Martha Grimes
Auferstanden
von den Toten
Roman
Deutsch
von Cornelia C. Walter
Zwanzig Monate später
Melrose Plant blickte sich in der recht düsteren Umgebung des Grave Maurice um und überlegte, ob das Pub wohl vom Personal des Royal London Hospital frequentiert wurde, das direkt gegenüberlag. Offenbar war dem tatsächlich so, denn Melrose erkannte einen der Ärzte, der am anderen Ende des langen Tresens stand.
Während Melrose sich noch in der Nähe der Tür hielt, leerte der Arzt sein halbes Pint, griff nach seinem Mantel und wandte sich zum Gehen. Auf dem Weg nach draußen kam er an Melrose vorbei und nickte ihm mit einem zerstreuten Lächeln zu, als wüsste er nicht recht, ob oder woher er ihn kannte.
Melrose trat an den Platz, den der Arzt frei gemacht hatte, und musterte die Frau neben sich. Sie war von einer überwältigenden Schönheit – glänzendes, dunkles Haar, hohe Wangenknochen, Augen, deren Farbe er nicht recht ausmachen konnte. Sie waren groß und strahlend. Sie unterhielt sich mit einer anderen Frau, einer dunkelblonden, die Melrose den Rücken zugewandt hatte und etwas Helles trank, vermutlich einen Chardonnay, dessen Allgegenwart – zusammen mit den Weinbars, in denen er ausgeschenkt wurde – Melrose ein Rätsel war. Die Dunkelhaarige trank Stout. Braves Mädchen! Der Barmann, ein bärtiger Inder, stellte Melrose eine unverständliche Frage, hinter der dieser nur eine Abwandlung von »Was darf’s denn sein, Kumpel?« vermuten konnte. Er bestellte sich ein Old Peculier.
Das Grave Maurice konnte man mit Fug und Recht einen »düsteren Schuppen« nennen. Melrose sah sich genau um und fällte erfreut sein Urteil. Irgendwie kam es, dass er für düstere Schuppen immer etwas übrig hatte. Er fühlte sich so recht behaglich darin. Der unverständliche Barmann, das notdürftig geflickte Fenster, das angeknackste Tischbein, der verschmierte Spiegel, die Kundschaft. Die beiden Frauen neben ihm sahen etwas gepflegter aus als der Rest der Gäste. Sie waren gut gekleidet, die Dunkelhaarige sogar recht modisch in einem figurbetonten schwarzen Kostüm und dezentem Schmuck. Die Blonde, auf deren Profil Melrose einen flüchtigen Blick erhascht hatte, schien den Barmann mit seinem schlampig geschlungenen Turban zu kennen (ihn gar zu verstehen). Nachdem er ihnen lächelnd nachgeschenkt, Melrose sein Getränk gebracht und sich dann verzogen hatte, nahm die dunkelhaarige Frau das Gespräch wieder auf. Die Blonde hörte ihr zu.
Es ging um irgendjemanden namens Ryder, worauf Melrose sogleich die Ohren spitzte, denn so hieß der Arzt, der eben hinausgegangen war und den die eine Frau vermutlich erkannt hatte. Einigermaßen überrascht vernahm er dann aber, wie sie ihn als »armen Kerl« bezeichnete. Die andere, die eine leise, unaufdringliche Stimme hatte, wollte von der Dunkelhaarigen wissen, was sie damit meinte.
Melrose wartete auf die Antwort.
Leider gingen die Einzelheiten in dem Stimmengewirr unter, das Wort verschwunden schnappte er jedoch auf. Die Dunkle senkte den Kopf zu ihrem Glas hinunter und sagte noch etwas, was Melrose aber entging.
Dann hörte er plötzlich: »Seine Tochter. Es stand in allen Zeitungen.«
Die Blonde schien entsetzt. »Wann war denn das?«
»Vor fast zwei Jahren, aber es wird dadurch ja nicht …«
Der Rest der Bemerkung entging Melrose.
Die Frau zuckte am Ende unmerklich die Schultern, jedoch nicht abwertend, eher müde, überdrüssig. Womöglich des Unglücks überdrüssig. Falls sie ebenfalls Ärztin war, konnte Melrose das Gefühl von Überdruss durchaus nachvollziehen.
Dann sagte sie: »… Bruder war mein … umgekommen …«
Die Blonde seufzte voller Mitgefühl. »Wie furchtbar! Hat …«
Wenn sie doch bloß aufhören würden, erst deutlich zu sprechen und dann wieder zu flüstern! Melrose, der sich immer wieder einredete, ihm bliebe ja gar nichts anderes übrig, als diesem Gespräch zu lauschen, hätte mit seinem Bier natürlich auch an einen Tisch gehen können. Doch er wollte mehr über die Tochter dieses Arztes erfahren, denn es klang faszinierend. Der Ausdruck »armer Kerl« deutete wohl auf eine unglückselige Geschichte hin, und für so etwas war er immer zu haben. Da war man doch froh, nicht in der Haut eines anderen zu stecken. Schauerlich!
Dann vernahm er etwas über eine Versicherung, und die Dunkle ließ sich über Südamerika und wärmere Gefilde aus.
Offenbar plante sie eine Reise. Das interessierte ihn nun gar nicht, er wollte lieber mehr über die Person erfahren, die verschwunden war. Gelegentlich drehte sich die Blonde herüber, um ihre Zigarette aufzunehmen, und Melrose konnte Gesprächsfetzen aufschnappen.
»… die Tochter dieses Arztes?«
Die Frau ihm gegenüber nickte. »Dann hört es für ihn also nie auf … einen Schlusspunkt setzen.«
»Den Ausdruck hasse ich«, versetzte die Blonde mit leisem Lachen.
(Melrose war bereit, sie vom Fleck weg zu heiraten. Innerlich zollte er ihr Beifall. Er hasste den Ausdruck ebenfalls.)
»Es bedeutet doch bloß, dass etwas nicht abgeschlossen ist, unbeendet. Sagt man denn nicht so?«
Der Blonden war nicht nach Wortklauberei zumute. »Das gibt es doch sowieso nie«, sagte sie und glitt von ihrem Barhocker.
»Was?« Die Dunkelhaarige war verwirrt.
»Einen Schlusspunkt. Irgendwie bleibt doch immer alles unbeendet.«
Die Dunkle seufzte. »Vielleicht. Der arme Roger.«
Roger Ryder, dachte Melrose. Als die Blonde Melrose beim Lauschen ertappte, lächelte sie ihn etwas betrübt an. Er tat, als merkte er es nicht, obwohl es schwer war, diesen Mund und dieses Haar nicht zu bemerken. Melrose bezahlte sein Bier und rutschte vom Barhocker.
Seine Tochter. Vor zwei Jahren war ihr etwas zugestoßen, aber nicht der Tod. Der Tod wäre ein endgültiger Abschluss gewesen. Das Mädchen war verschwunden. War etwas in Südamerika passiert? Nein, dachte er, das musste eine ganz andere Geschichte sein. Andererseits, dass Ryders Tochter verschwunden war – das hatte in der Zeitung gestanden. Allerdings brauchte Melrose dazu nicht die Times zu durchforsten.
Roger Ryder war nämlich Richard Jurys Chirurg.
Letzte Woche hatte Melrose mehr Zeit in Jurys Krankenhauszimmer verbracht als anderswo. Sechsunddreißig Stunden lang hatte Jury im Koma gelegen, in das er, kurz nachdem Melrose ihn auf dem Bootssteg gefunden hatte, gefallen war, so als brauchte er selbst nicht mehr so sehr an seinem Leben festhalten, da dies ja jetzt jemand anderes für ihn tat. Eigentlich hatten Melrose und Benny ihn gefunden. Melrose und Benny und der Hund Sparky. Na, in jedem Fall Sparky! Und weil Sparky Jury quasi das Leben gerettet hatte, war Sparky der Hund des Tages, der Hund aller Hunde, der Held aller Helden. Hätte Benny nicht am Victoria Embankment nach Sparky gesucht, wäre Richard Jury jetzt tot.
»Gar keine Frage«, hatte Dr. Ryder gesagt. »Zwanzig Minuten später – und …?« Den Rest hatte der Arzt schulterzuckend offengelassen.
Schwester Bell, Jurys Krankenschwester, hatte (mehr als einmal) gesagt: »Haben Sie ein Glück gehabt, mein Junge«, und Jury dabei resolut die Kissen in seinen Rücken geschubst, um sie aufzuschütteln.
Was übrigens in den Augen von Melrose das Einzige war, wozu sie taugte. Melrose fand dieses »Glückspilz«-Gerede einfach fürchterlich. Wären Jurys Gliedmaßen in tausend Stücke zerfetzt worden und bloß ein Arm – nein, nein, sagen wir, bloß ein Armstumpf übrig geblieben, würde Schwester Bell immer noch behaupten: »Haben Sie ein Glück, dass Sie wenigstens noch Ihren Stumpf haben. Hätte ja schlimmer kommen können.«
Sobald sie sich in ihrer vor Wäschestärke knackenden Schwesterntracht davongemacht hatte, trat Melrose ans Bett und wurstelte die Kissen wieder durcheinander.
»Was zum Teufel soll das?«, sagte Jury verdrießlich. »Nicht genug, dass diese alberne Schwester hier ständig herumtanzt!«
»Ich will sie nur ein bisschen ent-schütteln. Bitte sehr!«
In alter Frische ließ sich Sergeant Wiggins von seinem Stuhl herüber vernehmen: »Dann kommt sie bloß wieder und schüttelt sie noch mal auf.«
»Mist!« Melrose kehrte zu seinem Klappstuhl zurück. Wiggins hatte den einzigen halbwegs bequemen Stuhl mit Armlehnen ergattert und kostete dies genüsslich aus, während er einen Früchtekorb durchwühlte, den Scotland Yard mit den besten Genesungswünschen geschickt hatte.
»Warum«, fragte Jury, »sind Sie eigentlich so schlecht gelaunt? Sie sind doch nicht angeschossen worden.«
Melrose schaute aus dem Fenster. »Wenn ich Ihre Krankenschwester sehe, fällt mir immer eins meiner Kindermädchen ein.«
»Und dann verfallen Sie wieder in Ihr kindisches Getue. Ich muss schon sagen, sehr erwachsen!«
Wiggins’ gelinde Herablassung rührte daher, dass er vor nicht allzu langer Zeit selbst im Krankenhaus gelegen hatte (er hatte allerdings vorher nicht im Kugelhagel gestanden). Nun überreichte er Jury ein Taschenbuch mit den Worten: »Das hat Mr. Plant mir persönlich gebracht, als ich im Royal Chelsea lag.« Er sagte es, als sei es ein Familienerbstück. »Ich glaube, es wird Ihnen gefallen. Es handelt mehr oder weniger von unserer misslichen Lage.«
Unserer?, wunderte sich Jury und dankte Wiggins. »Alibi für einen König«, sagte er. »Von Josephine Tey.« Er betrachtete den Umschlag und fragte sich, inwiefern es von »unserer« misslichen Lage handeln sollte. »Wissen Sie beide eigentlich, dass Sie viel mehr Profit aus meinem Krankenhausaufenthalt schlagen als ich?« Er blickte zunächst Melrose an. »Sie kommen mit Ihren Kindheitsaggressionen ins Reine, und Sie« – er wandte sich an Wiggins – »durchleben noch einmal Ihr Krankenhausabenteuer in South Ken.«
»Na, na –« Schwester Bell war schon wieder da. »Wir dürfen uns doch nicht aufregen und ärgern.« Sie reichte Jury einen Plastikbecher mit Strohhalm. »Damit fühlen Sie sich gleich viel, viel besser.«
»Ich fühle mich doch schon viel, viel besser.« Beim Anblick des Bechers verzog er das Gesicht.
»Als ich drei war«, sagte Melrose, »hatte ich genau so einen Becher. Bloß konnte ich ohne Strohhalm trinken.«
»Ach, und jetzt haben Sie auch noch Besuch von Ihren Freunden –«
Jury blickte sich suchend im Zimmer um. »Wo, wo?«
Schwester Bell machte sich wieder über die Kissen her. »Sie bringen Ihre Kissen ja ordentlich durcheinander, was?« Sie ging.
An Wiggins, der mit dem Kopf – doch ungeköpft – immer noch im Tower von London war, waren die letzten fünf Minuten unbemerkt vorübergegangen. Er war wieder bei Josephine Tey und Alibi für einen König. »Sie wollen doch bestimmt was, an dem Sie sich die Zähne ausbeißen können, solange Sie hier liegen. Um nicht ganz einzurosten –«
»Wie kommen Sie denn darauf? Was soll bei mir denn überhaupt einrosten?«
Wiggins ging einfach darüber hinweg: »Also, es geht darum, der Detective Inspector in diesem Buch muss im Krankenhaus liegen, und eine Freundin bringt ihm ein paar Bücher, unter anderem eins über Richard den Dritten und die Prinzen im Tower. Die Geschichte kennen Sie doch noch, oder?«
»Sie werden lachen, ja. Die ist ja auch ziemlich bekannt.«
»Dieser Detective« – er deutete auf das Buch – »liest das also und kommt irgendwann zu dem Schluss, dass die ganze Geschichte von wegen, dass Richard seine Neffen hat umbringen lassen, lauter Blödsinn ist. Er recherchiert also und recherchiert, lässt sich von seiner Freundin Bücher bringen und kommt am Ende auf eine völlig andere Lösung. Clevere Idee, finde ich.«
»Wenn ich eine Freundin hätte, käme ich vielleicht auch drauf.« Jury blätterte die letzten Seiten durch. »Wie endet es?« Weil er Detektivgeschichten nicht mochte, besonders die nicht, in denen der Hochadel eine Rolle spielte, kam er ohne Umschweife gleich zur Sache.
Wiggins ließ sich darauf jedoch nicht ein. »Sie müssen es einfach lesen!« Wiggins lächelte ihn an, wie man ein eigensinniges, ans Bett gefesseltes Kind anlächeln würde. »Ich könnte Ihnen aber auch Unterlagen über einen unserer Fälle bringen, dann könnten Sie sich daran die Zähne ausbeißen.«
»Ah«, machte Melrose, kippelte mit seinem Stuhl nach hinten und verschränkte die Arme über der Brust. »Wie wär’s, wenn Sie sich an Folgendem die Zähne ausbeißen?«
Maurice war immer früh auf, im ersten Morgengrauen, wenn die Welt allmählich erwachte. Es war kalt, Raureif auf den Scheiben, Krusten von altem Schnee an den Wurzeln der Bäume, das steif gefrorene Gras glich mehr Eisscherben als einer Pferdeweide – doch er liebte diese Stimmung. Obwohl er gestehen musste, dass er eigentlich nur zu so früher Stunde hinausging, weil er dann niemanden sehen, mit niemandem reden musste und von niemandem gesehen oder angesprochen wurde. Selbst seinem Onkel Roger, der gelegentlich über Nacht dablieb und dann gern zur Rennbahn herüberkam und zusah, wie Maurice die Pferde trainierte, war es zu früh.
Vor ein paar Tagen beim Abendessen hatte Roger gesagt: »Ich habe da einen interessanten Patienten, er ist Superintendent bei der Polizei. Noch dazu bei Scotland Yard. Und … da dachte ich mir« – er lachte etwas gekünstelt –, »ich könnte ihm doch die Geschichte erzählen. Es kann natürlich sein, dass er sie schon kennt … und es ist ja auch schon zwei Jahre her –«
»Erzähl ihm«, unterbrach ihn Maurice, »die Geschichte.«
Man darf nicht aufgeben, dachte Maurice jetzt. Man darf nicht aufgeben, es zu versuchen. »Stimmt’s, Sam?« Er warf dem Pferd die Decke über, dann das Zaumzeug und den Sattel. Samarkand stupste ihn an der Schulter, als wollte er sagen: »Los, gehen wir«, und Maurice führte ihn aus seiner Box. Dieser Spaziergang vom Stall zur Bahn war für Maurice so ungefähr mit das Schönste am ganzen Tag – ausgenommen natürlich das Reiten selbst.
Keine Schule, weil immer noch Weihnachtsferien waren, die aber bald zu Ende sein würden. Eigentlich hatte er nichts gegen Schule, Disziplin war ihm noch nie schwergefallen. Es kam wahrscheinlich daher, dass er mit Pferden umging, dass er George Davison, den Ausbilder, beobachtete, dass er den Trainergehilfen und Jockeys zusah wie früher seinem Vater, damals auf Samarkand. Dieses Pferd und Dan Ryder – Sportjournalisten hatten die beiden damals »das Traumgespann des Pferderennsports« genannt.
Er dachte an seinen Vater. In jeder anderen Hinsicht war Danny Ryder kein »Traum« gewesen. Ein Pech, dass er kein Pferd ist, mit was anderem kann er nicht umgehen, hatte er die Trainergehilfen sagen hören. Kein Wunder, dass sie ihm davongelaufen ist. Maurice hatte sich lange Zeit bemüht, seine Mum nicht zu hassen. Eine schwache Frau war sie nicht gewesen, sie hätte sich gegen seinen Vater behaupten können, wenn sie es gewollt hätte. Sie war – Maurice suchte nach dem passenden Ausdruck – vage gewesen, unbestimmt. Vage, ja. Sie schien sich nie sicher gewesen zu sein, was sie eigentlich wollte. Ein seltsamer, vielleicht sogar gefährlicher Charakterzug, dachte er. Seine Mutter war klein und hübsch gewesen, Amerikanerin. Sie hatte sich ebenso wenig entscheiden können, ob sie ein Kind haben wollte, wie sie sich nicht entscheiden konnte, ob sie New York verlassen oder ein bestimmtes Restaurant oder Kleid wählen sollte. Marybeths Devise war definitiv das Abwarten-und-Teetrinken, sie war ein eher fauler als bedächtiger Mensch. Aber ganz sicher nicht leichtfertig. Nein, Leichtfertigkeit war eine Eigenschaft seines Vaters.
Fast schien es so, als wäre es ihr nicht schwergefallen, von hier wegzugehen. Als wäre er, Maurice, nicht mehr als eine schlechte Stimmung, der sie entfliehen wollte. Etwas in der Richtung hatte er den Gesprächen zwischen seinem Großvater und seinem Onkel entnommen. Maurice empfand Mitgefühl mit Roger. Er war nett. Etwas distanziert, aber nett. Und während der vergangenen zwanzig Monate war diese Distanziertheit weiß Gott verständlich. Maurice spürte selbst eine gewisse Distanz zu den anderen. Und auch weil die Schuld so schwer auf ihm lastete, hätte er, nachdem Nell verschwunden war, zu niemandem gehen können, um Trost zu suchen.
»Irgendwie seltsam, Dr. Ryder. Wieso hat Ihre Kleine hier draußen geschlafen?«
Die Haut um Rogers Mund war sehr weiß, papierdünn und verkniffen, und als er den Atem einsog, klang es mehr wie ein Keuchen, als wüsste er nicht mehr, woher er den Sauerstoff nehmen sollte.
Maurice war seinem Onkel Roger und den Ermittlungsbeamten in den Stall gefolgt. Er war hinten an der Tür stehen geblieben und hatte zugehört, hatte ihren Namen hören wollen, als könnte ihn dessen Erwähnung aufmuntern und sie zurückholen.
In der Nacht hatte sein Großvater mit Roger zusammengesessen, hatte seinem Sohn den Arm um die Schulter gelegt.
Maurice war hinten auf der Treppe sitzen geblieben, hatte durch die Geländerstäbe geschaut und auf ihren Namen gelauscht.
»Sie sehen heute Morgen bemerkenswert gut aus, Superintendent.« Dr. Roger Ryder warf erneut einen Blick auf Jurys Krankenblatt und lächelte. »Sie sind wirklich nicht unterzukriegen.«
»Gut«, sagte Jury, »aber sagen Sie mir jetzt nicht, ich hätte Glück gehabt, dass ich überhaupt noch lebe. Schwester Bell erinnert mich ein Dutzend Mal am Tag daran.«
Ryder lachte. »Nein, irgendwie setze ich drei Schusswunden nicht gleich mit Glück. Sie fühlen sich aber doch recht gut, nicht? Ich meine, emotional und auch körperlich?«
»Absolut. Wann wollen Sie mich denn wieder in den Hexenkessel der Polizeiarbeit schmeißen?«
»Ach. Was Ihre Entlassung betrifft, denke ich, zwei bis drei weitere Tage sollten eigentlich reichen. Aber was die Polizeiarbeit angeht, na, na …« Dr. Ryder hob mahnend den Zeigefinger. »Das muss noch ein paar Wochen warten. Ist Ihnen denn langweilig?«
Jury hielt Alibi für einen König in die Höhe. »Ich habe ja hier was zur Unterhaltung. Darin geht es um einen Polizisten, der im Krankenhaus liegt und sich mit dem historischen Fall von Richard dem Dritten befasst, der seine beiden Neffen ermordet haben soll. Weil er ihn aber leider löst, bleibt mir nichts mehr zu tun.« Dr. Ryder schien zu zögern. Er sah immer wieder zur Tür, ging aber nicht hinaus. »Stimmt etwas nicht?«
»Ich dachte mir nur …«, Ryder lächelte und versuchte, seine Aufregung im Zaum zu halten, »ob Sie sich vielleicht Gedanken über einen echten Fall machen möchten. Über Fakten, nicht Fiktion. « Ryder ging zu dem einzigen intakten Stuhl hinüber und legte das Krankenblatt auf dem Boden ab.
»Natürlich. Erzählen Sie.«
»Es geht um meine Tochter. Sie haben vielleicht davon gelesen oder gehört. Es geschah vor fast zwei Jahren. Sie ist verschwunden.«
Jury schloss einen kurzen Moment die Augen. Zwar hatte ihm Melrose Plant von dem Gespräch erzählt, das er im Pub belauscht hatte, doch es kam trotzdem unvorbereitet. Verschwunden. Gab es denn ein Wort, in irgendeiner Sprache, das einem mehr zu Herzen ging als dieses? Es ließ ihn frösteln. »Mein Gott. Wie alt ist sie?« Er nahm sich vor, von dem Mädchen in der Gegenwartsform zu sprechen.
»Heute wäre sie siebzehn. Damals war sie fünfzehn. Nell ist aber nicht davongelaufen.« Mit einer Stimme, die bestimmt immer zitterig klang, wenn er von ihr sprach, berichtete ihm Ryder, was damals geschehen war. »Es war vorher schon schlimm genug, wurde aber noch schlimmer, als man keine Lösegeldforderung stellte. Das brachte uns völlig zur Verzweiflung.«
»Das kann ich verstehen. Was ist mit … Könnte ich etwas Wasser haben? Mein Mund ist immer so trocken.«
»Das liegt an den Medikamenten. Das geht bald vorbei.«
»Was ist mit ihrer Mutter? Wo war sie?«
»Ihre Mutter ist tot.«
»Das tut mir leid.« Jury zögerte. »Sind Sie sich ganz sicher, dass Ihre Tochter nicht aus eigenem Entschluss weggegangen ist?«
»Von zu Hause weggelaufen, nein.« Mit einer nervösen Geste rieb Roger sich über die Wange. »Ich weiß, das sagen alle Eltern, aber Nell war wirklich ein sehr zufriedenes Kind. Im Gegensatz zu Maurice – das ist Dannys Sohn –, der es nie verwinden konnte, dass seine Mutter ihn im Stich gelassen hat. Aber wieso sollte Nell nicht glücklich gewesen sein? Für Kinder ist so ein Gestüt doch – ein Idyll.«
Ein Idyll, dachte Jury, hat die böse Eigenschaft, sich an der Realität empfindlich zu stoßen, falls es überhaupt je ein Idyll war. Roger Ryder schien als Arzt alles kritisch zu hinterfragen, als Vater jedoch vermutlich nichts. Solche wohlmeinenden, ihre Kinder über alles liebenden Eltern waren nichts Ungewöhnliches und eigentlich konnte man es ihnen nicht anlasten, dass sie nicht wussten, was in den Köpfen und Herzen ihrer Kinder vor sich ging.
Roger stand auf und ging zum Fenster hinüber, wo er den Arm gegen den Rahmen stützte und den Kopf zur Scheibe neigte, als hoffte er aus seinem Spiegelbild irgendeine Erkenntnis zu schöpfen, sagte jedoch nichts.
»Wie hat Nell den Tod ihrer Mutter aufgenommen?«
»Sie hat es akzeptiert, war relativ gelassen.«
Nein, war sie nicht. Sie wirkte nur so.
»Ihr Bruder wurde von seiner Frau verlassen.«
Roger nickte. »Dass Marybeth davongelaufen ist, hat mich nicht direkt überrascht. Um ehrlich zu sein, ich glaube auch nicht, dass es Danny überrascht hat. Sie war wohl so eine Art Vorzeigefrau – Sie wissen schon, ein schönes Geschöpf, das dekorativ bei Rennen herumsteht, Blumen in Empfang nimmt, sich huldvoll verneigt und dann geht. Danny hatte immer eine Menge Frauen um sich geschart. Er hatte so eine Ausstrahlung, die auf Frauen anziehend wirkte. Er war ein Draufgänger, wahrscheinlich wollte er so die innere Leere ausfüllen, wie wir anderen meistens mit Essen, Alkohol und Zigaretten. Das alles muss ein Jockey sich ja versagen, jede nur erdenkliche Schwäche, die der Mensch so haben kann. Danny musste ständig daran denken, das eine oder andere überschüssige Pfund abzunehmen. So ein Leben ist die Hölle, und da hält man sich eben auf andere Art und Weise schadlos. Marybeth schien Maurice gegenüber völlig gleichgültig, dabei war er ein wirklich süßer Junge, ist er immer noch. Bloß furchtbar traurig. So traurig, dass es einen schon nerven kann.«
Unterschwellig glaubte Jury etwas ganz anderes als »süß« und eher in Richtung »nervend« heraushören zu können. Es konnte Eifersucht sein oder Neid oder gar geschickt im Zaum gehaltene Wut. Sein eigenes Kind, Nell, war verschwunden, während das Kind seines draufgängerischen, exaltierten Bruders noch da war. All diese Gefühle waren ins düstere Gewand von Scham oder Schuldgefühl gehüllt. »Ihre Tochter lebte bei ihrem Großvater?«
»Es war seine Idee. Er konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als seine Enkelkinder um sich zu haben. Danny lebte in Chiswick, aber Maurice war fast ständig auf der Farm. Unsere beruflichen Verpflichtungen erlaubten es uns beiden einfach nicht, genug zu Hause zu sein, und das Gestüt ist ja eine so wunderbare Umgebung für Kinder.«
»Und Sie?«
Roger schüttelte den Kopf. »Ich muss wegen meiner Arbeit in London wohnen. Aber fast jedes Wochenende fahre ich auf die Farm.« Roger lächelte. »Vernon nennt mich immer einen Glückspilz.«
»Vernon?«
»Mein Stiefbruder.«
»Wie meint er das?«
»Dass Dad seinen Söhnen die Verantwortung abgenommen hat. Aber eigentlich hat er es anders gemeint.« Ohne beleidigt zu wirken, lächelte Roger und sah erneut aus dem Fenster. »Vernon kam sozusagen als Dreingabe, als Dad wieder heiratete. Felicity Rice, eine äußerst sympathische, aber merkwürdig farblose Frau. Unsere Mutter war eine Schönheit gewesen. Ich habe die Geschichte mit Felicity und Dad nie verstanden. Eins kann ich Dad aber bescheinigen, eine Midlifecrisis war es nicht. Felicity war schließlich keine blonde Sexbombe. Sie ist jetzt auch schon tot.«
»Sie sagen es mit einem Lächeln. Warum?« Hinter der Maske des Arztes sah Jury den halbwüchsigen Jüngling hervorlugen.
»Nicht wegen Felicity. Wegen Vernon. Der kann Sachen sagen, ohne einen dabei bloßzustellen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Vernon ist sehr clever, sehr ehrgeizig und sehr reich. Er wohnt in einem vornehmen Penthouse in den Docklands. Und großzügig ist er. Vor einiger Zeit bekam Dad ein Darlehen von ihm. Dad wollte einen Einjährigen verkaufen, ein Fohlen, das ihm anderthalb Millionen einbringen sollte. Doch dann machte der Käufer plötzlich einen Rückzieher, und Dad brauchte Geld, um sich so lange über Wasser zu halten, bis er einen neuen Käufer gefunden hatte.«
Jury unterbrach ihn. »Anderthalb Millionen für ein Pferd, das sich noch gar nicht bewährt hat?«
Roger lachte. »Ach, das ist noch gar nichts. Diese Rennen mit Vollblutpferden sind ein lukratives Geschäft. Und das Fohlen war ein Nachkomme von Beautiful Dreamer. Haben Sie von dem schon mal gehört? Wenn Sie ein bisschen was über Pferderennen wissen, ist er Ihnen ein Begriff. Es stand außer Zweifel, dass dieser junge Hengst einmal Ausgezeichnetes leisten würde.«
»Hört sich nach einem verdammt riskanten Spiel an.«
»Ist es immer. Ein riskantes Geschäft. Aber eines, das sich enorm lohnt.«
»Und Ihr Bruder Vernon? Was macht der eigentlich?«
Roger lächelte übers ganze Gesicht. »Geld.«
»Tonbandaufnahme des Gesprächs mit Dr. Ryder«, sagte Jury und schob die Akte, die Wiggins ihm mitgebracht hatte, auf sein Tabletttischchen. »Durchgeführt von Detective Chief Inspector Gerard, Distriktspolizei Cambridgeshire. Kurz zusammengefasst: Nell Ryder, fünfzehn Jahre alt, wurde in der Nacht des 12. Mai 1994 vom Gestüt Ryder entführt. Also vor zwanzig Monaten. Das Mädchen schlief in der Box eines Pferds namens Aqueduct, das krank war, Fieber hatte. Nell Ryder übernachtete oft im Stall, wenn es einem Pferd nicht gut ging.
DCI GERARD: Sie sind ein vermögender Mann, nicht wahr, Dr. Ryder?
RYDER: Na, ich habe ein gutes Auskommen.
DCI GERARD: Oder sagen wir, das Gestüt Ryder. Ihr Vater ist ziemlich vermögend.
RYDER: Eigentlich schon. Kommt darauf an, wie man es betrachtet. In puncto Liquidität, ich meine, ob er Geld herumliegen hat, nein. Hinsichtlich seiner Zuchtpferde – der Thoroughbreds – sehr.
DCI GERARD: Wäre es leicht für ihn, Geld zu beschaffen?
RYDER: Keine Ahnung. Wahrscheinlich schon. Ich weiß, dass sein Stiefsohn viel Geld hat, und der würde ihm bestimmt helfen.
DCI GERARD: Wir sollten mit einer Lösegeldforderung rechnen.
»Dann Fragen, wo sich der Arzt in der betreffenden Nacht aufgehalten hatte. Er war im Bett und schlief, es gibt allerdings keine Zeugen dafür. Ist natürlich höchst verärgert darüber, dass man ihn für einen Verdächtigen hält. Fragen zu Nells Mutter. Sie ist tot. Über seinen Bruder, Danny Ryder, ebenfalls tot.
DCI GERARD: Ihr Bruder war doch dieser berühmte Jockey, nicht wahr?
RYDER: Ja. Einer des besten. Er ist jedes wichtige Rennen geritten. Er war ein großartiger Jockey.
DCI GERARD: Er ist ums Leben gekommen –
RYDER: In Frankreich, auf einer Rennbahn in der Nähe von Paris. In Auteuil. Sein Pferd hat ihn abgeworfen.
DCI GERARD: Ein verrücktes Leben ist das. Man ist entweder Hansdampf in allen Gassen oder denkt nur ans Essen, Essen, Essen. Lester Piggott hat sich von Champagner und einem Salatblatt ernährt. (Pause) Sie müssen entschuldigen, Dr. Ryder. Ich gerate eben manchmal ins Schwärmen.
Jury hob lächelnd den Blick. »›Ins Schwärmen.‹ Das gefällt mir. Anscheinend kennt sich Gerard bei Jockeys ein wenig aus. Die Beschreibung gefällt mir. Fragen zu den Ehefrauen der Ryders. Die des Arztes ist tot, ihr Name ist Charlotte. Die des Jockeys – Marybeth – lebt irgendwo in Amerika. Das heißt, seine erste Frau. Später heiratete er wieder. Eine Frau aus Paris. Keiner der Ryders hat sie je gesehen, deshalb weiß man auch nicht, ob sie Pariserin ist oder möglicherweise Engländerin.« Jury klappte die Akte zu und lehnte sich in seine Kissen zurück.
Melrose fragte: »Und das Lösegeld? Was war damit?« Er hatte sich den einzigen anständigen Stuhl gesichert, so dass Wiggins sich mit dem grausam unbequemen Holzstuhl begnügen musste.
»Wurde anscheinend nie gefordert.«
»Was?«
»Sie haben sie einfach so mitgenommen. Schluss, aus! Jedenfalls soweit die Polizei von Cambridgeshire Bescheid wusste. Die hat zwar eifrig nach ihr gesucht, bloß ohne Erfolg.«
»Dann«, meinte Melrose, »ging es vielleicht um das Pferd. Wie heißt es?«
»Aqueduct. Ziemlich wertvoll, speziell für Zuchtzwecke. Darüber habe ich mir auch Gedanken gemacht. Wenn ein Tier zusammen mit einem Menschen vermisst wird, nimmt man doch an, dass sie es auf den Menschen abgesehen haben.«
»Die hatten nicht damit gerechnet, dass bei dem Pferd noch ein Mädchen dabei war. Glauben Sie, die mussten sie zwangsläufig mitnehmen, damit sie den Mund hielt?«
»Sehr gut möglich.« Jury sah wieder den Bericht der Polizei von Cambridgeshire durch. »Zahlreiche wertvolle Thoroughbreds: Beautiful Dreamer, Criminal Type –«
»Criminal Type. Das gefällt mir. Seltsamer Name für ein Pferd.«
»Wie Seabiscuit auch«, sagte Wiggins. »Wissen Sie, wie der Name entstanden ist? Ich meine, Seabiscuit?«
Dass Wiggins bei allem, was mit biscuit zu tun hatte, wusste, woher es stammte, sah ihm ähnlich. Er verspeiste gerade einen.
»Es gab einmal ein Pferd namens Hard Tack, also Schiffszwieback, diese Notverpflegung für Seeleute. Verstehen Sie? Hard Tack – Seemann.«
Jury und Melrose musterten ihn bloß stumm.
»Sea also bezogen auf Seemann und biscuit im Sinn von einer minderwertigen Sorte Schiffszwieback. Ziemlich clever.«
Jury und Melrose musterten ihn immer noch unverwandt und sparten sich den Kommentar.
Wiggins konsultierte mehrere Seiten in seinem Notizbuch. »Das Gestüt Ryder hat seit Nell Ryders Verschwinden ziemlich an Prestige eingebüßt. Es ist fast, als wäre sie Herz und Seele des Ganzen gewesen. War sie vielleicht auch, jedenfalls für ihren Großvater. Und dann auch noch diese Sache mit Danny Ryder. Nicht bloß ein persönlicher Verlust, sondern auch finanziell ein echter Schlag. Wenn der auf Samarkand saß, waren sie buchstäblich unschlagbar.«
»Was ist ihre Haupteinnahmequelle? Die Siegprämien?«
»Nein. Der Zuchtbetrieb. Ryder hat einen ganzen Stall voller Thoroughbreds, ehemalige Rennpferde, die aber sehr wertvolle Zuchttiere abgeben.«
»Stutenbesitzer bringen ihre Tiere also zum Gestüt Ryder und bezahlen für das Vergnügen?«
»Bezahlen einen Haufen Geld für das Vergnügen, für einen Hengst wie etwa Samarkand. Es ist allgemein übliche Praxis, habe ich gehört, Anteile zu verkaufen. Ein Besitzer zahlt, sagen wir, zwischen einhunderttausend und einer Viertelmillion für das Privileg, einmal pro Jahr eine seiner Stuten bringen zu dürfen.«
Melrose fuhr verblüfft auf. »Eine Viertelmillion? Für den Preis täte ich es selber.«
»Wer würde Ihnen schon so viel bezahlen?«, fragte Jury. »Und wie hoch wäre dann der mit den Zuchthengsten erzielte Gewinn pro Jahr?«
Erneut blätterte Wiggins in seinem Notizbuch und meinte dann: »1992 belief er sich zum Beispiel auf gut fünf Millionen.«
Jury fuhr verblüfft auf. »Was? Und das ist bloß aus der Zucht?«
Wiggins nickte. »Ja, bloß aus der Zucht.«
»Und wie viel aus Siegprämien?«
»Von Samarkand allein – das war vor zehn Jahren – 1,8 Millionen.«
»Kein Wunder, dass man es den königlichen Sport nennt«, sagte Melrose.
»Wenn man sich natürlich die andere Seite der Rechnung anschaut«, meinte Wiggins, »ist es ein außergewöhnlich kostspieliges Unternehmen. Die Leute, die für einen arbeiten, müssen zum größten Teil sehr gut ausgebildet sein. Jockeys, Tierärzte, Ausbilder, Pferdepfleger – die sind ja nicht billig zu haben. Arthur Ryder wollte nur die Besten. Allein sein Ausbilder bekam pro Jahr eine Viertelmillion, und das ist für so einen noch wenig. Es ist teuer und sehr krisenanfällig, wie die Landwirtschaft, allerdings müssen Landwirte nicht für jede Kuh und jeden Kohlrübenacker eine Versicherung abschließen. Die Versicherungssumme allein für Samarkand belief sich auf zwei Millionen. Aber seit sein Sohn Danny und dann seine Enkelin Nell fehlten, lief es bei Arthur Ryder nicht mehr so richtig. Finanzielle Widrigkeiten, Unfälle mit den Pferden, Probleme aller Art schienen Arthur Ryder heimzusuchen.«
Jury lehnte sich zurück und schloss die Augen. »›Wie einzelne Späher nicht, nein, in Geschwadern.‹«
»Sir?«
»Wenn Unheil naht. Claudius, König von Dänemark.«
Wie zur Untermauerung des Gesagten kam Schwester Bell herein.
Doch einzelne Späher nur, dachte Jury. Ein Segen!
»Ich würde sagen, Sie beide« – dabei verschränkte sie die Arme und funkelte Melrose und Wiggins böse an – »haben für heute genug Besuch gemacht. Habe ich Ihnen nicht eingeschärft, dass er« – das ungnädige Lächeln, mit dem sie Jury bedachte, war eher ein höhnisches Grinsen – »nichts von Polizeiarbeit hören darf? Er soll sich ausruhen, nicht Ihnen beiden zuhören. Ihnen ist wohl nicht klar, dass er dem Tod gerade noch mal von der Schippe gesprungen ist, und obwohl wir ihn diesmal wieder hingekriegt haben – noch mal haben wir vielleicht nicht so viel Glück.«
Wenn sie noch einmal sagte, wie nah er doch dem Tode gewesen war, würde er ihr eine Ohrfeige verpassen, schwor sich Jury. »Sie sind noch nicht ganz über den Berg, mein Junge«, meinte sie. »Sprechen Sie also heute Abend ein Extragebet.«
Melrose sagte: »Das ist doch lächerlich! Gesünder hat er nie ausgesehen. Man merkt ihm kaum an, dass er angeschossen wurde. Das kommt von Ihrer ausgezeichneten Pflege.«
Nun geriet Schwester Bell aber in die Zwickmühle. Sie wollte ihre Rolle auf keinen Fall geschmälert sehen. »Auch beste Pflege ist keine Garantie dafür, dass ein Patient wirklich durchkommt.«
Jury, Melrose und Wiggins seufzten.