Martha Grimes


Inspektor Jury
kommt
auf den Hund



Roman




Deutsch
von Cornelia C. Walter








Epilog

Es war halb acht, und Harry saß im Old Wine Shades an der Bar und unterhielt sich mit Trevor. Genauer gesagt, war es Trevor, der redete und dabei über die Theke gelehnt stand, als hätte er viele Geheimnisse zu enthüllen.

»Hallo, Harry«, sagte Jury und zog sich einen Hocker her. Da es sich um denjenigen handelte, unter dem Mungo sich platziert hatte, kam der Hund hervor und betrachtete ihn – (»nachdenklich oder verwirrt«, hätte Jury gesagt) – und verzog sich dann wieder.

»Richard! Sie habe ich ja fast zwei Wochen nicht mehr gesehen. Was haben Sie denn so getrieben? Hören Sie, den hier müssen Sie unbedingt probieren.« Harry tippte an sein Glas. »Ein Barolo Monprivato ist das.«

»Ihr Italienisch ist sehr gut.«

»Ach, Kunststück. Das war ja nicht schwer auszusprechen.«

»Ich wette, Sie haben auch kein Problem damit, den Namen dieses toskanischen Bergstädtchens auszusprechen – Sie wissen schon, das in der Nähe von Florenz liegt.«

»San Gimignano?«

»Perfekt.« Als Trevor ihm ein Glas hinstellte, sagte Jury: »Ich wette, Sie sprechen es auch. Italienisch, meine ich.«

»Nicht so furchtbar gut.«

»Gut genug, um Mädchen aufzugabeln und so weiter.«

»Wahrscheinlich.« Harry kicherte.

Trevor hatte eingeschenkt, Jury nahm einen Schluck.

Harry sagte: »Aber doch nicht einfach so hinunterschütten, um Gottes willen! Unser Trevor kriegt einen Anfall.«

Der stand gegen die Theke gelehnt, in freudiger Erwartung von Jurys Reaktion.

Es war, als erschöpfte sich ihr alleiniger Daseinszweck – und zwar von allen dreien – hier in diesem Old Wine Shades und in dieser Flasche Wein.

»Großartig«, sagte Jury. »Rund und voll, wie Trevor sagen würde.«

»Würde ich nicht sagen«, entgegnete Trevor. »Fruchtig, sinnlich. Es ist schließlich ein Château Latour.«

»Der verwandelt uns beide noch in Sommeliers«, sagte Harry.

Uns. Das war nett. »Sie sind doch schon einer, Harry. Ich wette, in Ihrem Keller haben Sie genug von dem Zeug, um selber ein Lokal aufzumachen.«

»In meinem Keller? Richard, haben Sie etwa herumgeschnüffelt?«

»Wow!«, rief Jury aus. »Das ist eine von diesen Fangfragen, die Verdächtige stellen, um einen dämlichen Polizisten in die Falle zu locken! Ich nehme doch an, wer Wein so gern mag, wird einen Weinkeller haben.«

Harry lachte. Er nahm die ganze Sache absolut froh gelaunt auf. Was Jury in Staunen versetzte: Er war sich offenbar gar keiner Gefahr bewusst. Immerhin waren die Kinder geflüchtet und konnten der Polizei alles Mögliche erzählen. Und reden wie ein Wasserfall. Und Harry identifizieren. »Ja, das ist der Kerl, der uns gefangen gehalten hat.« Und auf ein Foto deuten. »Stimmt, das ist er. Den würden wir nicht vergessen, den bestimmt nicht.«

Jurys Wunschtraum. Bloß dass es kein Foto gab, keine Identifizierung. Gehörte Harry zu den Menschen – die Jury selten begegnet waren –, die bis zum bitteren Ende alles abblockten, bis das Lügengebäude krachend zum Einsturz kam?

»Sie sind einfach verdammt clever, Harry.«

»Ich? Ich bin clever? Nein, ich würde sagen, der Lorbeerkranz der Cleverness geht definitiv an Sie. Und an Ihren Freund da. Niels Bohr, du meine Güte! Niels Bohr. Eins muss ich Ihrem Freund lassen, eine Zeit lang hat er mich schon an der Nase herumgeführt. Das Korrespondenzprinzip hat er fast genauso gut begriffen wie Hugh. Ziemlich brillant, Ihr Freund. Wir haben hin und her diskutiert, bei einer ganzen Flasche Bordeaux« – Harry tippte erneut an sein Glas – »nicht dem hier, sondern einem ausgezeichneten Château Margaux, stimmt’s, Trev?«

»Richtig. Der hat Sie eine Stange gekostet«, sagte Trevor mit einem breiten Lächeln. Trevor war fasziniert. Er stand hinter dem Tresen und polierte Gläser, die er dann gegen das Licht hielt, um sie auf Schlieren zu überprüfen.

»Na, jedenfalls«, fuhr Harry fort, »ging es hin und her, hin und her. Ein bisschen wie beim Schachspiel.« Bei der Erinnerung musste er schmunzeln.

»Und wer wurde schachmatt gesetzt?«

»Oh, wir kamen gar nicht bis zum Ende, nachdem ich gemerkt hatte, dass Sie sich davongestohlen hatten. Wo gingen Sie denn hin?«

»Ich hatte eine Verabredung.« Jury beugte sich näher zu ihm hin und senkte die Stimme. »Was wollten Sie ihnen antun, Harry?«

»Wem denn?«

»Timmy und Tilda.«

»Ach Gott, sind wir jetzt wieder bei denen?« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Abendessen?«

»Nein danke. Ich muss noch woanders hin.« Jury stand auf und trank sein Glas aus.

Harry ebenfalls. »Na, ich habe einen Bärenhunger. Dann sind es wohl bloß Mungo und ich.«

Mungo kam hervor. Er sah erschöpft aus, weltverdrossen (so hätte Jury es genannt, wenn das bei einem Hund überhaupt möglich war), todmüde und kaputt. Jury reichte hinunter und kraulte ihm den Kopf. Seinen Mantel hatte Jury gar nicht erst ausgezogen, musste ihn also auch nicht wieder anziehen.

Nachdem Harry in seinen schwarzen Kaschmirmantel geschlüpft war und eine enorme Geldsumme auf die Theke gelegt hatte, gingen sie hinaus. Draußen blieb Harry stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden.

»Geben Sie mir auch eine, ja?«

»Was? Eine Zigarette? Sie haben doch mit Rauchen aufgehört.« Harry hielt ihm sein Zigarettenetui hin. »Ich möchte aber nicht schuld daran sein, dass Sie wieder anfangen.«

»Das glaube ich Ihnen gern, Harry. Ich werde Ihnen auf den Fersen bleiben, wie mit Hunden werde ich Sie hetzen.«

Mungo hob abrupt den Blick.

»Entschuldigung.«

»Schon gut.«

»Mit Ihnen habe ich gar nicht geredet, Harry.«

Harry lachte. »Gut, dann können wir uns ja regelmäßig hier treffen auf einen Bericht über die Fortschritte. Und jetzt habe ich einen Riesenhunger. Gute Nacht.« Er ging pfeifend davon und drehte sich um, um zu winken.

Mungo drehte sich ebenfalls um.

Jury war froh, dass er seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte.

Er steckte sich die Zigarette in den Mund, klopfte seinen Mantel ab auf der Suche nach Streichhölzern, wohl wissend, dass er gar keine dabeihatte. Es erinnerte ihn jedoch angenehm an frühere Gewohnheiten.

Jury lächelte.

Aber nicht wegen des Glimmstängels.

Den schmiss er in den Rinnstein.

Prolog

(Aus: »Karneval der Toten«)

 

Sie saßen eine Weile schweigend da. Dann sagte Harry Johnson: »Wenn Sie eine Geschichte hören wollen, ich erzähle Ihnen eine – obwohl ich sie nicht erklären und Ihnen auch nicht den Schluss verraten kann. Weil es nämlich keinen gibt.«

»Hört sich interessant an.«

»O, interessant ist sie, das kann man sagen.«

»Erzählen Sie.«

»Sie passierte einem Freund von mir. Er war der glücklichste Mensch, der mir je begegnet ist – man könnte fast sagen, er war vom Glück verfolgt –, und hat über Nacht alles verloren.«

»O, verdammt. Sie meinen, bei einem Börsencrash oder so etwas in der Art?«

»Nein, nein. Es ging nicht um Geld. Er hat tatsächlich alles verloren. Eines Morgens wachte er auf und fand sich ohne Frau, ohne Sohn wieder – selbst sein Hund war weg. Er wusste nicht, was passiert war, und natürlich glaubte ihm keiner. Er wusste überhaupt nicht, was er tun sollte, und spielte mit dem Gedanken, zur Polizei zu gehen. Doch was um alles in der Welt hätte er denen sagen sollen? Sie würden ihm nicht glauben, sie würden nicht glauben, dass die Frau, der Sohn und der Hund einfach verschwunden waren. Sie wissen ja, wie stur Polizisten manchmal sein können …«

»Und ob ich das weiß.« Jury lächelte etwas irre vor sich hin.

»Genau. Und Familien verschwinden ja nicht einfach so – ich meine, außer es kommt ein Psychopath daher und bringt alle um. Zu mir sagte er, er hätte das Gefühl, in einer Parallelwelt zu leben, als seien seine Frau und der Sohn in der einen und er selbst in der anderen.«

»Was hat er dann gemacht?«

»Er engagierte die besten Privatdetektive. Sie fanden nichts, keinen Hinweis. Es gab einfach keine Spur.« Harry hielt inne, nahm noch eine Zigarette aus dem Etui, bot es Jury wieder an, und Jury lehnte wieder ab. »Das war vor einem Jahr.«

»Und …?« Plötzlich fiel sie Jury ein, die Antwort auf die Frage, die er sich vorhin in seiner niedergeschlagenen Stimmung gestellt hatte: Was bewog ihn dazu weiterzumachen? Hier war die Antwort: Neugier. Er wartete darauf, dass Harry Johnson die Leerstelle hinter dem »Und –« ausfüllte.

Harry zündete sich die Zigarette an, blies einen Rauchstrahl und sagte: »Der Hund kam zurück.«

Jury musterte ihn ungläubig. »Das ist doch ein Witz, oder?«

»Nein, keineswegs«, erwiderte Harry Johnson, ohne zu lächeln. »Der Hund kam einfach wieder zurück.« Eine Zeitlang schwiegen sie beide, während Harry Johnson seine Gedanken zu sammeln schien. »Also, wollen Sie den Rest hören?«

Jury nickte wie benommen.

Kommt ein Mann in ein Pub …

1

Harry Johnson zündete sich eine neue Zigarette an, klappte das Feuerzeug zu und sagte: »Ich sehe schon, Sie kaufen mir die Geschichte nicht ab. Ich mache aber keine Witze.«

Richard Jury musterte ihn schweigend, und als er merkte, dass der andere auf seiner Lügengeschichte beharren würde (denn darum handelte es sich ja wohl, um eine »Lügengeschichte«), lachte Jury bloß, wandte sich wieder zum Tresen und griff nach seinem Bier. »Na, hören Sie. ›Der Hund kam wieder zurück.‹« Er nahm einen Schluck. »Frau, Sohn und Hund verschwinden, und der Hund kommt zurück. Nach wie langer Zeit, sagten Sie? Einem Jahr?«

»Fast. Nach neun, zehn Monaten vielleicht.« Harry Johnson blies einen großen Rauchkringel und noch einen kleinen direkt mittendurch.

Jury war wirklich irritiert. Der Andere war offensichtlich wohl betucht, dem Kaschmirmantel und dem Goldring nach zu urteilen, sah noch dazu gut aus – so dass andere Männer sich daneben regelrecht schmuddlig und billig vorkamen –, war intelligent und eloquent. Und konnte auch noch richtige Rauchkringel blasen!

Und faszinierend war er, nicht zu vergessen. Obwohl Jury ihm nicht glaubte. »Soso, der Hund kam also wieder zurück.« Wieder lachte Jury, ein wenig zu abrupt vielleicht, was vielleicht ein wenig zu deutlich darauf hinwies, dass er selbst keinen Witz verstand. Das war aber gerade der springende Punkt! Laut Harry Johnson war es überhaupt kein Witz.

Harry Johnson lächelte, stellte seinen Whiskey ab und erhob sich. »Können Sie hier kurz warten? Ich gehe nur schnell zu meinem Wagen.«

»Ich? Ja, klar, ich habe alle Zeit der –« Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da war Harry Johnson schon fort. Jury sah ans andere Ende der Bar hinüber und wünschte, der Barmann wäre in seiner Nähe, damit er ihn über diesen Kerl ein paar Sachen fragen konnte. Der Barmann hatte Johnson mit Namen angesprochen und so getan, als handelte es sich um einen Stammgast. Doch der Barmann unterhielt sich gerade mit einem unangenehm lauten Pärchen mit breitem Grinsen und trockenem Husten. Manchmal hatte Jury den Eindruck, alle Welt würde rauchen – nur er nicht. Jury, der Spielverderber.

Er blickte auf sein leeres Glas hinunter. War das schon das zweite gewesen? Oder gar das dritte? War er dabei, sich zu betrinken?

Die Tür des Pubs ging auf, und Harry Johnson war wieder da, mit einem Hund an der Leine.

Er setzte sich hin und lächelte, und der Hund tat es ihm nach. Oder besser gesagt, der setzte sich, lächelte aber nicht. Es war ein mittelgroßer, ziemlich unauffälliger Hund, einer, wie man ihn im Tierheim bekam, mit Schlappohren, hellbraun-weißem Fell, die Art von Hund, die man unwillkürlich ins Herz schloss und zwischen den Ohren kraulen mochte. Er saß irgendwie schief da, wie Hunde eben dasitzen, und Jury streckte die Hand aus, um ihm den Kopf zu kraulen.

»Soll das heißen, das ist der Hund?«

»Das ist er.«

Jurys Blick wanderte von Harry Johnson zu dem Hund hinüber. »Wie heißt er?«

»Mungo.« Als Harry sein leeres Glas in die Höhe hielt, kam Trevor, der Barmann, herüber und füllte es ihm lächelnd nach. Jury lehnte dankend ab, denn er fand, er hatte in der kurzen Zeit schon ziemlich viel getrunken. »Wir haben einen ausgezeichneten 85er Batard. Vollmundig und rund«, sagte der Barmann. »Sie trinken heute Abend Whiskey?« In seiner Stimme lag ein leichter Vorwurf.

»Wie man sieht, Trev«, lächelte Harry. Die Bemerkung war nicht abschätzig gemeint. An Jury gewandt sagte er: »Trevor ist hier der Weinkenner. Der Weinkenner par excellence. Der Experte. Ich bin mir nicht sicher, ob die anderen den Unterschied zwischen einem Pouilly-Fussé und einem Pellegrino kennen.«

»Dann sollte ich bei denen bestellen, ich kenne ihn nämlich auch nicht«, sagte Jury.

Trevor meinte: »Ach was, Mr. Johnson, so schlimm sind wir doch gar nicht.«

»Nein, Sie nicht. Vielleicht steigen wir gleich um.«

Trevor schüttelte den Kopf. »Aber nicht nach dem Single Malt, den Sie da trinken.« Sein Blick schweifte zu Jurys Glas hinüber. Das war es nicht einmal wert, dass man darüber auch nur ein Wort verlor. Trevor wandte sich ab.

Harry lachte. »Über Wein macht man keine Scherze, jedenfalls nicht im Beisein von Trevor.«

»Also, Mungo –«

Sogleich richtete der Hund sich wachsam auf.

»Tauchte plötzlich wieder bei Ihrem Freund zu Hause auf – Moment mal – der ›Freund‹ sind am Ende doch nicht etwa Sie selbst, oder?«

»Lieber Gott, nein.«

»Na gut, aber immerhin haben Sie ja jetzt den Hund.«

»Ich fand Mungo vor Hughs Haustür sitzend. So heißt mein Freund, Hugh Gault. Er wohnt nicht weit von mir, in Belgravia. Ich war dort gewesen, um ein paar Bücher und andere Sachen zu holen. Hugh trägt sich mit dem Gedanken, das Haus zu verkaufen, doch bezweifle ich, dass er es tatsächlich tut. Er rechnet insgeheim immer noch damit, dass seine Frau und sein Sohn wieder auftauchen.«

»Er wohnt gar nicht mehr dort?«

»Nein. Die ganze Sache hat ihn fast um den Verstand gebracht. Er ist in einer Privatklinik in Fulham.«

»In der Psychiatrie, meinen Sie?«

Harry nickte. »Das alles hat ihn schwer mitgenommen. Inzwischen geht es ihm aber schon viel besser.«

Jury spürte, wie sich der Hund unter seinen Barhocker schob.

»Na, jedenfalls wartete Mungo dort schon wer weiß wie lange an der Tür. Er sah erschöpft und hungrig aus, und nachdem ich ihn hineingelassen hatte, holte ich ihm Futter. Doch anstatt zu fressen, ging er von Zimmer zu Zimmer und schnüffelte herum und untersuchte alles ausgiebig. Dann machte er sich über seinen Fressnapf her, als wollte er sich bis zum Fußboden durchfressen. Ich gab ihm noch etwas, das fraß er ebenfalls und soff noch einen ganzen Eimer Wasser. Dann nahm ich ihn mit zu mir nach Hause. Ich wohne in Belgravia, habe ich das schon erwähnt?«

Keine schlechte Adresse, dachte Jury, aber schließlich war da ja der schwarze Kaschmirmantel, den Jury ununterbrochen begehrlich beäugte. »Könnte es vielleicht sein, dass Ihr Freund Hugh sich das alles zusammenfantasiert hat?«

Harry Johnson musterte ihn wortlos mit enttäuschtem Blick. »Und ich womöglich auch? Ich habe mir Hugh und seine Familie zusammenfantasiert? Das ist doch lächerlich. Was Besseres fällt Ihnen nicht ein?«

Jury lachte. Zum Glück hatte er Johnson nicht verraten, dass er bei der Metropolitan Police war. Noch dazu als Superintendent. Und jetzt würde er es ihm jedenfalls nicht auf die Nase binden. Jurys Frage vorhin war unglaublich lahm gewesen. »Ich nehme an, das heißt nein?«

»Außer Sie denken, ich fantasiere es mir auch zusammen.«

»Schon möglich.«

»Ich bitte Sie.«

»Vielleicht binden Sie mir ja einen Bären auf.«

»Wieso? Wieso sollte ich in ein Pub gehen und anfangen, einem wildfremden Menschen eine Geschichte zu erzählen, die nicht wahr ist?«

»Keine Ahnung. Irgendwann werde ich es wahrscheinlich schon noch herauskriegen. Aber erzählen Sie weiter.« Jury sah zu Mungo hinunter, der wieder unter dem Hocker hervorgekrochen war und aufsah, als er Jurys Blick auf sich ruhen fühlte. »Wie erklären Sie sich das mit Mungo?«

»Dass er zurückgekommen ist? Nun, es gibt doch seit jeher Geschichten von Tieren, die von weit her den Weg zurückfanden, die diese wundersamen Reisen machten, um ihr Zuhause wiederzufinden. Wie hieß dieses Buch, das in meiner Jugend so beliebt war? Die Unglaubliche Reise

»Und Mungo brauchte dafür ganze neun Monate?« Er sah hinunter. Den Blick, mit dem der Hund zu ihm aufsah, konnte Jury nur als flehend beschreiben.

»Ich höre da irgendwie immer noch eine Spur Sarkasmus heraus. Ich bezweifle natürlich auch, dass Mungo neun oder zehn Monate unterwegs war, aber da ich nicht weiß, was sich in dieser Zeit zugetragen hat, kann ich nicht einmal raten. Vielleicht sind diese Geschöpfe nicht ganz so vergesslich wie wir. Es gibt manchmal Zeiten, da weiß ich nicht einmal mehr, in welcher Straße ich wohne.«

Jury lächelte. »Tut mir leid. War nicht so gemeint. Hat der Ehemann es der Polizei gemeldet?«

»Selbstverständlich. Sie können sich ja vorstellen, wie die Polizei in Surrey reagierte: Frau und Kind wurden vermisst, also war Hugh der Hauptverdächtige. Aber so sind sie nun mal, die Bullen: Englands Stolz und Zierde. Absolut einfallslos.«

»Darauf trinke ich einen.« Jury hielt sein Glas in die Höhe, und Trevor kam herüber. »Hugh fuhr also nach Surrey?« Seine Neugier wuchs, je mehr Harry ihm erzählte. Er sah zu, wie Trevor sein Glas frisch füllte.

»Hugh? Nein, nicht gleich. Ich ging an seiner Stelle. Er hatte die fixe Idee, wenn Glynnis und Robbie zurückkämen, müsste er unbedingt da sein, um sie zu empfangen.« Dann fuhr Harry fort: »Vielleicht waren sie ja ermordet worden, vielleicht waren sie entführt worden, oder – das war anfangs die Lieblingstheorie: unglückliche Ehefrau verlässt Gatten und nimmt Kind mit. Das war so lächerlich, dass ich nicht verstand, wieso die Polizei sich darauf versteifte.«

»Es war aber immerhin möglich. Schließlich kannte die Polizei die Frau nicht so gut, wie Sie sie kennen.« So hätte ich auch getippt, hatte Jury gerade sagen wollen, verkniff es sich aber und meinte stattdessen mit einem Blick auf den Hund: »Also weiß es nur Mungo.«

»Was es da zu wissen gibt, ja.«

»Ganz zu Anfang sagten Sie, Sie würden mir den Rest noch erzählen.«

Harry Johnson nickte. »Letztes Jahr im Sommer war es, im Juli, glaube ich. Glynn – also, Glynnis – machte sich an jenem Morgen mit Robbie und Mungo im Schlepptau auf, um in Surrey auf dem Land ein paar Häuser zu besichtigen. Sie hielten nämlich nach einem Haus außerhalb von London Ausschau.«

»Als zweites Heim? Als eine Art Wochenendhäuschen?«

»Nicht direkt – aber darauf komme ich später noch. Jedenfalls war Glynnis mit einer Immobilienmaklerin verabredet, die ein paar Objekte hatte, von denen sie glaubte, dass Glynn sich die ansehen sollte. Sie lagen etwa eine halbe Meile voneinander entfernt in der Nähe eines Dorfes namens Lark Rise. Glynn hatte Besichtigungstermine für beide Häuser. Das eine war noch bewohnt, das andere stand leer. Das eine kam absolut nicht in Frage, sie fand es zu niedlich, zu verspielt. Sie rief die Maklerin an, um ihr dies mitzuteilen und wollte zum zweiten Haus weiterfahren. Bei der Maklerin handelt es sich um eine gewisse Marjorie Bathous, von einer Firma namens Forester & Flynn. Die sitzen in Lark Rise.«

»Dann meldete Glynn sich aber nicht wieder. Die Fahrt zu dem zweiten Haus dauerte bloß ein paar Minuten, doch die Maklerin räumte Glynn Zeit ein, sich in aller Ruhe umzusehen. Das sei im Grunde nicht nötig gewesen, sagte sie, denn Glynnis sei jemand, die sofort wusste, was sie wollte, gleich auf den ersten Blick. Als die Maklerin nach einer Stunde nichts von ihr gehört hatte, begann sie, sich Sorgen zu machen, und dachte, Glynn hätte sich vielleicht verfahren, oder es wäre etwas mit dem Wagen. Als sie nach anderthalb Stunden aber immer noch nichts von ihr gehört hatte, wurde sie richtig unruhig.«

»Hat sie es denn nicht auf Glynnis’ Mobiltelefon versucht?«

»Sie hatte die Nummer nicht. Sie meinte, wenn etwas gewesen wäre, hätte Mrs. Gault sich bei ihr gemeldet. Diese Marjorie Bathous setzte sich also in ihren Wagen und fuhr zum ersten Haus. Von Forester & Flynn aus brauchte sie etwa zwanzig Minuten. Beim ersten Haus schaute sie kurz bei dem Ehepaar dort vorbei, das der Maklerin bestätigte, ja, die beiden seien da gewesen, hätten sogar eine Tasse Tee getrunken, seien aber schon vor einiger Zeit abgefahren. Also fuhr sie zum zweiten Haus. Als sie dort ankam, war keine Menschenseele zu sehen.

»Das Haus war zur langfristigen Vermietung angeboten, nicht zum Verkauf. Jedenfalls hatte es keinen Sinn, an der Tür zu klingeln, denn es stand ja leer. Trotzdem schaute sie sich im Haus und auf dem Grundstück nach irgendeinem Hinweis um, fand aber nichts.

»Nun konnte diese Mrs. Bathous eigentlich nur noch annehmen, dass es zu Hause in London irgendeinen Notfall gegeben hatte. Vielleicht stand das Haus in Flammen. Oder aber Mrs. Gault hatte sich ganz plötzlich unwohl gefühlt und war kurzerhand nach Hause gefahren. Dann entschuldigte sie sich, das sei ja reichlich übertrieben und melodramatisch, aber nichts dergleichen reichte in puncto Melodrama an das Verschwinden dieser Familie heran. Auf diesen Gedanken war sie gar nicht gekommen, denn es war schlicht unmöglich. Leute verschwinden ja nicht einfach so –«

»Leute verschwinden andauernd«, erwiderte Jury, »wenn auch nicht gleichzeitig Frau, Kind und Hund, da stimme ich Ihnen zu. Und weiter?«

»Die Maklerin hatte noch damit gewartet, Hugh Gault anzurufen, tat es nun aber, weil sie dachte, es hätte in London einen Notfall gegeben. Hugh reagierte völlig verblüfft und verständigte umgehend die Polizei von Surrey. Können Sie sich vorstellen, da teilt einer der Polizei mit, seine Familie sei verschwunden? Hätte sich einfach in Luft aufgelöst? Die nahmen natürlich sofort an, die gute Frau sei ihrem lieben Gatten davongelaufen, nicht, dass ihr und dem Jungen etwas zugestoßen war.«

»Und Mungo.«

Der Hund kam unter Jurys Barhocker hervor und hob den Blick, um die beiden nacheinander anzusehen.

Harry lächelte. »Richtig. Immer vergesse ich Mungo.«

Der Hund wandte sich zu Harry Johnson hinüber.

»Ist ja gut«, sagte Harry und zauste ihm den Kopf.

Diesen letzten Drink hatte er doch hoffentlich nicht schon ausgetrunken, dachte Jury. Allerdings verzieh er sich diesen Durst auf Alkohol, denn immerhin hatte er gerade einen ziemlich schweren Fall hinter sich gebracht, der ihn – abgesehen von allem anderen – auch noch total geschlaucht hatte. Er wusste ehrlich gestanden nicht, ob er die Energie aufbringen konnte, zu Fuß nach Hause zu gehen. Er würde ein Taxi nehmen müssen. »Und weiter«, forderte er Harry auf.

»Die Polizei von Surrey kam einfach nicht weiter, was, unter uns gesagt, kaum überraschend ist. In Anbetracht der Tatsache, dass ein neunjähriges Kind vermisst wurde, bemühten sie sich aber redlich. Beim ersten Haus fand die Spurensicherung zwar Reifenabdrücke, die zu Glynnis’ Wagen passten, aber das war ja nichts Neues.«

»Was hat man in der Nähe des zweiten Hauses gefunden?«

»Nichts. Dort war die Erde so hart, dass sie überhaupt keine Reifenspuren ausmachen konnten. Nicht die von Glynn und auch keine anderen. Hugh war natürlich außer sich. Er war fest überzeugt, dass es sich nur um eine Entführung handeln konnte. Das dachte ich auch, allerdings gab es keine Lösegeldforderung.«

Jury musste an den erst kürzlich gelösten Fall Flora Scott denken. »Gäbe es dafür denn einen Anlass? Ich meine, sind die Gaults wohlhabend?«

»Wohlhabend nicht, es geht ihnen aber recht gut. Als ihre Mutter starb, hat Glynn etwas geerbt, und Hugh ist ja Professor an der Londoner Universität. Physik.«

»Hätte Ihr Freund Hugh nicht vielleicht ein Tatmotiv?«

»Natürlich nicht.« Harry klang irritiert. »Außerdem war er in London, was zahlreiche Leute bestätigen konnten.«

»Schon, aber das schließt nicht aus, dass er jemanden hätte beauftragen können. Und in dem Fall können Sie wetten, dass es Zeugen gibt, eine ganze Latte von Zeugen sogar.«

»Genau das hat die Polizei auch gesagt.« Harry sah Jury nachdenklich an.

Jury lachte. »Sie müssen wissen, ich bin ein großer Fan von dieser Polizeiserie – wie heißt sie gleich noch mal? Na, jedenfalls gucke ich sie mir immer im Fernsehen an.«

»Sie kennen Hugh aber nicht.«

»Da haben Sie ganz Recht. Und was geschah dann?«

»Dann kam der Privatdetektiv.«

»Der aber nichts herausfand?«

Harry nickte. »In der Zwischenzeit fuhren wir nach Lark Rise zu Forester & Flynn und holten uns die Schlüssel für das leer stehende Haus. Das machen die Makler auf dem Land so, weil die Objekte manchmal ziemlich weit auseinander liegen. Ich meine, da braucht nur etwas schiefzugehen, und schon hat man den Ärger.«

Wie bei Glynnis Gault, verkniff Jury sich zu sagen: »Demnach ging Mrs. Gault also doch ins Haus?«

»Das wusste die Maklerin nicht. Wenn es Glynnis von außen nicht gefiel, schaute sie wahrscheinlich gar nicht hinein.«

»Dann ist Ihre Glynnis aber ein ganz seltenes Exemplar von Frau.«

»Wieso sagen Sie das?«

»Welche Frau mit dem Schlüssel zu einem fremden Haus in der Hand würde diesen nicht benutzen? Tut mir leid, wenn es herablassend klingt. Vielleicht sollte ich sagen ›welcher Mensch‹. Ich habe jedenfalls festgestellt, dass Häuser und deren Inhalt für Frauen viel interessanter sind als für Männer.«

»Sie glauben, sie ist hineingegangen?«

Jury nickte. »Und weiter?«

»Die Zimmer waren geräumig, mit sehr hohen Decken, der Salon –, beziehungsweise das Wohnzimmer – mit offenbar recht wertvollen Antiquitäten ausgestattet. Es gab einen russischen Schreibtisch mit Silberintarsien und einen in Rot- und Blautönen gehaltenen, riesigen türkischen Teppich. Der Tisch war zum Tee gedeckt, mit silbernem Teegeschirr, Tassen, Untertassen und so weiter.«

»Sie meinen, wie bei Miss Havisham in dem Roman von Dickens? Hatte die nicht alles, was ihre bevorstehende Hochzeit betraf, jahrelang genauso stehen lassen?«

Harry hatte sich eine Zigarette angezündet und stieß den Rauch aus. »Nein, das meine ich nicht.« Es schien ihn irgendwie zu ärgern, dass Jury literarische Vergleiche anstellte.

»Das Haus«, fuhr er fort, »liegt etwa sechzig Meter von der Straße entfernt. Vorne wucherte alles wild – Gras, Baumhecken, Büsche. Seitlich und hinter dem Haus, am Ende des Gartens, standen hohe Bäume, ein richtiger Wald eigentlich, alles recht dicht und ursprünglich. Sicherlich nicht der Inbegriff von einem niedlichen Cottage auf dem Lande. Hugh verstand nicht, wieso die Maklerin es Glynnis überhaupt angeboten hatte, oder dass Glynnis sich die Mühe gemacht hatte hineinzugehen. Es war ein recht imposantes Haus, aber viel zu groß.«

»Nun, vermutlich ist sie nicht die erste Maklerin, die einer Kundin eine ungeeignete Immobilie zeigt. Könnte es vielleicht sein, dass jemand Mrs. Gault erwartete? Und was ist mit dem Jungen? Und mit unserem Mungo –«

Beide sahen hinunter. Mungo beäugte wieder erst den einen, dann den anderen. Dieser Blick, dachte Jury, wirkte nicht sehnsüchtig, eher verwirrt oder zumindest verblüfft.

»Ob die Entführer wirklich vorgehabt hatten, alle drei mitzunehmen?«

»Mussten sie vielleicht, den Jungen konnten sie ja schlecht laufen lassen«, sagte Harry.

»Mungo ließen sie aber laufen.«

Harry verdrehte die Augen. »Ich nehme an, sie dachten sich, Mungo würde ja nicht gleich einen Bericht schreiben über das, was geschehen war.«

»Eine Entführung passt irgendwie gar nicht zu dem, was es sonst mit dem Haus auf sich hatte. Sie wissen also nicht, ob zwischen dem Haus und dem Verschwinden von Glynnis und Robbie Gault eine Verbindung besteht. Es könnte einfach Zufall sein.«

Harry betrachtete seinen Drink.

»Wer ist der Besitzer des Hauses?«

»Ein gewisser Ben Torre. Genauer, Benjamin della Torre.«

»Klingt aristokratisch.«

Kopfschüttelnd hob Harry sein Glas hoch.

»Klingt auch spanisch.«

»Italienisch. Er lebt in der Nähe von Florenz.«

»Sie wissen ja gut Bescheid.«

Harry nickte. »Musste ich ja, nach allem, was passiert ist.«

»Nach allem?«

»Was ich Ihnen erzähle.« Harry schaute lächelnd auf seine Armbanduhr. »Ach, es ist ja fast neun. Würden Sie gern irgendwo essen gehen? Ich kenne da ein sagenhaftes Restaurant.«

Jury sah ebenfalls auf die Uhr und staunte, dass er sich fast zwei Stunden mit Harry Johnson unterhalten hatte. »Warum nicht? Eine gute Idee. Was ist mit Mungo?«

Beide standen auf, um ihre Mäntel anzuziehen (Harry den aus Kaschmir, Jury sonst was). Als Mungo dies sah, rappelte er sich ebenfalls auf und wedelte mit dem Schwanz.

»Oh, Mungo darf uns gern Gesellschaft leisten. Ich rufe eben kurz dort an und sage, dass wir kommen.« Er zog ein Handy aus der Manteltasche und wandte sich etwas beiseite, um den Anruf zu tätigen.

Jury kniete sich hin und kraulte Mungo die Ohren. Dabei fragte er sich, was der arme Hund wohl durchgemacht hatte und wie es kam, dass ein Tier so einen guten Orientierungssinn haben konnte, dass es von weiß Gott woher den Weg zurück nach Hause fand. Er überlegte, ob der Begriff »zu Hause« Tieren wohl mehr bedeutete als Menschen.

Harry klappte sein Handy zu. »Erledigt. Das Lokal wird Ihnen gefallen.« Dann sah er lächelnd zu Mungo hinunter. »Ein erstaunlicher Hund. Ich werde einfach nicht schlau aus ihm.« Er machte eine Pause. »Eigentlich werde ich aus dem allem nicht so recht schlau.«

2

»Das Haus selbst – es heißt übrigens Winterhaus – wieso, weiß ich auch nicht, nun, über das Haus selbst wollte ich mehr erfahren. Ein Ort, fand ich, der etwas Besonderes an sich hatte.«

Sie saßen inzwischen in einem dieser angenehmen Restaurants, wo Speisen und Service offensichtlich wichtiger waren als die Einrichtung, denn es gab weder diese schrecklichen Raumteiler aus Kunstharz oder Milchglas noch Wandleuchter mit eingraviertem Muster, auch keine ausladenden Ledermöbel und grellweiße Tischwäsche. Der Abstand zwischen den Tischen war so groß, dass man nicht das Gefühl bekam, die Leute am Nebentisch belauschten die Unterhaltung. Harry Johnson war hier offenbar Stammgast, denn der Oberkellner kannte ihn mit Namen und behandelte ihn sehr zuvorkommend.

Sie hatten bestellt, oder vielmehr hatte Harry vorgeschlagen, dass der Ober die Bestellung für sie ausführte, ebenso wie er den Sommelier gebeten hatte, den Wein auszusuchen.

»Das Haus hatte etwas Besonderes an sich?«

Harry zuckte die Achseln. »Genau weiß ich auch nicht, was ich damit sagen will. Etwas Unheimliches. Als wir wieder wegfuhren, kam uns am Ende der Auffahrt ein alter Mann entgegen, vermutlich jemand aus dem Dorf. Wir hielten an und fragten nach dem Swan, einem Pub ganz in der Nähe. Er sagte, es sei noch ein kleines Stück weiter, und raunte uns dann zu, dass er Jessup heiße, hier in der Gegend wohne und uns vor ›dem Haus da drüben‹ warnen wolle. Er meinte, wir sollten uns vor dem Wald hüten. Stellen Sie sich das mal vor.« Harry lachte.

»Kam Ihnen der Wald denn irgendwie schaurig vor?«

»Nein.«

»Was ist mit dem Besitzer? Was hatte der zu sagen?«

»Der lebt in San Gimignano, einem von diesen Bergstädtchen in der Toskana, in einer casa torre. Dort wimmelt es von solchen Türmen.«

»Sie waren dort?«

»Ja. Wir haben schließlich nach allen möglichen Spuren gesucht. Hugh war dazu nicht in der Lage, also bin ich hingefahren. Der Besitzer wollte nicht nach England kommen – wieso sollte er auch? Er hatte das Haus einer Maklerin anvertraut, sollte die sich verdammt noch mal darum kümmern.«

»Aber hätte es nicht auch telefonisch geklärt werden können? Dafür extra nach Italien zu fahren, erscheint mir ein bisschen übertrieben.«

»Ist eine Reise nach Italien denn nicht immer die Mühe wert? Außerdem war ich noch nie dort gewesen.«

Jury lachte. »Verstehe. Und weiter?«

»Interessant, was Ihren Einwand wegen des Telefons betrifft: Er wollte es nicht am Telefon besprechen. Falls ich zu ihm kommen wollte, könnte ich das gerne tun.«

Der Ober hatte ihre Salate gebracht, vorwiegend neue, trendige Sorten mit Stilton und Walnüssen in einem Zitronendressing.

Harry fuhr fort: »Zwei Tage später stand ich bei ihm vor der Tür. Wir tranken etwas, aßen in einer kleinen Trattoria zu Abend. Solche capesante wie dort hatte ich noch nie gegessen.«

»Ich habe überhaupt noch nie welche gegessen. Und weiter?«

Harry lächelte. »Er hatte keine Ahnung, weshalb ich seine Geschichte hören wollte. Er wusste lediglich, dass ich mich für das Haus interessierte und mehr darüber erfahren wollte, denn die Grundstücksmaklerin hatte ja keinen blassen Dunst davon. Das lag daran, klärte Ben Torre mich auf, dass er ihr nicht viel gesagt hatte. Er hatte es nicht für notwendig erachtet. Wenn ich aber etwas über die Geschichte des Hauses wissen wollte, bevor ich die Immobilie mietete, würde er es mir gern erzählen. Ich präsentierte mich natürlich als zukünftiger Mieter oder jedenfalls als nichts anderes. Es gefiel ihm, glaube ich, dass ich die weite Reise nach Italien gemacht hatte, nur um etwas über dieses Haus zu erfahren. Torres Vater war Italiener, seine Mutter Britin. Er war in England aufgewachsen, hatte bis etwa Mitte zwanzig dort gelebt. Fand es dort scheußlich – so trist, nass und kalt, und die Leute nicht besonders warmherzig.

Seine Eltern waren geschieden, sein Vater lebte in Siena. Dieses Winterhaus, also das Haus, das Glynnis Gault besichtigte, gehörte der Familie seiner Mutter.

Das letzte Mal sei er auf seinem Besitz in Surrey gewesen, als er das Objekt damals vor zwei Jahren einer Maklerfirma übergeben hatte. Mir gegenüber sagte Ben Torre: ›Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen. Das Anwesen gehörte der Familie meiner Mutter. Meine Mutter starb vollkommen unerwartet mit kaum vierzig Jahren in London. Sie war überhaupt nicht krank gewesen. Ich war damals sechzehn. Mein Vater lebte zu jener Zeit schon hier. Sie waren bereits seit Jahren geschieden. Ich wunderte mich, dass sie sich überhaupt zusammengetan hatten – sie waren so verschieden. Manchmal glaube ich, eine Ehe ist nichts anderes als die Aussöhnung von Unterschieden, die manchmal nur gelingt. Kein erhebender Gedanke, oder?

Jedenfalls hatte meine Mutter – sie hieß Nina – dieses Haus in Surrey immer gern gehabt. Sie hatte ihre Kindheit dort verbracht, es geheimnisvoll gefunden. Aber die meisten Kinder finden ja Dinge geheimnisvoll, die Erwachsenen völlig gleichgültig sind. Mehr als einmal hatte meine Mutter Kaufangebote für das Haus bekommen – und wenn Sie es sehen könnten, wüssten Sie, dass es ein recht hübsches Anwesen ist, wenn auch nicht ordentlich instand gehalten. Meine Mutter wollte aber nicht verkaufen, nicht, weil sie dort als Kind gelebt hatte, sondern weil sich dort etwas zugetragen hatte, für das sie sich gewissermaßen verantwortlich fühlte. Nicht, dass sie etwas getan hätte, meine ich, sie wollte einem Fremden diese unselige Geschichte nur nicht zumuten.‹«

Jury ließ die Gabel sinken. »›Unselige Geschichte?‹«

Harry Johnson hob aber bloß abwehrend die Hand.

»Torre fuhr fort: ›Ich selbst war acht Jahre alt, als sie mir davon erzählte. Immer wieder hatte ich sie bekniet, mir doch zu erklären, was sie damit meinte. Eines Abends schließlich, als sie mich zu Bett brachte und mir eine Geschichte vorlesen wollte … Sie hatte eine wunderschöne Stimme. Ich wollte aber keine Geschichte vorgelesen bekommen. Ich wollte, dass sie mir eine erzählte. ‹

›Na gut, Benji, ich werde dir eine Geschichte erzählen.‹ Sie klappte das Buch zu und legte es beiseite. Und dann erzählte sie mir diese Geschichte und seither weiß Gott wie oft, weil ich immer wieder danach verlangte.

›Ein Fremder stand dort draußen am unteren Ende des Gartens. Erst dachte ich, es sei ein Lieferant oder ein Bekannter deines Vaters. Doch er rührte sich nicht von der Stelle. Ein Vagabund war es nicht, das sah man an seinem Mantel und dem Spazierstock. ‹

›Und an seinem Bowlerhut‹, sagte ich, ›den hast du ausgelassen. ‹ Ich unterbrach sie oft auf diese Weise, um sicherzugehen, dass alle Einzelheiten drin waren, auch Allgemeinplätze wie Wetter und Licht, der Einfallswinkel der Sonne, das bunte Herbstlaub – all diese Details mussten absolut stimmen, also immer gleich sein, bevor ich ihr erlaubte weiterzureden.‹«

Harry Johnson hielt inne, um einen Schluck Wein zu trinken. Wie durch Zauberhand erschien ihr Abendessen. Das Gericht hatte einen atemberaubend komplizierten Namen. Was immer es war, es war gut.

Bei diesem »Fremden« (dachte Jury) handelte es sich bestimmt um den Überbringer schlechter Nachrichten oder gar die schlechte Nachricht selbst. Er würde sterben, war Jury sich sicher. »Er wurde ermordet, stimmt’s?«

Erstaunt riss Harry die Augen auf. »Sie ziehen übereilte Schlüsse. Dafür würde Ben Torre Ihnen den Kopf abreißen.« Harry lachte.

»Erzählen Sie weiter. Der Fremde.« (Der, fügte er bei sich hinzu, später ermordet wird.)

»Ben Torre sagte: ›Meine Mutter korrigierte also die Sache mit dem Hut, dann fuhr sie fort:

›Er blieb ziemlich lange dort unten am Fußweg stehen, und ich weiß nicht, warum ich nicht hinausging und ihn fragte, wer er war und was er wollte. Ich hatte ein bisschen Angst. Ich hatte an meinem Fensterplatz gesessen und versucht, mein Buch zu lesen – doch ich konnte nicht, und als ein Sonnenstrahl über die Seite fiel, blickte ich wieder hoch. Er war verschwunden. Ich war erleichtert. Er war fort, Gott sei Dank. Aber drei Tage später tauchte er wieder auf. Am unteren Ende des Gartens, an der gleichen Stelle. Ich …‹ Dann hielt sie inne, und ich sagte: ›Du sagtest dir, du musst was unternehmen.‹

›Ja. Es war so, wir waren ganz allein dort. Du warst damals erst acht.‹

An dieser Stelle klang Ben Torres Stimme ganz aufgeregt, als spürte er die Unsicherheit und Angst seiner Mutter immer noch. ›Meine Mutter rief also auf der Polizeiwache an.‹

›Aber was soll ich denen denn sagen? Dass ein Mann zwei Mal unten am Gartenweg gestanden hatte? Wieso sollte die Polizei da mühselige Ermittlungen anstellen? Ich rief aber trotzdem an, Benji, und war überrascht, dass sie so höflich waren.‹«

»Englands Stolz und Zierde«, ließ Jury sich vernehmen und erntete einen vernichtenden Blick von Harry Johnson.

»Ben Torre fuhr fort: ›Der rätselhafte Fremde faszinierte mich eher, als dass er mir Angst machte, allerdings war es auch nicht so einfach, mir Angst einzujagen. Das wusste meine Mutter. Trotzdem – den Rest erzählte sie mir nicht.‹« Wieder hielt Harry inne, um einen Schluck Wein zu trinken.

Jury sagte: »Machen Sie wenigstens eine Pause zum Essen. Dieses Gericht ist es definitiv wert.«

»Ach, das habe ich schon oft gegessen. Es ist köstlich.«

Jury genoss dieses Schwelgen in Erinnerungen. Seine Gedanken wanderten zu dem Gemälde, Die Schmetterlingsesser, das er damals im Baltic Center in Newcastle gesehen hatte. Wo es um das Verspeisen von Illusionen ging.

Harry fuhr fort. »Er sagte: ›Jahre später erzählte mir mein Vater dann den Rest. Das Haus, sagte er, hätte eine traurige Geschichte, eine trostlose Geschichte.‹

›Das hat die Polizei deiner Mutter auch gesagt: Einst wohnte dort eine Familie namens Overdean. Die hatten es gemietet und lebten dort zusammen mit ihrem Sohn, dem siebenjährigen Basil. Eines Nachts wurden der Junge und seine Mutter in ihren Betten ermordet. Dem Vater selbst wurde kein Haar gekrümmt. ‹

In solchen Fällen«, fuhr Harry fort, »deutet alles darauf hin, dass jemand aus der Familie die Tat begangen hat – in diesem Fall der Vater, der als Einziger verschont worden war. Von einem Motiv war allerdings nicht die Rede, seine Fingerabdrücke waren auch nicht auf dem Messer, mit dem mehrmals auf die beiden eingestochen worden war. Das Messer stammte anscheinend nicht aus dem Haus. Das ließ die Anklage aber alles nicht gelten. Nun, Sie wissen ja, wie Polizei und Anwälte sind –«

»In der Tat.«

»– in Ermangelung von Gegenbeweisen konnten sie einfach behaupten, der Vater hätte seine Fingerabdrücke vom Messer abgewischt oder ganz einfach ein fremdes Messer ins Haus bringen können –«

Wieder unterbrach ihn Jury. »Und dann seelenruhig im Bett liegen, während seine Frau umgebracht wurde. Ich bitte Sie!« Inzwischen war der Ober gekommen, um ihre Teller abzuräumen. Der von Jury war leer geputzt.

»Genau das dachte ich auch.«

»Er wurde verurteilt?«

Harry nickte. »Der Richter schien Zweifel an seiner Schuld zu haben und verurteilte ihn nicht zu lebenslänglich, sondern nur zu zwanzig Jahren. Wegen untadeligen Verhaltens musste er nur zehn absitzen. Die Beweislage war wohl äußerst dürftig.«

»Es waren mit Sicherheit nur Indizien. Was mich überrascht, ist, dass die Verteidigung da keine Zweifel aufkommen lassen konnte.«

Der Ober kam mit dem Nachtisch, einer mit Lavendel aromatisierten, glasierten Crème brûlée. »Und was hat es mit dem Fremden auf sich? Die Erklärung ist Mr. Torre noch schuldig geblieben.«

»Hören Sie zuerst, was seine Mutter über das Haus erzählte: Einmal sagte sie mir: ›Benji, Häuser sind mehr als nur Holz, Stein und Gips. Häuser atmen. Ich glaube, sie tragen die Spuren all der Menschen in sich, die in ihnen gewohnt haben.‹«

»Auch die von Mrs. Overdean und ihrem Sohn? Keine besonders passende Geschichte, jedenfalls nicht für ein kleines Kind.«

»Ich wiederhole nur, was Ben Torre mir gesagt hat. ›Und der schweigsame Fremde im Bowlerhut?‹, fragte ich meinen Vater.

›Das wusste deine Mutter nicht. Vielleicht war es der Vater, der zurückgekehrt war.‹«

»Tot oder lebendig?«, fragte Jury.

Harry lachte. »Lebendig, sagte er, glaube ich. Es wäre doch kaum verwunderlich, wenn er in das Haus zurückkehrte, in dem sich so Schlimmes zugetragen hatte, wo er den Verlust –« Harry unterbrach sich plötzlich.

»Wo er alles verloren hatte, wollten Sie doch gerade sagen. Wie Ihr Freund Hugh Gault. Bloß dass es in seinem Fall keine rationale Erklärung zu geben scheint für das Verschwinden seiner Frau und seines Sohnes.« Jury sah hinunter zu Mungo, der den Kopf unter der herunterhängenden Tischdecke hervorstreckte. »Und seines Hundes.«

Harry machte dem Kellner ein Zeichen, um Kaffee zu bestellen. »Ich fragte Ben Torre: ›Was war mit dem Fremden? Dachte Ihre Mutter, es sei dieser Mr. Overdean?‹ Ben lachte. ›Das glaube ich kaum. Dafür wäre er ein bisschen zu alt, meinen Sie nicht? Overdean wäre inzwischen längst tot. Nein, das ist ziemlich unmöglich, außer natürlich, man glaubt an Gespenster.‹«

»Tun Sie das? Oder Nina Torre?«, fragte Jury.

Ihr Kellner schenkte ihnen Kaffee ein und stellte die Silberkanne auf den Tisch. Harry schüttelte den Kopf. »Ich kann nur für mich selbst sprechen. Nein, sicher nicht. Bei Mrs. Torre wäre ich mir allerdings nicht so sicher. Und Hugh? Bevor das alles passierte, hätte ich behauptet, er tue es definitiv nicht. Aber jetzt sucht er einfach nach einer Erklärung, egal welcher. Das ist alles so deprimierend!« Er überlegte. »Eines war Ben Torre aber wichtig: Ich sollte mich vor dem Wäldchen hinterm Haus in Acht nehmen.«

»Wie denn?«

»Er meinte es ganz ernst. Interessant, nicht wahr? Er wiederholte die Warnung, die uns dieser Mr. Jessup gegeben hatte: Wir sollten uns vor dem Wäldchen hüten.«

»Warum?«

»Das sagte Torre nicht. Er tat die Frage einfach ab, als wäre ich verrückt, sie überhaupt zu stellen.«

»Und haben Sie sich davor gehütet?«

»Es war der erste Ort, den ich aufsuchte, kaum dass ich aus Florenz zurück war. Wissen Sie, wenn jemand auf eine Stelle deutet und Ihnen sagt, Sie sollen von dort wegbleiben, würde es Sie dann nicht besonders reizen, dorthin zu gehen? Es fordert die Neugier doch geradezu heraus.«

»Und was haben Sie gefunden? Welche Gefahr lauerte dort auf Sie?«

»Gar keine. Die Polizei von Surrey hatte das Wäldchen durchgekämmt, auf der Suche nach, nun, wahrscheinlich nach … menschlichen Überresten.« Harry griff nach seiner Kaffeetasse und nahm einen Schluck, als wollte er das Wort damit hinunterspülen.

Menschliche Überreste. Das Wort hatte Jury schon immer gehasst – es hörte sich so distanziert an, so steril. »Was ist mit dem ersten Haus? Läge es denn nicht nahe, dort zu suchen? Niemand weiß doch, ob Glynnis und ihr Sohn überhaupt beim zweiten Haus angekommen sind.«

»Nein, Sie haben ganz Recht.« Harry lehnte sich, Tasse und Untertasse in den Händen, in seinem Stuhl zurück.

»Ein verteufelt merkwürdiges Muster scheint mir das.«

Harrys Stirn umwölkte sich. »Was für ein Muster?«

»Das ist Ihnen doch sicher aufgefallen. Die Overdeans, Nina Torre, Glynnis Gault. Alle waren allein mit ihren acht- oder neunjährigen Söhnen.«

Harry lehnte sich vor. »Nein, das habe ich nicht bemerkt. Ich muss wohl blind sein.«

Mungo streckte die Schnauze unter dem Tisch hervor, um sie auf Jurys Schuh zu legen. Er blinzelte träge, als Jury zu ihm hinunterschaute. Als würde ihn das alles überhaupt nicht jucken. Als fände er die Unterhaltung absolut lächerlich. Als wäre Jury ein vollkommener Idiot.

Mungo gähnte.

Um das Wäldchen geht’s doch gar nicht.