MARTHA GRIMES
DIE TREPPE ZUM
MEER
Roman
Deutsch von Cornelia C.Walter
Auf dem Kopf hatte er immer noch seine Taxifahrerkappe – eigentlich müsste er sie in seine Nummer einbauen, dachte Johnny, weil sie für einen Zauberer so ungewöhnlich war. Er saß am Spieltisch und ließ die Karten geschickt in der Hand verschwinden. Immer wieder gelangte die Herzdame nach oben. Sie bewegte sich fast wie von selbst dorthin.
Es war total einfach. Er staunte immer wieder, dass die Leute nicht dahinter kamen. Beim Zaubern ging es etwa um das Gleiche wie bei einem Mord oder in einem Kriminalroman: Ablenken, falsche Fährten legen – so einfach war das. Hier eine Spur legen, und gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf etwas ganz anderes ganz woanders lenken. Es kommt darauf an, wie ein Zauberer seine Hände einsetzt. Sieht er die eine Hand scharf an, dann tut es das Publikum auch. Dadurch ist die andere frei und kann hinter den Kulissen agieren.
Er schloss die Augen und stützte sich mit dem Ellbogen auf den Spieltisch. Abgesehen von der Truhe in der Fensternische hinter ihm war der Spieltisch das interessanteste Möbelstück im Cottage. Seine Tante Chris hatte ihn – zusammen mit einigen anderen Stücken – aus dem Nachlass ihrer Tante geerbt. Er war faszinierend, er verlieh dem Haus jenes gewisse »Las Vegas«-Flair, wie Chris immer gern betonte. Der Tisch war groß, rund und mit grünem Filzflanell bespannt. Außen herum waren lauter kleine Schubladen angebracht, in denen man Spielkarten, Roulettechips und alles Mögliche aufbewahren konnte.
Nun rieb Johnny die glatte Karte blank, la carte glissée. Der Klang gefiel ihm: la carte glissée. Er steckte sie wieder zu den anderen und drückte den Stapel fest mit dem Daumen herunter. Dann breitete er die Karten fächerförmig aus und tastete sie vorsichtig ab. Da war sie, die glatte Karte. Eine nützliche Karte für allerhand Tricks.
Chris sah seiner Mutter sehr ähnlich. Das war auch das Einzige, was er mit ihr gemeinsam hatte. Seine Mutter hatte sich schon vor Jahren aus dem Staub gemacht. Sein Vater war tot.
So ist das Leben, sinnierte Johnny, während er den Kreuzkönig nach oben schob. Leben bedeutet brutale Umkehrungen im Bruchteil einer Sekunde.
Man dreht den Kopf und hat es schon verloren.
Man blinzelt, und schon ist es an einem vorbeigerast.
Man zwinkert, schon ist es weg.
»Bringen Sie nur ein Kännchen Gift«, sagte der elegante Herr und legte die Speisekarte des Woodbine Tea-Room wieder behutsam zwischen das Salzfässchen und die Zuckerdose.
Johnny verzog keine Miene, während er sich die Bestellung notierte. »Einmal?«
Der elegante Herr nickte. »Und für mich ein Kännchen China-Tee. Ach ja, und nicht zu vergessen einen Teller mit Scones.« Melrose sah auf seine Armbanduhr. »Sie hat sich wahrscheinlich verirrt.«
China-Tee, Scones, notierte Johnny. »Einen China-Tee, einmal Gift, eine Portion Scones.«
»Na, sagen wir, zweimal das volle Teegedeck. Was sein muss, muss sein, wir sind schließlich in Cornwall, stimmt’s? Sorgen Sie aber unbedingt dafür, dass die Kuchenplatte immer in Reichweite steht.«
Johnny schrieb die Bestellung auf und nickte. »Mit den Scones warte ich noch, die sollen ja nicht abkühlen. Ich meine, bis Ihre Freundin eintrifft.«
»Hmmm, hmmm. Das Gift ist für sie.«
»Sie muss ja eine tolle Nummer sein.«
Während er sich dem Putzen seiner Brille widmete, warf ihm der elegante Herr einen tiefen Blick zu. (Einen tiefen, grünen Blick, hätte Johnny gesagt, wenn er ihn hätte beschreiben sollen. Was der für Augen hatte.)
»O ja, das ist sie.«
Die tolle Nummer kam durch die Tür des Woodbine Tea-Room gefegt, Wind und Regen im Rücken, die sie schoben und schubsten, als hätte das Wetter eine persönliche Abneigung gegen sie.
Die tolle Nummer legte ihre Pelerine ab, schüttelte sie aus, um die Regentropfen von sich höchstselbst auf jemand anderen zu übertragen – mit Erfolg, da eine beträchtliche Menge derselben in Melrose Plants Gesicht landete.
Dann ließ sich die tolle Nummer nieder und wartete darauf, dass Melrose endlich mit der Teestunde in Gang kam.
Melrose brauchte sich keine konversationsmäßigen Verrenkungen mehr auszudenken, denn der schlagfertige junge Kellner war so schnell wieder da, als hätte er ein Skateboard unter den Sohlen. Melrose war dankbar.
Obgleich er sich erstaunt fragte, wer dieser Knabe eigentlich war. Relativ groß, dunkelhaarig, recht gut aussehend, fünfzehn, sechzehn vielleicht? Die Mädchen rannten ihm vermutlich die Bude ein, hängten sich wie die Kletten an ihn. Ganz schön selbstbewusst gab er sich ja, das musste man sagen. Trug die weiße Schürze, ohne sich dabei lächerlich vorzukommen. Guter Gott, die meisten Jungs in seinem Alter würden lieber tot umfallen, als sich dabei ertappen zu lassen, wie sie in einer Teestube bedienten, noch dazu mit umgebundener Schürze.
»Madam?« Er taxierte Agatha mit einem kurzen, prüfenden Blick: graues, zum Nest geschlungenes Haar, braunes Wollkostüm, an kleine Baumstümpfe erinnernde Fesseln. »Der Herr empfahl getrennte Kännchen, das volle Teegedeck, also Scones und diverse Kuchen, extra dicke Sahne und Marmelade.«
Agathas Miene hellte sich auf. »Wieso zwei Kännchen, Melrose?«
Nicht willens, näher darauf einzugehen, zuckte Melrose stumm die Schultern.
Der Junge antwortete an seiner Stelle. »Er dachte, Sie hätten vielleicht gern eine andere Sorte Tee. Statt Schwarztee vielleicht einen Oolong?«
Dieser Knabe, dachte Melrose, verbringt viel Zeit in der Phantasiewelt. Er hätte sich ihm dabei zu gern angeschlossen, nachdem Agatha ja nun eingetroffen war, doch die Jugend hat Schwingen und das Alter ist gefesselt. Wie sie herausgekriegt hatte, dass er nach Cornwall fahren wollte, wer es hatte durchsickern lassen, war Melrose immer noch schleierhaft. Immerhin hatte sie keinen blassen Schimmer, weshalb er hierher gekommen war.
Nachdem ihm die Anzeige mit dem zur Vermietung stehenden Anwesen in Country Life aufgefallen war, hatte er spontan beim Maklerbüro Aspry & Aspry angerufen und mit einer gewissen Mrs. Laburnum einen Besichtigungstermin drei Tage später vereinbart. Sodann hatte er ab Paddington Station einen Platz im Erster-Klasse-Abteil des Great Western reserviert und war mächtig stolz auf sich gewesen, weil er zur Abwechslung einmal ganz spontan gehandelt hatte. »Das kommt bei mir recht selten vor«, hatte er Marshall Trueblood gegenüber (selbstzufrieden) geäußert, als sie im Jack and Hammer – dem beliebtesten, besser gesagt, dem einzigen Pub von Long Piddleton – bei einem Drink saßen.
»Sie?« Trueblood roch an seinem Drink, atmete tief ein und fing prompt an zu husten. Als er fertig war, sagte er: »Das sind Sie doch immer. Sie treffen doch fast alle Entscheidungen ganz spontan.«
Melrose lehnte sich überrascht zurück. »Ich? Spontan?«
»Na, Menschenskind, war es etwa mein Vorschlag, nach Venedig zu fahren, als Viv-Viv den Termin für die Hochzeit mit Graf Dracula anberaumt hatte.«
»Ach du meine Güte, das ist doch was ganz anderes, was gaaanz anderes. Das war doch – na, Sie wissen schon, bloß ein kleiner Jux. Was ich meine, ist beispielsweise kurzerhand mal nach Äthiopien zu fahren. Einfach so. Ganz ohne großes Federlesens.«
»Wie viel Federlesens machten Sie, als Sie Vivian verkündeten, Richard Jury würde heiraten, und sie sollte sich besser schleunigst auf die Heimreise machen? Etwa zehn Sekunden, wenn ich mich recht erinnere.«
»Moment mal, Moment. Das war Ihre Geschichte, die haben Sie ausgeheckt.«
»Nein, habe ich nicht. Na gut, vielleicht doch. Also schön. Und was ist mit damals, als Sie –?«
Melrose beugte sich über den Tisch, packte Trueblood bei seiner Armani-Krawatte und zog heftig daran. »Marshall, worauf wollen Sie eigentlich hinaus? He?«
»Auf gar nichts. Auf gar nichts will ich hinaus.«
Melrose schnippte die Krawatte wieder gegen Truebloods blassgelbes Hemd. Der war heute ganz in Rosa und Bernsteingelb gekleidet und sah wie immer aus wie der Traum eines jeden Herrenschneiders.
»Außer natürlich darauf«, sagte er, »dass Sie vollkommen überstürzt handeln. Sie halten sich doch nur deshalb für einen, der seine Schachzüge sorgfältig plant und die Dinge im Voraus ausklügelt, weil Sie dann sowieso nie was unternehmen – was denn, was denn? – ich möchte nur daran erinnern, wie Sie Superintendent R. J. ausgeholfen haben. Das nenne ich mir überstürzt! Ha, ha! Kaum schnippt Jury mit dem Finger, schon rasen Sie los wie ein geölter Blitz.« Trueblood ruckte ein paar Mal mit dem Arm und machte Zischgeräusche. Dann fragte er: »Wo steckt Jury eigentlich?«
»In Irland.«
»Nord? Süd? Wo?«
»In Nordirland.«
»Grundgütiger Himmel, wieso denn?«
»Er wurde wegen eines Falls dorthin geschickt.«
»Ach, wie banal.«
Melrose runzelte nachdenklich die Stirn. »Wovon haben wir eigentlich gerade gesprochen? Ich meine, bevor … Ach ja – Cornwall.« Er zog einen kleinen Notizblock hervor, schwarz und oben mit Spiralheftung, wie Jury immer einen bei sich hatte, und blätterte ein paar Seiten um. »Bletchley. Das liegt in der Nähe von Mousehole. Schon mal davon gehört?«
»Nein. Ich kann mir auch nicht denken, wie ich dazu käme. Sie kann ich mir dort ebenfalls nicht vorstellen. Sie haben überhaupt nichts an sich, was nach Cornwall passen würde.«
»Woher wollen Sie das wissen? Sie haben doch noch nie im Leben einen Fuß in diese Grafschaft gesetzt. Woher wissen Sie, was dorthin passt und was nicht?«
»Nun, zunächst einmal ist man dort alles andere als spontan. Sie würden es dort keine Woche aushalten – Autsch!«
Währenddessen wollte Agatha im Woodbine Tea-Room von ihm wissen: »Was ist denn los mit dir, Melrose? Du siehst ja vielleicht aus.«
Was immer das heißen mochte. Er rührte lächelnd in seinem Tee, warf noch ein Stückchen Zucker hinein und dachte an die entsetzliche Zugfahrt von London hierher, die er soeben hinter sich gebracht hatte. Eigentlich hatte er sich darauf gefreut; er genoss die Anonymität von Zügen – niemand weiß, wer man ist, wohin man fährt, gar nichts.
Nun gut, die Anonymität konnte er sich an den Hut stecken. Keine Chance.
Melrose hatte schon seit geraumer Zeit keinen Zug mehr bestiegen. Als Erstes erkundigte er sich beim Schaffner, wo sich der Speisewagen befand. Der Schaffner hatte bedauert, o nein, Sir, Speisewagen gibt’s nicht mehr. Aber gleich kommt jemand mit Tee und belegten Brötchen durch. Besten Dank, Sir.
Man hatte ihm damit eine Illusion zunichte gemacht. Kein gemütliches Herumsitzen am weiß gedeckten Tisch mit Brandy, Kaffee und Zigarre mehr. Und die schönen alten Abteile, wo er mit etwas Glück der einzige Passagier war oder – mit etwas mehr Glück – auf ein sonderbares Grüppchen von Mitreisenden stoßen konnte. Der Außengang, wo man sich ans Geländer lehnen und die grüne Landschaft vorbeirasen sehen konnte. Manchmal dachte er, Züge wären nur für Filme erfunden worden. Mord im Orientexpress. Es wäre doch sagenhaft, hier in dieser abgeschiedenen, unheimlichen, beinahe klaustrophobisch anmutenden Atmosphäre dabei zu sein, wenn ein Mord begangen wurde.
Oder nur diese beiden jüngeren Herren zu beobachten, die die Köpfe zusammengesteckt hatten und sich gedämpft unterhielten. Etwas ausheckten. Zwei Fremde im Zug. Womöglich gaben sie gerade einen Mord in Auftrag.
Oder jene strickende alte Dame mit den grauen Ringellöckchen, an der er vorhin vorbeigekommen war. Vielleicht würde er sie wieder sehen, wenn sie an der nächsten Haltemöglichkeit auf einer Tragbahre aus dem Zug getragen wurde – Eine Dame verschwindet!
In letzter Zeit war er furchtbar nostalgisch – nach alten Filmen, alten Songs, alten Fotografien. In seiner Hitchcock-Träumerei sah er sie nicht kommen, bemerkte ihre Anwesenheit erst, als er hörte: »Was sitzt du da und kneifst die Augen zusammen, Melrose?«
Derart gnadenlos aus seiner Träumerei gerissen, ließ er die Zeitung sinken, sein Mund klappte auf, die Nackenhaare sträubten sich. »Agatha!«
Schmeiß die Mama aus dem Zug!
Falls es zu Nostalgie je ein Gegenmittel gegeben hatte, war es soeben durch die Tür des Woodbine Tea-Room gestürzt.
Dabei fiel ihn noch ein alter Film ein mit dem Titel Der ungebetene Gast, den er spätabends mal im Fernsehen gesehen hatte. Darin war der »ungebetene« ein Gespenst gewesen, das Türen aufriss, lachte und sang und sich in seiner unsichtbaren Gestalt der entsetzten jungen Heldin offenbarte.
Leider war sein Gespenst aber sichtbar.
Während der vergangenen sechsunddreißig Stunden hatte sie ihn im Leihwagen auf seinen Fahrten entlang der Küste von Cornwall begleitet. Immer wieder hatte er die Verabredung mit der Maklerin, die ihm das zu vermietende Anwesen zeigte sollte, verschoben und darauf gewartet, dass Agatha sich statt seiner nach einer anderen Unterhaltung umsah, die sie einen halben Tag bei Laune halten würde. Auf keinen Fall wollte er sie bei der Hausbesichtigung dabeihaben und ihren verwünschten Schatten darüber werfen lassen. Ganz zu schweigen von ihrer unablässigen Nörgelei. So was willst du doch nicht, Melrose. Sieh dir doch nur mal das Reetdach an; das muss komplett neu gedeckt werden. Und was fängst du mit so einem felsigen Grundstück an? Nein, Melrose, das ist doch nichts. Und so weiter und so fort.
Zum Glück wurden seine morbiden Betrachtungen von der Ankunft des jungen Mannes unterbrochen, der ein Kännchen hochhielt und fragte: »Den normalen Tee?«, worauf Melrose lächelnd auf sein Platzdeckchen tippte. Das andere stellte der Kellner Agatha hin. Dann holte er die dreistöckige Kuchenplatte aus der Fensternische und stellte sie ihnen ebenfalls auf den Tisch.
Melrose sah, wie er am Nachbartisch stehen blieb, etwas sagte, auf ein paar andere Tische zuging. Das Woodbine war klein, aber gut besucht. Der Knabe bediente den Raum mit der gewandten, glatten Gefälligkeit eines Politikers.
Nach einem Weilchen überließ er Agatha den Scones und der extra dicken Sahne, stand auf und ging zur Registrierkasse hinüber, wo der Jüngling gerade Rechnungen eintippte. (Er bediente nicht nur, er übernahm in diesem Lokal anscheinend auch die Funktion eines Kassierers.)
»Verzeihung.«
Der Knabe lächelte ihn strahlend an. »Ist Ihr Teegedeck okay?«
»Alles in Ordnung. Ich überlege gerade – hätten Sie im Lauf des Tages vielleicht Zeit? Ich suche nämlich jemanden, der für mich etwas erledigen könnte. Er dauert nicht mehr als, sagen wir, drei Stunden.« Er hielt einen Fünfzigpfundschein in die Höhe, den er aus seiner Brieftasche gezogen hatte.
»Dafür mach ich Ihnen einen Kopfsprung von den Klippen bei Beachy Head.«
»Die Sache wird weder so berauschend noch so gefährlich. Die Dame in meiner Begleitung, sehen Sie jetzt nicht zum Tisch hinüber, ich fürchte nämlich, sie kann Gedanken lesen, ist zu allem Überfluss auch noch meine Tante und klebt wie eine Klette an mir. Ich muss mich ihrer für ein paar Stunden entledigen, und da Sie mir äußerst einfallsreich zu sein scheinen, dachte ich, Sie könnten –«
»Sie Ihnen abnehmen.« Der Junge zuckte lächelnd die Schultern. »Stimmt. Wann?«
Melrose gab ihm den Fünfziger. »Na, sagen wir, so in einer Stunde?«
»Abgemacht.« Den Schein in die Höhe haltend, fügte er hinzu: »Und den vertrauen Sie mir an?«
»Wieso nicht? Sie haben schließlich das Gift gebracht.«
Der Wagen war ein funkelnagelneuer, silberfarbener Jaguar mit ochsenblutroten Ledersitzen. Dieses Maklerbüro musste seine Kunden offenbar mit dem Beweis seiner Solvenz beeindrucken. Esther Laburnum war die für das Grundstück namens Seabourne zuständige Maklerin.
Melrose hatte die Abbildung in Country Life entdeckt, als er Artikel über Gartenbau und die »Schätze des Lebendigen Nationalerbes« durchblätterte, oder über Kunsthandwerker, die sich noch in äußerst geheimnisvollen Beschäftigungen wie etwa dem Ziselieren von Fingerhüten oder dem Bau von Steingärtchen für Puppenhäuser übten. Außerdem war da noch der Artikel über die Jagd und deren gewichtige Bedeutung für Land und Nation. Die Zeilen trieften förmlich vor aufgesetzter Wichtigtuerei.
Die Beschreibungen der Immobilien nahmen gewöhnlich eine ganz andere Seite ein, wobei in der Regel davon abgesehen wurde, den Kaufpreis zu nennen. Stattdessen wurde im Text darauf hingewiesen, der Preis würde »auf Anfrage« genannt. Derartige Blasiertheit ließ Melrose darauf schließen, dass Geld für die Interessenten dieser Häuser in der Regel keine Rolle spielte. Für ihn auch nicht. Er hatte die Seite aus der Zeitschrift herausgerissen und sich zum Telefon begeben.
Das war vor ein paar Tagen gewesen, und nun war er voller Genugtuung über seinen Entschluss, sich die Sache in natura anzusehen. Als er jetzt davor stand und es betrachtete, stellte er fest, dass die Abbildung Seabourne überhaupt nicht gerecht wurde. Allerdings wäre es fast unmöglich gewesen, die Atmosphäre einzufangen, die subtile Bedrohlichkeit, jene gewisse unruhige Sentimentalität, die der Anblick in ihm wachrief. Deine Phantasie geht mit dir durch, schalt er sich. Es nützte nichts.
Architektonisch gesehen war das Haus nicht gerade beeindruckend. Es war im georgianischen Stil aus grauem Stein gebaut, der als eine Art Tarnung wirkte und das Gebäude mit der umliegenden Landschaft und dem Wald verschmelzen ließ. Es stand oben auf einer Klippe, einem schroffen, geröllübersäten Felsvorsprung über dem Meer. Wahrscheinlich hatte die Lage es Melrose besonders angetan, aber so wäre es sicher jedem ergangen, der auch nur ein Fünkchen Romantik in sich hatte. Aus dem gesamten Anblick – Haus, Wald, Felsen und Meer – schien die Farbe gewichen, was die romantische Stimmung noch steigerte. Hätte eine grimmig aussehende, bis zu den Knöcheln in Schwarz gewandete Schlossherrin die schwere Eichenholztür geöffnet, hätte sich dieser Eindruck noch erhöht. Melrose war ganz und gar bereit, sich überwältigen zu lassen.
Doch es war Esther Laburnum von Aspry & Aspry, die die Flügeltüren zum größten Empfangsraum (insgesamt gab es drei) aufstieß und so selbstgefällig »Voilà!« sagte, dass man hätte denken können, sie hätte soeben per Zaubertrick ein vollständig möbliertes Zimmer heraufbeschworen, komplett ausgestattet bis hin zu den Bildern an der Wand.
Drei Wände waren in einem heiteren Grauton tapeziert, die vierte, in deren Mitte sich ein Kamin befand, nahmen Bücherregale und kleine Alkoven ein, in denen diverse Skulpturen aufgestellt waren: etruskische Köpfe und marmorne Büsten. Ein Büfett aus Mahagoni, flankiert von Sesseln aus Walnussholz, stand unter dem Porträt eines unscheinbaren alten Mannes, dessen mürrische Miene davon zeugte, dass er alles andere lieber täte als hier Modell zu sitzen. Der Jagdhund zu seinen Füßen trug einen ähnlichen Ausdruck zur Schau.
Abgesehen von den Skulpturen deutete nichts auf ein Interesse am Exotischen hin: der Raum wirkte durch und durch englisch. Polstersessel und Sofa waren mit Leinen und Chintz bezogen, mit Mustern von Glockenblumen oder Efeuranken und Stockröschen. Einer der Sessel war vor einen nierenförmigen Schreibtisch mit Intarsien gerückt. An einer Wand stand zwischen hohen Fenstern eine Kampagnentruhe, ein hübsches Exemplar seiner Art.
»Ist es nicht wunderschön?«, trompetete Esther Laburnum, eine üppige Frau mit lauter Stimme, die durch ein ganzes Restaurant trägt und andere Speisegäste dazu verdammt, Ohrenzeugen ihrer Privatangelegenheiten zu werden.
Der Raum wirkte so bewohnt, fand Melrose. Als hätten die Bewohner beim ersten Anzeichen von Mrs. Laburnums herannahendem Jaguar beschlossen, Reißaus zu nehmen.
»Ist der Rest des Hauses ebenso wohnlich eingerichtet?« Als sie seine Frage bejahte, meinte Melrose: »Die Bewohner haben aber viele persönliche Sachen dagelassen.« Er deutete mit dem Kopf zu den Porträts und Fotos hinüber.
Esther Laburnum stimmte ihm zu. Als sie bei Aspry & Aspry angefangen habe, sagte sie, sei das Haus bereits auf dem Markt gewesen. Es stehe nun seit geraumer Zeit zum Verkauf, die Besitzer habe sie aber nie kennen gelernt. Sie sei neu in der Gegend. »Jedenfalls haben die Besitzer nichts dagegen, es zu vermieten oder zu verkaufen oder eine Kombination aus beidem zu vereinbaren. Ich meine, wenn Sie es eine Zeit lang mieten wollen, um zu sehen, wie es sich für Sie anlässt.«
Vom Wohnzimmer gingen sie ins Speisezimmer hinüber, wo ein Esstisch mit Zwillingssockel und an den Wänden einander gegenüber zwei Büfetts standen. Wenn er jetzt Schubladen aufzog und Schranktüren öffnete, fand er bestimmt Silberbesteck, Servietten und Geschirr darin.
Danach erkundeten sie den Rest des Hauses und das Arbeitszimmer (das – wie Esther Laburnum es nannte – »behagliche Nebenzimmerchen«). An drei Wänden reichten die Bücherregale bis zur Decke hoch. Vor einer stand ein Refektoriumstisch aus englischer Eiche auf einem Teppich, den Melrose als Turkestan einordnete (hier machten sich die unzähligen Stunden bezahlt, die er damit verbracht hatte, sich von Marshall Trueblood zum Antiquitätengutachter ausbilden zu lassen). An die vierte Wand war ein großer, mit Schreibutensilien übersäter Sekretär gerückt – Briefe, Geschäftsbücher und Zeitschriften.
Es war ein relativ kleiner, offensichtlich häufig genutzter Raum. Man konnte die Abdrücke der Körper in den Polstersesseln förmlich spüren. Hier passte der Ausdruck »behagliches Nebenzimmerchen« recht gut. Mit einem brennenden Kaminfeuer, insbesondere an Tagen wie diesem (gepeitscht von Regen und Wind, dachte er etwas melodramatisch), verströmte es tatsächlich eine gewisse Behaglichkeit. Melrose ging im Zimmer umher und besah sich die zahlreichen Leder gebundenen Bände oder die neueren, grell eingebundenen Exemplare. Eine recht beachtliche Bibliothek, die ganz unterschiedliche Geschmacksrichtungen ansprach. Am unteren Ende des Refektoriumstisches waren weitere kleine Fotos in Silberrahmen aufgestellt.
»Ist das die Familie?«, fragte er, das eine oder andere in die Höhe haltend.
»Das nehme ich an. Sehen Sie nur hier diesen Kaminsims! Was für eine herrliche Schnitzarbeit!«
Melrose hing seinen eigenen Gedanken nach. »Ich verstehe nicht, wie jemand weggehen und derart persönliche Dinge zurücklassen kann. Normalerweise schließt man so etwas doch in einen Schrank oder eine Kommode ein und lässt es nicht offen herumstehen.« Er klang direkt streitsüchtig, als sei ein solches Verhalten unentschuldbar.
Darauf antwortete Mrs. Laburnum aber nur mit einem gleichgültigen »Hmmm« und überließ es Melrose, die kleine Fotosammlung zu durchforsten und über sein kleines Rätsel weiter nachzugrübeln. Vier oder fünf Leute waren zu sehen, alle zwanglos auf Film gebannt. Den Kern der Gruppe bildete ein sehr attraktives Paar in den Vierzigern, dazu kam ein älterer Mann, der dem auf dem Porträt ähnlich sah – ja, da waren sie wieder, diese leicht zusammengekniffenen Augen –, sowie ein hübsches kleines Mädchen von etwa sechs oder sieben Jahren und ein kleiner Junge, vielleicht ein bis zwei Jahre jünger, der mit seinem Vater auf einem Segelboot zu sehen war. An Bord dieses Bootes waren weitere Fotos aufgenommen worden. Melrose überlegte, wie wohlhabend sie sein mochten – sehr, wenn man von dem Haus und der Größe des Bootes ausging. Der eine oder die andere aus der Gruppe war auf den übrigen Aufnahmen mit Verwandten oder Freunden zu sehen. Die Großeltern waren anscheinend ausschließlich durch den alten Mann vertreten.
Es kam selten vor, dass Melrose andere Leute beneidete, da er zu Hause von Freunden umgeben war, die mehr oder weniger so lebten wie er – unverheiratet, kinderlos und praktisch ungebunden –, und falls in seinem Zirkel jemand zu beneiden war, dann er selbst mit seinem Herrenhaus, seinen Ländereien und seinem Geld. Was ihn an der Familie auf diesen Momentaufnahmen so wunderte, war die Tatsache, dass sie wirklich glücklich zu sein schien. Selbst der Alte legte nach und nach seine mürrische Miene ab. Ihr Lächeln galt nicht der Kamera, sondern ihnen gegenseitig. Melrose beneidete sie wirklich unendlich.
»Nette kleine Familie, nicht wahr?«
Die Bilder hatten ihn so gefangen genommen, dass er Esther Laburnum völlig vergessen hatte.
»Das mit den Kindern ist wirklich traurig. Ich glaube, sie sind ertrunken.«
»Ertrunken?« Melrose reagierte auf die schreckliche Nachricht wie auf einen persönlichen Verlust.
»Eine unheimlich traurige Geschichte. Das war – na, vor etwa fünf Jahren. Noch schlimmer war es für die Eltern vermutlich durch die Tatsache, dass sie nicht zu Hause waren, als es passierte. Das war aber vor meiner Zeit.« Dies hatte sie ihm bereits mehrmals gesagt. Es hörte sich an, als wollte sie sich damit von dem Haus und seinen Besitzern distanzieren. »Würden Sie jetzt gern das Obergeschoss sehen?«
Er bejahte. Ungern überließ er Vater und Mutter dem quälenden Bewusstsein, nicht da gewesen zu sein, um die eigenen Kinder zu retten. Gehorsam folgte er Esther Laburnum (an der er inzwischen eine gewisse Ungeduld bemerkte, das Haus endlich »besichtigt zu kriegen«, um abziehen zu können).
Fünf Schlafzimmer gab es, in denen sich Melrose aber nicht lange aufhielt, sondern lediglich von der Tür aus einen flüchtigen Blick hineinwarf. Im Schlafzimmer der Eltern entdeckte er weitere gerahmte Fotos, die er sich gern angesehen hätte, aber wegen der Maklerin, die ihm wie ein Terrier auf den Fersen war, sah er lieber davon ab.
Ein Zimmer faszinierte ihn. Es ging aufs Meer hinaus und war bis auf einen Flügel vollkommen leer. Auf dem Notenständer und über den Boden verstreut waren Notenblätter, als hätte ein Windstoß sie dorthin geweht. Allerdings bemerkte er gar keinen Luftzug, überhaupt war das Haus in Anbetracht seines Alters und seiner Größe erstaunlich gut isoliert.
»Ich glaube, er war Musiker, ich glaube, er hat komponiert.«
Melrose merkte, wie sie das Wort betonte, als wollte sie nicht für die Verbreitung inkorrekter Daten zur Rechenschaft gezogen werden. Er ging hinüber, um sich die Blätter auf dem Notenständer anzusehen, und musste ihr Recht geben. »Das scheint mir hier ganz frisch komponiert – ich meine, bevor sie von hier fortgingen.« Melrose spielte zwar kein Instrument, konnte jedoch Noten lesen und sich die Melodie mit einem Finger zusammensuchen. Er setzte sich an den Flügel und ging mühsam ans Werk. Auf der zweiten Seite brach die Melodie jedoch mitten im Takt ab. Es war, als sei der Komponist kurz abberufen worden.
»Ich will Sie ja nicht drängen, Mr. Plant. Aber ich nehme doch an, Sie wollen noch einen kurzen Blick auf das Grundstück werfen.«
Eigentlich wollte er, dass sie wegging und ihn hier allein ließ, damit er die Noten zusammensuchen und sich vorstellen konnte, wie ein ganzes Orchester die Hintergrundmusik dazu spielte.
Er stand auf und trottete hinter ihr her.
Es war ein wechselhafter, unbeständiger Tag. Von Zeit zu Zeit setzte der Regen aus, um gleich darauf wieder anzufangen, und im Laufe des Nachmittags wurde es dunstig und wolkenverhangen. Kaum hörte es einmal auf zu regnen, warf schwaches, vom dichten Wald gedämpftes Sonnenlicht einen hellen Schleier über den Kiesweg. Um durch die Äste spähen zu können, hätte man stärkeres Licht gebraucht.
Vom reibenden Geräusch des Wassers angezogen, stellte sich Melrose auf den zerklüfteten Felsvorsprung und sah auf den glatten Wasserfall hinunter, der gegen die Steine klatschte. In die Felsklippen hatte man einen Treppengang geschlagen, der zum Meer hinunterführte. Licht glänzte auf den feuchten Steinen. Während Melrose von oben hinuntersah, war ihm plötzlich, als gelangte er zum Urgrund der Existenz. Unwillkürlich kamen ihm ein paar Gedichtzeilen in den Sinn, in denen es um eine Frau ging, die aufs Meer hinausblickte: Und immer stand sie, vom Anblick verklärt. Wer hatte das geschrieben, Hardy? Vielleicht konnte er das Gedicht in der Bibliothek von Seabourne finden. Eine zirpende Stimme ertönte unverhofft neben ihm und riss ihn aus diesen Betrachtungen.
»Die Stufen dort führen zum Meer hinunter, gleich dort drüben, sehen Sie?«
Melrose wandte sich von dem düsteren Anblick ab, der seiner Stimmung weit mehr entsprach als Esther Laburnums Stimme. »Ja, ich habe sie gesehen.«
»Seien Sie bloß vorsichtig. Die Steine sind glitschig.«
»Ich hatte eigentlich nicht vor, dort hinunterzusteigen.« Er hob ein flaches Steinchen auf und ließ es über das Wasser flitzen, wie es die Leute oft tun, wenn sie am Wasser sind. Warum eigentlich, überlegte er und hob noch eins auf.
»Sie müssen ausgeglitten sein, habe ich jedenfalls gehört.«
Sein Wurfarm verharrte in der Luft, während er sie fragend ansah. »Wer ist ausgeglitten?«
»Na, habe ich Ihnen das nicht erzählt? Die Kinder. Dort unten hat man sie gefunden.« Sie seufzte. »Ist das nicht schrecklich? Können Sie sich so was vorstellen?«
»Nein, kann ich nicht.« Er stand am Rand der Klippe und versuchte es. Er versuchte, sich den Schmerz der Eltern vorzustellen, was ihm schwer fiel, da er selbst keine Kinder hatte. Trotzdem konnte er sich ausmalen, wie es wäre, wenn ihn eine derartige Nachricht über einen Freund oder eine Freundin erreichte und er in einer Welt weiterleben müsste, in der sie nicht mehr waren. Obwohl es sich nur in seiner Phantasie abspielte, überraschte es ihn, dass ihm der Verlust so nahe ging. Doch so war es. »Wie alt waren sie, als es passierte?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
Anscheinend lag ihr auch nicht daran, es zu raten. Esther Laburnum, am Beginn ihres Rundgangs geschwätzig bis an die Grenze des Erträglichen, hatte nun offenbar beschlossen, die Schotten vollkommen dichtzumachen. Melrose seufzte. So lief es immer ab: Erst ließen sich die Leute wortreich aus, bis man vor Langeweile fast verging, und wenn die Sprache auf etwas so Faszinierendes kam, dass es selbst einen Toten in Bann schlagen könnte, kam ihnen kein Sterbenswörtchen mehr über die Lippen. Nun, vielleicht fürchtete sie, die tragischen Geschehnisse könnten ihr Geschäft gefährden. Oder vielleicht schwieg sie auch deshalb, weil sie wegfahren und anderen Leuten andere Grundstücke zeigen wollte.
»Sind die Besitzer deshalb weggezogen?«
»Schon möglich.«
Aus der Nase ziehen musste man es ihr. Melrose hätte sie am liebsten durchgerüttelt. »Wie lange steht das Haus denn schon leer?«
»Vier Jahre etwa.« Sie schlug ihren Terminkalender auf, um nachzusehen. »Nein, stimmt gar nicht. Vor ungefähr zwei Jahren hat es jemand gemietet. Innendekorateure nannten die sich.«
Esther Laburnum schniefte. Lächelnd wandte Melrose seine Aufmerksamkeit wieder dem Meer zu. Wie er so dastand und hinuntersah, fühlte er sich wie benommen. Es war einfach zu viel – das Haus, das Meer, die Felsen, die Treppe, der Junge, das Mädchen. Zu viel. Der Gedanke missfiel ihm, drängte sich jedoch auf: Dieses Haus war von einer gewissen Unwiderstehlichkeit. Wäre er nicht bereits vorher fest entschlossen gewesen, es zu nehmen, es zumindest anzumieten, dann hätte ihn die Geschichte dieser Familie bestimmt vollends umgarnt. Er warf noch einmal einen Blick auf das graue, windumtoste Gebäude und stellte fest, dass er sich vorhin nicht geirrt hatte: es wirkte wie der Schauplatz für einen Film. Gleich würde das Mädchen im weißen Kleid quer über den Rasen laufen und direkt auf den Rand der Klippe zusteuern. Ach, es war wie im Film alles viel zu perfekt.
Sie starrten schweigend auf die Felsen hinunter. Zumindest er starrte hinunter – ein kurzer Blick zu der Maklerin hinüber zeigte ihm, dass diese soeben auf ihre Uhr schaute. Immer war eine Stand- oder Armbanduhr im Spiel. Melrose wollte das Haus noch einmal von innen sehen: die Fotos, die Porträts. Er schlug vor, noch einmal ins Haus zu gehen.
Wie aufs Stichwort verdunkelte sich der Himmel. Es begann zu nieseln. So ein Haus, überlegte Melrose, sollte eigentlich ausschließlich bei Wind und Regen besichtigt werden.
»Melrose!«
Wenn es eine Stimme gab, die in der Lage war, ihn diesen spukhaften Erinnerungen und romantischen Reminiszenzen zu entreißen, dann diese. Er wandte sich um und sah Agatha zaghaft auf ihn zusteuern. Er trat wohl besser vom Klippenrand weg, bevor sie noch näher kam. Doch sie war stehen geblieben. Nun musste natürlich er auf sie zugehen. Sie würde sich keinen Millimeter weiterbewegen. Wenn er mit ihr sprechen wollte, musste er den ersten Schritt tun. Natürlich wollte er nicht mit ihr sprechen, ging als Gentleman aber trotzdem auf sie zu.
»Melrose!«, rief sie erneut, als befänden sie sich an zwei weit auseinander liegenden Ausgängen in der King’s Cross Station.
Der Wagen, in dem sie angekommen war, gehörte der Taxifirma Cornwall Cabs und wurde – zu seiner großen Überraschung – von demselben Burschen gefahren, der sie im Tea-Room bedient hatte. Melrose fragte sich, wie oft am Tag der Knabe in eine andere Rolle schlüpfte, also das Käppchen wechselte. Momentan trug er ein ziemlich keck etwas nach hinten gesetztes Exemplar. An den Wagen gelehnt sah er Melrose verlegen lächelnd und mit einem theatralischen Schulterzucken an, als wollte er sagen, was hätte ich denn machen sollen, Kumpel?
»Melrose«, verlangte Agatha gebieterisch zu wissen, »was um alles in der Welt glaubst du eigentlich, das du hier tust?«
Er machte sich nicht die Mühe, zu fragen, woher sie wusste, dass er hier war. Alle Wege führten nach Rom – außer ihren: die führten zu Melrose. Vielleicht hatte sie ihm eine Art Abhörwanze eingebaut, um ihm nachspüren zu können. Melrose stellte Esther Laburnum seiner Tante vor, womit Erstere sich vor die Aufgabe gestellt sah, Agathas Fragen zu beantworten. Die Maklerin teilte Melrose mit, sie habe jetzt in Bletchley einen Termin und müsse fahren, und gab ihm ihre Visitenkarte. Dann gingen die beiden etwa gleichaltrigen Frauen, sich angeregt unterhaltend, über den Kiesweg davon.
Melrose wunderte sich, dass sie ging, ohne sich seine Unterschrift unter einem Mietvertrag oder einem anderen Dokument gesichert zu haben, nachdem er an dem Objekt immerhin deutliches Interesse gezeigt hatte.
Agatha drehte um und kam noch einmal herüber zu der Stelle, wo Melrose mit ihrem Fahrer stand. Der Knabe stellte sich aufrecht hin und zog die Kappe zurecht, klappte sie gewissermaßen herunter wie ein Chauffeur, der sich seiner Arbeitgeberin präsentiert.
»Sie tauchen ja überall auf.« Melrose lächelte den Jungen an. »Mich zu finden gehörte wohl zu Ihrer Zaubernummer, was?«
Der Bursche wollte gerade den Mund aufmachen, um etwas zu sagen, da kam Agatha ihm zuvor. »Wovon redest du eigentlich? Ich habe ihm gesagt, du seist im Wagen einer Maklerfirma davongefahren – und wer kutschiert hier sonst die Leute im Jaguar herum außer Häusermaklern? Also habe ich bei denen im Büro vorbeigeschaut und gefragt, wohin ihre Maklerin – ich meine, Esther – unterwegs war.«
»Verstehe«, sagte Melrose. »Es war also deine Zaubernummer. Richard Jury könnte solch eine Spürnase gut gebrauchen.«
»Was soll das hier eigentlich? Wieso bist du hier?«
Er ließ ihre Frage in der Luft hängen, während er sich eine Antwort zurechtlegte. »Es ist ein Familiensitz, Agatha«, sagte er. »Habe ich dir nie davon erzählt? Ich bin rein zufällig darauf gestoßen.«
»Schicksal, sozusagen.«
Melrose sah den Fahrer überrascht an.
Agatha stutzte. »Familiensitz? Was für eine Familie denn? Wessen Familie?«
»Na, offensichtlich meine. Eine Linie, die Onkel Robert vermutlich nie zu erwähnen beliebte, in Anbetracht der Tatsache, dass wir nie besonders stolz waren auf die Ushers.« Melrose schob seine Hände tief in die Hosentaschen und blickte über die Schulter auf den großen, grauen Steinklotz. »Stell dir also meine Überraschung vor, als ich feststellte, dass es zu verkaufen ist.«
Agatha zupfte sich ihren Staubmantel über den Schultern zurecht. »Das denkst du dir nur so aus. Na gut, meinetwegen kannst du hier bleiben. Esther hat angeboten, mich mit zurück nach Bletchley zu nehmen.«
Man sprach sich also bereits per Vornamen an. Das ging aber schnell, selbst für Agatha.
Den jungen Burschen, der sie hergefahren hatte, hatte sie anscheinend bereits vergessen (in der wahrscheinlichen Annahme, Melrose würde ihr Fahrgeld berappen). Agatha machte auf dem Absatz kehrt und steuerte auf den Wagen der Maklerin zu.
»Offenbar«, meinte Melrose, »wechseln wir nun die Mitfahrgelegenheiten.«
Der Junge strahlte übers ganze Gesicht. »Mir soll’s recht sein.«
»Ich weiß Ihren Namen noch nicht. Ich heiße Melrose Plant.«
Der Junge streckte die Hand aus. »Johnny Wells. Können wir los?«
Als der Jaguar die Auffahrt hinunterbrauste, streckte Esther Laburnum den Arm aus dem Fahrerfenster und winkte Melrose zu, der zurückwinkte. Agatha verzog natürlich keine Miene.
»Ich würde mich gern noch einmal umsehen, ohne Begleitung.«
Johnny lächelte. »Kann ich gut verstehen. Lassen Sie sich ruhig Zeit.«
»Ich vergüte Ihnen Ihre auf jeden Fall.«
»Schon gut. Ich setz mich ins Auto und lese. Dafür hab ich sowieso nie genug Zeit.«
Melrose stieg erwartungsvoll die Stufen hinauf, um das Haus erneut auf sich wirken zu lassen. Da er die Küche noch nicht gesehen hatte, ging er nach hinten durch eine Art Butlerraum, wo in Weinregalen noch Madeira und Port lagerten. Die Küche war sehr groß, sehr düster und dabei doch sehr wohnlich. Wie beim Rest des Hauses deutete vieles darauf hin, dass sie vor kurzem noch bewirtschaftet worden war. Auf einer Arbeitsfläche in der Mitte des Raumes lagen Kochutensilien, und auf dem Herd stand ein großer Topf.
Das behagliche Nebenzimmerchen hatte er bereits gesehen, nicht aber die eigentliche Bibliothek. Er spürte, wie dieser Ort ihn bereits gefangen nahm, ihm durch Mark und Bein ging. Wenn er jetzt um irgendeine Ecke biegen würde, wäre er kaum überrascht, sich dem Porträt einer Frau von geradezu unheimlicher Schönheit gegenüberzusehen, die bereits gestorben oder verschwunden war, das Antlitz vom dunstigen Licht beschienen. Laura. Als er die Bibliothek betrat, stockte ihm fast der Atem. Dort sah er sich einem Gemälde von Hühnern gegenüber.
Hühner? Es hing über dem Kamin, das große Aquarellgemälde von einem Bauernhof mit Hühnerställen und einem Hahn, der dazwischen umherstolzierte. Von diesem Bild ging wahrlich nichts Unheimliches aus. Er seufzte auf, unsicher, ob er nun traurig oder erleichtert sein sollte.
Am meisten faszinierte ihn der Raum im darüber liegenden Stockwerk, der bis auf den Flügel leer war. Er fragte sich, ob das Haus als Drehort für den besagten Film benutzt worden war. Er ging zu der langen Fensterreihe hinüber und sah auf das Wasser hinunter, das die Felsen umspülte, aufschäumte, sich zurückzog und erneut hereinströmte. Seine Lippen formten ein paar Gedichtzeilen. Gern hätte er vom schwermütigen, allmählich sich zurückziehenden Rauschen gesprochen, bloß war Matthew Arnold ihm damit zuvorgekommen.
Er stellte sich vor, hier allein zu sitzen, Notenkaskaden auf und ab zu spielen und sich zur Musik hin und her zu wiegen. Klavier spielen konnte er nicht. Er könnte aber Unterricht nehmen. Ein womöglich lohnendes Unterfangen. Wie lang es wohl dauerte, bis man es lernte? Schon allein um Agatha zu übertönen, würde sich die Sache lohnen. Er verließ den Raum und ging wieder die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, den ersten Raum, den Esther Laburnum ihm gezeigt hatte. Als er an dem Porträt des alten Mannes vorbeikam, überlegte er, ob er wohl das Familienoberhaupt war. Irgendwie konnte er ihn mit den anderen aber nicht zusammenbringen. Sie waren so schön mit ihrem Lächeln. Er nahm das Foto im Silberrahmen in die Hand, und erneut betrübte ihn das schreckliche Schicksal der Kinder.
Plötzlich ging die Flügeltür auf. Er fuhr herum.
Der ungebetene Gast!
Nein, nur der Taxifahrer. »Tut mir wirklich Leid, Sie unterbrechen zu müssen. Es ist bloß … Shirley – von der Zentrale – bequatscht mich schon die ganze Zeit, dass sie das Taxi für eine Fahrt nach Mousehole braucht.« Er machte eine entschuldigende Geste und zuckte die Achseln.
»O nein, das ist schon in Ordnung. Ich bin fertig. Fahren wir.«
Beim Abfahren drehte sich Melrose um und warf einen letzten Blick auf das Haus. »Was für ein Anwesen. Ich trage mich mit dem Gedanken, es zu mieten. Sagen Sie, wer ist der alte Mann auf dem Porträt? Er scheint irgendwie nicht recht dazu zu passen.«
»Das ist Morris Bletchley.«
Melrose war überrascht. »Bletchley? Ist seine Familie irgendwie mit dem Dorf verwandt?«
»Ich vermute mal, hier hat’s schon immer Bletchleys gegeben. Komisch, er selber ist nämlich eigentlich Amerikaner. Er ist der Hühnerkönig.«
»Der – was?«
»Haben Sie noch nie im Chick’n King gegessen? Die gibt’s doch überall. Das ist so eine Kette.«
Melrose überlegte einen Augenblick. »Ach, ich glaube, an der Autobahn habe ich sie schon ein paar Mal gesehen. Seabourne gehörte also ihm, sagen Sie? Mr. Chick’n King persönlich?« Melrose war etwas enttäuscht. Hühner. Wie unromantisch! »Jetzt verstehe ich auch das mit dem Hühnerbild.«
»Hab ich nie gesehen, hört sich aber ganz danach an.« Johnny nahm eine haarscharfe Kurve auf dem heckengesäumten, engen Sträßchen.
Melrose seufzte. »Na, so werde ich wenigstens nicht allzu rührselig. Hühner. Du lieber Himmel!«
»Sie scheinen mir aber überhaupt kein rührseliger Typ.«
Melrose fühlte sich irgendwie geschmeichelt. Er wollte gerade sein Zigarettenetui hervorholen, hielt aber inne. »Stört es Sie, wenn ich rauche?«
»I wo, solange Sie mir auch eine geben. Ich weiß, für meine Lungen ist es das helle Gift, aber …«
Melrose hielt ihm das Etui hin, und Johnny bediente sich, den Blick auf die Straße geheftet. Melrose zündete beide Zigaretten an, lehnte sich entspannt zurück und ließ den dichten Wald an sich vorüberziehen. »Sagen Sie mal, wie viele Jobs haben Sie eigentlich?«
»Drei, glaub ich. Oder vier, wenn Sie die Zauberei dazurechnen.«
Verblüfft sagte Melrose: »Aber gern rechne ich die dazu. Was soll das heißen?«
»Na, dass ich Hobbyzauberer bin. Es macht einen Riesenspaß. Mein Onkel Charlie war früher Profi. Jetzt hat er in Penzance einen Laden für Zauberbedarf. Ab und zu führe ich eine Zaubershow vor, oben in Bletchley Hall. Das ist so eine Mischung aus Sterbehospiz und Pflegeheim. Ich bin gar nicht so übel.«
»Das glaube ich gern.«
»Die anderen Jobs sind bloß halbtags. Nach der Touristensaison schalten wir jetzt ein bisschen runter.«
»Na, wie sollten Sie es sonst schaffen außer in Teilzeit? Und was ist mit den arbeitsfreien Monaten außerhalb der Saison? Sind Sie da Tutor in Oxford?«
Johnny musste lachen. »Schön wär’s. Nächstes Semester kriege ich hoffentlich ein Stipendium. Darum arbeite ich auch so viel. Damit ich das zahlen kann, was das Stipendium nicht abdeckt.«
»Und Ihre Familie?«
»Da gibt’s bloß meine Tante Chris. Chris Wells. Sie ist die Besitzerin der Teestube, Sie wissen schon, das Woodbine. Ach ja, und mein Onkel Charlie, aber den seh ich nicht oft. Chris und Brenda sind Geschäftspartnerinnen.«
»Brenda?«
»Brenda Friel. Die ist wirklich in Ordnung. Ihre Tochter hat früher auf mich aufgepasst.«
»Auf Sie aufgepasst? Sind Sie sicher, dass es nicht umgekehrt war?«
Johnny lachte und fügte etwas ernüchtert hinzu: »Das ist schon lange her. Ramona ist gestorben, als sie erst – hmm – zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig war. Das war wirklich traurig. Schwanger war sie auch.« Bei dieser Klatschmitteilung errötete er leicht. »Das weiß ich von Chris. Brenda … na, Sie können sich ja vorstellen. Aber Brenda und Chris sind ein gutes Team. Ich kenn sonst niemanden, der so fleißig arbeitet wie Chris.«
Außer dir selbst, hätte Melrose gern hinzugefügt.
»Ich weiß, sie würde mir das Studium auch bezahlen, alles würde sie bezahlen. Aber ich kann ihr nicht dauernd auf der Tasche liegen. Man muss doch auf eigenen Füßen stehen, oder?«
»Was Ihnen offensichtlich bewundernswert gut gelingt.«
»Sie ist auch wirklich hübsch«, spann Johnny seinen eigenen Gedanken weiter. »Und noch gar nicht so alt … vielleicht so etwa in Ihrem Alter.«
Melrose wandte den Kopf zum Fenster. Der Junge sollte ihn nicht lächeln sehen.
Johnny fuhr fort, die Vorzüge seiner Tante aufzuzählen: sympathisch, eine wundervolle Köchin, mit einer Engelsgeduld.
Melrose war noch nie einem Menschen in Johnnys Alter begegnet, der einem anderen Familienmitglied solche Komplimente machte. Nicht, dass er an den Tugenden der Tante gezweifelt hätte – immerhin hatte jemand diesem Burschen ein hervorragendes Vorbild gegeben –, es kam ihm eher vor, als versuchte der Junge, Amor zu spielen. Melrose fühlte sich geschmeichelt. Er glaubte nicht, dass Johnny seine Tante jedem unverheirateten Fremden ans Herz legen würde.
»Das wird nett, wenn Sie Seabourne mieten. Dann könnten wir uns vielleicht alle mal treffen.« Johnny sah Melrose fast flehend an. »Vielleicht zum Hühnchenessen.«
Sie mussten beide lachen.
An die Hühner, dachte Melrose, muss ich mich erinnern, wenn ich wieder einmal drauf und dran bin, sentimental zu werden. Do you remember – weißt du noch?
Erinnerungen waren aber nicht gut, wenn man sich vor sentimentalen Attacken schützen wollte.
Denn Erinnerungen provozierten sie geradezu, sie schikanierten einen und ließen einen in die Falle tappen.