Marcel Lamour
Das Ich in mir ...
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Wach auf!
Der Kontrolleur
Anfang von Nichts
Ganz unten
Zorn im Hals
Das Loch
Spinnenbrüder
Ein Kindertraum
Stillleben
Wahrscheinlich Sommer
Die Träume der Götter
Die Wut, die Axt und das Pferd
Man fühlt sich betrogen
Liebe
Guten Tag
Kopf-Schmerz
Hundeschädel
Impressum neobooks
Copyright Marcel Lamour, 2016
Ein „Gebrüder Lamour“ Projekt
Verlag:
Marcel Lamour, Karlstr. 9a, 51379 Leverkusen, Tel: 0157/58808708
Korrektorin: Kirsten Borchardt
www.fantasmusica.de
Cover:
Marcel Lamour
Internet:
www.GbrL-Art.de
www.marcellamour.com
www.facebook.com/GebruederLamour
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Marcel Lamour
„Das Ich in mir ...“
2015
Für meinen Bruder und mich
Ein „Gebrüder Lamour“ Projekt
www.GbrL-Art.de
INHALT
Wach auf
Der Kontrolleur
Anfang von Nichts
Ganz unten
Zorn im Hals
Das Loch
Spinnenbrüder
Ein Kindertraum
Stillleben
Wahrscheinlich Sommer
Die Träume der Götter
Die Wut, die Axt und das Pferd
Man fühlt sich betrogen
Liebe
Guten Tag
Kopf-Schmerz
Hundeschädel
Epilog
(2015)
Wach auf!
Du bist frei!
Reiß die Mauer ein
Fang an zu graben
Du bist frei!
(2015)
"Ihre Fahrkarte ... Bitte!"
Er hasste es, wenn er so geweckt wurde. Aus dem Schlaf gerissen mit einer Aufforderung. Und dann auch noch mit diesem abfälligen Unterton. Gerne hätte er sich beschwert und etwas Geistreiches erwidert. Aber daran war in seinem Zustand nicht zu denken. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sein Nacken war steif und ungelenk, in seinem Mund herrschte das trockene Klima eines verstaubten Dachbodens, und sein Kopf wirkte unnatürlich schwer.
"Ihre Fahrkarte! Bitte!"
Jetzt war der Tonfall des Kontrolleurs nicht mehr abfällig, sondern vielmehr ungehalten und unnötig unhöflich. Der richtige Zeitpunkt, um etwas zu erwidern.
"Wahheal ... ähh ... jaah?"
Mehr brachte er leider in diesem Moment nicht zustande.
Der Kontrolleur schüttelte leicht angewidert den Kopf, während der schlaftrunkene Fahrgast im Zeitlupentempo mit noch halbgeschlossenen Augen nickte, mit einer Hand seine Manteltasche nach der Fahrkarte abtastete und dann unbeholfen mit der anderen das Speichelrinnsal von seinem Kinn wischte. Nach einer kurzen Weile unangenehmer Stille wurde der Fahrgast fündig. Er zog erleichtert den Fetzen Papier aus seiner Gesäßtasche, um ihn in Richtung Kontrolleur zu halten. Der wiederum starrte mit einem leisen Augenzucken das Papier und dann wieder den Fahrgast an. Dieses Ritual vollzog er einige Male, bevor er sich nach vorne beugte und mit seinem Gesicht gefährlich nahe an das des irritierten Fahrgastes heran kam.
"DAS ist nicht Ihre Fahrkarte!", fauchte er ihn mit schneidender Stimme an. Er trat wieder zurück und hielt dem Fahrgast ungehalten den Zettel ins Gesicht.
Was für eine unverschämte Art. Wie konnte er es nur zulassen, sich von dieser aufgeblasenen Person so behandeln zu lassen! Zögerlich nahm er den Zettel wieder an sich, um ihn zu begutachten. Das Stück Papier gab seinen müden Augen eine kurze Notiz preis.
Ich denke - also bin ich mir nicht sicher ...
Ja ... das musste er sich eingestehen – das war wirklich nicht seine Fahrkarte.
"Oh, das tut mir ...", begann er und verstummte sofort wieder. Wieso fing er jetzt auch noch an, sich zu entschuldigen?
"Ich hab' ... einen Augenblick ... Also ..."
"Können Sie sich ausweisen? Sind Sie dazu in der Lage?", fragte der Kontrolleur.
"Ich ... ", begann der Fahrgast, während er weiter in seinen Taschen wühlte. Dann endlich befand sich das vermisste Ticket wie bei einem Zaubertrick in seiner linken Hand. "Ah ... hier!", sagte er erleichtert, als er dem Kontrolleur das Stück Papier überreichte. Wieder betrachtete der Kontrolleur den Fahrschein. Viel zu lange. Was gab es denn da zu kontrollieren? Wieso starrte er wie eine Salzsäule auf diesen Schein? Was war mit diesem Kontrolleur nicht in Ordnung? Er blickte sich in dem menschenleeren Waggon um. Doch nicht ganz menschenleer. Im hinteren Teil saß jemand. Die Kapuze in das Gesicht gezogen. Unter der Kapuze wucherte ein schwarzes Büschel Haare heraus und verdeckte das Gesicht. Man konnte bei der zusammengekauerten, reglosen Person weder Alter noch Geschlecht schätzen – zumindest nicht aus dieser Entfernung. Also widmete er seine Aufmerksamkeit wieder dem immer noch reglos starrenden Kontrolleur.
"Stimmt etwas nicht mit dem ... ähm ... Fahrschein?", fragte er mit einer verschlafenen, rauen Stimme, die es schaffte, in dem einen kurzen Satz gleich zweimal einzubrechen. Doch zumindest erzielte er eine Reaktion. Das Auge des Kontrolleurs fing wieder an zu zucken. Dann bewegten sich seine Augäpfel in einem Angst einflößenden, langsamen Tempo und fixierten schließlich wieder den Fahrgast.
"Ihr Fahrschein“, sagte er mit einer unerwarteten, emotionslosen Stimme.
Zögerlich und immer noch sehr irritiert nahm der Fahrgast das Ticket wieder entgegen. Der Kontrolleur nahm seine Fährte wieder auf und steuerte auf die schwarz gekleidete Gestalt im hinteren Teil des Wagens zu.
Was für ein unglaublicher, unsympathischer Mensch! Die Müdigkeit war nun ganz verflogen. Was blieb, war dieser skurrile, unwirkliche Geschmack, den der Kontrolleur in seine Gefühlswelt eingebrannt hatte. Was für ein Unsympath. Er versuchte, auf andere Gedanken zu kommen, und betrachtete für eine Weile die Landschaft, die in einem berauschenden Tempo an ihm vorbei flog und langsam in der Dämmerung zu verschwinden schien. Weite verdorrte Felder endeten in einer bizarren Hügellandschaft, die den Fahrgast an Geschwüre und Wucherungen mutierter Strahlenopfer erinnerte. Alles wirkte leblos. Das trübe Wetter und die leichten Nebelschwaden, die sich durch das tote Gestrüpp schlängelten und sich in den Hügeln zum Schlaf betteten, rundeten das Bild ab ...
... die Landschaft ist ein organisches Wesen ohne Größe. Sie atmet. Ihr ruhiges Auf und Ab. Das Knarren des Holzes uralter Bäume. Einatmen. Sie strecken sich nach außen und nehmen die Spannung der Landschaft in sich auf, um sie kurz darauf über ihre Wipfel in das große Nichts über sich fließen zu lassen. Ausatmen. Das Geräusch kleiner, rollender Steine. In der Ferne zerbersten Felsen. Der frische, salzige Staub wird von dem auftretenden Wind sachte in das Zentrum getragen. Er sammelt sich. Konzentriert sich. Das Atmen wird unruhiger. Schneller. Der Wind züngelt nervös in unkontrollierte Richtungen. Hin. Und her. Es ist nicht gut. Dieses Gefühl auf der Haut. Wie Schleifpapier. Schicht für Schicht trägt der steinerne Wind die Haut von meinem Körper ab. Ich stehe in der Mitte des Ganzen. Die Landschaft hat ihre Ruhe verloren. Sie ist wütend. Zorn treibt sie an. Um mich herum rast der Wind. Lose Äste wirbeln um mich herum und schlagen mir tiefe Furchen in das Gesicht. Ist das mein Gesicht? Ist das mein Gedanke?
Der Wind löst sich auf. Kein Atmen mehr. Keine Landschaft. Kein Ich ...
... ein schleifendes, metallisches Geräusch. Das war keine schöne Art, geweckt zu werden; aber zumindest rettete ihn dieses Geräusch aus dieser beklemmenden Traumwelt. Diese Landschaft. Er blickte nach draußen. Alles, was seine Augen ertasten konnten, war in tiefe, undurchdringliche Dunkelheit getränkt.
Es war nichts zu erkennen. Nur sein eigenes Gesicht. Es spiegelte sich in dem Fenster des Zuges wieder und beobachtete ihn ... mit diesem merkwürdigen Ausdruck in den Augen. Es hatte etwas Vorwurfsvolles. Irritiert wendete er sich ab und zuckte im gleichen Moment zusammen. Sein Spiegelbild schien seinen eigenen Willen zu haben und starrte ihn weiterhin an. Die plötzliche, kalte Angst ließ seinen Körper erstarren. Es musste sein schlaftrunkener Kopf sein. Er musste ihm einen Streich gespielt haben. Etwas anderes war nicht möglich! Dennoch spürte er weiterhin den stechenden Blick seines Abbilds. Den Kopf geradeaus gerichtet, fixierte er den Sitz ihm gegenüber und versuchte dann vorsichtig sein Blickfeld zu erweitern; möglichst ohne dabei den Kopf zu drehen. Das Wenige, was er erkennen konnte, stimmte jedoch mit seinem Gefühl überein. Sein Spiegelbild starrte ihn weiterhin an. Er schloss die Augen und versuchte gegen die aufsteigende Panik anzukämpfen. Das schleifende Geräusch des bremsenden Zuges verwandelte sich in ein metallisches Schreien.
"Konzentrier dich! Da ist nichts! Mach die Augen einfach wieder auf - du musst hier raus!"
Er öffnete seine Augen und klammerte seinen Blick an das erste vertraute Bild, das er erfassen konnte. Die Gestalt. Dieses bewegungslose schwarze Etwas saß immer noch unbeeindruckt an der gleichen Stelle. Als wäre es schon immer dort gewesen. Als gäbe es nichts anderes für dieses gesichtslose Wesen. Nur diesen Zug. Und nur diesen Sitzplatz – "Sein Reich – seine Regeln" - sagte die Stimme in seinem Kopf.
Das metallische Schreien hatte sich in ein leiser werdendes, sterbendes Wimmern verwandelt. Immer noch tat es in den Ohren weh. Aber alles war besser als dieses schreiende GeräSteh auf – und geh raus! Jetzt! Sofort!üäÜöüö