Die Autorin
Annemarie Schwarzenbach wurde 1908 in Zürich geboren. Studium der Geschichte in Zürich und Paris. Ab 1930 enge Freundschaft mit Erika und Klaus Mann. 1931 Promotion. 1931 bis 1933 als freie Schriftstellerin zeitweise in Berlin. Erstmals Morphiumkonsum. 1933 bis 1934 Vorderasienreisen. 1935 kurze, unglückliche Ehe mit dem französischen Diplomaten Claude Clarac in Persien. 1936 bis 1938 (Foto-)Reportagen im Zusammenhang mit Reisen in die USA, nach Danzig, Moskau, Wien, Prag. Entziehungskuren in der Schweiz. 1939 Reise mit Ella Maillart nach Afghanistan. 1940 Aufenthalt in den USA. 1941 bis 1942 in Belgisch-Kongo. Die Journalistin, Schriftstellerin und Fotoreporterin starb 1942 in Sils.
Das gelobte Land
Ein Auswanderer
Verklärtes Europa
Bei diesem Regen
Der Abschied
Beni Zainab
Auf der Heimreise …
Sehr viel Geduld …
Die Mission
Drei Tage Morgendämmerung
Fast dasselbe Leiden
Vans Verlobung
Eine Bekanntmachung
Eine Frau allein
Nachwort
Zur Edition
Anmerkungen
Endlich wurde Billy wach. Sie sah einen Jungen in blauer Stewardjacke unter der Tür ihrer Kabine stehen, und sie erinnerte sich, dass sie »herein« gesagt hatte. Nun stand er da und trug eine Platte mit einem Osterkuchen und bunten Ostereiern in der Hand.
»Der Kommissar schickt Ihnen dies«, sagte er, »und wünscht Ihnen fröhliche Ostern.«
»Danke«, sagte Billy.
Er stellte die Platte auf den Stuhl neben ihrem Bett und ging hinaus. Billy rief ihn noch einmal zurück. »Sag, dass man mir Kaffee bringen soll«, sagte sie. Der Kuchen sah frisch und verlockend aus, und sie hatte Lust, davon zu essen. Es war schon spät, sie hatte sehr lange geschlafen.
Während sie ihren Kaffee trank und von dem Kuchen ass, erinnerte sie sich langsam an das, was vor ihrem Schlaf gewesen war. Sie erinnerte sich, dass sie die Kuchen aus frischem, weissem Teig in der Schiffsbäckerei gesehen hatte und dass der Kommissar versprochen hatte, ihr einen Matrosen-Osterkuchen zu schicken. Er hatte sie durch den Maschinenraum geführt, der wie ein riesiges Kulissenhaus aussah, und sie war, schwindlig vor Hitze, auf einer Leiter in den unendlich tiefen Schiffsbauch hinuntergestiegen, bis das Dröhnen der Kolben und die Hitze über ihr zusammenschlugen. Sie war zwischen zwei Kesseln auf öligen Metallplatten gegangen, ohne die glühenden Wände der Kessel zu berühren. Sie war auf die Kommandobrücke gekommen, er hatte ihr die blitzenden Instrumente erklärt, und sie hatte die breite, milchige, vom Mond beschienene und geglättete Wasserstrasse vor ihnen gesehen, durch die der Schiffskiel rauschend schnitt und weiche Wellenkämme zu beiden Seiten aufwarf.
Während des Nachtessens hatte ihr Nachbar gesagt, dass er am nächsten Morgen früh aufstehen werde, um seiner kleinen Tochter Jaffa zu zeigen. Er hiess Dr. Levy und war in Freiburg Professor der Chemie gewesen. Er kannte Palästina ganz gut, aber jetzt brachte er seine Tochter hinüber, und sie würden dort bleiben. Sie würde nicht in Deutschland aufwachsen, sondern in Palästina, und was die Nazis ihrem Vater getan hatten, würde sie nicht mehr angehen als die Pogrome in Bessarabien. Sie würde eine glückliche Kindheit in Palästina haben …
Billy schob schnell ihr Leintuch zurück und zog sich an. Als sie auf das Deck kam, brannte darauf schon die heisse Mittagssonne, und die meisten Passagiere lagen in ihren Stühlen und hatten ihre Köpfe mit Schirmen, weissen Hüten und Tüchern geschützt. Ein leichter Wind ging darüber hinweg, und sie fuhren der Stadt Tel Aviv entlang. Vor der Stadt lag ein Streifen von weissem und rostbraunem Strand, und die Häuser von Tel Aviv waren weiss, es gab breite, weisse Strassen und neue, hohe, vielstöckige Gebäude, und man sah vom Meer aus in die belebten Strassen hinein. Billy stand an der Reling und sah sich das neue Palästina an. Dann kam Dr. Levy um die Kommandobrücke herum, er hielt das kleine Mädchen an der Hand, und der Wind richtete seine Haare auf.
»Guten Morgen«, sagte er, »wir haben Sie schon überall gesucht, um Ihnen Jaffa zu zeigen.«
»Ich habe geschlafen«, sagte Billy, und zu dem kleinen Mädchen: »Du hättest mich wecken sollen!«
»Es macht nichts«, sagte Dr. Levy. »Es tut Ihnen gut zu schlafen«, und er zeigte Billy die kleine Hafenstadt Jaffa, die im Schutz eines Hügels entstanden und dann mit türkischen Häusern und Moscheen den Hügel hinaufgeklettert war. Sie sah wie eine kleine, italienische, mittelalterliche Hafenstadt aus. Dann begann Tel Aviv und folgte dem Strand.
»Ganz links sehen Sie ein dunkelrotes Gebäude, das ist das Gewerkschaftshaus«, sagte Dr. Levy. »Es ist ziemlich hässlich, dieses Tel Aviv. Aber es macht nichts.«
»Nein«, sagte Billy.
Dr. Levy sah auf den Scheitel des kleinen Mädchens hinunter. »Und nun fahren wir den ganzen Tag der Küste Palästinas entlang«, sagte er. Billy hörte aufmerksam zu, als er über die Siedlungen sprach, die man vom Schiff aus auf den hohen Uferfelsen sehen konnte, und über die neuen Orangenpflanzungen, die sich dunkelgrün, dicht und regelmässig von den kargen, ungepflegten Hainen der Araber unterschieden. Dann assen sie zu Mittag, und nach dem Essen gingen sie wieder alle drei auf das Deck hinauf, und das Schiff folgte immer noch der sonnigen, goldbraunen Küste. Nur die Uferfelsen waren höher geworden, und man sah auf den Höhenzügen dahinter weisse Dörfer, die zur Zeit Herzls und Rothschilds gegründet worden waren und nicht mehr dem Ideal der neuen Gemeinschaftssiedlungen entsprachen.
Gegen vier Uhr nachmittags näherten sie sich Haifa. Im Salon setzte die Unterhaltungsmusik ein, und die Leute verliessen ihre Liegestühle und gingen hinunter.
Als der Kommissar von der Brücke her kam, sagte Dr. Levy, dass er mit Judith den Hafen von Haifa ansehen wolle, und ging mit ihr nach vorne.
Billy sah den Kommissar auf sich zukommen, und wieder begann ihre Erinnerung zu arbeiten. Er war klein und hatte hochgezogene Schultern. Fast einen Buckel, stellte Billy fest. Er hatte ein blasses Gesicht mit kränklich entzündeten Augen und einen schmalen, höhnischen, leidenden Mund. Er sah sonderbar müde und angeekelt aus.
»Guten Tag«, sagte er zu Billy.
Billy sagte: »Es war nett von Ihnen, mir den Osterkuchen zu schicken.«
»Gut geschlafen?« fragte er.
»Ja, danke.«
Er sagte, ohne sie anzusehen: »Du warst so müde gestern nacht. Du bist mir einfach so weggeschlafen.«
Billy antwortete nicht. Sie waren schon in der Hafeneinfahrt.
»Ich muss gehen«, sagte der Kommissar. »Ist es Ihnen recht um sechs Uhr?«
»Gut«, nickte sie.
Er ging weg, und sie begann, um das Deck herumzugehen, in die Touristenklasse hinüber, und wieder nach vorn, an den offenen Fenstern des Salons vorbei. Der Salon war leer. Sie ging zurück, aber man hatte die Touristenklasse durch ein Seil abgesperrt, und hinter dem Seil standen die Auswanderer mit ihren Handtaschen und Rucksäcken und warteten, dass man sie an Land gehen liess. Es waren lauter Juden, und die meisten von ihnen waren junge Juden aus Deutschland. Man hatte während der Reise für acht Zwischendeck-Passagiere gesammelt, die ohne Kost und Unterkunft auf dem Schiff mitfuhren, fünf Burschen und drei Mädchen, die jetzt in ihren Windjacken hinter dem Seil standen und warteten, um in Palästina an Land gehen zu dürfen.
Zuerst liess man die Passagiere der ersten Klasse vorbei. Sie kamen durch die Salontür heraus, erhielten ihren Pass, und gingen dann an den beiden arabischen Polizisten vorüber das Fallreep hinunter. Dr. Levy kam und führte sein kleines Mädchen an der Hand. Er war aufgeregt, strahlte wie alle anderen, und beeilte sich, das Schiff zu verlassen, aber als er Billy an der Reling stehen sah, kam er zu ihr, um ihr auf Wiedersehen zu sagen.
»Viel Glück«, sagte Billy.
Sie sah ihm nach, wie er das schwankende Fallreep hinunterging und wie er aufpasste, dass das kleine Mädchen nicht stolperte. Das Schiff schien sehr hoch, wie es so an der Quaimauer lag. Unten sah man eine Menge Leute, die Bekannte auf dem Schiff hatten und nun warteten, dass sie durch die Passkontrolle kamen. Sie winkten zur Reling herauf, die meisten von ihnen lachten vor Freude über das ganze Gesicht und versuchten, etwas heraufzurufen, aber es war zu hoch, und die Passagiere oben konnten nichts verstehen, sie machten Zeichen mit den Armen und winkten und lachten zurück. Andere weinten geradezu. Die acht Mädchen und Jungen aus dem Zwischendeck wurden von ein paar Burschen abgeholt, die ganz ähnlich aussahen wie sie und ebenfalls Windjacken trugen. Billy sah, wie sie aufeinander losrannten und sich umarmten, und sich erst nachher die Hand schüttelten. Dann nahmen die Burschen den Neuangekommenen die Rucksäcke ab, und sie gingen alle miteinander weg, zwischen den arabischen Polizisten und den langen Ketten gebückter Lastträger hindurch.
Es war beinahe sieben Uhr, als alle Passagiere ihre Pässe bekommen und das Schiff verlassen hatten. Der Kommissar kam aus der Kajütentür, er war in Zivil und trug einen Regenmantel wie ein Offizierscape zusammengefaltet auf dem Arm.
»Wollen wir gehen?« fragte er Billy.
Sie nickte und ging voraus, an zwei jungen Schiffsoffizieren vorbei, die die Hand an die Mütze hoben.
Billy sah neben der Kajütentür eine schwarze Tafel mit dem Namen des Schiffs, und darunter, mit Kreide geschrieben: »Verlässt Haifa heute um Mitternacht«.
Die arabischen Polizisten hielten Billy auf, und der Kommissar zog ihren Pass aus seiner Tasche. Die Polizisten liessen sie vorbei. Billy fühlte, dass die beiden Offiziere ihnen nachsahen, und fühlte ihren Blick auf ihrem Rücken. Sie ging neben dem Kommissar, der kleiner war als sie, am Zollgebäude vorbei durch die Sperre, über ein Bahngeleise, einen breiten, sandigen Weg entlang. Vor ihnen lag Haifa, eine hellerleuchtete Strasse mit Kaffees, einem Kino, einer Taxihaltestelle, dahinter im Dunkeln der Berg Karmel.
»Wollen wir ein Auto nehmen?« fragte der Kommissar.
Sie stiegen ein, und er rief dem Chauffeur auf deutsch zu, am Lloydbureau zu halten.
»Es wird schon geschlossen sein«, sagte der Chauffeur.
»Ich kenne mich aus«, sagte der Kommissar, »fahren Sie ruhig erst einmal hin.«
Billy wartete im Auto. Die Strasse schwankte ein wenig unter ihr, aber bei weitem nicht mehr so stark wie vorhin, als sie vom Schiff bis in die Stadt hinein gegangen waren. Und niemand schaute ihr nach. »Haben Sie ein Streichholz?« fragte sie den Chauffeur, »rauchen Sie vielleicht?«, und sie reichte ihm ihre lederne Zigarettenschachtel hinüber.
»Versuchen Sie eine von unseren palästinensischen«, sagte der Chauffeur. Er zog eine Packung aus der Tasche und zündete ein Streichholz an.
»Danke«, sagte Billy, »sie sind ausgezeichnet.«
»Nicht schlecht. Und man kann sie den ganzen Tag rauchen. Sie werden einem nicht über.«
»Sind Sie schon lange in Palästina?« fragte Billy.
»Sechs Monate. Es ist ein gutes Land, nur die vielen Sprachen sind unbequem. Man braucht Englisch, Deutsch, Hebräisch und Arabisch. Ich kann nur Englisch und Deutsch.«
»Was haben Sie früher gemacht?«
»Meinen Sie in Deutschland?«
»Ich meine, bevor Sie hier herüberkamen.«
»Ich war arbeitslos«, sagte er. »Ich war arbeitsloser Student, weil ich zum Studium kein Geld mehr hatte. Nachher schnappten die Nazis meinen Bruder, und ich musste schleunigst verduften, weil wir zu den Juden gehörten, die ehrlichen Deutschen ihr Brot und ihre Stellungen wegnahmen.«
»Nehmen Sie noch eine Zigarette«, sagte Billy.
»Wissen Sie«, sagte der Junge, »das Beste an der Sache ist, dass man hier nicht mehr daran zu denken braucht. Kein Mensch interessiert sich hier für die Nazis.«
»Verdienen Sie viel?«
»Man bekommt, was man nötig hat. Man bekommt nichts geschenkt, aber man braucht nicht arbeitslos zu sein. Für die Jungen geht es. Die, welche mit Familie und Kindern herüberkommen, haben es manchmal schwer.«
Jemand öffnete das herabgelassene Gitter vor dem Eingang des Lloydbureaus und liess den Kommissar heraus.
»Es tut mir leid, dass du warten musstest«, sagte er zu Billy.
»Es macht nichts«, sagte sie, »wohin fahren wir?«
»Wohin du willst.«
»Auf den Karmel. Kann man auf dem Karmel irgendwo essen?« rief sie nach vorne.
»Man kann schon«, sagte der Junge. »Aber ich rate es Ihnen nicht an. Sehen Sie sich oben die Aussicht an, trinken Sie etwas, und essen Sie nachher irgendwo in der Stadt.«
»Gut«, sagte der Kommissar, »besehen wir uns die Aussicht bei Nacht.«
Sie fuhren durch die Stadt und auf einer schönen, breiten Strasse den Karmel hinauf. Der Kommissar rückte näher an Billy heran und tastete in der Dunkelheit nach ihrer Hand. Er hielt sie mit seiner Hand fest und legte sie zwischen Billys Knie.
»Ich fühle mich so mit dir verheiratet«, sagte er. »Ich fühle mich ganz und gar glücklich mit dir zusammen.«
»Nein«, sagte Billy, ohne sich zu rühren.
Er zog die Hand zurück. »Ich weiss nicht, was mit mir los ist«, sagte er. »Es macht mich verrückt, dich im Auto sitzen zu sehen und zu dir einzusteigen.«
»Vielleicht bist du verliebt«, sagte Billy.
Er beugte sich nach vorn und fasste wieder ihre Hand. Sie sah gegen das Fenster seine hochgezogenen Schultern und das magere Gesicht mit dem vorgeschobenen, leidenden Mund. Er sah elend aus, und sie liess seine Hand auf der ihren.
»Ich war verrückt gestern nacht«, sagte er, »und du, warst du nicht ein bisschen glücklich?«
»Na«, sagte Billy, »abgesehen davon, dass du behauptet hast, du würdest mich nicht anrühren –«
»Ich dachte, du würdest es nicht merken. Ich dachte, du würdest einfach einschlafen.«
»Ich habe es gern, wenn man mich für schwachsinnig hält«, sagte Billy.
Der Chauffeur hielt mit einem Ruck den Wagen an. Er führte sie auf einem Fussweg bis zu einer Terrasse, die über den nachtschwarzen Weinbergen hing, und zeigte ihnen die Lichter von Haifa, die Hafenlichter, die helle Linie der Hauptstrasse, die schwach erleuchteten kleinen Strassen der Templersiedlung, die sich rechtwinklig schnitten, und ganz abseits eine neue Gemeinschaftssiedlung.
Man sah einen Leuchtturm und die Mastlampen von Schiffen, die draussen vor dem zu engen Hafen lagen, und man sah die Scheinwerfer von Wagen, die den Karmel herauffuhren und den Kurven der Strasse folgten.
»Und dort hinten ist das Kaffee«, sagte der Junge, und ging zu seinem Wagen zurück.
Sie gingen zu dem kleinen Haus hinauf, sassen in einer winzigen Gaststube, an deren kahlen Wänden eine Spatenbräu-Reklame und ein Kalender von einem Geschäft in Stuttgart hingen. Die Frau, die ihnen den Wermut brachte, war eine Deutsche und sprach ein breites, freundlich klingendes Schwäbisch. Ihr Grossvater war mit den Templern aus Württemberg gekommen, und ihr Vater und sie und ihre Geschwister waren in Haifa geboren. Ihr Vater hatte unten im deutschen Stadtviertel ein Gasthaus. Der Boden der Siedlung gehörte den Templern, und auch ein Teil des Karmels gehörte immer noch den Templern.
»Aber die Reben sind krank«, sagte die Frau. Sie blieb ganz allein hier oben und bediente die Gäste, die abends auf dem Karmel spazierengingen und etwas trinken wollten, bevor sie in die Stadt zurückkehrten. Sie fand, dass es ein friedliches Leben sei, und lobte die Aussicht, die man über die Weinberge und die Stadt auf das Meer hatte. Sie müssten einmal am Tag heraufkommen, um die Aussicht richtig zu geniessen.
»Schön«, sagte Billy, »das nächste Mal werden wir daran denken.«
»Wollen Sie denn nicht einige Tage in Haifa zubringen?« fragte die Wirtin. »Es würde sich doch lohnen, es gibt jetzt viel zu sehen in Haifa!«
»Gewiss, es würde sich lohnen, aber wir haben keine Zeit.«
»Der Hafen, den die Engländer gebaut haben, ist ja allerdings zu klein, denn die Stadt wächst jetzt jeden Tag, fast zusehends.«
Der Kommissar sah Billy an, sie zahlten, und gingen die Terrasse entlang zum Wagen zurück. Sie fuhren schnell und lautlos den Karmel hinunter und tauchten in die hellen Strassen der Stadt. Der Junge fuhr langsam und zeigte ihnen die Namen der Strassen, der Kaffees und der Kinos.
»Wollen Sie irgendwo essen, wo es Musik gibt?« fragte er.
»Nein«, sagte Billy, »wo es guten Wein gibt.«
Es hiess »Kaffee Wien«, und der Junge fragte, ob er warten solle, aber der Kommissar zahlte ihn gleich und schickte ihn weg. Das Kaffee war ziemlich voll. Auf allen Tischen lagen deutsche Zeitungen. Die meisten Leute assen zu Abend, andere tranken Bier, an der Bar sassen ein paar junge Burschen mit Rakigläsern vor sich.
»Also, zuerst den Wein«, sagte der Kommissar, als sie einen guten Tisch in einer Ecke gefunden hatten.
»Wollen Sie einheimischen Rotwein haben?« fragte der Kellner. Er war Wiener und sprach das weiche Wienerisch mit einem weichen, verschmierten, dicklippigen Mund. Sein ganzes Gesicht war so, rund, weich und verschwommen. Während er die Bestellung auf seinem Notizblock niederschrieb, sahen seine blauen Augen zerstreut nach allen Seiten.
»Bringen Sie den Wein zuerst«, sagte der Kommissar. Er sah ein wenig erfrischt aus und lehnte sich fröhlich über den Tisch.
»Hast du Hunger?« fragte ihn Billy. »Weisst du, du siehst jetzt gar nicht mehr wie ein Kommissar aus. Du hast keine Uniform an, und du gefällst mir.«
»Wie sehe ich denn aus?«
»Nicht wie ein Kommissar. Du siehst wie Alberto aus. Wie ein einfacher Alberto, und wie mein Freund Alberto.«
»Wir wollen trinken«, sagte Alberto, »mein Gott, wie glücklich ich mich fühle!« Der palästinensische Rotwein war gut, aber ein wenig süsslich. Alberto sagte es dem Wiener, als er die Platte mit den Schnitzeln brachte. »Bringen Sie etwas Besseres«, sagte Alberto.
Der Wiener nahm die Flasche mit dem süssen Wein weg und kam mit einer anderen zurück. Auf der Etikette stand »Chablis« und etwas in hebräischen und arabischen Buchstaben.
»Es ist eine Nachahmung«, sagte der Kellner, »ein guter hiesiger Wein.«
»Bringen Sie frische Gläser«, sagte Alberto.
Billy hatte angefangen zu essen, er ass nicht, schenkte nur den Wein ein und sah zu, wie sie ass.
»Ich kann einfach nicht«, sagte er, »ich kann nur trinken. Ich weiss, dass es eine schlechte Gewohnheit ist.«
»Nur eine Gewohnheit?« fragte Billy, kauend.
»Man wird eben so«, sagte er, »fast alle werden so. Wenn wir in einen Hafen kommen, gehen wir an Land und in das erste beste Lokal, und trinken. Von allen Städten kennen wir nur das erste beste Lokal am Hafen.«
»Seit wann fährst du auf dieser Linie?«
»Seit einem Jahr.«
»Und vorher?«
»Vorher fuhr ich auf der Fernost-Linie, bis nach China, aber es war dasselbe. Ich kenne in China ein paar Lokale und einige Alkoholsorten. Sehr gute Lokale.«
»Und erst in Haifa!« sagte Billy.
»Nein«, sagte er, »hier ist es ganz anders, weil ich mit dir bin. Ich liebe Haifa.«
»Ich auch«, sagte Billy, »aber nun iss erst einmal. Nachher trinken wir noch eine Flasche von diesem erstklassigen Wein, und dann werden wir Haifa richtig lieben.«
»Ich liebe dich«, sagte Alberto.
Der Kellner kam und nahm die Teller weg.
»Was liebst du an mir?« fragte Billy.
»Es hat mir solche Mühe gemacht, dich zu lieben«, sagte Alberto. »Ich zitterte, wenn ich dich sah, aber ich war sicher, dass du es nicht mögen würdest.«
»Was nicht mögen?«
»So wie gestern abend«, sagte er, »ich dachte, du würdest es nicht mögen, weil du wie ein Junge aussiehst und weil du immer an den Leuten vorbeischaust.«
»Nun ja«, sagte Billy.
Alberto betrachtete sie, ängstlich und flehend. »Wir hatten schon einmal ein Mädchen an Bord, welches so aussah wie du«, sagte er.
»Warst du auch in sie verliebt?«
»Grauenhaft verliebt«, sagte er, »und dann sagte sie mir, dass sie noch nie mit einem Mann zusammen gewesen war.«
»Ich war noch nie mit einem Mann zusammen«, sagte Billy.
Er starrte sie an.
»Wusste das Mädchen, was Liebe ist?« fragte sie.
Er starrte und starrte.
»Alberto«, sagte Billy, »ich habe dich etwas gefragt.«
»Sie wusste es«, sagte er, »oh, sie wusste es sehr gut. Sie liebt eine Frau. Und das Furchtbare war, dass niemand es gemerkt hat.« Er starrte Billy an. »Bitte«, flehte er, wiederhole noch einmal, was du vorhin gesagt hast!«
»Ich glaube nicht, dass es so wichtig war«, sagte Billy, »aber was dich betrifft: Du solltest dich in acht nehmen. Du solltest weniger trinken und dich nicht gehenlassen, wie alle anderen.«
»Das sagst du so«, murmelte er erbittert.
»Ich meine es, wie ich es sage. Ihr könnt es doch gut haben. Ihr könnt Frauen haben, ihr könnt Städte sehen und sie lieben, wenn ihr vom Meer kommt und wisst, dass ihr sie am nächsten Tag wieder verlassen müsst. Städte, die man eine Nacht lang liebt!«
»Hör auf«, sagte er.
»Ja«, sagte sie, »wir wollen gehen und von dieser Stadt Abschied nehmen. Wir werden in deiner Kabine Ostereier essen.«
»Ich habe Champagner in der Badewanne kalt gestellt«, sagte Alberto. Seine Stimme klang hoffnungsvoll. »Und morgen haben wir einen ganzen Tag in Beirut …«
»Wir werden Ostereier essen und Champagner trinken«, sagte Billy, »es wird ein grossartiger Abend werden.«
Sie gingen zu Fuss die Strasse hinunter, die zum Hafen führte. Von weitem sahen sie das Schiff, welches mit weissen Decks und erleuchteten Kabinenfenstern am Quai lag.
»Und morgen …«, sagte Alberto.
»Bitte mach dir nichts daraus«, sagte Billy, »aber morgen bin ich schon unterwegs nach Damaskus …«
Das erste, was er uns begreiflich machen konnte, war, dass er ein Hebräer sei, und dass er nach Palästina wolle. Er stand, kurz nachdem die Abfertigung an der türkisch-syrischen Grenze vorbei war, in der Tür unseres Abteils und sprach hastig auf uns ein. Wir schüttelten die Köpfe. »Rusk?« fragte er, und, sich besinnend: »Hébreux? Espagnol?«
Mit Hilfe von französischen und italienischen Brocken kam eine Art von Verständigung zustande.
Wir waren gerade beim Essen. Wir hatten Servietten ausgebreitet und darauf Butter, Schafkäse und Creamcrackers. Wir boten ihm davon an, aber er dankte und nahm nur eine von Kades Zigaretten und begann gleich, in tiefen Zügen zu rauchen. Er schien sehr aufgeregt und nahm sich sehr zusammen.
Er konnte höchstens sechzehn Jahre alt sein. Er trug einen neuen Sportanzug mit Knickerbockers und starke, genagelte Stiefel. Während er mit uns sprach, hielt er die Mütze in den Händen. Sein Gesicht war dunkel und sehr breit, eine breite Strähne seines groben, schwarzen Haares bedeckte die Stirn. Er hatte grosse, dunkle, hübsche Augen, die lebhaft glänzten.
Er besass eine Fahrkarte dritter Klasse und fürchtete offenbar, dass der Schaffner kommen und ihn wegschicken würde. Als Kade die Tür geschlossen hatte und den Riegel vorschob, atmete er sichtlich auf und setzte sich neben uns. Er griff in die Tasche und zog seinen Pass heraus. Dabei wiederholte er immer: »Nach Palästina.«
Als Kade und ich ihm den Pass abnahmen und ihn zusammen ansahen, verstummte der Junge und gab sich Mühe, unser Gespräch zu verstehen.
Es war ein rumänischer Pass, an einem Ort ausgestellt, den wir nicht kannten. Er enthielt ein Transitvisum durch die Türkei und ein anderes durch Syrien.
»Wohin wollen Sie reisen?« fragten wir den Jungen.
»Nach Palästina.«
»Dann müssen Sie in Syrien aussteigen?«
»Ich will in Aleppo aussteigen. Man hat mir kein Visum für Palästina gegeben, aber ich werde eines bekommen. Ich werde sicher nach Palästina hinein können, wenn ich nur in Syrien aussteigen darf.«
Wir zeigten ihm sein syrisches Visum. Ein grosser, blauer Stempel »Transit« ging quer über die Seite. Darunter war von Hand hinzugefügt: »Berechtigt nicht zum Aussteigen innerhalb Syriens.« Er sah es und nickte.
»Sie müssen direkt nach Mossul weiterfahren«, sagten wir ihm.
Er sah langsam von einem zum anderen.
»Aber ich muss nach Palästina«, sagte er.
»Wie sind Sie denn zu dem Visum gekommen?«
Er stotterte. Er erzählte schnell und wiederholte sich mehrmals. Es war schwer, ihm zu folgen. Manchmal sagte er das gleiche Wort in verschiedenen Sprachen.
Er hatte fünf Geschwister. Er war der älteste und wollte aus Rumänien fort, weil sie arm waren. Er wollte als Arbeiter nach Palästina. Ein Freund hatte ihm geraten anzugeben, dass er nach Persien wolle, auf diese Weise würde er ohne Schwierigkeit die Transitvisen durch die Türkei, durch Syrien und Irak bekommen.
»Was haben Sie sich dabei gedacht?« fragten wir ihn.
»Ich konnte kein Visum bekommen«, sagte er. »Man muss Geld haben, oder man muss zu Verwandten reisen, die in Palästina leben. Deshalb bekam ich das Visum nicht.«
»Warum haben Sie dann nicht ein Visum für Syrien verlangt?«
»Für Syrien?«
»Damit Sie hier aussteigen dürfen.«
Er sah uns an. Er schüttelte langsam den Kopf. »Man hat es mir nicht geben wollen«, sagte er.
Es wurde heftig an unsere Tür gepocht. Kade sprang auf, um zu öffnen. Mit einem Ausdruck gelähmter Furcht folgte der Junge Kades Bewegungen.
»Man tut Ihnen nichts«, sagte ich.
Der Schaffner kam herein, um die Karten zu kontrollieren. Als er den Judenjungen sah, sagte er uns auf französisch, dass dieser »gamin« an der nächsten Station aus dem Zuge gewiesen und durch die Gendarmerie in die Türkei zurückbefördert werde.
»Er hat doch nichts getan«, sagte Kade.
»Wir kennen uns aus«, sagte der Beamte. »Jeden Tag haben wir solche Fälle. Er ist Jude, er will nach Palästina.«
Der Junge sah stumm und gespannt von einem zum anderen. Er verstand nicht. Man konnte sehen, wie er hoffte, dass es für ihn besser stehe.
»Wenn er nicht zurück will«, sagte der Beamte, »dann muss er eben transit nach Persien.«
»Er hat nicht einmal das irakische Durchgangsvisum.«
»Er bekommt es ohne weiteres. Die sind ebenso froh wie wir und wie die Türken, wenn sie das Gesindel nach Persien weitergeben können.«
Kade sah mich ratlos an. Der Junge hielt den Blick stumm auf uns gerichtet.
»Lassen Sie ihn in Aleppo aussteigen«, sagte ich.
»Kommt nicht in Frage.«
»Lassen Sie ihm die Chance! Er wird zum rumänischen Konsul gehen und das Geld bekommen, um nach Hause zu fahren.«
»Ich habe die Erlaubnis nicht«, sagte der Beamte.
»Gut. Wir werden es ihm sagen.«
Er ging. Der Junge senkte den Blick.
»Hören Sie«, sagte ich zu ihm, »man lässt Sie nicht aussteigen, oder Sie werden von der Polizei zurückbefördert. Bis Istanbul.«
Er fuhr entsetzt auf.
»Bitte nicht«, sagte er mit vor Angst rauher Stimme. »Auf keinen Fall zurück. Helfen Sie mir, damit ich in Aleppo aussteigen kann. Ich werde in einen Hafen gehen, auf ein Schiff. Irgend etwas –« Er verwirrte sich und sprach rumänisch weiter, ohne dass wir ihn verstehen konnten. Dann verstummte er plötzlich.
»Es geht nicht«, sagten wir.
Der Schaffner kam mit einem Offizier zurück. Sie verlangten den Pass des Jungen. »Hébreux«, sagte der Offizier.
»Es handelt sich um einen Irrtum«, begannen wir zu erklären. »Er hat die Transitvisen nach Persien, aber er will gar nicht nach Persien.«
»Das wird ihm wenig helfen«, sagte der Offizier. »Übrigens, warum verwenden Sie sich für ihn? Diese jüdischen Burschen sind alle Gauner. Wir haben genug Scherereien damit.«
»Sie wissen doch, dass er gar nicht nach Persien hineinkommt«, sagte ich. »Man muss Geld vorweisen, um einreisen zu dürfen. Und er hat nur zehn Pfund.«
»Das geht uns nichts an.«
»Er bekommt ein Transitvisum durch Irak und darf nicht aussteigen – und in Persien lässt man ihn nicht herein, weil er kein Geld hat«, sagte ich.
Der Offizier blieb gleichmütig. »Dann werden ihn die Perser eben zurückbefördern«, sagte er.
»Aber das ist doch Wahnsinn!«
Kade fasste meinen Arm. »Lass doch«, sagte er, »es wird nichts dabei herauskommen.«
»Los«, sagte der Offizier abschliessend. »Der Bursche muss in sein Abteil zurück.«
Der Junge sass immer noch da, die Hände auf den Knien.
»Es geht nicht«, sagten wir zu ihm.
»Was wird man mit mir tun?« fragte er, ganz reglos.
»Man wird Sie zwingen, bis an die persische Grenze zu fahren, so wie es auf Ihrem Pass lautet.«
»Persien«, sagte er, »es ist sehr weit …«
Er wollte ja gar nicht nach Persien. Es war eine Notlüge gewesen.
»Und von dort schickt man Sie vielleicht wieder zurück«, fügten wir hinzu. Wir wussten ihm auch keinen Rat. Wir gaben ihm Zigaretten und ein wenig Geld. Als wir ihm seinen Pass geben wollten, nahm ihn der Offizier uns ab. Der Junge erhob sich und nahm die Mütze, die er neben sich auf die Bank gelegt hatte. Er sah uns noch einmal mit seinem forschenden Blick an, ohne zu grüssen, und folgte den beiden Männern auf den Gang hinaus.
Es war dunkel, als wir auf der Station ankamen, wo die Züge nach Bagdad und Aleppo sich teilen.
Kade und ich stiegen aus.
»Wir wollen uns nach dem Hébreux umschauen«, sagten wir.
Wir gingen den Bahnsteig entlang zwischen den beiden Zügen. Wir sahen die Reisenden aussteigen und die Hamals mit Gepäckstücken hin- und herlaufen. Dann sahen wir, wie der Hébreux von einem Beamten über den Bahnsteig geführt wurde wie ein Gefangener. Der Junge hatte die Mütze auf dem Kopf und ein Paket unter dem Arm. Der Beamte liess ihn in einen der alten Wagen dritter Klasse einsteigen, die die Aufschrift »Baghdat« trugen, und schloss die Tür hinter ihm. Dann ging er nach vorne, zum Schlafwagen, der mit Offizieren besetzt war. Ein junger Offizier lehnte zum offenen Fenster hinaus. Der Beamte salutierte und reichte ihm den rumänischen Pass des Jungen hinauf.
»Er muss transit nach Persien«, rief er.
Der Offizier nickte mit lachendem Gesicht und steckte den Pass ein.
Die Wagen dritter Klasse waren nicht erleuchtet.