der Knabe blies die tönernen Gebilde an, und sie flogen auf und davon wie lebendige Vögel. Bald darauf verließ die Familie die Ortschaft.«

»Erwartest du von mir, dass ich ein solches Ammenmärchen glaube?«, fragte ich verwundert; ich hatte meinen Bekannten für einen aufgeklärten Menschen gehalten.

Er schüttelte den Kopf und starrte mit seinen gewölbten Judenaugen vor sich hin. Er war ein stattlicher, selbstbewusster Mann, so wie viele Juden aus alten Geschlechtern. »Keineswegs«, versicherte er mir. »Nur beweist meiner Meinung nach die Entstehung einer solchen Fabel, dass zu Herodes’ Zeiten eine besonders fromme oder aber, bei aller äußerlichen Bescheidenheit, unter den Leuten besonders angesehene Familie hierher nach Ägypten geflohen ist. Wenn man eine vernunftgemäße Erklärung für den Ursprung einer derartigen Legende wünscht, so mag vielleicht die Mutter des kleinen Sabbatschänders ihn mit so treffenden, so beflügelten Worten aus den Heiligen Schriften verteidigt haben, dass die Ankläger zum Schweigen gebracht wurden. Aber die richtige Deutung kann derart verwickelt sein, dass sie in Vergessenheit geriet. Mit Hilfe unserer Schriften lässt sich ja alles Erdenkliche beweisen. Und später, als die Familie wieder verschwand – ebenso unbemerkt, wie sie aus Judäa gekommen war –, wurde die Begebenheit auf eine Weise umgemodelt, dass sie auch für die Kinder verständlich wurde.«

Er schloss mit den Worten: »Ach, hätte ich bloß noch das Gemüt eines Kindes und könnte die Worte der Schrift nach Kinderart glauben! So zu leben wäre leichter, als an der Grenzlinie zweier Welten dahinzutorkeln. Ein Grieche kann ich nie werden, und ein Sohn Abrahams bin ich in meinem Herzen nicht mehr.«

Am nächsten Tag tat mir der Kopf weh und ich fühlte mich elend, nicht zum ersten Mal in Alexandria. Ich verbrachte den Tag in den Thermen. Nach Bad, Massage, Gymnastik und einem guten Essen überkam mich ein traumhafter Zustand. Die Außenwelt schien sich von mir zurückgezogen zu haben, und mein eigener Körper wurde schattenhaft. Dieses Gefühl kenne ich sehr gut; es rührt von meinen Ahnen her. Nicht umsonst führe ich den Namen Mezentius, der in mythische Vorzeit zurückweist. In einem solchen Zustand ist man überaus empfänglich für Vorzeichen, obwohl es auch da außerordentlich schwer ist, Wirklichkeit und Täuschung zu unterscheiden.

Als ich aus der kühlen Säulenhalle der Thermen trat, überfiel mich die Hitze der Straße, und die Abendsonne gleißte mir in die Augen wie ein Blitz. Meine merkwürdige Gemütsverfassung hielt an. Ich ging durch die menschenerfüllten Straßen, ohne auf den Weg zu achten. Als ich so, wie geistesabwesend, im Sonnenlicht dahinwanderte, fasste mich ein Fremdenführer, der in mir einen Vergnügungsreisenden vermutete, am Mantel und begann mir zungenfertig den Besuch von Sehenswürdigkeiten zu empfehlen: die Freudenhäuser in Kanopos, den Feuchtturm auf der Insel Pharos, den Apis-Stier in seinem Tempel. Der Mann war hartnäckig, und ich wurde seinen Wortschwall erst los, als ein lautes Rufen ihn unterbrach. Dann wies der Mann mit einem schmutzigen Finger auf den Schreienden und rief lachend: »Schau dir diesen Juden an!«

An der Ecke des Gemüsemarkts stand ein in Felle gekleideter Mann mit struppigem Bart und Kopfhaar, vom Fasten abgemagertem Gesicht und wundgelaufenen Füßen. Ständig wiederholte er laut auf Aramäisch die gleiche eintönige Botschaft, und in seinem Gesicht rollten die Augen. Der Fremdenführer meinte: »Wahrscheinlich verstehst du nicht, was er sagt.«

Aber, wie du weißt, spreche ich seit meiner Jugend in Antiochia das Aramäische gut. Damals, ehe ich in Rhodos zur Schule ging und meine Ansprüche an das Leben klarer erkannte, hatte ich ernstlich daran gedacht, bei irgendeinem Prokurator im Osten Sekretär zu werden.

Darum verstand ich sehr wohl, was dieser jüdische Sektierer aus der Wüste verkündete. Er schrie immer wieder mit vor Anstrengung schon heiserer Stimme: »Wer Ohren hat zu hören, der höre! Das Reich ist nahe. Ebnet die Pfade!«

Der Fremdenführer erläuterte: »Er kündet das Auftreten eines jüdischen Königs an. Solcher Hohlköpfe schwärmen derart viele aus der Wüste in die Stadt, dass die Polizei sich nicht einmal mehr die Mühe macht, alle wieder hinauszupeitschen. Überdies ist es politisch sehr geschickt, die Juden in Streitigkeiten untereinander zu verwickeln. Solange sie sich gegenseitig in den Haaren liegen, haben wir Gymnasion-Leute Ruhe vor ihnen. Es gibt keine mordgierigeren Menschen als die Juden. Zum Glück hassen ihre verschiedenen Parteien einander mehr als uns Heiden, wie sie uns nennen.«

Unterdessen rief die heisere, brüchige Stimme stets von neuem die gleichen Worte, sodass sie sich schließlich meinem Gedächtnis unvergesslich einprägten. Diese Stimme verkündete die baldige Gründung eines Reiches, und in meinem augenblicklichen Seelenzustand konnte ich den Ruf nur als für mich bestimmtes Vorzeichen auffassen. Mir war, als hätten plötzlich jene Weissagungen, die ich den ganzen Winter über studiert hatte, die Masken dunkler Ausdrucksweise abgeworfen und ständen vor mir, zu einer einzigen klaren Aussage vereint: »Das Reich ist nahe.«

Noch immer hielt der Fremdenführer mich am Mantelzipfel fest und schwatzte weiter. »Bald kommt Pessach, das jüdische Osterfest«, erzählte er. »In Kürze verlassen die letzten Karawanen und Schiffe mit Pilgern nach Jerusalem unsere Stadt. Ich bin schon neugierig, was für Keilereien es dieses Jahr wieder dort drüben geben wird.«

Unwillkürlich bemerkte ich: »Interessant wäre es ja, einmal die Heilige Stadt der Juden zu sehen.«

Diese Worte begeisterten den Mann derart, dass er loslegte: »Ein sehr kluger Wunsch, Herr! Der Tempel des Herodes ist nämlich eines der Weltwunder. Wer den auf seinen Reisen nicht besucht hat, der hat überhaupt nichts gesehen. Und wegen Keilereien, wie ich es ausdrückte, da brauchst du dich keineswegs zu ängstigen; ich habe nur einen Scherz gemacht. In ganz Judäa ist man auf den Straßen sicher, und in Jerusalem herrscht römische Zucht. Eine ganze Legion liegt im Land, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Komm nur ein paar Schritte mit mir! Durch meine guten Beziehungen kann ich dir bestimmt noch einen Platz auf einem Schiff nach Joppe oder Cäsarea verschaffen. Natürlich wird man zuerst sagen, dass wegen des Pessachfestes alles voll besetzt ist; aber ich werde mich schon für dich verwenden. Das wäre doch wirklich ein Skandal, wenn ein so vornehmer Römer wie du nicht auf einem Passagierschiff unterkäme.«

Er schleppte mich so eifrig am Mantel mit sich, dass ich fast ohne mein Zutun hinter ihm her in das Kontor eines syrischen Reeders gelangte, das tatsächlich bloß einige Schritte vom Gemüsemarkt entfernt lag. Bald stellte ich fest, dass ich nicht der einzige Fremde war, der über Ostern nach Jerusalem wollte. Neben Juden aus allen Teilen der Welt gab es hier auch viele Vergnügungsreisende, die etwas Neues sehen wollten.

Nachdem der Fremdenführer eine Zeit lang meinetwegen so wutentbrannt gefeilscht hatte, wie nur ein Grieche mit einem Syrer feilschen kann, wurde ich plötzlich gewahr, dass ich eine Koje in einem nach Judäa bestimmten Pilgerschiff gemietet hatte. Man versicherte mir, es sei das einzige und letzte noch vor Ostern von Alexandria abgehende Schiff. Das Auslaufen habe sich deshalb verzögert, weil der Segler funkelnagelneu sei und auf einige letzte Ausrüstungsstücke habe warten müssen. Am nächsten Morgen aber werde er seine Jungfernfahrt antreten. Mit meiner Buchung für dieses Schiff sei ich auch der Angst vor dem dickkrustigen Schmutz und dem Ungeziefer enthoben, die sonst Seereisen an dieser Küste so widerwärtig machten.

Mein Fürsprecher knöpfte mir für seine Dienste fünf Drachmen ab; aber ich gönnte sie ihm, weil ich ein Vorzeichen empfangen und eine Entscheidung getroffen hatte. Er blieb im Kontor und freute sich schon darauf, auch dem Angestellten der Reederei eine Provision abpressen zu können. Am gleichen Abend suchte ich meinen Bankier auf und ließ mir einen in Jerusalem einzulösenden Kreditbrief ausstellen, da ich als erfahrener Reisender nicht überflüssigerweise große Summen Bargeld unterwegs bei mir tragen wollte. Ich zahlte meine Rechnung im Gasthof und beglich verschiedene andere Schulden. Im Lauf des Abends verabschiedete ich mich noch von jenen Bekannten, die ich nicht gut ohne ein Lebewohl verlassen konnte. Um mir spöttische Bemerkungen zu ersparen, sagte ich niemandem, wohin ich fuhr, sondern erklärte einfach, ich ginge auf Reisen und würde spätestens im Herbst zurückkommen.

In der Nacht lag ich lange wach und spürte stärker denn je, wie sehr der hektische Winter in Alexandria mir Geist und Körper gelähmt hatte. Diese Stadt mag mit allen ihren Sehenswürdigkeiten ein Weltwunder sein; dennoch kam mir vor, dass ich sie gerade noch verließ, ehe es zu spät wurde. Wäre ich länger geblieben, so hätte mich jene Seuche ergriffen, die in dieser so genussgierigen, so von der Weisheitslehre Griechenlands angekränkelten Stadt umgeht. Wer wie ich in Alexandria zu erschlaffen begonnen hat, kann, wenn er zu lange zaudert, leicht sein ganzes restliches Leben dort tatenlos verdämmern.

Deshalb dachte ich, eine Seereise und ein paar Tage unbeschwerten Wanderns auf den Römerstraßen Judäas würden mir an Leib und Seele wohltun. Aber es kam so wie gewöhnlich in solchen Fällen: als ich am nächsten Morgen, um das Schiff zu erreichen, in aller Frühe nach allzu kurzem Schlaf geweckt wurde, konnte ich mich nur fluchend selber einen ausgemachten Esel heißen, weil ich alle Annehmlichkeiten eines gesitteten Lebens aufgab, um das fremde, feindliche Judenland aufzusuchen und dort einem aus ein paar dunklen, orakelhaften Aussprüchen entsprungenen Hirngespinst nachzujagen.

Es trug keineswegs zu meiner Besänftigung bei, als ich am Hafen angekommen, feststellen musste, dass ich unvorstellbar schändlich hereingelegt worden war. Erst nach langem Suchen und Herumfragen entdeckte ich das Schiff und konnte zunächst nicht glauben, dass dieser erbärmliche, morsche, alte Kasten jenes »funkelnagelneue« Schiff sein sollte, von dem der Syrer behauptet hatte, es werde gerade erst für seine Jungfernfahrt ausgerüstet. Dass es gestern noch nicht reisefertig gewesen war, mochte allerdings zweifellos zutreffen; denn es hätte kaum noch schwimmen können, wäre es nicht bis zum letzten Augenblick kalfatert und geteert worden. Auf dem Schiff roch es wie in den Freudenhäusern von Kanopos; der Reeder hatte nämlich billigen Weihrauch verbrennen lassen, um die anderen Düfte an Bord zu überdecken. Über die verrotteten Schiffsflanken waren farbige Tücher gehängt, und man hatte vom Markt eine Ladung welkender Blumen gebracht, um das Auslaufen festlich zu gestalten.

Kurz gesagt, dieser in aller Eile überteerte und zur Not seetüchtig gemachte Kasten sah in seiner Vermummung einer alten Hafendirne gleich, die sich erst dann ans Tageslicht wagt, wenn sie sich rasch von Kopf bis Fuß in buntscheckige Fähnchen gehüllt, ihre Wangenrunzeln übermalt und dafür gesorgt hat, dass der Duft ihres billigen Parfüms sich längs ihres Weges verbreitet. Und den verschlagenen, hoffnungslos ernüchterten Blick eines solchen Wesens glaubte ich auch in den Augen des Zahlmeisters zu entdecken, als er mich mit der feierlichen Beteuerung, ich sei schon auf dem richtigen Schiff, empfing und zu meiner Koje führte, mitten zwischen Menschen, die schrien und johlten, weinten und zankten und in vielen verschiedenen Sprachen Abschiedsworte riefen.

Trotz alledem konnte ich mich im Nachhinein nicht einmal mehr ärgern; ich musste einfach lachen. Schließlich braucht niemand sich aus eigenem Antrieb in Ungelegenheiten zu stürzen; er kann ihnen kraft seines gesunden Menschenverstandes ausweichen. Andererseits wird das Leben, wenn man jedes Wagnis scheut, unerträglich. Ich habe die Vorträge einer ganzen Anzahl von Philosophen gehört, die mich in der Überzeugung bestärkten, dass der Mensch auch durch die größte Vorsicht die ihm zugeteilte Daseinsfrist nicht um einen Augenblick verlängern kann.

Wohl gibt es sogar heutzutage noch selbstsüchtige und abergläubische Geldleute, die das römische Gesetz missachten und der dreiköpfigen Göttin einen jungen Sklaven opfern, um durch die ihm entzogene Lebensspanne ihr eigenes Dasein zu verlängern. In allen größeren Städten des Ostens kann man einen Magier oder einen abtrünnigen Priester finden, der die zugehörigen Zauberworte kennt und gegen beträchtliches Entgelt bereit ist, diese Art von Opfer zu vollziehen. Meiner Ansicht nach ist das jedoch glatte Selbsttäuschung und grausamer Irrsinn. Gewiss hat das Menschengeschlecht eine unbegrenzte Fähigkeit, sich selbst zu betören und zu glauben, was man erhofft; aber ich denke, auch wenn ich ein hohes Alter erreichen sollte, werde ich den Tod nicht so sehr fürchten, dass ich einer solchen Verblendung anheimfiele.

In meiner lächerlichen Lage tröstete ich mich damit, dass das Schiff längs der Küste fahren würde und dass ich ein guter Schwimmer bin. Übermütiger Frohsinn bemächtigte sich meiner, und ich hegte keinen Groll mehr wegen des Betrugs, dem ich zum Opfer gefallen war. Ich beschloss, allem die beste Seite abzugewinnen und die Reise zu genießen, um später – mit den gebührenden Übertreibungen – eine ergötzliche Geschichte über die durchgemachten Mühsale und Unbilden erzählen zu können.

Die Anker wurden gelichtet, die Ruder begannen zu schwingen und klapperten regelmäßig gegeneinander, das Schiffsheck löste sich vom Kai, und der Kapitän goss als Trankopfer für die Glücksgöttin eine Schale Wein über Bord. Er hätte keiner passenderen Gottheit die Spende darbieten können; offenbar wusste er selber am besten, dass wir Glück brauchten, um überhaupt an unseren Bestimmungsort zu kommen. Die jüdischen Fahrgäste hoben die Arme und riefen in ihrer heiligen Sprache ihren Gott um Beistand in den Gefahren des Meeres an. Auf dem Vorderdeck begann ein girlandengeschmücktes Mädchen die Saiten einer Lyra zu zupfen, während ein junger Mann dazu eine Flöte blies, und es dauerte nicht lange, so war der neueste alexandrinische Schlager mit Gesang und Musikbegleitung in vollem Gange. Die jüdischen Pilger stellten mit Schaudern fest, dass wir eine Truppe wandernder Schauspieler an Bord hatten; aber sich darüber zu beschweren, hätte jetzt nichts mehr genützt. Übrigens bildeten wir, die in ihren Augen Unreinen, die Mehrheit der Passagiere, und die verspäteten Pilger waren keine reichen Juden. Sie mussten sich mit den Schatten, die wir auf sie warfen, abfinden und darauf beschränken, unablässig ihre Speisegeschirre zu reinigen.

Heutzutage ist Einsamkeit der kostbarste aller Genüsse. Deshalb konnte ich es nie leiden, dass Sklaven sich um mich herumdrehen und jeden meiner Schritte, jeden meiner Blicke beobachten. Mir tun die Menschen leid, die ihre Stellung oder ihre Bequemlichkeit dazu zwingt, ihr ganzes Leben, Tag und Nacht, von Sklaven umgeben zu verbringen. Während der Schiffsreise allerdings musste ich Wasser in den Wein meiner Einsamkeitsliebe gießen und die Schlafstätte mit den verschiedenartigsten, zum Teil sehr zweifelhaften Leuten teilen. Glücklicherweise hatten die jüdischen Passagiere ihren abgesonderten Schlafraum und auch besondere Feuerstellen in Sandkisten, wo sie ihre eigenen Speisen bereiten konnten. Sonst wären sie an der judäischen Küste derart im Glauben verunreinigt angekommen, dass sie sich kaum getraut hätten, die Reise in ihre Heilige Stadt fortzusetzen.

Wären uns nicht günstige, sanfte Winde und die Segel zustatten gekommen, so hätten wir, glaube ich, nie unser Ziel erreicht; denn die Ruderer – Wracks wie das Schiff selbst – waren alte Leute, atemlos keuchend, lahm oder verkrüppelt. Es handelte sich nicht einmal ausschließlich um Sklaven, sondern auch um noch niedriger stehendes Hafengesindel, das sich mangels anderer Beschäftigung für diese schwere körperliche Arbeit hatte anheuern lassen. Wahrlich, diese Rotte von Ruderern hätte den Chor für ein Satyrspiel abgeben können! Selbst der Rudermeister, der auf seiner erhöhten Plattform den Takt schlug, lachte sich krank, wenn er sah, wie seine Leute einander und sich selbst mit den Ruderstangen anschlugen oder immer wieder mitten in der Arbeit hinsanken und einschliefen. Ich denke, er gebrauchte seine Peitsche nur der Form halber; denn es wäre einfach unmöglich gewesen, aus den armen Kerlen mehr herauszuschinden, als sie hergaben.

Von der Fahrt selbst habe ich nichts weiter zu erzählen, als dass sie meines Erachtens in keiner Weise dazu angetan war, eine andächtige Stimmung zu fördern oder meine Seele auf die Heilige Stadt der Prophezeiungen vorzubereiten. Man musste schon die jüdische Glaubenshingabe und Tempelverehrung haben, um morgens, mittags und abends die Arme betend zu heben und unentwegt schwermütige oder freudige Psalmen zum Lobe Gottes zu singen. Zu den anderen Tageszeiten erklangen vom Vorderdeck her, wo die Schauspieler probten, griechische Gassenhauer. Und wenn die Ruderer eine Zeitlang für ihre Arbeit eingespannt wurden, stieg unablässig ihr heiser wehklagender Chor gedämpft von den Ruderbänken herauf.

Das Griechenmädchen, das die Ausfahrt des Schiffes damit eingleitet hatte, dass es mit bekränztem Kopf sang und die Lyra zupfte, hieß Myrina. Die Kleine war ein schmächtiges, kurznasiges Geschöpf mit kühl forschenden, grünen Augen. Trotz ihrer Jugend konnte sie nicht nur singen und ihr Instrument spielen, sondern war auch eine vollendete Tanzakrobatin. Ihren täglichen Übungen auf dem Vorderdeck zuzusehen war ein Vergnügen; die frommen Juden allerdings verhüllten sich das Gesicht und jammerten laut über das Ärgernis.