Dominique Manotti
LETZTE SCHICHT
Aus dem Französischen
von Andrea Stephani
Ariadne Krimi 1188
Argument Verlag
Cover
Titel
Impressum
Zum Buch / Zum Autor
Warnung
Erster Teil
Zweiter Teil
Dritter Teil
Vierter Teil
Weitere Bücher
Ariadne Krimis
Herausgegeben von Else Laudan
www.ariadnekrimis.de
Titel der französischen Originalausgabe: Lorraine Connection
© 2006, Éditions Payot & Rivages
Deutsche Erstausgabe
Alle Rechte vorbehalten
© Argument Verlag 2010
Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg
Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020
www.argument.de
Umschlag: Martin Grundmann
Fotomotiv: © klikk - Fotolia.com
Lektorat & Satz: Iris Konopik
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016
ISBN 978-3-86754-972-1
Fünfte Auflage 2012
»Die wahre Geschichte des Kampfs zwischen Alcatel und Matra-Daewoo um den Kauf von Thomson … eine Momentaufnahme von verblüffender Wahrhaftigkeit. Nie beeinträchtigt die dokumentarische Präzision das literarische Niveau. Alle Zutaten des Kriminalromans sind da, so fesselnd, wie sie sein müssen.« Le Monde
»Mit der Strenge der Historikerin nutzt Manotti die Versatzstücke einer berühmten Affäre für einen prallen Roman. Sie verehrt James Ellroy und schreibt wie er markig, ausdrucksstark, bilderreich. Brillant ihre Darstellung starker Gefühle – Verliebtheit, soziale Revolte, Machtgier –, gnadenlos ihre Chronik der Entgleisungen unserer Gesellschaft. Letzte Schicht liest sich als grandioser Krimi, aber seine Bedeutung geht weit über das Genre hinaus.« Marie Claire
»Vergewaltigung, Strangulierung, Erpressung, Explosionen: Manotti drängt das alles in wenige klinische Zeilen, die an Haneke denken lassen. Und die Verschwörertreffen der oberen Führungskräfte machen dem White-Collar-Thriller der Anglo-Tradition (Grisham) alle Ehre.« Libération
»Die Hauptfigur ist schön, selbstbewusst, stark, intelligent und vom Leben enttäuscht: eine Mischung aus Simone Signoret in Goldhelm und Jackie Brown von Tarantino.« europolar
Der Kriminalroman Letzte Schicht beruht auf einer wahren Begebenheit, der Affäre der Thomson-Privatisierung. Mehr Info:
www.welt.de/print-welt/article643074/Paris_buendelt_Ruestungsindustrie.html
www.monde-diplomatique.de/pm/1996/12/13/a0258.text.name,askKiNLhS.n,30
Dominique Manotti, 1942 geboren, kam erst mit fünfzig Jahren zum Schreiben und veröffentlichte seither sieben Romane. Ihre Bezugspunkte sind der amerikanische Schriftsteller James Ellroy, die neuzeitliche Wirtschaftsgeschichte und die 68er-Bewegung. Diese ungewöhnliche Kombination begründet Manottis dichten, unpathetischen Stil. Die Historikerin lehrte an verschiedenen Pariser Universitäten Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit, war als Gewerkschafterin in der CFDT aktiv und leitete als Generalsekretärin deren Pariser Sektion.
Dies ist ein Roman.
Alles ist Wahrheit, alles ist Lüge.
Ein Raum, begrenzt durch vier graue Blechwände, durch den sich ein Förderband zieht, darauf zwei Reihen Fernsehbildschirme und ihre Röhren, unter dem weißen Licht der Neonlampen, von denen hier und da Kabel herabhängen. Zwei Reihen je vier junger Frauen, einander gegenüber, auf beiden Seiten des Förderbands. Es ist sehr kühl, der Herbst kommt, als sie heute Morgen ihre Plätze eingenommen haben, war es noch dunkel. Und obwohl die Frauen sich kennen und sich an diesem abgeschlossenen Ort beinahe vertraut fühlen, wo sie praktisch im Team arbeiten, gleicher Takt und gleiche Prämien, hat keine von ihnen Lust zu reden, denn es geht auf die langen Nächte und kurzen Tage zu, und das drückt aufs Gemüt.
Die Frauen, auch sie grau in ihren kurzen Kitteln, sitzen vorgebeugt, die Arme gestreckt, den Blick abwechselnd auf die vorbeiziehenden länglich-aggressiv geformten Röhrensockel und die oberhalb des Fließbands schräg montierten Spiegel aus poliertem Stahl gerichtet, die ihnen unablässig die immer gleichen Bilder der immer gleichen Röhren aus verschiedenen Blickwinkeln zurückwerfen, in der Vergrößerung erdrückend. Mit sehr feinen Lötkolben setzen sie die letzten Lötpunkte, dann verlassen die fertigen Bildröhren diesen Bandabschnitt und rollen in die nächste Werkstatt, hinter der Blechwand, wo sie verpackt, ins Lager befördert und verschickt werden, meist nach Polen, wo sie ein Plastikgehäuse erhalten und zu Fernsehern werden.
Die Geräusche aus der großen Werkhalle dringen nur sehr gedämpft zu den Frauen, innerhalb der Blechwände gibt das Klacken des Förderbands ihrem Leben den Takt vor. Klack, das Band setzt sich in Gang, Zischen, zwei Sekunden, die Bildröhren rücken vor, klack, Stopp, jede beugt sich vor, die Lötkolben knistern, eins, zwei, drei, vier Punkte, zehn Sekunden, die Oberkörper richten sich auf, am Ende des Bands Rolande, prüfender Blick, ob die Lötpunkte korrekt sitzen. Klack, zischsch, das Band läuft weiter, Kopf leer, Hände und Augen arbeiten von selbst, klack, eins, zwei, drei, vier, Blick drauf, klack, zischsch, zwischen zwei Röhren Aïshas Gesicht, abgespannt, zwanzig Jahre, könnte besser gehen, klack, eins, ging’s dir mit zwanzig besser, zwei, schwanger, sitzen gelassen, drei, Mutter Alkoholikerin, aggressiv, vier, lag dir damals schon auf der Tasche, Blick drauf, klack, zischsch, Aïsha, leerer Blick, brutaler Vater, klack, eins, mein Sohn, Hände streichen übers Haar, zwei, übers Gesicht, liebevoll, drei, niemals in die Fabrik, nie, vier, lerne, lerne, Blick drauf, klack, zischsch, Aïsha, die Arbeit, sie kann nicht mehr, klack, eins, seit dem Unfall, zwei, der Unfall, das Blut, drei, überall Blut, vier, der durchtrennte Hals, Blick drauf, klack, zischsch, Aïsha voller Blut, klack, eins, sie hat Angst, zwei, ich auch, drei, wir alle, vier, Angst geht um zwischen den Blechwänden, klack, zischsch, Aïsha, ihr Vater, immer am Rumbrüllen, klack, eins, greller Blitz bei der Reihe gegenüber, bis zu den Neonröhren, eine Röhre brennt durch, ein Schrei, der auf dem höchsten Punkt abbricht, fast platzt das Trommelfell, Émilienne ist starr hintenübergekippt, Rolandes flache Hand schnellt von selbst zum Sicherheitsknopf, das Band bleibt stehen. Ein Kabel brennt bis hinauf zur Neonleiste, gelb-orange Funken und ein scharfer Geruch nach verbranntem Gummi, Gummi oder etwas anderem, zum Erbrechen.
Stille.
Rolande steigt auf einen Stuhl, dann zwischen zwei Bildröhren über das Förderband. Émilienne liegt rücklings auf dem Boden, bleich, starr, mit geschlossenen Augen und blauen Lippen. Im sechsten Monat schwanger. Ihr Bauch ragt aus dem Kittel hervor, den sie nicht ganz zugeknöpft hatte. Irgendwo hinter den Trennwänden schrillt eine Klingel los. In die Stille des kleinen Raums hinein sagt Rolande leise, tonlos, präzise: »Aïsha, lauf zu den Büros, zum erstbesten Telefon, ruf den Notarzt, die Feuerwehr. Lauf, schnell!« Aïsha rennt los. Rolande kniet nieder, Émiliennes Haar auf dem schmutzigen, kaputten PVC, wie lange schon nicht mehr gereinigt? Sie fühlt Scham darüber, zieht sich den Kittel aus, schiebt ihn unter den Kopf der Verletzten, vielleicht gar Toten, ich seh sie jedenfalls nicht atmen. Sie beugt sich hinab, versucht Mund-zu-Mund-Beatmung, spürt einen Hauch. Sacht knöpft sie Émiliennes Blusenkragen auf, befreit die in dem umgekippten Stuhl verhakten Beine. Auf der Sitzfläche eine Brandspur.
Die Mädchen sind alle aufgestanden, starrer Blick, geschlossene Lippen, gegen die Blechwände gelehnt, so weit weg von Émilienne wie nur möglich. Woran dachtest du gerade noch? An die Angst? Die ist hier in ihrem Reich.
Réjane, Émiliennes Bandnachbarin, bebende Stimme, zittrige Hände, flüstert: »Man müsste vielleicht eine Herzmassage machen.«
»Kannst du das?«
»Nein.«
»Ich auch nicht.«
Die eine schlägt ihr leicht auf die Wange und tupft ihr Gesicht mit einem feuchten Tuch ab, die andere massiert ihr weinend die Hände.
Antoine Maréchal, blauer Kittel, Brille auf der Nase, jongliert im Personalbüro mit Fertigungsplänen und Anwesenheitslisten. Er ist Werkmeister der Abteilung Montage-Fertigung-Verpackung, und sein Versuch, bei einer Fehlzeitenquote, die immer zwischen zehn und zwanzig Prozent liegt, die Produktion an den Bändern aufrechtzuerhalten, ist jeden Tag aufs Neue eine Großtat. Heute, an diesem Tag im Frühherbst, sind es eher zwanzig Prozent. Eine Scheiße ist das mit all diesen Kameltreibern und blöden Weibern. Die wissen doch nicht, was Arbeit ist.
Der Personaldirektor höchstpersönlich betritt das Büro, gerade mal dreißig, gut geschnittener Anzug, edle Schuhe, italienisches Leder, ein unfähiger, selbstsicherer Lackaffe, eben erst bei Papi und Mami ausgezogen. Maréchal, gut in den Fünfzigern, in Kittel und Sicherheitsschuhen, erbebt vor unterdrücktem Hass.
»Monsieur Maréchal, das trifft sich gut, zu Ihnen wollte ich. Die jüngsten Statistiken für Ihre Abteilung weisen eine Fehlzeitenquote von 13 Prozent im letzten Monat aus …«
»Ich weiß, ich kümmere mich gerade darum.«
»Das ist die höchste Quote im gesamten Werk. Wenn es Ihnen nicht in absehbarer Zeit gelingt, das zu korrigieren, gefährden Sie das Überleben des ganzen Betriebs.«
Maréchal nimmt die Brille ab, klappt die Bügel ein, steckt sie neben den roten und den blauen Kuli in seine Kitteltasche und stützt sich mit beiden Händen auf den knarrenden Schreibtisch. »Hören Sie, Herr Personaldirektor, Sie sind erst seit kurzem hier, ich seit dem Tag, an dem der Betrieb eröffnet wurde, und es ist nicht ein Monat vergangen, ohne dass die Chefetage uns mit Schließung gedroht hat. Man könnte meinen, die Fabrik wär nur eröffnet worden, um geschlossen zu werden. Aber nicht mit mir. Die Schließung Ihres Ladens geht mir am Arsch vorbei. Ich hab mein Haus, geh bald in Rente, krieg meine Prämie und geh Pilze sammeln.« Der Pager an Maréchals Gürtel piept. »Sie entschuldigen, meine Abteilung ruft mich.«
Er lässt den nach einer Antwort suchenden HR-Manager stehen und betritt die große Werkhalle neben den Verwaltungsbüros. Ein Schwall metallischer, klackender, knirschender Maschinengeräusche. Unzusammenhängende Geräusche, denkt er. Denkt zurück an das rhythmische Fauchen des Hochofens, das Fauchen des Feuers. Wehmut? Nicht mehr so sehr. Mein Vater ist dort draufgegangen. Unzusammenhängend auch die große Werkhalle, zerschnitten durch zahlreiche abgeteilte Bereiche, die man durchqueren oder umrunden muss, um auf den breiten Hauptgang zu gelangen. Der ist vollgestellt mit einem ausrangierten Gabelstapler, leeren Paletten und Abfallbehältern. Vor ihm eine weit offene Tür, dahinter ein winziger, verlassener Raum, der ganz von einer Maschine ausgefüllt ist, die damals bei ihrer Installation die chemische Behandlung von Mikroprozessoren revolutionieren sollte. Ein nach Maß gebauter, vor Staub und Temperaturschwankungen besonders geschützter Raum, bis die Maschine mangels Belüftung heißlief und kaputtging. Seit eineinhalb Jahren abgeschaltet. Ein paar ganz Gewitzte müssen hier und da Teile abmontiert und für sich abgezweigt haben. Kann’s ihnen nicht verdenken. Maréchal spürt, wie Zorn in ihm hochsteigt. Und meine Abteilung soll den Betrieb gefährden. Rotzlöffel.
Im Hauptgang kommt ihm Aïsha entgegengerannt. Nichts als Ärger, wohin man auch guckt. Ohne stehen zu bleiben, kreischt sie: »Ein Unfall, ein Kurzschluss, Émilienne ist tot! Ich ruf den Rettungswagen!« Er denkt: Nicht mehr nötig, wenn sie tot ist, legt aber einen Schritt zu, während Aïsha zu den Büros weiterrennt.
Er betritt den Fertigungsraum und erblickt zuerst, in der gegenüberliegenden Tür, Nourredine, den Vorarbeiter der Verpackungsabteilung, ein guter Arbeiter, das schon, aber eine echte Nervensäge, widerspricht ständig und kommt dauernd mit eigenen Lösungen. Was hat der denn hier verloren? Übler Geruch in dem Raum. Er entdeckt sofort die Spur, die der Kurzschluss vom Boden bis zur Decke hinterlassen hat, senkt den Blick und bemerkt den vor seinen Füßen liegenden Körper von Émilienne, neben ihr knien Rolande und Réjane, die zittert, weint und litaneihaft wiederholt: »Sie hat einen Stromschlag gekriegt, sie ist tot.« Émilienne, bewusstlos, bleich, blaue Lippen, windet sich in Krämpfen und gibt in regelmäßigen Abständen ein Stöhnen von sich. Tot ist sie also nicht. Die Weiber machen immer so ein Theater. Man muss Herr der Lage sein und es diesen Kameltreibern zeigen. Blick in die Runde. Die Mädchen sind alle da, an die Wände gedrückt, beängstigend blass. Rolande wirkt weniger geschockt, und sie ist ja auch Schichtleiterin, eine gute Kraft, sie wird die anderen mitziehen.
Er beugt sich zu ihr hinunter. »Alles in Ordnung, der Notarzt kommt gleich. Rücken Sie mal ein Stück beiseite, Ihre Kollegin muss doch Luft kriegen. Solange wir auf den Notarzt warten, muss jede von Ihnen zurück an ihren Platz. Wenn der Notarzt da ist, sehen wir weiter.«
Rolande hält noch immer Émiliennes Kopf. Niemand schenkt dem Werkmeister Beachtung. Er bückt sich, nimmt Rolande am Arm, die wie hypnotisiert auf eine Lache blickt, die sich zwischen Émiliennes Beinen ausbreitet.
»Sie verliert Fruchtwasser«, sagt sie rau, sehr leise.
Maréchal versteht nicht, was sie sagt. »Madame Lepetit, gehen Sie mit gutem Beispiel voran. Gehen Sie zurück an Ihren Platz. Wir müssen dafür sorgen, dass Ruhe einkehrt, den Notarzt machen lassen und wieder an die Arbeit gehen. Es ist alles halb so schlimm, Sie werden sehen.«
Rolande ist, als erwache sie aus einem Alptraum, halb so schlimm, du Mistkerl, wieder an die Arbeit gehen, Dreckskerl, und du wagst es, mich anzufassen, jäh richtet sie sich auf, befreit sich mit einem kräftigen Ruck aus dem Griff des Werkmeisters und langt ihm eine, dass er auf dem Rücken landet, zwischen den Beinen der jungen Frauen, von denen nicht eine ihm eine helfende Hand entgegenstreckt. Dunkelrot vor Zorn steht er wieder auf. Nourredine ist hereingekommen und über das Förderband gesprungen, er nimmt den Werkmeister bei den Schultern und schiebt ihn hinaus. »Beruhigen Sie sich! Sie können sich nicht vorstellen, was sie gerade durchgemacht haben. Der Kurzschluss war so heftig, dass wir nebenan dachten, wir sehen das Licht durch die Wand durch. Und der Schrei der Frau …«, er sucht nach Worten, »der kam aus einer anderen Welt.«
Angeführt von Aïsha, eilt die Feuerwehr im Sturmschritt herbei, während Nourredine Maréchal nach draußen bugsiert. Émilienne wird binnen Sekunden an den Tropf gelegt und auf einer Trage abtransportiert.
Aïsha liegt im Dunkeln, in einer Kabine des Sanitätsraums. Ihr Band steht still, aus Pondange sind eilig Elektriker gerufen worden, die es gerade reparieren. Der Werkmeister hat gesagt, bei der zweiten Schicht ist alles wieder in Ordnung. Und die Mädchen vom Band gegenüber, auch Rolande, sind schon wieder an der Arbeit. Die Arbeit. Aïsha wird flau. Zwischen diesen Blechwänden, weiß in dem Lichtblitz, vibrierend vom Schrei, Émiliennes Körper, wie er zwei Meter von ihr entfernt nach hinten kippt, stocksteif, in den Stuhl verhakt. Und der andere Unfall, vor einem Monat, erst, vor mir der Körper ohne Kopf, endlos lang aufrecht, bevor er zusammenbricht, das Blut, das stoßweise aus dem Hals hervorschießt, das warme Blut auf meinen Händen, im Gesicht, ich bin verflucht. Vergiss. Vergiss. Denk an was anderes. Ich will nicht vor dem normalen Schichtende heim. Zu Hause mein Vater und all seine Fragen. Warum bist du nicht in der Fabrik. Ich erzähl ihm nichts. Kein Wort. Es ist nichts passiert. Ich kann nicht mehr reden.
Maréchal schiebt den Vorhang vor der Kabine beiseite, kommt fast auf Zehenspitzen herein. »Wie fühlen Sie sich, Mademoiselle Saïdani?« Keine Antwort. »Ich verstehe, dass das ein Schock für Sie war. Aber die Krankenschwester sagt, es geht Ihnen schon viel besser.«
Plump, der fette Maréchal. Ungeschickt. »Was wollen Sie?«
»Es ist so. Madame Lepetit ist rauf zur Direktion, und da Sie die Einzige der anderen Reihe sind, die in der Fabrik geblieben ist, habe ich mich gefragt, ob Sie wohl bereit wären, sie zu vertreten. Solange sie weg ist. Dürfte nicht lang dauern.«
Aïsha setzt sich abrupt auf. Gleich wieder zwischen den Blechwänden sitzen, am Fließband, unter Neonröhren und herabhängenden Kabeln, gleich wieder den Werkzeuggriff umfassen heißt dem Tod gegenübertreten. Doch ob heute oder morgen … Die Mädchen um mich herum aber, sie halten zusammen, ihre Augen haben gesehen, was ich gesehen habe. Wenn ich die Wahl hab zwischen dem Band und zu Hause mit meinem Vater, wähle ich das Band. Und es ist ja für Rolande. »Okay.«
»Die Krankenschwester wird Ihnen ein leichtes Stärkungsmittel geben.«
In den Räumlichkeiten der Verwaltung bemüht sich Rolande, aufrecht und langsam zu gehen. Sicher wird man mich zu dem Unfall befragen. Das wird nicht einfach. Weil ich jetzt vor allem erst mal vergessen muss, alles, für ein paar Tage, bis ich meine Angst im Griff habe. Aber jetzt gleich darüber reden, na ja … Ich muss um ein paar Ruhetage für die Schicht bitten. Rückblende: die fahlen Gesichter der Mädchen vor den Blechwänden. Der Schock war zu groß. Das muss ich denen klarmachen. Die Worte finden … und ich werde erfahren, was mit Émilienne ist. Fehlgeburt? Tot? Rechne mit dem Schlimmsten und verlier bloß nicht die Nerven vor »den anderen«.
Sie wird sofort ins Büro des Personaldirektors höchstselbst geführt. Sieht ihn zum ersten Mal. Taxiert ihn mit einem Blick. Ein Bürschchen. Ein Lackaffe. Nicht mein Typ.
»Madame Lepetit, ich habe Ihnen nicht viel zu sagen. Nach dem unerhörten Benehmen, das Sie sich gegenüber Monsieur Maréchal, dem Werkmeister Ihrer Abteilung, erlaubt haben, sind Sie wegen groben Fehlverhaltens entlassen, und zwar mit sofortiger Wirkung. Es ist Ihnen nicht gestattet, an Ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Man wird Sie zur Umkleide begleiten, damit Sie Ihre persönlichen Sachen holen können, und dann zum Ausgang. Den ausstehenden Lohn erhalten Sie morgen.«
Innerer Absturz, alles verschwimmt, kein Wort, kein klarer Gedanke, nur Bilder, heftige Empfindungen, der Blitz, das grelle Licht, der Schrei, der Geruch, die Angst, und dann noch das Lächeln meines Sohnes in seiner Internatsuniform, meine Mutter, stockbesoffen, auf dem Küchenboden eingeschlafen, wer kommt für sie auf? Arbeit, Schmerzen, zerschundener Körper, steife Hände, das ist hart, stimmt schon, aber keine Arbeit? Morgen auf der Straße sitzen, unter der Brücke?
Ohne dass es ihr richtig bewusst ist, hat man sie hinaus auf den Flur geschoben, sie lehnt an der Wand, mit geschlossenen Augen, Schwindel, Brechreiz. Als sie die Augen wieder öffnet, steht Ali Amrouche vor ihr, er hat ihre Hände genommen, tätschelt sie mit besorgtem Blick. Amrouche, der Betriebsrat, der sich immer in den Fluren der Direktion herumdrückt.
»Rolande, fühlst du dich nicht gut? Sag doch was, Rolande.« Er legt ihr eine Hand auf die Schulter, eine Geste, die er noch nie gemacht, nie zu machen gewagt hat, Rolande, das heißt Respekt, aber bei so viel Verzweiflung.
Sie spürt die warme Berührung dieser Hand auf ihrer Schulter, das tut ihr gut, nicht mehr so allein, und die Worte kommen wieder, erst stockend, sie lehnt sich an ihn, lässt den Worten freien Lauf, erzählt, immer flüssiger jetzt, von dem Unfall, ausführlich, von jedem einzelnen Handgriff, von Émiliennes Körper, eiskalt und steif, ich hab den Tod berührt, Ali, von dem Gefühl der Ohnmacht, weil sie die rettenden Handgriffe nicht kennt, von den starken Wehen und den ersten stöhnenden Lauten, wie ein unendlicher Schmerz und zugleich eine Hoffnung, es war fast, als hätte dieses sterbende Baby seine Mutter wieder zum Leben erweckt. Mit den Worten kommen die Tränen, welche Erleichterung. Und sie haben mich entlassen, Ali, weil ich Maréchal eine geknallt habe. Anflug eines Lächelns. Für den Preis hätte ich ihn gleich umbringen sollen, den fetten Maréchal.
»Ich bringe dich nach Hause, Rolande, und gehe dann gleich zur Direktion. Das kann nicht sein, das ist ein Irrtum. Das muss ein Irrtum sein.«
»Nein, danke. Begleite mich zum Ausgang, das wird mir guttun. Nach Hause geh ich allein, ist nur ein Katzensprung.«
Im Büro des HR-Managers versucht Ali Amrouche, diesem die Lage auseinanderzusetzen.
»Sie können Madame Lepetit nicht entlassen. Keiner in der Fabrik wird das hinnehmen. Sie ist eine tapfere Frau. Alle schätzen sie. Und jeder hier weiß, dass sie allein für ihren Sohn und ihre mittellose Mutter sorgt. Und der Unfall, der heute Morgen in ihrer Abteilung passiert ist, hat uns alle erschüttert.«
»Nicht sie ist zu Schaden gekommen, sondern Madame Émilienne Machaut, die übrigens wohlauf ist, wie ich Ihnen bei dieser Gelegenheit mitteilen kann.«
»Und das Baby?«
»Fehlgeburt. Das kommt vor. All das rechtfertigt in keiner Weise das Verhalten von Madame Lepetit, die ihren Werkmeister tätlich angegriffen hat.« Er streckt den Oberkörper, zieht die Schultern nach hinten. »Ich bin hier, um Ordnung und Disziplin wiederherzustellen, womit es in diesem Betrieb nicht weit her ist. Ich werde dieses Verhalten nicht durchgehen lassen.«
Der HR-Manager schiebt eine Akte von einer Stelle seines Schreibtischs an eine andere, tippt ans Telefon, verschränkt die Hände.
»Monsieur Amrouche, mein Vorgänger hat Sie mir als einen Mann der Vernunft beschrieben, einen Mann des Kompromisses, der die Dinge richtig einzuordnen weiß. Daher liegt mir daran, Sie als Ersten zu informieren. In einer Woche kommt der Betriebsrat zusammen, und da wird die Angelegenheit der seit neun Monaten nicht gezahlten Prämien erneut zur Sprache kommen. Würde das Unternehmen diese Prämien heute zahlen, würde dies in Anbetracht der ausstehenden Summen sein finanzielles Gleichgewicht gefährden, das, wie Sie wissen, immer noch fragil ist, mit all den Risiken einer Schließung, die das mit sich brächte. Die Direktion wird daher vorschlagen, und wenn ich sage vorschlagen, wissen Sie, was ich damit meine, die Prämien für dieses Jahr zu streichen und erst ab kommendem Januar zu zahlen.« Er löst seine Hände voneinander, zieht die Brauen hoch. »Wir haben uns die Konten gründlich angesehen. Es gibt keine andere Lösung. Und damit alle das akzeptieren, zählen wir auf Leute wie Sie.«
Amrouche sieht den HR-Manager an. Was kann der schon verstehen? Erschöpfung. Wie ihm von der Armut, dem Leid, der Angst erzählen und davon, dass Aufruhr, Wut und Hass am Lodern sind und es den hübschen Herrn mit seinen hübschen Schuhen in Stücke reißen wird?
»Ist Maréchal mit der Entlassung von Rolande Lepetit einverstanden?«
Der HR-Manager erhebt sich und dreht sich zum Fenster. »Das Gespräch ist beendet.«
Amrouche ist einen Kaffee trinken gegangen, ganz allein am Tisch in der leeren Cafeteria, und brütet vor sich hin. Was für ein arroganter Flegel, dieser HR-Manager. Mein Vorgänger hat mir von Ihnen erzählt. Und dann lässt er zwei Bomben platzen und merkt’s nicht mal. Was mache ich jetzt? Sie sind doch ein Mann der Vernunft. Ja und? Das mit den Prämien kann bis zur Betriebsratsversammlung warten, davon darf ich ja eigentlich noch gar nichts wissen, aber das mit Rolande wird schon bis zur Mittagspause jeder mitkriegen, und wenn die Jungs hören, dass ich das wusste und nichts gesagt hab und nichts gemacht hab, verzeihen sie mir das nie. Rolande, eine Frau, die viel mitgemacht hat, wie ich. Und sich nicht unterkriegen lässt. Ist immer da, arbeitet hart, ist hart im Nehmen. Aufrecht und stolz. Besser als ich. Ein Mann des Kompromisses, was du nicht sagst. Bitterer Kaffeegeschmack im Mund, auf den Lippen. Ein Mann des Kompromisses? Stimmt, weil ich ein gebrochener Mann bin. Bilder von der Eisenhütte in Pondange tauchen vor ihm auf, in der er zehn Jahre lang gearbeitet hat, ein paar Dutzend Meter von hier. Er hat die Hitze, den Lärm, die körperliche Anstrengung geliebt, aber auch die Gefahr und das mit ihr verbundene Zusammengehörigkeitsgefühl. Anders als hier. Und die mitreißenden Kämpfe um die Fabrik, gemeinsam haben wir uns so stark gefühlt. Und dann das totale Scheitern. Die Fabrik abgerissen, aus dem Tal ausradiert. Die Arbeiterklasse zersprengt, genau wie die Hochöfen. Jedes Mal, wenn er an den aufgeschwemmten Flussufern entlanggeht, wo jetzt Erde und Gras die Betonfundamente überdecken, auf denen einst die Hochöfen emporwuchsen, schießen ihm die Tränen in die Augen. Seither ist klar: Die Sieger sind die, die von der Gegenseite. Muss man sich mit abfinden. Tricksen, durchhalten. Heute dafür sorgen, dass Rolande wieder eingestellt wird. Wenigstens das. Zu Maréchal gehen, ist zwar ein rassistischer Dreckskerl, aber der kann das verstehen, anders als dieser Idiot von HR-Manager. War früher auch mal Stahlarbeiter. Er wird dafür sorgen, dass sie wieder eingestellt wird, auch wenn sie ihn umgeschubst hat.
Aber von Maréchal keine Spur, weder in seiner Abteilung noch in den Büros. Um diese Zeit müsste er eigentlich hier sein. Was mach ich jetzt? Ich werd mal mit Nourredine über die Sache reden, er ist aus Rolandes Abteilung, er kennt sie, er schätzt sie.
Als Amrouche ihm von Rolandes Entlassung erzählt, ist Nourredine erschüttert. Rolande, ihre vertraute hohe Gestalt, ihr klarer, aufmerksamer, warmer Blick. Eine Geste, ein Wort, wie nebenbei, sie hat mir geholfen, die ersten Tage in der Fabrik zu überstehen, als ich bloß ein unglücklicher, stummer Bengel war, und später dann, hier meinen Platz zu finden. Kommt nicht in Frage, sie hängen zu lassen, schon gar nicht nach diesem grauenhaften Unfall.
Er überträgt seine Arbeit den anderen aus seiner Schicht, um mit Maréchal zu klären, wie es jetzt weitergehen soll. Aber er findet ihn ebenso wenig wie Amrouche. Zurück zur Verpackungsabteilung. Kurze gemeinsame Diskussion. Der grauenhafte Unfall, noch ganz gegenwärtig, das weiße Licht, der Schrei, die vibrierenden Blechwände, Émiliennes lebloser Körper, der in dem Durcheinander kurz zu sehen war, und am Ende wird das Band nicht mal richtig angehalten, und ein paar Mädchen sind nach wie vor am Arbeiten, ohne dass der Stromkreis auch nur einmal ganz durchgecheckt wurde, Rolande ist entlassen und der Mistkerl Maréchal unauffindbar. Kann ja sein, dass der sogar dahintersteckt, als Ablenkungsmanöver, damit wir über Rolandes Entlassung reden und nicht über den Unfall. Elektrizität gibt es in der einen oder anderen Form überall, an allen Arbeitsplätzen. Wenn keiner was unternimmt, müssen wir noch alle dran glauben. In der Pause muss ich zu den Mädchen von der Fertigung.
Zwanzig Minuten Pause, gerade noch Zeit, um die Mädchen im Hauptgang abzupassen, bevor sie zur Cafeteria gehen, die Männer von der Verpackung lotsen sie durch die rückwärtige Tür auf das unbebaute Gelände hinter der Fabrik, wo alle sich auf ausrangierte Paletten setzen. Ein merkwürdiger Ort, dieser Blechwürfel, auf die Schnelle auf die Industriebrachen in einer von Unkraut und Gestrüpp überwucherten Talsohle gesetzt, wo nicht mal eine Generation zuvor noch die Hochöfen der lothringischen Eisenverhüttung gestanden hatten, die zu den leistungsfähigsten weltweit zählte. Heute ergreifen die Wälder, die aufs Neue die Anhöhen überziehen, langsam wieder Besitz von der Landschaft und von der Vorstellungswelt der in ihr lebenden Menschen. Es ist sehr kühl.
Étienne, Nourredines Freund, betrachtet die Mädchen. Sie sind schön, alle. Wieso hast du nicht früher schon mal daran gedacht, sie anzubaggern? Bist du blind oder was?
Auch Amrouche ist da, steht erst unschlüssig herum und setzt sich dann zu ihnen.
Nourredine steigt auf eine Palette, groß, schlank, in seinem grauen Arbeitskittel, asketisches Gesicht, steif, linkisch. Er kommt gleich zur Sache: Maréchal hat dafür gesorgt, dass Rolande entlassen wurde. Amrouche fühlt sich unbehaglich, sagt nichts.
Einige Sekunden totales Schweigen. Die Mädchen bibbern. Vor Kälte und Angst. Dann erhebt sich Aïsha. Mit vor der Brust verschränkten Armen, zittriger Stimme und zittrigen Lippen, findet sie endlich die Worte, um vom Tod des koreanischen Ingenieurs zu erzählen, genau einen Monat ist es her, alle haben davon gehört, aber sie hat es miterlebt, ihr Arbeitsplatz war neben dem Rotor in Sektor IV, als der ausfiel. Der Ingenieur ist gekommen, hat auf den Knopf am Ende der Reihe gedrückt, um an dem Bandabschnitt den Strom abzuschalten, hat das Schutzgehäuse des Rotors entfernt und sich tief in die Maschine hinabgebeugt, um sie zu reparieren. Aïsha stand hinter ihm. Dann ist ein anderer Koreaner vorbeigekommen, hat nicht kapiert, warum das Band nicht lief, hat die Arbeiterinnen auch nicht gefragt, verstanden hätte er sie ohnehin nicht, und bevor ihn einer stoppen konnte, hat er den Knopf gedrückt, um den Strom anzuschalten und das Band wieder in Gang zu setzen. Der Rotor hatte keine Sicherheitsabschaltung, und dem Ingenieur wurde der Kopf glatt abgetrennt. Ich habe gesehen, wie der Körper ohne Kopf sich aufgerichtet hat. Man hat mir gesagt, das geht gar nicht, aber ich hab es gesehen, und auch, wie das Blut stoßweise hervorgesprudelt ist, ich habe das Blut auf meinem Gesicht gespürt, auf meinen Händen, dann ist der Körper vor meinen Füßen zusammengebrochen. Ich seh’s immer wieder vor mir, diese Bewegung des kopflosen Körpers, der sich aufrichtet, jede Nacht. Und wenn ich im Dunkeln wach werde, spüre ich die Wärme des Blutes auf meinem Gesicht. Sie wollten, dass ich am nächsten Tag wieder arbeite, am selben Platz. Das fanden sie normal. Ein Unfall, aufräumen, saubermachen, weiter geht’s. Nie hätte ich mich wieder neben den Rotor setzen können. Rolande hat alles so geregelt, dass ich in die Fertigung kam, dass ich weiter arbeiten kann. Und jetzt kriegt Émilienne ’nen Stromschlag, ihr Baby ist tot und Rolande entlassen wie der letzte Dreck.
Schweigen. Alle sehen Aïsha an. Verkrampft und bebend, mit ihrem blassen Gesicht und dem gescheitelten tiefschwarzen Haar, das ihr glatt über die Schläfen fällt und im Nacken zusammengebunden ist, verkörpert sie in diesem Augenblick auf diesem Stück Brachland hinter der Fabrik aus Blech die Tragödie in ihrer aller täglichem Leben.
Amrouche schließt die Augen. Auch er hat seinen altvertrauten Alptraum. Er ist zwanzig, er arbeitet oben auf dem Steg in der großen Halle, die Pfanne mit dem flüssigen Stahl explodiert zehn Meter unter seinen Füßen, dreißig Tonnen kochender Stahl, die etwa fünfzehn Männer verschlingen, wilde Schreie, der Geruch von verkohltem Fleisch, unerträglich. Hör auf, reiß dich zusammen.
Jemand sagt: »Meine Frau arbeitet in den Büros. Sie hat gehört, dass im Dezember die Prämien nicht gezahlt werden sollen.«
Alle Blicke richten sich auf Amrouche, der sich räuspert.
»Ich glaube, das stimmt. Ich glaube, sie haben entschieden, die monatlichen Prämien nicht zu zahlen, die letzten Februar beschlossen worden sind und die im Dezember auf einen Schlag ausgezahlt werden sollten. Keine Prämien dieses Jahr. Die erste Prämie wird nächsten Januar gezahlt.«
Warum hast du das in diesem Augenblick gesagt? Zu spät wird dir klar, dass du Öl ins Feuer gießen wolltest, weil du dir nicht anders zu helfen wusstest. Vielleicht wolltest du von Maréchal ablenken, der früher auch Stahlarbeiter war, vor allem aber wolltest du der unerträglichen Angst ein Ende machen, die dich seit Aïshas Bericht, seit der übermächtigen Wiederkehr dieser Walze aus flüssigem Stahl gepackt hält, dieser Angst vor Unfall und Tod, weil der Mensch so ist, denkst du, weil du nichts dafür kannst, denkst du, und weil du lieber vergessen willst. Dass sie uns aber von hier auf jetzt die Prämien stehlen, die sich angesammelt haben und inzwischen fast einem Monatsgehalt entsprechen, die Prämien, die einem zustanden, mit denen man gerechnet hat, die schon für bestimmte Ausgaben verplant waren, das ist was anderes, ein anderes Thema, vertraut, überschaubar, irgendwie beruhigend.
In der Gruppe, die da auf dem unbebauten Gelände hinter der Fabrik vor Kälte bibbert, entladen sich jetzt Angst, Wut, Groll und Not: sofortige Zahlung der Prämien. Nourredine fügt hinzu: sofortige Wiedereinstellung von Rolande. Die Gruppe kehrt in die Fabrik zurück, um durch alle Werkstätten zu ziehen. Eine halbe Stunde später steht die ganze Fabrik still.
Vertrauliches Mittagessen in einem Luxemburger Gasthof gleich an der französischen Grenze, ein Tisch mit zwei Gedecken in einem kleinen Speiseraum.
Maurice Quignard trinkt Pastis und wartet. Um die sechzig, groß, breitschultrig, kein Bauch, er bewahrt sich sein sportliches Aussehen. Das Gesicht ist vierschrötig, die Haut gebräunt und faltig. Nach einer langen Laufbahn in der Stahlindustrie hat er eine Unternehmensberatung speziell für Umstrukturierungsmaßnahmen gegründet, er arbeitet mit zahlreichen europäischen Gremien zusammen und sitzt im Auftrag des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung als ehrenamtlicher Berater in der Geschäftsleitung von Daewoo Pondange.
In gewisser Hinsicht ist Daewoo sein Werk. Dank seiner politischen Freundschaften in Lothringen konnte er den Verbindungsmann zu den Koreanern spielen, er hat die Bedingungen für die Ansiedlung des Unternehmens ausgehandelt und dafür gesorgt, dass die europäischen und französischen Subventionen in Strömen fließen. Auch das alles ehrenamtlich. Im Interesse der Region und ganz Frankreichs. Die Idee, Daewoo und Matra für die Thomson-Übernahme zusammenzubringen, wurde zwei Jahre zuvor bei einem geselligen Abendessen geboren, bei dem er den Präsidenten des lothringischen Regionalrats zu Gast hatte. Heute ist er fast am Ziel. Und er weiß, dass er in dem neuen Unternehmensgefüge, das Daewoo und Thomson Multimédia vereinen soll – ein Weltkonzern –, als HR-Berater tätig sein und Einfluss haben wird. Der krönende Abschluss seiner Karriere. Ganz zu schweigen davon, was finanziell für ihn abfällt.
Dank der freundschaftlichen Kontakte, die er sich auf allen Hierarchieebenen aufgebaut hat, ist er immer auf dem Laufenden über das, was sich bei Daewoo tut. An diesem Morgen ist Maréchal gegen zehn Uhr in sein Büro in Pondange gekommen und hat ihm von der Lage im Betrieb berichtet. Bedenklich. Wieder ein Unfall, ein schwerer. Und die Entlassung einer guten und obendrein sehr beliebten Arbeiterin, eine unnötige Provokation seitens dieses Hornochsen von HR-Manager. Während des Gesprächs ein Anruf aus der Fabrik: In der Werkhalle war ein Streik ausgebrochen. Was habe ich dir gesagt? Doch Maréchal war nicht sonderlich beunruhigt: Das ist ein lokal begrenzter Streik, spontan, keiner von denen hat Organisationstalent, du weißt doch, wie diese jungen Wichser sind, morgen nehme ich die Sache wieder in die Hand, aber das hätte man sich wirklich sparen können.
Quignard aber hat die Wut gepackt. Er hat den Direktor einbestellt, um Klartext mit ihm zu reden. Der verspätet sich. Das macht es nicht besser. Quignard ist bei seinem dritten Pastis.
Park, der koreanische Direktor, erscheint, ein Lächeln im runden glatten Gesicht, kreisrunde Schildpattbrille, immer sieht er ein wenig verblüfft aus. Quignard drückt aufs Tempo und lässt sofort die Vorspeisen servieren, eine Auswahl Wurst und Schinken und ein guter Burgunder. Kaum sind sie allein, geht er barsch und voller Ungeduld zum Angriff über.
»Wie kommen Sie dazu, in einer Fabrik, in der seit zwei Jahren niemals etwas vorgefallen ist, nicht eine Stunde Streik, in der es keine Gewerkschaften gibt, derart leichtfertig mit dem Feuer zu spielen – noch dazu im für unsere Geschäfte denkbar ungünstigsten Augenblick?«
»Mit dem Feuer … die Wortwahl scheint mir doch übertrieben.« Die Stimme ist sanft, kultiviert, das Französisch tadellos, gerade mal ein leichter Akzent. In der Fabrik spricht er nie Französisch, das er angeblich nicht kann, sondern Englisch oder Koreanisch. »Bisher haben zwei Werkstätten die Arbeit niedergelegt, nicht mal zwanzig Leute.« Kommt nicht in Frage, diesem Großmaul, das mich verachtet, zu sagen, dass gerade eine ganze Schicht in Streik getreten ist, da er ja offensichtlich noch nicht Bescheid weiß. Dafür ist später immer noch Zeit.
»Meine Gesprächspartner sagen mir, die Stimmung in der Fabrik ist sehr angespannt. Dass es viele Unfälle gibt, die Taktzahlen hoch und die Löhne mager sind, ist ja auch nicht zu leugnen. Solange sich das in Fehlzeiten niederschlägt, nun gut. In meiner Jugend sagte man allerdings: Ein Funke kann die ganze Steppe in Brand setzen. Keine Funken also. Sie müssen Ihrem HRM den Kopf zurechtsetzen.«
»Das habe ich sehr wohl verstanden.« Das Lächeln ist verschwunden, am Mund eine bittere Falte. Diesen HRM hat er mir selbst empfohlen. Der Sohn von irgendeinem hohen Tier aus der Region. Wichtig für die Einbindung des Unternehmens in die lokalen Strukturen, hat er gesagt. Ein Stümper.
Der Kellner bringt den nächsten Gang, ein üppiges Pot-au-feu und eine weitere Flasche Burgunder. Quignard fährt fort, immer noch aggressiv: »Keinerlei Aufsehen, solange die Privatisierung von Thomson nicht unter Dach und Fach ist.«
»Das ist eine Frage von wenigen Tagen, so lange werden wir uns schon halten.«
»Nein. Vielleicht noch ein paar Stunden bis zum Votum der Regierung, dann ist die Hauptarbeit geschafft, da stimme ich Ihnen zu, aber wir müssen sehen, wie die Öffentlichkeit reagiert, und die Entscheidung der Privatisierungskommission abwarten. Wir brauchen einen vollen Monat Ruhe. Das ist doch nicht zu viel verlangt.«
»Bei den Löhnen kann ich keine Zugeständnisse machen. Wir haben zurzeit einen Engpass, da in einer Woche ein hoher Betrag an die Bank fällig ist. Den kann ich nur durch den Vorschuss auf eine Warenlieferung decken, den ich in zwei Tagen erwarte. Wir sind so klamm, dass ich wegen der gerade wieder fälligen Beiträge sogar die Brandschutzversicherung gekündigt habe, um die Durststrecke zu überwinden.«
»Das ist mir bekannt. Sie haben das Firmenbudget kräftig überstrapaziert. Vor allem in Anbetracht der gegenwärtigen Umstände. Das ist sehr unvorsichtig und zudem unnötig.« Quignard legt plötzlich die Stirn in Falten. »Sagen Sie, es droht doch wohl wenigstens in den nächsten zwei Tagen keine Arbeitsniederlegung? Wenn Sie Ihre Lieferfristen auch nur ein Mal nicht einhalten, hätte das verheerende Folgen für unsere Interessen auf nationaler Ebene.«
»Ich werde daran denken.«
»Daran denken reicht nicht. Treffen Sie entsprechende Vorkehrungen, und zwar schnell.«
Gut hundert Arbeiter stehen jetzt in der Cafeteria herum, viele Männer, die meisten sehr jung, höchstens zwanzig Frauen. Es haben sich Grüppchen gebildet, immer innerhalb der Schichtteams, und es wird hitzig über die Prämien diskutiert. Zwischen den Gruppen gibt es jedoch nur wenig Austausch, schließlich kennt man sich kaum und misstraut sich eher. Für fast alle ist es die erste Arbeitsniederlegung.
Was jetzt? Kader, der bekannteste Gewerkschafter dieser Schicht, ist krankgeschrieben, verkündet ein Betriebsrat. Allgemeines Feixen. Amrouche, der in einer Ecke nahe der Eingangstür steht, hält sich zurück. Nourredine zögert, blickt sich um, niemand drängt sich vor, er steigt auf einen Tisch. Wer ist das denn? Der Kerl aus der Verpackung, ein Großmaul … Hat der irgendeinen Posten? Nein, hat er nicht … Er erzählt von Émiliennes Stromschlag, unbeholfen, schroff, nicht alle hören ihm zu, hier und da Gespräche, Rolandes Entlassung, viele sind ihr schon begegnet, eine mutige Frau, das schon, bei der man sich aber ständig anbiedern muss. Wollen wir nicht über die Prämien reden?, ruft ein junger Mann, Nourredine winkt Amrouche herbei, der sich mürrisch weigert, auf den Tisch zu steigen, und ohne weiteren Kommentar die Streichung der Prämien für das laufende Jahr sowie die Zahlung der ersten Prämie im kommenden Januar bekannt gibt. Jetzt brodelt es in der Cafeteria, immer mehr Leute beteiligen sich an der Diskussion. Einige wollen es nicht glauben, Vereinbarung ist Vereinbarung, daran lässt sich nicht rütteln. Andere meinen, man hat es nicht anders verdient, wenn man so blöd ist, diesen koreanischen Freibeutern zu vertrauen. Um Nourredine und Amrouche formiert sich eine Abordnung, die zur Geschäftsleitung gehen soll, um Informationen einzuholen, die schnelle Zahlung der ausstehenden Prämien zu verlangen und die Wiedereinstellung von Rolande zu fordern. Die Delegation verschwindet in Richtung der Büros.
In der Cafeteria haben sich wieder Grüppchen gebildet. Einige fangen an, Karten zu spielen.
Étienne hat sich zu Aïsha gestellt. »Ich bin der Freund von Nourredine. Ich arbeite seit zwei Jahren in der Verpackung. Wie kommt’s, dass wir uns noch nie begegnet sind?«
»Ich bin erst seit einem Monat in der Fertigung.«
»Stimmt ja.« Jetzt sieht er sie wieder vor sich: das blasse Gesicht, der Rotor, Rolande hat mich in die Fertigung geholt … Da hab ich ja ’nen Bock geschossen, jetzt bloß nicht den abgetrennten Kopf erwähnen.
Lächeln. »Es hat mir so gutgetan, darüber zu reden. War das erste Mal. Ich hab auch zum ersten Mal vor so vielen Leuten geredet, mindestens zehn. Jetzt fühl ich mich besser.« Sie denkt: anders.
Erleichtert. »Darf ich dir einen Kaffee spendieren?«
Vor den Kaffeeautomaten stehen die Leute Schlange. Étienne stellt die beiden heißen Becher auf einen Pappteller, nimmt Aïsha bei der Hand und durchquert mit ihr die große Werkhalle der Fabrik, menschenleer, schwach erleuchtet vom trüben Tageslicht und der orangen Sicherheitsbeleuchtung. Tiefe Stille. So anders, ein bisschen seltsam. Aïsha entzieht ihm nicht ihre Hand. In der Verpackung, einem großen, luftigen Raum, knipst Étienne eine Neonröhre an, bleibt aber nicht stehen – weder bei den Maschinen, fremd in ihrer Reglosigkeit, noch bei den Holz- und Styroporlagern, dabei sind die doch ganz dekorativ, noch bei dem Förderband, auf dem die verpackten Bildröhren zur Decke empor und ins Lagerhaus schweben. Er zieht Aïsha zu einem alten Holzschreibtisch, der verlassen in einem Winkel der Werkstatt steht, und stellt die Kaffeebecher darauf ab.
»Hier können wir in der Pause etwas essen, die Cafeteria ist zu weit weg, man verliert zu viel Zeit. Und jetzt guck.« Stolz. Er öffnet eine Schublade, ein Gasbrenner kommt zum Vorschein. Nächste Schublade, eine Kaffeemaschine. Die Rückwand des Schreibtischs lässt sich aufschieben, dahinter: ein kleiner Kühlschrank und ein Fernseher. »Der Fernseher ist nur für die Nachtschicht.« Lachen. »Was den Rest betrifft, haben wir eine Abmachung mit Maréchal, dass er während der Pause nicht in die Werkstatt kommt.«
Sie trinken schweigend. Aïsha fährt mit dem Finger über die Flecken und Kerben auf der Schreibtischplatte. Ein Stück Freiheit, das die Männer ganz für sich allein haben, hier mitten in der Fabrik. Die Werkstatt der Frauen auf der anderen Seite der Blechwand: ein anderes Leben. Das Unglück, eine Frau zu sein.
»Du hast noch nicht alles gesehen.« Étienne setzt sie auf einen der Hocker. »Mein Arbeitsplatz, aber eigentlich steht man oft, man bewegt sich viel.« Er öffnet die obere Schreibtischschublade, breit, tief, flach, vollgestopft mit Besteck und diversen Korkenziehern, holt ein Brettchen hervor, das ganz hinten steckt, sowie einen Tabakbeutel und Zigarettenpapier. »Ein kleiner Joint, ist schnell gemacht.«
»Ich rauche nicht.«
»Das ist keine Zigarette, das schadet nicht.« Seine Hände arbeiten im Eiltempo, einmal lecken, Feuerzeug, er nimmt einen ersten Zug, einen tiefen, lächelt, reicht ihr den Joint.
Tohuwabohu in ihrem Kopf, Émilienne, Rolande, der Streik, Étiennes Hand in ihrem Haar, in ihrer Hand, ein Schauer überläuft sie, sie nimmt den Joint, führt ihn an die Lippen, inhaliert tief, Nase zu, Augen zu, wie sie es bei ihren Brüdern gesehen hat, schluckt den Rauch, gar nicht so stark, besser als ich dachte, atmet durch die Nase aus, ohne zu husten. Leises Wohlbefinden.
»Ein echter Profi«, sagt Étienne lachend.
Er löscht das Licht, die Werkstatt versinkt in gelblichem Halbdunkel. Aïsha wankt und zieht wild an ihrem Joint. Hört auf einmal wieder Émiliennes Stimme, wie sie sich in der Cafeteria vor Lachen biegt, als sie von ihrem »ersten Mal« erzählt, bäuchlings auf einer Mülltonne in einer Toreinfahrt, und es hat Bindfäden geregnet, Rolande lächelt ihr zu, nimmt sie am Arm, damit sie an einem anderen Tisch zu Ende isst. Ich hab nicht mal sein Gesicht gesehen, wiederholt Émilienne zwischen zwei Japsern. Und die Stimme ihres Vaters, rau, gekränkt, die Beschimpfungen, als sie nicht in sein Kaff zurückwollte, nicht mal in den Ferien, ich weiß, was dort passieren kann. Étienne kommt näher, mit langsamen Bewegungen, fasst sie am Arm, um die Taille, um ihr hochzuhelfen. Angst, aber danach ist es endgültig, ich geh nicht zu meinem Vater zurück. Er führt sie hinter einen Stapel Kisten. Ein Teppich.
»Nourredines Gebetsteppich.«
Er lächelt, kniet sich hin, sie setzt sich, fühlt sich, als schwebe sie, er löst ihr Haar, das ihr über die Schultern fließt. Sie denkt: vom einen Mann zum anderen, und legt sich mit geschlossenen Augen hin. Gedämpfte Dunkelheit und Stille, Étienne küsst sie auf die Wangen, die Augen, die Lippen, sie verkrampft sich, er gleitet zu ihrem Nacken, legt die Hand auf ihre Hüfte, wandert ihren Oberschenkel hinab, unter ihren Rock, Aïsha liegt reglos da, angespannt, das Herz klopft, die Hand fährt langsam wieder hoch zu ihrem Unterleib, wo sie verweilt, flach liegt sie da, warm, beharrlich. Aïsha wartet, gleich wird es geschehen.