Die Autorin
Andrea Gerster, geboren 1959. Sie lebt als freie Journalistin und Schriftstellerin in der Ostschweiz. Die mehrfach ausgezeichnete Autorin hat Romane (Schandbriefe und Ganz oben), Erzählbände sowie weitere Erzählungen in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht. www.andreagerster.ch.
Die Autorin und der Verlag danken der Kulturstiftung des Kantons Thurgau für die finanzielle Unterstützung bei der Realisierung dieses Buches.
Dazwischen Lili
Ich erinnere mich an eine Wut, die, als ich noch Kind war, in mir hochwellte und, oben im Kopf angekommen, eine Glocke anschlug. Aber was vorher war, weiss ich nicht mehr, vor meinen Anfällen, wie es Mutter nannte, wenn ich schreiend und zappelnd wie ein verrückt gewordener Käfer am Boden lag und Mutter und Vater mich zuerst entsetzt anstarrten und dann Teller und Vasen in Sicherheit brachten, während Rex sich leise winselnd unter den Tisch verzog. Wenn ich dann nicht mehr konnte und nur noch dalag, kroch Rex wieder hervor und strich mit seiner grossen, warmen Zunge über mein Gesicht, und Mutter sagte: Geh dich waschen, Ana.
Lili gab es damals noch nicht, jedenfalls nicht in meiner Nähe.
Heute gibt es Lili, und Anfälle nenne ich diese Zustände nicht. Es sind Ausfälle. Ich falle heraus, aus dem Rahmen, und bin dann nicht mehr normal, wie meine Schwiegermutter Lili sagt.
Als ich grösser wurde, hat sich das Ganze ausgewachsen. Mutter und Vater waren froh darüber. Dass es jetzt wieder da ist, macht mich traurig, und manchmal denke ich, so richtig ganz weggegangen ist es nie. Irgendwo unter meiner Haut ist es wohl sitzengeblieben und lässt, je dünner sie wird, mich wieder schneller aus ihr fahren. Dünn wie Pergament ist meine Haut noch nicht, die von Lili aber schon, sie ist ja auch beinahe doppelt so alt wie ich, aber als dünnhäutig würde ich Lili dennoch nicht bezeichnen.
Heute früh habe ich Katharina angerufen, vor sieben Uhr, damit ich sie beim Morgenkaffee erwische und sie noch nicht in der grossen Firma ist, wo sie sich den ganzen Tag damit beschäftigt, die Einnahmen und Ausgaben des Unternehmens, bei dem sie angestellt ist, unter Kontrolle zu halten. Sie ist Reinis Schwester und kann es gut mit Zahlen. Mit Reini bin ich verheiratet, und seine Mutter Lili wohnt bei uns, doch ich halte das Leben mit ihr bald nicht mehr aus. Das ist der Grund, weshalb ich Katharina angerufen und sie gebeten habe: Nimm deine Mutter für einige Tage zu dir, ich kann nicht mehr. Diesen Satz hatte ich mir vorher zurechtgelegt und ihn aus einigen anderen ausgewählt. Er sollte sofort auf den Punkt bringen, worum es mir geht, weil Katharina immer beschäftigt ist und nicht viel Zeit hat, auch frühmorgens nicht und erst recht nicht für mich.
Tut mir leid, Ana, mein Flug nach Amerika ist bereits gebucht, hat Katharina gesagt. Ein anderes Mal kein Problem, hat sie dann etwas leiser nachgeschoben.
Katharina ist nicht verheiratet und hat keine Kinder. Sie möchte es nicht anders haben, sagt sie jeweils und vergisst dabei, dass sie noch eine Mutter hat, um die sich ihre Schwägerin Ana kümmert. Dass dies zwischendurch auch ihre Aufgabe wäre, versuche ich ihr dann und wann beizubringen. Doch davon will sie nichts wissen, und sie ist immer sehr geschickt darin auszuweichen, zum Beispiel nach Amerika, wo sie ein schneeweisses Haus in Florida besitzt, ganz allein für sich, und wo Reini und ich noch nie waren, obschon sie, zugegeben, oft sagt: Kommt doch mal vorbei. Nun kann man aber an einem Ort, der neun Flugstunden entfernt liegt, nicht einfach mal schnell vorbeigehen.
Mag sein, dass ich nach ihrer Absage etwas lauter geworden bin, denn ich wollte nicht so schnell aufgeben, aber Katharina hat sich schnell verabschiedet: Schönen Tag noch, Ana. Und ich werde nun dableiben müssen, obschon ich noch ins Telefon gebrüllt habe: Nimm mich mit, Katharina! Dann habe ich die Kaffeetasse und den Unterteller an die Wand geknallt. Braune Brühe rinnt jetzt von der Wand auf den hellen Plattenboden, es entsteht ein kleiner See, und ich stelle mir vor, wie ich meinen Zeigefinger hineintauche, um mit dem Kaffee auf dem hellen Untergrund zu malen.
Ich finde, Ana hat sich zuwenig im Griff, manchmal reagiert sie total hysterisch, hat Katharina einmal zu Reini gesagt. Das ist einige Jahre her. Nicola und Luca gingen noch nicht zur Schule. Es war an einem jener Lili-Geburtstage. Aus allen Richtungen strömten wir Verwandte in ein Restaurant, das besonders grosse panierte Schnitzel und ein Säli für kleinere Anlässe im Obergeschoss anbot. Die Kinder mit sauberen Fingernägeln und ungeflickten Hosen, Nicola vielleicht sogar mit Röckchen und weisser Strumpfhose. Festgezurrt in ihren Kindersitzen, quengelten sie schon nach wenigen Kilometern, denn sie sind nie gern gefahren, und erbrachen kurz vor der Ankunft auf die Fussmatte im Auto. Den ganzen Tag musste ich mir anhören: Die riechen so komisch, deine Kinder, während sich Reini bestens zu unterhalten schien. Nicola ass und ass und hörte nicht hin, wenn ich sagte: Hör doch auf, sonst wird dir wieder schlecht! Natürlich hätte ich mit Nicola nicht so laut sprechen sollen, aber das kann man hinterher immer leicht sagen, geschüttelt habe ich sie auch, aber nur kurz, dann gehorchte sie, hörte auf mit Essen.
Auf der Heimfahrt schliefen beide Kinder, und Reini sagte: Was für ein schöner Tag, und die Abdrücke meiner Finger auf der Wange von Nicola waren schon beinahe verblasst. Nein, habe ich Reini damals geantwortet, war kein schöner Tag für mich, Katharina hat gesagt, ich sei hysterisch, sag jetzt nicht, ich täusche mich, ich habe es selber gehört. Reini sagte: War doch nicht ernst gemeint, was weiss denn die schon von Kindern, und dann hat er eine Melodie gepfiffen, und ich dachte, die Katharina weiss doch überhaupt nichts von Kindern, da hat Reini recht.
Was tust du da, Ana?
Im weissen Nachthemd steht Lili in der Küche. Sie steht immer plötzlich irgendwo, nie höre ich sie kommen, ich sollte einmal Reini fragen, ob er sie auch nie kommen hört, ob er sie vielleicht schon als Kind nie hat kommen hören. Das wäre dann wohl keine schöne Kindheit gewesen.
Reini hat aber nie erwähnt, dass seine Kindheit schwierig gewesen sei, er hat, wenn ich es recht überlege, überhaupt nie vom Kind Reini erzählt. So gehe ich davon aus, dass er seine Mutter jeweils kommen gehört hat. Irgendwann musste sich Lili angewöhnt haben, beim Gehen keine Geräusche mehr zu machen. Es wird wohl besser sein, wenn ich Reini dazu keine Fragen stelle, denn in letzter Zeit schaut er mich ganz erschrocken an, wenn ich ihn etwas frage, als hätte er mich nicht kommen gehört, dabei sitze ich ihm gegenüber.
Du stellst manchmal Fragen, Ana, sagt er dann und schüttelt gleichzeitig verständnislos den Kopf, als ob das eine Antwort wäre. Und wenn Lili am gleichen Tag gesagt hat: Ana, du bist irgendwie nicht normal, dann erschüttert mich das gehörig, und ich habe mir nun vorgenommen, mir die Fragen an Reini zweimal zu überlegen, bevor ich sie stelle, zumal er sie ja meistens so oder so nicht beantwortet. Aber genau besehen ist meine Frage, ob er seine Mutter jeweils kommen hörte, nicht ungewöhnlich, jedenfalls sehe ich das so.
Das Licht der einfallenden Morgensonne macht Lilis Hemd so durchsichtig, dass sie genausogut hätte nackt dastehen können. An Lili hängt irgendwie alles, ausser ihrem Haar. Das steht büschelweise in die Höhe und erinnert an einen alten, zerzausten Vogel.
Ich möchte nie so werden wie Lili.
Ich warte immer noch auf mein Frühstück, sagt sie.
Sofort, Lili.
Wo sind meine Zähne?
Im Bad.
Wo? So sprich doch lauter!
Es bereitet Lili keine Mühe, ohne Zähne zu befehlen. Ohne Zähne würde ich nicht einmal den Mund aufmachen, nicht das Zimmer verlassen. Lili ist anders. Oder ich bin anders. Was auf dasselbe herauskommt. Wir verstehen uns nicht. Dies zu wissen hilft mir aber nicht weiter.
Im Bad, sage ich laut und deutlich und dehne dabei jedes Wort, damit Lili nachher nicht behaupten kann, sie hätte nichts gehört: Deine … Zähne … sind … im … Bad.
Dann bring sie mir bitte, du weisst, mein Rheuma, nicht dass sie mir noch aus der Hand fallen.
Lili singt beinahe, ein Singen allerdings, das mir nicht gefällt, ein Ton schwingt da mit, der mich innerlich erschauern lässt. Ich frage mich, ob nur ich ihn hören kann, und weiss im selben Augenblick, dass dies keine Frage ist, die ich Reini stellen könnte. Es müssen diese Maitage sein, die mich fertigmachen. Wenn frühmorgens die Sonne ins Zimmer scheint und durch meine geschlossenen Augenlider hindurch die Gedanken in orangerote Linien verwandelt, fühle ich mich bereits nicht mehr wohl. Aber erst seit Lili bei uns wohnt. Seitdem möchte ich jeden Morgen einfach liegenbleiben und weiterschlafen. Reini hat das schnell erkannt und zieht, bevor er ins Büro geht, die Jalousien hoch, damit ich garantiert aufstehe. Lili hat ihn erst kürzlich telefonisch aus einer Sitzung herausrufen lassen und geklagt, sie sitze ohne Zähne und Frühstück in ihrem Zimmer und niemand kümmere sich um sie.
Seither achtet er darauf, dass mir die Morgensonne ins Gesicht scheint, und merkt nicht, dass er mir damit den ganzen Tag verdirbt. Aber es ist, wie es ist, und Lili ist seine Mutter und nicht meine, und das muss ich ihm und mir immer wieder sagen, mal leise, mal lauter, mal schreie ich es auch. Und wenn ich Reini, wie auch immer, darauf aufmerksam mache, sagt er: Du hast doch aber Zeit, Ana, oder nicht? Ich kann ihm dann nicht widersprechen, weil er ja recht hat, ich habe Zeit. Auch heute habe ich Zeit.
Die Fenster sind schmutzig, sagt Lili und steht immer noch da und macht keine Anstalten, sich ihre verdammten Zähne selber zu holen, schaut mir nur zu, wie ich ihren Tee brühe, da sie das selber nicht mehr kann, und mir fällt auf, dass sie immer weniger selber kann, und wenn das so weitergeht, kann sie bald überhaupt nichts mehr. Und die Vorstellung, dass sie irgendwann nicht mehr selber atmen könnte, ist wohl folgerichtig, aber ich wage den Satz nicht fertigzudenken, weil ich befürchte, dass dann so etwas wie Hoffnung in mir aufkommt. Normalerweise macht mich die Gewissheit, dass jedes Leben einmal ein Ende hat, sofort unendlich traurig, selbst wenn es Lilis Leben ist. In diesem Punkt bin ich wohl Kind geblieben.
Das Leben ist nicht für alte Leute eingerichtet, sagte Lili kürzlich mit einem liebenswürdigen Lächeln zum Postboten, obschon sie keinen Anlass dazu hatte. Er musste ihr bei nichts helfen, sie hat einfach nur etwas wackelig vor dem Briefkasten gestanden und mit ausgestreckten Armen und leicht zitternden Händen nach der Post gegriffen, die allerdings nicht für uns, sondern für die Nachbarn bestimmt war. Dann haben der Postbote und Lili noch etwas an dem Packen Briefe und Zeitungen hin- und hergezogen, bis dann Lili den freundlichen Satz gesagt hat. Eine nette alte Dame, die Sie da bei sich haben, meinte der Postbote in meine Richtung, und ich habe genickt und damit gelogen und war erstaunt darüber, dass ich mit einer einzigen Kopfbewegung eine Lüge ausdrücken kann, und jetzt fallen mir die alten Römer ein, die mit dem Daumen nach unten jemanden töten konnten, und ich denke, vielleicht sollte ich es bezüglich Lili auch einfach einmal mit dem Daumen versuchen.
Jeden Morgen habe ich mehr Mühe damit, Lilis glitschige Zähne aus dem Glas zu fischen und sie in ihren Mund zu schieben. In ihrem Zimmer riecht es säuerlich, und ich trage Latexhandschuhe, die aber so dünn sind, dass ich Lilis Zähne dennoch auf meiner Haut spüre. Vielleicht sollte ich mir Gartenhandschuhe kaufen oder doch besser nicht, denn dann wüsste ich nicht mehr, ob ich Lilis Zähne noch in den Händen habe, sie könnten mir runterfallen und würden auf dem Plattenboden zersplittern, und ich müsste herumkriechen und die einzelnen Teile suchen. Lilis Zähne nehmen mir die Freude auf den neuen Tag. Ich trinke Johanniskrauttee dagegen, aber er wirkt nicht.
Hörst du mir eigentlich zu?
Lili ist nahe an mich herangetreten. Ich schneide Brot und spüre, dass sie beim Reden spuckt, und ehe es mich graust, denke ich, es ist ja ihr Brot, und wenn es etwas eingeweicht ist, kann sie es besser essen, und nachher sollte ich mir die Hände waschen, und überhaupt sollte ich versuchen, solch schwierigen Lili-Situationen etwas Positives abzugewinnen.
Wenn die Sonne scheint, hat es Lili eilig mit Waschen und ruft: Mach dies, jetzt das, schneller bitte! Zuletzt sind Boden und Wände vom Waschwasser nass und ich vom Schweiss. Denn Lili möchte bei Sonne immer sofort spazierengehen. Deshalb kommt es, dass ich die Sonne nicht mehr mag. Das mit dem Lili-Waschen hat sich langsam eingeschlichen. Sie könne ihre Arme nicht höher als bis zu ihrem Kinn heben, hatte Lili eines Morgens geklagt, das Rheuma mache sie fast verrückt, ich solle ihr doch bitte zur Hand gehen. So hat das angefangen, und jetzt wasche ich sie von oben bis unten und jeden Tag, und Reini sagt, er könnte das nicht, er bewundere mich dafür, und bestimmt wäre es besser gewesen, ich hätte ihm gleich beim erstenmal, als er mich lobte, gesagt, ich könne das eigentlich auch nicht. Aber ich habe das damals noch nicht gewusst, dachte, wenn ich das Waschen noch ein wenig übe, dann kommt es immer besser, und so ist eines zum anderen gekommen, aber nicht besser. So kann es einem ergehen, und irgendwann ist es soweit, dass man aus einer Sache nicht mehr herauskommt, obschon man sich nichts sehnlicher wünscht, und Reini hat schon lange nicht mehr gesagt, dass er mich dafür bewundere, was ich tue.
Vor einigen Jahren habe ich einen Grundkurs in Pflege absolviert, weil ich dachte, ich könnte das vielleicht einmal brauchen. Im Kurs hiess es, dass es wichtig sei, die Selbständigkeit der alten Menschen möglichst lange zu erhalten. Aber mit Lili funktioniert so etwas nicht, auch nicht, wenn man einen Kurs genommen hat. Sie wisse selber, was sie könne und was nicht, hat sie gesagt, als ich ihr einmal die Stelle aus meinem Pflegeordner vorgelesen habe.
Das war nicht gerade nett von dir, ihr aus dem Pflegeordner vorzulesen, hat Reini später zu mir gesagt. Da habe ich gemerkt, dass auch Lili dem Reini erzählt, was sie tagsüber, wenn er im Büro ist, mit mir erlebt. So erhält er jeden Abend zwei Versionen desselben Tagesablaufs serviert. Doch je länger, je weniger hört er weder mir noch Lili zu.
Hast du nicht geduscht? fragt Lili und tippt mit ihrem spitzen Zeigefinger an meine Schulter. Du riechst nicht gut, gar nicht gut, Ana.
Es ist aber so, dass Lili diejenige ist, die schlecht riecht. Sie riecht, obwohl ich sie gewaschen habe. Doch wenn sie so etwas zu mir sagt, trifft mich das, obschon ich weiss, dass es nicht sein kann, wo ich doch kaum zwei Stunden zuvor geduscht habe. Aber Lili riecht ja auch, obschon sie gewaschen ist, und zuweilen so stark, dass ich denke, sie verfault bereits. Wenn ich bloss jemanden fragen könnte, wie das nun wirklich ist. Reini, wer riecht denn nun, die Lili oder ich? Nein, das kann man nicht fragen.
Eigentlich bin ich in einem Alter, in dem man mit den Dingen des Lebens, und Lili gehört doch zu den Dingen des Lebens, klarkommen oder sie wenigstens als gegeben annehmen sollte. Aber ich halte es kaum aus, wenn ich Lili beim Spazieren hinter mir herziehen muss, wenn sich ihre fleischlosen Greisinnenfinger mit den eiskalten Spitzen am dürren Ende in meinen Unterarm graben.
An sich wäre die Situation einfach: Ich mag Lili nicht, sie mag mich nicht, und ob das schon immer so war, weiss ich nicht. Ich werde versuchen mich zu erinnern, wenn ich allein bin, dann, wenn Lili schläft. Nur, dass sie immer weniger schläft, manchmal bereits nach Mitternacht wieder aufsteht und Frühstück will, und Reini vor sich hin murmelt: Geh ins Bett, Mutter, und Lili dann zu mir kommt und flüstert: Machst du mir eine warme Milch mit Honig, Ana, ich kann nicht schlafen, und ich einen Speicheltropfen von ihr auf meiner Stirn spüre und sich alles in mir zusammenzieht und ich unaufhörlich, um mich zu beruhigen, vor mich hindenke, ich schwitze ja nur, ist nur ein Schweisstropfen. Ana, du schwitzt doch nur, und der Reini muss doch früh aufstehen, also mach Lili die Milch, dann gibt sie Ruhe, und dann kannst du schlafen, bis dir die Sonne ins Gesicht scheint.
Wenn ich so mit mir reden muss, dann weiss ich, dass da nicht mehr viel fehlt. Aber am Anfang war das noch nicht so. Das ist alles erst nach und nach gekommen. Immer mehr, immer heftiger. Und ich habe Mühe damit herauszufinden, was zuerst war. Wer hat angefangen damit, Lili oder ich?
Ich nicht, würde Lili sagen.
Ich war es aber auch nicht.
Lili würde sagen: Ich verstehe nicht, wovon du sprichst, und ich weiss nicht, wo meine Zähne sind.
Ich werde hier vernachlässigt, schimpft Lili nahe an meinem Ohr. Sie droht, dass sie demnächst in ein Altenheim ziehen werde. Und selbst ohne Zähne zischen ihr die Silben wie Pfeile aus dem Mund, und ihr Speichel kitzelt in meinem Ohr, und es ekelt mich, ja es graust mich. Warum immer in mein Ohr, warum nicht in Reinis, denke ich, und jetzt, da mir bewusst wird, was Lili gesagt hat, muss ich lachen. Und dann auch schreien. Und eigentlich hätte die Kaffee-an-die-Wand-Knallerei von heute früh länger hinhalten sollen, und dass das jetzt nur noch so kurz wirkt, macht mich sehr wütend.
Dann geh doch! brülle ich und schlage mit den Handflächen auf den Tisch und werde mir selber fremd. Dann sehe ich Lili aus der Tür huschen und höre sie bei meiner Nachbarin Ancilla klingeln.
Du willst sie umbringen? lacht Ancilla, an deren Hals sich Lili geworfen hat.
Sie denkt sich das aus, vielleicht Alzheimer oder so, sage ich.
Ancilla schaut erschrocken, und Lili löst sich aus der Umarmung, und wie sie so in ihrem weissen Nachthemd in kleinen Schritten zurücktippelt, sieht es tatsächlich so aus, als ob bei ihr im Kopf etwas nicht stimme. Aber Lili tut nur so, und Ancilla merkt das nicht. Keiner merkt es, nur ich, und mir wird übel davon, und ich möchte nur noch schlafen.
Ancilla und ich sind so etwas wie befreundet. Aber seit Lili da ist, habe ich kaum mehr Zeit für Ancilla. Kommt hinzu, dass ich nicht möchte, dass sie merkt, dass ich das mit Lili nicht schaffe, möchte nicht, dass sie sieht, dass ich mich mit Tassen-an-die-Wand-Knallen beruhigen muss. Sie würde mit Lili klarkommen, da bin ich ganz sicher. Alle würden mit Lili klarkommen, nur ich nicht.
Ancilla töpfert schöne Dinge, aber ihre Vasen und Tassen haben keinen Boden, werden nur nachts geformt und heissen Nichtgebrauchsgegenstände. Ancilla ist eine, die gerne lacht und viel redet. Manchmal denke ich, sie fürchtet, dass ihre Worte durch die Menschen hindurch ins Bodenlose fallen und sie deshalb unentwegt neue Worte nachschieben muss. Wenn ich nach einem Besuch bei Ancilla nach Hause komme, wundere ich mich darüber, dass ich kaum mehr weiss, worüber wir uns unterhalten haben. Obschon sie ununterbrochen geredet hat, ist davon tatsächlich nichts in mir dringeblieben. So gesehen, ist die Bezeichnung Freundin für Ancilla vielleicht nicht ganz zutreffend.
Ancilla hat ein Kind. Es ist ein sehr ruhiges Kind, das ich mir nur in der Ecke der Küche sitzend, tief über ein Zeichenblatt gebeugt, vorstellen kann. Denn immer, wenn ich Ancilla besuche, sitzt es da, und um es herum liegen bunte Stifte. Es spricht wenig, und falls es einmal von seiner Zeichnung aufsieht, guckt es in die Welt, als ob alles völlig neu wäre. Ich frage mich, wann sich dieses Staunen bei ihm verlieren wird, denn bei einem erwachsenen Menschen sähe das gar nicht gut aus.
Ich habe zwei Kinder, eines, das noch ruhiger ist als das von Ancilla, denn es ist gestorben, und eines, das Nicola heisst und mich immer wieder mal besuchen kommt, allerdings nicht mehr seit Lili bei uns wohnt. Ich habe sogar ein Enkelkind, es heisst Timo und sieht meinem verstorbenen Kind Luca sehr ähnlich.
Du benimmst dich manchmal so affig, als ob Timo dein Kind wäre, sagte Nicola einmal zu mir, seither lasse ich mir nicht mehr anmerken, dass ich tatsächlich oft meine, Timo sei mein Kind.
Komm rein, Ana, wir trinken Kaffee, sagt Ancilla.
Ich kümmere mich jetzt besser um Lili.
Geh zum Arzt mit ihr, ruft sie mir nach.
Wir haben bereits einen Termin, aber danke für den Tip.
Ich winke ihr zu, schliesse dann die Tür hinter mir und lehne mich kurz dagegen, als ob mir das helfen würde, mich freizusprechen von den Lügen, die ich manchmal auftische, so selbstverständlich schon, als ob es Brot und Käse wären. Wir haben natürlich keinen Termin beim Arzt. Ausserdem hätte ich gern mit Ancilla Kaffee getrunken, wäre am liebsten bei ihr eingezogen und hätte dann so getan, als ob ich Lili nicht kennen würde.
Lucas Bild hängt schief. Ich richte es und sehe dabei meinem Kind in die Augen. Es ist keine gelungene Aufnahme. Das tiefe Braun seiner Augen hat die Schulfotografin nicht einfangen können, und jetzt ist es zu spät, die Augen sind erloschen. Von Luca gibt es nur Bilder, die von fremden Leuten gemacht worden sind. Von unserer Tochter Nicola gibt es keine Fotografien an den Wänden. Sie mag es nicht, wenn ich Bilder von ihr aufhänge, dabei gibt es wunderschöne, beispielsweise jene von der Hochzeit mit Martin oder solche zusammen mit Timo. Wir leben ja noch, Mama, sagte sie und blieb keine Sekunde vor Lucas Bild stehen.