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Hubert Flattinger

wurde 1960 in Innsbruck, Österreich, geboren und lebt heute als freier Schriftsteller und Illustrator in der Nähe von Wien. Seine Kenntnisse im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur vermittelt der ehemalige Journalist (Tiroler Tageszeitung, Kleine Zeitung, Graz) als Vortragsreisender in verschiedenen Schulen, u. a. am Institut für Sozialpädagogik in Stams (Tirol). Hubert Flattinger schreibt Bücher und Theaterstücke für Menschen jeden Alters. Für seine Jugendromane „Liftboy“, „Sommersprossen auf dem Asphalt“ und „Baboon“ wurde er jeweils mit dem österreichischen MIRA-LOBE-Stipendium ausgezeichnet.

Unter www.flattinger-online.com ist der Autor auch im Internet zu finden.

HUBERT FLATTINGER

BABOON

Roman

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AutorenEdition Flattinger

ISBN 978-3-03864-201-5

Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der

Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form,

einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien,

der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung

und der Aufnahme in Datenbanken, ausdrücklich vorbehalten.

Lektorat: Horst Eibl (A)

Umschlaggestaltung: Agentur flin, unter Verwendung

einer Illustration von Bert Silberstein (A)

Copyright © 2015 by ARAVAIPA–Verlag,

Egg bei Zürich, Freudenstadt, Tucson

7 6 5 4 3 2 1

ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch

Zu diesem Buch gibt es Unterrichtsmaterial

als Download auf www.aravaipa.ch

„Gehe ich vor dir, dann weiß ich nicht, ob ich dich auf den richtigen Weg bringe. Gehst du vor mir, weiß ich nicht, ob du mich auf den richtigen Weg bringst. Gehe ich neben dir, werden wir gemeinsam den richtigen Weg finden.“

Aus Südafrika

1.

Ich will ehrlich sein. Wenn ich als Junge hinaus zur Bahnstation lief, ging es mir dabei zuallererst um die Züge. Um das rhythmische Gestampfe, das aus der Ferne klang, lange noch bevor die ersten Dampfwolken der Lokomotive hinter den Hügeln zum Himmel aufstoben und damit das große Ereignis ankündigten. Das, was sich zuerst wie das dumpfe Donnergrollen eines sich zusammenbrauenden Unwetters anhörte, würde alles mit sich bringen, wonach ich mich in jenen Tagen sehnte. Damals hätte ich dir dieses Gefühl der Sehnsucht nicht beschreiben können. Ich konnte mir ja nicht einmal selbst erklären, was mit mir vor sich ging, wenn mich dieses Fieber packte. Das Einzige, was ich begriff, war, dass ich ein Teil davon sein wollte! Ein Teil dieses mächtigen Geschehens, ein Teil dieser wuchtigen Maschine, die auf den silbernen Linien des Schienenstrangs dahinglitt, einen dicken Strich zwischen Himmel und Erde zog und schließlich unter donnerndem Getöse an mir vorüberzog.

Dann stand ich, so nahe es nur ging, an den Gleisen. Streckte die Arme von mir wie ein Vogel auf einem Ast, der seine Schwingen ausbreitet, um auf den günstigen Wind aufzuspringen. Aber was heißt Wind? Es war vielmehr ein Sturm, wenn der Zug erst kam! Ein Sturm, dessen wilde, rauflustige Windwirbel mir Hosenbeine und Hemd aufblähten und heißen Sand ins Gesicht spien. Da war mir, als könnte ich fliegen. Weit fort nach Woandershin. Vielleicht in ein Land, in eine Stadt, wo alles anders wäre als das, was mich für gewöhnlich umgab. Ja, auf diese besonderen Momente kam es mir an, wenn ich als Junge zur Bahnstation lief.

Das alles ist lange her, und inzwischen bin ich längst wirklich ausgeflogen. Ja, ich bin auf den Wind gesprungen. Und heute lebe ich tatsächlich in Woanderswo.

Über die Jahre ist mein Gefieder an den Schläfen grau geworden. Und auch Woanderswo ist inzwischen nicht mehr das, was es einmal war. Bloß die Züge, die fahren immer noch. Immer geradeaus, den eisernen Blick streng nach vorne gewandt, in die Zukunft geht die Reise. Was hinter einem liegt, nennt man Vergangenheit. Dorthin fährt kein Zug. Will ich mich aber an den Jungen erinnern, der ich einmal war, schließe ich meine Augen. Es ist wie auf einem Dachboden. Man muss sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, um etwas sehen zu können. Und nach und nach tun sich Bilder auf.

Siehst du sie auch, die endlose Weite des afrikanischen Buschlands? Die zum klaren Blau des Himmels geschwungenen, grünen Hügel, von denen kaum einer zu sagen weiß, wie viele Tagesreisen sie entfernt liegen?

Hörst du das Summen der Insekten, das Gezwitscher der tausend Vogelstimmen in den Bäumen, das heisere Kläffen der Hyänen, das aufgebrachte Schnattern der streitenden Affen? Lass dich vom Klang dieser Melodie begleiten, während du deinen Blick weiter über das ockerfarbene Land gleiten lässt. Wenn du mir folgst, führe ich dich zur Bahnstation. – Es sind nur noch wenige Schritte bis dorthin. Den Wasserspeicher kann man von hier aus schon erkennen. Dickbäuchig steht er auf vier seitwärts gegrätschten Stelzen. Aus einer kreisrunden Öffnung ragt ein verbogenes Blechrohr, das man mit etwas Fantasie ebenso gut für den mächtigen Rüssel eines riesigen Elefanten halten könnte. Der Rüssel zeigt in Richtung eines weißen Gebäudes, das auf einer erhöhten Plattform steht. – Die Bahnstation.

Nach vorne, zu den Gleisen hin, bietet eine überdachte Veranda Schutz vor der Sonne. Und siehst du die zwei seltsamen Gestalten? Ein einbeiniger Bahnwärter und sein Affe. Gemeinsam stehen sie auf dem Posten. Seite an Seite, dicht beieinander. Auch heute verschmelzen ihre beiden Schatten zu einem. Aber nicht bloß ihre Schatten sind eines. Es ist, als glichen sich die beiden auch in ihrem Wesen. Gerade so, als wären sie aus demselben Holz geschnitzt. Sieh nur: wie der Alte sein Gesicht verzieht und es ihm der Affe – es ist ein Pavian – in derselben Sekunde nachmacht!

Der alte Bahnwärter und sein Affe. Der eine rückt sich seine Krücke unter dem Arm zurecht, der andere beißt sich Flöhe aus dem Fell um seinen blanken Hintern. Der eine kratzt sich am Ende seines Beinstumpfs, der andere reckt seine Schnauze witternd in den Wind.

Jetzt finden sich ihre Blicke. Sie sehen einander prüfend an, schenken sich ein kurzes Nicken, als wären sie sich über etwas einig, von dem nur sie Bescheid wissen. Als teilten sie ein besonderes Geheimnis miteinander.

Über ihren Köpfen quietscht im Morgenwind ein an dünnen Ketten befestigtes Messingschild. „Peewick“ steht darauf zu lesen. Damit sind die wenigen Häuser rund um das halbe Kirchenschiff gemeint, die etwa anderthalb Meilen von der Bahnstation entfernt so etwas wie eine Siedlung in die Wildnis heucheln.

Eine Redensart sagt: Wer sich nach Peewick verirrt, irrt sich auch für den Rest seines Lebens. Ich denke, damit ist schon viel gesagt.

In Peewick bekommt keiner etwas geschenkt. Wer hier leben will, muss genügsam sein und mit dem wenigen, das sich dem Land und dem Vieh abtrotzen lässt, sparsam umgehen. Und obwohl es an vielem fehlt, hoffen die meisten Menschen, dass alles so bleibt, wie es ist. Und kaum einer stört sich daran, dass die Zeiger der großen Kirchenuhr bereits vor vielen Jahren stehen geblieben sind. Schließlich gibt es Wichtigeres zu erledigen, als nach der Zeit zu fragen. Vielleicht muss man einfach bloß ein sturer Hund sein, um dieses Nest am Ende der Welt für das Gelbe vom Ei zu halten. Ich weiß nicht, ob ich das Zeug zu einem sturen Hund habe, mich kratzen andere Sachen. Jedenfalls möchte ich nicht stillstehen und wie einer der beiden Uhrzeiger auf dem Kirchturm immer auf demselben Fleck verharren müssen.

Gäbe es nicht die Bahnstation, müsste man sich vielleicht wirklich mit alledem, was Peewick ausmacht, abfinden. Nur, irgendwohin müssen die Gleise ja führen! Irgendwohin, wo sich die Zeiger der Uhren noch drehen, irgendwohin, wo es ganz anders ist als hier.

Vielleicht zieht es mich deshalb so oft zur Bahnstation hinaus.

Denn falls sich jemals eine Gelegenheit bieten sollte, Peewick den Rücken zu kehren, dann muss es hier geschehen, hier an den Gleisen.

„In Dublin’s fair City, where girls are so pretty,

I first set my eyes on sweet Molly Malone.“

Der alte Bahnwärter singt nun wieder sein Lied. Ein Lied, das er, als er noch jung war, in einem weit entfernten Land gehört hat.

Während er singt, zieht er sich die Krücke unter der Armbeuge hervor, lehnt sie seitwärts an die Wand, klopft mit ein paar kräftigen Schlägen den Staub vom Sitzpolster seines Lieblingsstuhls und lässt sich darauf nieder. Er grunzt genüsslich und ist mit sich und der Welt zufrieden. Mit verträumten Blick krault er das Fell seines Pavians, der dankbar zu ihm aufblickt.

„Seid ihr noch da-ah, Kinder?“, fügt der alte Bahnwärter eine neue Zeile in seinen Singsang für Molly ein und reckt den Kopf nach uns.

„Wir sind hier drüben, Mr. Quinn, gleich hier!“, gebe ich ihm Bescheid.

„Ja, hier!“, meldet sich Ona ebenfalls zu Wort und winkt mit der Hand über die Bretter unseres Verstecks.

Onas dunkle Haut hebt sich kaum von den pechbestrichenen Balken ab. Nur das Weiß ihrer Augen verrät mir, wo sie ihren Kopf anlehnt.

Sie liebt den Geruch, der aus den Ritzen der verwitterten Holzplanken dringt, wenn ihnen die Sonne die Feuchtigkeit der vergangenen Nacht entzieht. Gleich wird Ona wieder schwärmen:

„Riecht es nicht herrlich, Denny? Wenn ich groß bin, möchte ich genau wie das Holz hier riechen, Denny.“

„Hast du mir bereits hundertmal gesagt, Dickmamsell.“

„Na und? Mama hat gesagt, dass man vieles vergisst, wenn man älter wird. Wäre schlimm, wenn ich vergessen sollte, wie gut ich duften mag. Deshalb muss ich mich hundertmal am Tag erinnern. Damit ich es nie, nie vergesse! Verstehst du?“

„Hundertmal. Immer dasselbe, Ona.“

„Bei dir ist es doch genauso, Denny!“

„Was meinst du?“

„Pah“, sagt sie und schnaubt sich damit ein paar Fliegen von der Nase. „Mr. Quinn und Baboon! Du denkst doch ständig über sie nach, Denny. Du fragst dich, wer zuerst anfing, den anderen nachzumachen. Ob Baboon damit begann, sich wie ein Mr. Quinn aufzuführen, oder ob es glatt umgekehrt war. Einer von beiden muss doch damit angefangen haben, so sein zu wollen wie der andere.“

„Wer immer es auch war“, antworte ich, „Mr. Quinn war jedenfalls zuerst hier draußen. Baboon kam erst viel später dazu. Schätze, das muss so vor etwa fünf Jahren gewesen sein, vielleicht sechs. Muss ich dir denn die ganze Geschichte schon wieder erzählen, Ona?“

„Wenn du dich lieber mit den Fliegen unterhältst, Denny. Nur zu! Ssssssss-Ssssssss …“

„Von mir aus, Ona. Also, du warst gerade mal so groß wie die Grashalme dort, aber gebrüllt hast du schon damals wie ein ausgewachsener Löwe, Dickmamsell. Und Haufen hast du hinterlassen, wie ein …“

„Wie ein Elefant!“, weiß sie längst und nickt triumphierend. „Und dann kam Baboon! Anstatt über mich solltest du über ihn reden.“

„Gut, Ona, dann sprechen wir über Baboon.“

„Mr. Quinn muss sich sehr gefreut haben, als Baboon zu ihm kam.“

„Kann man sagen. Obwohl, genau genommen, eigentlich wollte er lieber einen Hund.“

„Oh, einen Hund!“, spielt sie die Erstaunte. „Kannst du mir einen Hund in den Sand zeichnen, Denny?“

„Ich kann bloß Züge, Ona. Tiere sind schwer zu zeichnen.“

„Ich will aber einen Hund.“

„Hey, Züge machen bedeutend mehr Wind! Also sieh her, kleine Miss. Hier kommt der Red Rooster aus Joburg. So heißt nämlich der prächtigste aller Züge aus dem Süden. Da, eine Linie, zuerst wie eine Schlange, aber was für eine! Ein richtiges Monster aus Eisen ist das! Und hier siehst du die Schienenstränge. Immer nah zusammen auf gleicher Spur, wie unser alter Bahnwärter und sein Affe. Und das ist die Bahnstation.“

„Hund!“, bellt Ona. „Hund, Hund!“

„Schneid keine Grimassen, Dickmamsell. Man kriegt nicht immer das, was man will. Gewöhn dich besser gleich daran.“

„Mr. Quinn hat aber bekommen, was er wollte!“

„Er hat einen Affen bekommen, Ona.“

„Er hat einen Baboon bekommen! Das ist viel besser als bloß ein Affe!“

„Wenn du meinst. Baboon ist …“

„Wie Mr. Quinn!“, bringt Ona es auf den Punkt.

„Und Mr. Quinn ist wie Baboon. Man kann sich den einen ohne den anderen kaum mehr vorstellen, stimmt’s? Obwohl Pastor Van Zaendt meint, dass Menschen und Tiere nicht unter demselben Dach wohnen sollten.“

„Ach, Pastor Vielzähn“, spottet Ona und wirft Steinchen auf die Zehen am Ende ihrer ausgestreckten Beine. „Der meint viel. Meint immer viel.“

„Er ist Pastor, Ona. So einer muss was meinen können.“

„Er riecht komisch, Denny. Und aus seinen Ohren wachsen Haare, als würden Wüstenmäuse darin wohnen. Und das, obwohl er Tiere eigentlich gar nicht leiden kann. Sie hätten keine Seele, das hat er behauptet.“

„Trotzdem meint er es gut, Ona. Und er tut Gutes! Er kümmert sich um alle und …“

Ihr spitzer Freudenschrei übertönt mein Gerede.

„Der Zug!“, ruft sie. „Hör doch bloß, Denny! Der Zug! Er kommt!“

Wie ein Kaninchen schnellt sie aus unserer Schattengrube, umfasst mit beiden Händen den Saum ihres Baumwollkittels und läuft hinüber zu den Gleisen.

Im Laufen dreht sie sich nach mir um und lacht.

Ich setze ihr nach, folge ihren schnellen Haken, bis es mir endlich gelingt, sie gerade noch rechtzeitig am Arm zu packen, bevor das Schlimmste geschieht.

„Lass los, Denny! Du tust mir weh!“

„Weh? Was glaubst du, wie weh es erst tut, wenn du dem Zug zu nahe kommst und er dich am Ende mit sich reißt?“

Und beinahe ist es so. Begleitet vom mächtigen Gebrause des Fahrtwinds donnert der Zug an uns vorüber. Ich drücke Ona fest an mich.

„Weiß!“, ruft sie gegen den Lärm der klappernden Waggons an.

„Weiß?“

„Weiß! Sieh nur den Sand auf meiner Haut, Denny! Eine weiße Haut, genau wie die von Missis, meiner Mama!“

Als uns die Staubwolke wieder ausspuckt und mit dem Wind weiterzieht, ist auch der Zug beinahe schon am Horizont verschwunden. Wild strampelnd ringt sich Ona von mir frei.

Mit zufriedenem Lächeln betrachtet sie ihre von Staub bedeckten Arme und Beine. Doch als sie zu mir aufsieht, tut sie es mit trotziger Miene.

„Weiß!“, sagt sie dabei. „Und du verstehst genau, was ich meine, Denny!“

Noch bevor ich etwas darauf antworten kann, wendet sie mir den Rücken zu und wieselt im Laufschritt hinüber zur Bahnstation.

2.

In den Ästen der Akazien zirpen unermüdlich die Zikaden, als wollten sie mit ihrem schrillen Chorgesang dem gleisenden Licht der Sonne trotzen. Selbst im Schatten des Bahnhäuschens ist es in der Mittagsglut kaum auszuhalten. Mein Hemd ist vom Schweiß durchnässt und klebt mir, wie der kratzende Mantel einer Elefantenhaut, auf dem Körper.

Da lassen sich die Finger einer rußgeschwärzten Hand auf meiner Schulter nieder.

„Ärger gehabt?“, höre ich den Alten fragen.

Er reckt seinen von Falten zerfurchten Hals, schiebt den Kopf weit aus dem Hemdkragen und raunt leise: „Hey, kannst aufhören zu zittern, Junge. Habt noch mal Glück gehabt. Alles gut.“

„Nichts ist gut, Mr. Quinn!“, bricht es aus mir heraus. „Sie haben es ja eben selbst miterlebt. Hat nicht viel gefehlt und Ona wäre auf dem Gleis gelandet!“

„Oh, ich habe dich gesehen, Denny. Und wie ich dich gesehen habe! Du warst schnell! Schneller als der schnellste Gepard bist du gelaufen!“

„Und wäre ich eine Sekunde zu spät gekommen?“

„Wäre? Du warst schnell genug und das alleine zählt, Denny!“

„Als hätte ich nichts anderes zu tun, als Ona ständig hinterherzulaufen und ihr das Leben zu retten, Mr. Quinn!“

„Ja, das hast du sicher, Denny, aber …“

„Überhaupt nichts, und noch einen Haufen Nichts hat er zu tun!“, unterbricht ihn Ona mit bebender Stimme.