Andrea Gerster, geboren 1959. Sie lebt als freie Journalistin und Schriftstellerin in der Ostschweiz. Die mehrfach ausgezeichnete Autorin hat Romane (Dazwischen Lili und Ganz oben), Erzählbände sowie weitere Erzählungen in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht. www.andreagerster.ch.
Die Autorin und der Verlag danken der Kulturstiftung des Kantons Thurgau, der Kulturförderung Kanton St. Gallen und dem Migros-Kulturprozent für die finanzielle Unterstützung bei der Realisierung dieses Buches.
Aik konnte sich nicht vorstellen, dass der Hund einmal nicht mehr wäre.
*
Jemand schiebt Briefe unter meiner Wohnungstür durch. Oder lässt sie im Hauseingang in den Kinderwagen fallen. Oder schickt sie mit der Post. Schlampen sind schlechte Mütter. Immer dieser Satz. Ausgeschnitten, aufgeklebt oder krakelig mit Rotstift geschrieben. Seit ich mit meinem Kind aus dem Spital zurück bin, seit Wochen schon. Schlampen sind schlechte Mütter. Schlampe, Schlampe.
Mir fällt niemand ein, der zu so etwas fähig wäre. Vielleicht liegt es an mir, andere Mütter erhalten bestimmt keine solchen Briefe, vielleicht sehe ich einfach nicht aus wie eine Mutter.
Mir ist nicht wohl dabei, mir vorzustellen, dass ein Mensch, der schlecht über mich denkt, eben noch vor meiner Tür stand, mit dem Briefumschlag in der Hand, den ich jetzt mit der Pinzette halte. Der könnte ja krank sein, dieser Mensch, und ich und mein Kind könnten uns sonst was holen.
*
Kein Anschluss unter dieser Nummer.
Eine hohe und laute Stimme, wo Aik eine sanfte und eher fragende erwartet hatte, in jedem Fall aber die seiner Mutter und nicht die einer Fremden. Mutter mochte keine Stimmen, ohne die dazugehörenden Gesichter zu sehen. Das wusste er. Dass sie aber tatsächlich ihren Festnetzanschluss aufgeben würde, hatte er nicht erwartet. Sie tat selten das, was man von ihr erwartete. Auch das wusste er. Zart und nicht ganz von dieser Welt war sie, eine Elfe, irgendwie. Zu Mutter fiel ihm aber auch Kindheit ein und zu Kindheit Kleinräumigkeit. Ihre Liebe galt ihm, ihrem Kind, und niemandem sonst. Fast zu viel für einen allein.
Dieses »Kein Anschluss unter dieser Nummer« passt zu Mutter, sagte er.
Beinahe zärtlich strich er mit den Fingerspitzen über den Hörer und legte ihn dann behutsam auf die Ablage zurück.
Du redest, als ob sie nicht ganz dicht wäre, sagte Rena nahe hinter ihm.
Ob sie sich ein Handy zugelegt hat?, fragte Aik, drehte sich zu ihr und zog sie an sich.
Deine Mutter ist okay, etwas eigen, aber ich mag sie. Ob sie mich auch mag?
Rena schürzte die Oberlippe. Ihm gefiel, wenn sie das tat. Das hatte er ihr aber noch nie gesagt.
Bei der nächsten Gelegenheit hole ich das nach, sagte er.
Was holst du nach?
Ich weiss nicht, ob sie dich mag, sie nimmt dich ja nicht einmal wahr, flüsterte Aik und schmiegte seine Wange an ihr Ohr.
Was sagst du?, fragte Rena und lachte ein Lachen, das keine Antwort erwartete, und so lachte er auch.
»Kein Anschluss unter dieser Nummer« klingt, als ob Mutter nicht mehr existieren würde, und ich kann sie nicht einmal anrufen und fragen, was los ist.
Er liess die Worte in ihr Haar fallen.
Eine Option wäre, sie zu besuchen, meinte Rena und machte sich frei. Oder ihr ein Handy zu schenken.
Rena und seine Mutter hatten sich in den vier Jahren, in denen sie beide zusammen waren, höchstens zweimal gesehen. Noch nie war sie bei ihnen zu Besuch gewesen, obwohl sie kaum eine halbe Stunde entfernt in einer prächtigen Altbauwohnung mit Stuckdecke wohnte. Rena wunderte sich, weshalb auch er, der sonst so Schnörkellose, wie sie sagte, in diese Art Himmel vernarrt war. Aber sie wunderte sich nicht, dass seine Mutter offensichtlich keinen Kontakt zu ihr wünschte.
Findest du meine Mutter nicht seltsam? Wer weiss, vielleicht ist sie gar nicht meine Mutter. So Vertauschgeschichten sollen vorkommen. Andererseits hätte man ihr kein fremdes Baby unterjubeln können, sie hätte es sofort gerochen.
Du denkst zu viel, sagte Rena, geh und besuch sie.
Wann war es eigentlich anders mit ihm und Mutter geworden? Es musste die Sache mit dem Kinnbart gewesen sein. Das war das Einzige, was Aik einfiel.
Mach das ab, sofort, hatte sie in ungewohnter Schärfe gesagt, als er sich damals ein paar Haare am Kinn stehenliess. Natürlich rasierte er den erst im Ansatz keimenden Bart nicht, und seine Mutter blickte ihm nicht mehr ins Gesicht. Sprach sie mit ihm, fixierte sie irgendeinen Punkt im Raum und redete zu diesem. Bald gab er nach, schnitt den Bart ab, und alles war wieder gut. Zumindest für sie. Dass seine Mutter eine so harte Seite hatte, beschäftigte ihn jedoch nachhaltig und bis in seine Träume hinein. Nach der Kinnbartgeschichte wurde er vermehrt mit dieser für ihn neuen Eigenschaft seiner Mutter konfrontiert, denn ihre Interpretationen forderten ihn zunehmend heraus. Sie hatte eine eigene Art, zu betrachten und zu beurteilen, ob dies nun Krankheitssymptome, Kochrezepte oder Religion betraf. Nicht falsch, einfach nur anders. Als Kind war er in ihre Ansichten hineingeschlüpft und hatte sich darin wohl gefühlt. Wenn er diese aber nach aussen zu vertreten hatte, war das eine andere Sache und nicht eben einfach, denn die Erklärungen leuchteten ihm nur so lange ein, wie seine Mutter ihm diese auseinandersetzte. Nachher erschien ihm das alles nicht mehr logisch. Hätte sie sich auf ein bestimmtes Gebiet konzentriert, wäre bestimmt philosophisch Brauchbares herausgekommen. Davon war er überzeugt. Sie hätte ihre Theorien aufschreiben sollen, das wäre sinnvoll gewesen. Schreiben war ihr schon immer leichtgefallen. Oft hatte er sie schreibend angetroffen, von Hand in Schulhefte, kürzere und längere Texte, die immer denselben Titel trugen: Gedankenstriche. Er war sich nicht sicher, ob er die Texte hätte lesen dürfen. Er hatte seine Mutter nie danach gefragt. Wahrscheinlich interessierten sie ihn damals gar nicht. In ihrer Wohnung hatte sich Geschriebenes sowieso gestapelt. Sie hatten inmitten von Büchertürmen gelebt. Bei einem Erdbeben wären sie beide zuerst von den Büchern erschlagen worden, und erst danach wäre ihnen die Decke auf den Kopf gefallen.
Sein Handy meldete eine SMS. Nathan bat ihn, doch bitte ein Sandwich mitzubringen, eines mit Gemüse, totes Fleisch sei ja genug da. Aik löschte die Nachricht.
*
So schnell, und das beim ersten Kind, sagte die Hebamme und machte ein Foto von uns. Ich war froh, dass sie zufrieden war, denn sie hatte schöne graue Augen, und gern hätte ich ihr etwas von mir erzählt, aber sie fragte nichts, und mir war, als wüsste sie bereits alles. Als ich später im Bett zur Wöchnerinnenstation geschoben wurde, hielt ich mein Kind im Arm und wunderte mich, dass niemand zu fürchten schien, das Bündel könnte mir herunterfallen, aber dann fiel mir ein, dass die Leute hier nicht wussten, dass ich noch nie ein Kind, ein so winziges jedenfalls nicht, im Arm gehalten und mir auch nie jemand gesagt hatte, wie man das am besten anstellt.
Nachdem uns die Hebamme im Zimmer geparkt hatte, strich sie meinem Kind mit dem Zeigefinger über die feine Wolle, die es auf dem Köpfchen trug, reichte mir dann die Hand und sagte: Du schaffst das schon. Mit dem einen ihrer grauen Augen blinzelte sie mir zu. Vater hätte in so einer Situation denselben Satz gesagt, und ich bin sicher, dass er es war, der durch die Hebamme zu mir gesprochen hatte und dass das Blinzeln ein Zeichen von ihm war.
Meine Bettnachbarin hatte einen sehr dicken Hintern, den sie immer in einen hellblauen Morgenmantel verpackte, wenn sie nicht im Bett lag. Dieses hellblaue Teil hatte auf Brusthöhe drei Kaffeeflecken, und wenn sie zu viel redete, versuchte ich mich auf die Flecken zu konzentrieren, damit mir nicht schwindlig wurde. Sie hatte ihr viertes Kind geboren, ich mein erstes, und ich war achtzehn und trug eine hellgraue Freizeithose und ein weisses T-Shirt. Beides hatte ich kurz vor der Geburt gekauft. Drüber trug ich eine dunkelrote Strickjacke, die einmal meiner Mutter gehört hatte. Farblich passte das alles zusammen, das Grau der Hose, das Weiss des T-Shirts und das dunkle Rot der Jacke, aber ob richtige Mütter nicht besser Nachthemden mit Rüschen und Morgenmäntel tragen sollten, wusste ich nicht.
Ihr Kind war gross und dick und hatte eine eigenartige Kopfform, von der Zange, sagte sie, und ich fand die Vorstellung schrecklich, mit der Zange auf die Welt geholt zu werden. Zum Glück wusste ich nichts von Zangengeburten oder überhaupt von Geburten, ehe ich mein Kind geboren hatte.
Als ich mit einer seltsamen Leere im Bauch und meinem nagelneuen Kind in den Armen ins Zimmer geschoben wurde, richtete sich die Frau auf, die ab jetzt meine Bettnachbarin war, und rief: Mein Gott, da hat wieder einmal ein Kind ein Kind bekommen! Nenn mich Ursula, sagte sie dann mit einer weiterhin lauten Stimme, einer Stimme, die sie seither nicht leiser stellte, vielleicht nicht leiser stellen konnte. Bist du überhaupt schon volljährig?, sagte sie auch noch und machte dazu ein Gesicht, als hätte sie ranzige Butter vor sich.
Drei Tage alt war mein Kind nun, winzig und federleicht, obschon ich nie geraucht hatte, und wenn es nicht an Gewicht zulege, müsse es in den Brutkasten, wenigstens die Nacht über, sagte die Schwester.
Nenn-mich-Ursula rümpfte die Nase, wenn sie es sah, sagte, es sei ja nichts dran an dem Kind, nichts dran wie an dir. Und wo ist denn eigentlich der Vater?, fragte sie auch jedes Mal, und mir war lieber, sie sah sich die Leute in ihren Illustrierten an und sagte, was die falsch machten. Sie verstand das viel besser als ich, wusste genau, was alle wollten: nämlich viel Geld und nichts arbeiten. Ich wollte auch viel Geld und nichts arbeiten, aber das liess ich sie besser nicht wissen.
Aus dem Leiden anderer möchten die Profit schlagen, schimpfte sie früh am Morgen, als ich noch nicht wach war und deshalb nicht wusste, wer ich war und dass ich ein Kind hatte und dass neben mir Nenn-mich-Ursula lag. Sie deutete mit dem Zeigefinger auf ein buntes Bild in ihrer Zeitschrift, beugte sich dazu so weit zu mir herüber, dass ich dachte, die fällt wohl gleich aus dem Bett. Und für gewöhnlich wünschte ich niemandem, aus dem Bett zu fallen. Aber Nenn-mich-Ursula frühmorgens erleben zu müssen liess einen schon ungewöhnliche Gedanken denken.
Jetzt schau dir die Dicke und ihren nichtsnutzigen Sohn an, rief sie plötzlich so laut, dass ihr Junge Schluckauf bekam. Vielleicht war das mit dem Schluckauf zufällig, gleichzeitig war es auf jeden Fall. Schadenersatz fordern sie von dieser Firma, fuhr sie fort und zeigte auf ein kleineres Bild mit vielen flachen Gebäuden. Geld wollen die, weil der Ehemann und Vater seiner dreckigen Arbeit wegen verreckt ist.
Doch da musste ich mich verhört haben, denn Nennmich-Ursula war eine, die nie »verreckt« sagen würde, weil sie wohl nie erleben musste, wie ein Mensch solcherart stirbt, dass man verrecken sagen muss. Vielleicht würde sie es auch dann nicht sagen, wenn sie es erlebt hätte. Ich habe das erlebt und kenne den Unterschied zwischen Sterben und Verrecken, aber davon wollte ich ihr nichts erzählen, und sie wollte ja auch gar nicht, dass man ihr etwas erzählte. Für das Erzählen war sie zuständig. Sie kommentierte, wie man das, was in den Illustrierten stand, zu verstehen hatte. Und es hörte sich nicht falsch an, nur zu laut.
Nenn-mich-Ursula redete dann noch bis zum Frühstück weiter, und ich konnte mich nicht auf die drei Kaffeeflecken konzentrieren, weil sie ihren Morgenmantel nicht trug, und so wurde mir schwindlig, und ich hatte keine Lust mehr auf Frühstück, was sie aber keine Sekunde vom Reden abhielt.
Zum Glück klingelte dann irgendwann das Telefon, und Nenn-mich-Ursula meldete sich mit einem langgezogenen, fragenden »Jaa?«, und ich nutzte die Gelegenheit und verliess das Zimmer. In der Eile vergass ich, die Hausschuhe anzuziehen. Draussen begegnete mir eine Schwester, die den Mund verzog, und ich wusste nicht, was sie damit sagen wollte, wusste nicht, ob neue Mütter allenfalls nicht barfuss herumlaufen, ihr Zimmer vielleicht gar nicht verlassen durften, und mir fiel auf, dass ich nicht wusste, was Mütter durften und was nicht. Dass man einfach ein Kind gebären musste, um Mutter zu sein, fand ich bereits aussergewöhnlich. Und ich fragte mich, wann genau sich dieser Mutterakt bei mir vollzogen hatte.
War es beim ersten Schrei meines Kindes gewesen? Aber mein Junge hatte nicht geweint. Er lag nur mit weitem Blick und an die Wangen gepressten Fäustchen auf meinem Bauch. Vielleicht hätte die Hebamme anstelle von »Es ist ein Junge« sagen sollen: »Sie sind jetzt Mutter« – und zwar genau in dem Augenblick, in welchem ich Mutter geworden war.
Am Ende des Gangs stand ein runder Tisch mit Klappstühlen. In der Mitte ein grosser Aschenbecher. Dorthin durften sich rauchende Mütter zurückziehen. Nichtrauchende Mütter konnten sich nirgendwohin zurückziehen. Ich nahm mir vor, die verschiedenen Frauen diskret zu beobachten, um herauszufinden, was eine Mutter zur Mutter machte.
An meine eigene Mutter kann ich mich kaum erinnern, das heisst, ich kann sie mir nur als Mutter vorstellen, aber nicht sagen, was sie zur Mutter gemacht hat.
Ich setzte mich in die Mütter-Raucherecke. Sonnenflecken am Boden, ich wäre gern rausgegangen, spazieren im Licht. So ohne Bauch fühlte ich mich leicht und beweglich. Aber ich traute mich nicht.
Wenn sich Nenn-mich-Ursula aufregte, schnaubte sie mit den Nüstern; wie ein Pferd kam sie mir dann vor, ein Pferd an einem kalten Wintertag, wenn die Atemluft zu Wolken wird.
Und sie regte sich oft auf.
Dass ich auch hier im Spitalgang wieder an sie denken musste, störte mich, wo ich doch extra das Zimmer verlassen hatte, um mich abzulenken. Ich kehrte zurück, sie war nicht da, und ich hoffte, dass sie ins Spitalcafé gegangen war, um Kaffee zu trinken und zu rauchen.
Ein kleines Laster hat doch jeder, lachte sie jeweils, und ich sagte ihr nicht, dass ich nicht geraucht hatte, damit mein Kind ungestört wachsen konnte, denn das Nennmich-Ursula-Kind schien trotz des Nikotins gewaltig gewachsen zu sein. Plötzlich ging die Tür auf, und sie trug ihr Kind, ihren dicken Jungen mit den Zangenspuren am Kopf, ins Zimmer.
Schon wieder fünfzig Gramm zugenommen, braves Kerlchen, sagte sie, so, dass ich es hören musste, so, dass es mir weh tat und ich nicht mehr sicher war, ob ich nicht doch lieber einen Sohn mit Zangenspuren am Kopf gehabt hätte, der tüchtig Gewicht zulegte. Sicher aber keinen Vater, der wegen der Arbeit verreckt war, weil er immer dieses giftige Zeug einatmen musste, sich nicht wehren konnte, und der auch keine Witwe mit Sohn hinterliess wie die in der Illustrierten, also niemanden, der sich im Nachhinein für ihn einsetzte, damit ihm Gerechtigkeit widerfuhr, auch wenn er schon tot war.
Mein Vater hatte nur mich, und ich war gross genug, um das alles zu verstehen, wie jene Leute sagten, die glaubten, etwas dazu sagen zu müssen. Jahre zuvor hatten sie über meine tödlich verunfallte Mutter nichts gesagt, weil ich da ja noch zu klein gewesen war.
Mutter hatte sich frühmorgens auf ihr Fahrrad gesetzt und fuhr zur Arbeit, und dann kam einer, der die ganze Nacht Feierabend gefeiert hatte, müde und betrunken war, und überfuhr meine frisch geduschte Mutter. Viele Jahre brachten wir Blumen an die Stelle, wo es geschehen war. Irgendwann hörten Vater und ich auf damit.
Nach Mutters Tod sagte Vater einmal, er sei froh, dass er mich habe. Der einzige Mensch, der ihm geblieben sei. An seine drei Schwestern dachte er da wohl gerade nicht. Ich aber schon. Ich musste, denn die drei wollten sich um mich kümmern und verwechselten das mit Ersticken. Es war wie bei meinem Vater und seiner Firma: In seinem Arbeitsvertrag war ganz anderes versprochen worden und keine Rede davon, dass man ihn mit giftigen Dämpfen umzubringen gedachte. Die Dämpfe musste er selber herstellen. Jeden Monat wurde er dafür bezahlt und nach einigen Jahren sogar mit einer goldenen Uhr belohnt. Vater war stolz darauf gewesen und hatte gesagt: Wenn ich die Arbeit nicht hätte.
Zwischendurch vergass Vater, dass er froh um mich war. Manchmal war ich wohl eine Last für ihn, und die giftigen Dämpfe hielt er nur deshalb aus, weil er mich mit dem Geld, das er dafür erhielt, grossziehen konnte. Denn kaum war ich gross, starb er einen dieser langsamen Tode, die man keinem wünscht, auch seinem Erzfeind nicht.
Vielleicht hätte ich mir damals einen Erzfeind zulegen und ihm Vaters und Mutters Unglück wünschen sollen. Nur dass ich nicht wusste, wie man das mit einem Erzfeind anstellt. Vielleicht war der Erzeuger ja jetzt mein Erzfeind, aber dem konnte ich mein Unglück nicht wünschen, da ich ihn noch brauchte.
Am liebsten wäre ich wieder rausgegangen, denn nun packte meine Bettnachbarin ihre Brust aus, eine dicke weisse Brust mit vielen blauen Adern, die mich an das Euter von Kühen erinnerten. Die Brustwarze war gross wie ein Unterteller, und der kleine, dicke Junge mit den Zangenspuren am Kopf versuchte aufgeregt, sie zu fassen, und Nenn-mich-Ursula lachte und rief: Was für ein temperamentvolles Kerlchen!
Mein Kind begann sich zu regen, wachte auf, merkte wohl erst jetzt, dass es Hunger hatte. Nun musste ich zu ihm, das nicht fünfzig Gramm zugenommen hatte, das immer noch gleich schwer war wie gestern und deshalb die kommende Nacht im Brutkasten verbringen musste. Mein Kind würde nicht verstehen, wofür das gut sein sollte, und ich würde es nicht erklären können, da ich es selbst nicht wusste. Schwerer würde es dadurch nicht, da war ich mir sicher, doch Fragen zu stellen war nicht erlaubt, nicht von einer, die achtzehn war, eine hellgraue Freizeithose und ein weisses T-Shirt trug und unverhofft Mutter geworden war. Denn wer Fragen stellte, musste damit rechnen, dass ihm auch welche gestellt wurden, und mich fragte man sowieso immer nur danach, wer der Erzeuger meines Kindes sei, und das konnte ich nicht sagen, weil ihn sowieso niemand kannte und er auch gar nicht wollte, dass ihn jemand kennt, zumindest nicht in der Rolle als Erzeuger meines Kindes.
Ich würde mein Kind aus dem Bettchen heben, und es würde nicht mehr weinen, es sei ein ruhiges Kind, hatte die Schwester gesagt, und ich wusste nicht, ob das gut oder schlecht war. Ich würde ihm meine Brust geben, die klein geblieben war, wie vor der Schwangerschaft, und nur, wenn die Milch einschoss, grösser wurde, und mein Kind würde nicht wütend werden, weil es die Brustwarze gut fassen konnte, und meine Bettnachbarin würde wieder plötzlich und laut herüberrufen: Dass aus so kleinen Dingern überhaupt was rauskommt, ich fasse es nicht! Und ich würde mich wieder schämen und hoffen, sie möge doch endlich den Fernseher einschalten, um zu sehen, was die anderen falsch machten, und mich in Ruhe lassen.
Mein Kind öffnete die Augen, ich beugte mich zu ihm, und es roch so gut, dass mir ganz warm wurde, und ich flüsterte: Na du, wie geht es dir? Mir geht es gut, und wenn ich dich sehe, sowieso. Es schaute mich an und lächelte, und ich wusste nicht, ob das gut oder schlecht war, denn drei Tage alte Babys können doch noch gar nicht lächeln, und ich berührte sanft das winzige Näschen, und meine Bettnachbarin sagte etwas, aber ich hörte sie nicht.
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Widerstandslos liess sich seine Mutter in die Kuriositätenschublade zu ihren Textfragmenten stecken, dachte Aik. Und es war keiner da, der zu ihr hielt, nicht einmal ihr eigener Sohn. Das zerriss ihn manchmal fast, er fühlte sich schuldig, obschon es seiner Mutter gutzugehen schien. Jedenfalls klagte sie nie.