Aus dem Französischen von Antje Peter
Die französische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Le triangle d’hiver bei Les Éditions de Minuit in Paris.
Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der Französischen Botschaft in Berlin.
E-Book-Ausgabe 2016
© 2014 Les Éditions de Minuit
© 2016 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung Julie August unter Verwendung der Fotografie Frau die auf einem Wellenbrecher balanciert © Corbis.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
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ISBN: 978 3 8031 4192 7
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3276 5
http://www.wagenbach.de/
Wer einen Pfeiler verbirgt,
begeht einen Fehler.
Wer einen falschen
Pfeiler setzt,
begeht ein Verbrechen.
Auguste Perret
Zu einer Theorie der Architektur
Bérénice Beaurivage. Ich drehe ihn, ich wende ihn und finde nichts daran auszusetzen. Ja, dieser Name würde perfekt zu mir passen, denkt sie und dreht sich zum Fenster hin, das eine trist wirkende Straßenansicht einrahmt. Ein Rechteck, in dem sich, wenn man genau hinschaut, eine aus rundlichen Befestigungsteilen gefertigte Bordsteinkante abzeichnet, eine verlassene Straße, die mit dem gelblich gestrichenen Gebäude gegenüber ein Parallelogramm bildet. Dann betrachtet sie eingehend die Fußleiste.
– Mademoiselle, hören Sie auf, die Steckdose anzustarren.
Bérénice Beaurivage. Sie braucht nur diesen Namen auszusprechen, und schon weitet sich die Perspektive, schon dehnt sich der Horizont.
– Mademoiselle, machen Sie die Augen auf, man könnte meinen, Sie schlafen.
Ich werde diesen Namen annehmen. Ich werde ihn adoptieren, mir überstülpen, ihn von allen Seiten zeigen, in jeder Hinsicht die Frau werden, die man sich beim Klang seiner Silben vorstellt.
– Mademoiselle, ich rede mit Ihnen.
Eine leichte Verlegenheit macht sich breit. Schließlich habe ich diesen Namen nicht erfunden, er gehört einer anderen, jedenfalls zur Hälfte, wenn man so will. Mein Name ist in einem Film von Éric Rohmer von der Schauspielerin Arielle Dombasle besetzt, in der Rolle der Romanschriftstellerin Bérénice Beaurivage.
– Hören Sie, Mademoiselle, seit drei Monaten kommen Sie zu mir zum Einzelgespräch. Anfangs war ich noch ziemlich nachsichtig, das letzte Mal lief es beruflich ja nicht so gut bei Ihnen. Dann habe ich Annoncen für Sie zusammengesucht, Ausbildungsangebote, aber Sie haben wieder Schwierigkeiten gemacht. Sie müssen schon selbst einen Beitrag leisten, kreativ sein, vielseitig, denn ohne Abschluss und Qualifikationen werden Sie es kaum weit bringen.
Romanschriftstellerin. Eine verführerische Tätigkeit. Viel mehr als die angeblich so tollen Stellen, die die Arbeitsagentur immer anpreist.
– Nun gut, Mademoiselle, ich habe getan, was ich konnte. Da Sie nicht hören wollen, werde ich meinen Vorgesetzten rufen. Monsieur Geulincx, würden Sie bitte herkommen!
Ich habe sie gesehen, die Romanschriftstellerinnen, in den Illustrierten aus den Wartezimmern, auf den Seiten von Madame Figaro. Sie öffnen die Türen zu ihren Pariser Salons, posieren vor ihrem Schreibtisch, vor ihren Bücherwänden, in ihren Eckbadewannen, in denen sie herumplantschen, um sich Inspiration zu holen.
– Ja, Solange, was kann ich für Sie tun?
Romanschriftstellerinnen wissen nicht, was es heißt, im Morgengrauen aufstehen zu müssen, um dann in eines dieser abscheulichen öffentlichen Verkehrsmittel zu steigen. Sie stehen auf, wann sie wollen, sie tasten ihre langen Zigaretten ab, auf der Suche nach dem passenden Wort, dem passenden Satz, und dann übertragen sie das, was ihnen dabei in den Sinn gekommen ist, in hübsche, ledergebundene Schreibhefte.
– Es ist Mademoiselle, Monsieur Geulincx. Sie war schon letzte Woche hier.
– Ja, ich erinnere mich. Ein schwieriger Fall, noch dazu, weil sie keinerlei Motivation zeigt.
Also, das kann nicht so kompliziert sein, Romanschriftstellerin, wenn man so wie ich viele Berufe ausprobiert hat, die Kreativität verlangen und Vielseitigkeit.
– Genau, Monsieur Geulincx. Ich habe es mit allem versucht bei ihr, mit persönlicher Begleitung, Arbeitsgruppen, Eingliederungspraktika. Jetzt habe ich mich genügend bemüht.
Und jetzt habe ich genügend verschiedene Berufe probiert,
– Mademoiselle, Sie müssen sich wieder fangen, sonst sind wir gezwungen, Ihnen die Zahlungen zu kürzen, und dann bekommen Sie nur noch Sozialhilfe, und damit sind Sie dann auf dem besten Weg, unter der Brücke zu landen, Mademoiselle.
in Büros, in Geschäften, nur, damit ich mir immer wieder eine neue Haut überstreife.
– Da ist wirklich nichts zu machen. Aber sehen Sie, Solange, das Dümmste daran ist diese Geschichte mit der Belästigung.
– Exakt, Monsieur Geulincx. Seinen eigenen Abteilungschef mit einem Küchengerät bedrohen und dann auch noch erwarten, dass man noch mal einen Job in der Branche bekommt!
Es reicht, wenn ich ein paar Eigenschaften mit der Schauspielerin Arielle Dombasle gemeinsam habe,
– Sie haben Recht. Wenn ich mir ihre Akte ansehe, wäre es tatsächlich besser, wenn sie die Normandie verlassen würde.
in jeder Situation selbstbewusst auftreten, zierlich gebaut sein, dazu noch prächtige blonde Haare,
– Also, es ist hoffnungslos, schließen wir den Fall ab. Und Sie, Mademoiselle, Sie will ich in unseren Büros nicht mehr sehen, Sie sind unmöglich.
das hätten wir schon mal.
Mademoiselle ist in ihre Wohnung zurückgekehrt, in der blauen, milden Luft der fünften Nachmittagsstunde. Sie ist die Bassins du Commerce, du Roi und de la Manche entlanggeschlendert und schließlich am Quai de Southampton angelangt, wo sie an einem großen Ensemble gegenüber dem Kreuzfahrtterminal Halt machte.
In die Flussmündung eingebettet wie eine Gabelzinke, empfängt die Pointe de Floride die Passagierschiffe auf ihrem Zwischenhalt. Ein Kreuzfahrtschiff legte gerade an, als die junge Frau die Arbeitsvermittlung mit ihrer Anwesenheit beehrte. Es ist ein moderner Kreuzer, dreihundert Meter lang, sechs Etagen hoch, über dem ruhigen Wasser. Viertausend Personen bewegen sich in diesem riesigen Koloss, doch die blanke Schiffswand lässt nichts erahnen von der Betriebsamkeit, die vollkommen abgeschnitten von der Stadt, jenseits des Kais, herrscht.
Wenn ein Passagierschiff untergeht, so hat sie in den Nachrichten gehört, ist die Scheidungsrate bei den überlebenden Ehepaaren im Schnitt deutlich höher als gewöhnlich. Der Reporter hatte dieses Phänomen damit erklärt, dass jeder Mensch die Neigung hat, über Leichen zu gehen, um die eigene Haut zu retten. Mademoiselle hat solche Probleme nicht – das ist die eine Seite der Medaille – und steigt allein die beiden Etagen zu ihrem Appartement hoch, in dem sie auch allein wohnt, ebenso abgeschnitten von Verbindungen zur Welt wie die Passagiere des Schiffes. Dieses versperrt ihr gerade die Sicht aus der Terrassentür, von wo sie nur eine Reihe von Bullaugen sieht.
Die Inneneinrichtung des Appartements – alles rechtwinklig, funktionale Ausstattung, Schränke im Hochformat – zeugt von dem Stil, der gerade angesagt war, als das Gebäude renoviert wurde. Auf dem Fußboden die Spuren einer jüngeren Katastrophe – aus der Mediathek entliehene Bücher, die aufgeschlagen, auf dem Bauch, herumliegen, Joghurtbecher, Verpackungen von Fertiggerichten, Küchenpapierrollen, Nagellack, Verbandswatte, Ohrstäbchen, es ist ekelhaft, scheißegal.
Eine spitz zulaufende Polsterbank. Mademoiselle schläft darauf, manchmal lässt sie sich nachmittags vom Schaukeln des Wassers und der Wolken wiegen. Sie täte indes besser daran, auf die Angebote der Arbeitsagentur zu antworten. Es wäre notwendig, schnell eine Arbeit zu finden. Die Schreiben, die sich Tag für Tag in ihrem Briefkasten stapeln, weisen sie darauf hin, nicht bezahlte Rechnungen, Mahnungen vom Finanzamt, Gläubiger, die nicht zögern werden, Maßnahmen zu ergreifen, wenn sie ihre Situation nicht regelt. Aber Mademoiselle öffnet ihre Post nicht mehr.
Sie beobachtet das Passagierschiff, das auf den Namen Sirius getauft ist, sieht die gigantischen Buchstaben, die auf den Bug gemalt sind (Alpha Canis Majoris, wird der Inspektor sagen). Der Rumpf reflektiert die letzten rosafarbenen und gelben Strahlen, bevor in einer Kabine nach der anderen das Licht angeht und die Passagiere sich fertig machen, um in einem der acht Bordrestaurants zu speisen, an der Bar herumzusitzen oder beim Roulette mindestens drei durchschnittliche Monatsgehälter zu verspielen.
Dutzende von Passagierschiffen legen vor ihren Fenstern an. Zwei oder drei pro Woche, manchmal sind es dieselben, denn es gibt weder endlos viele Züge an Land noch Flugzeuge im Himmel und eben auch nicht endlos viele Schiffe auf dem Meer. Sie kommen und gehen, bleiben eine Weile und nehmen dann ihre Fahrt wieder auf. Das hier ist vielleicht vor ein paar Tagen gekommen, oder auch Monaten, und es legt vor ihren Augen eine Ruhepause ein.
Als ob ihr diese Vorstellung missfallen würde, zieht sie die Vorhänge zu, die ihr mit einem metallenen Rasseln sofort die Sicht nehmen, dann geht sie in die Kochnische, füllt den elektrischen Wasserkocher und drückt auf den Knopf am Henkel. Sie sucht in den Einbauschränken nach etwas Essbarem, findet eine Packung Madeleines der Marke Saint-Michel, »nach dem Originalrezept mit extrafrischen Eiern«. Schau an, ich kann mich gar nicht erinnern, die gekauft zu haben, mein Gedächtnis ist aber auch wirklich das reinste Sieb. Kaum beginnt das Gerät zu beben, bringt sie den Schalter in die Off-Stellung zurück, schüttet das Wasser in die Teekanne und wirft eine Handvoll getrockneter Kräuter hinein. Ohne den Sekundenzeiger der Wanduhr aus den Augen zu lassen, sieht sie in Richtung Küchenfenster. Aus diesem Blickwinkel ist das Passagierschiff von der Rückseite zu sehen, die abgeflacht ist, um möglichst viele Bullaugen unterzubringen und das Schiff dadurch rentabler zu machen. Einige Passagiere sind auf den Decks unterwegs und schnappen frische Luft. Zerstreut verfolgt sie ihre Bewegungen, während sie das Gebräu ziehen lässt, dann setzt sie sich wieder auf die Bank, die Tasse in der rechten Hand, eine Madeleine in der linken.
Zuerst der Tee oder zuerst die Madeleine? Ihre Geschmacksknospen anfeuchten, um die Weichheit des Kuchens noch zu steigern, oder in den bauchigen, angenehm gelblich-orange schimmernden Teig hineinbeißen? Das scheint nicht wichtig, dennoch ist es eine heikle Sache, oft hängt von solchen Entscheidungen die Zukunft ab. Erst von der Madeleine probieren. Ja, so herum ist es besser. Sie stellt die Tasse hin, öffnet den Mund und hält inne. Nein, lieber den Kuchen eintunken. Sie nimmt wieder ihren Tee, beginnt den Kuchen einzutauchen. Dann ist sie erneut unschlüssig. Sie wendet sich abwechselnd der Tasse und der Madeleine zu und setzt dabei einen stechenden Blick auf. Diese aber lassen sich nicht beeindrucken, und aus Trotz gießt sie den Inhalt ihrer Tasse in einen kleinen Blumentopf mit einer Palme und schlingt eine Madeleine nach der anderen hinunter.
Krümel regnen auf ihre Jogginghose, zwischen ihre Füße, wo Müll herumliegt, Knöpfe, Muttern, Korken, blaue Bic-Kugelschreiber ohne Hülle.
Bérénice Beaurivage.
Sie wühlt in ihrem Krempel herum, gräbt ein Heft aus, das mit Strasssternen verziert ist. Zarte bläuliche Linien warten darauf, ihre Schrift über die Seiten zu schieben. Vorsichtshalber schlägt sie es auf der dritten Seite auf, weil sie glaubt, dass es besser ist, nicht von vorn zu beginnen.
Danach bleibt ihr noch zu tun, dauernd auf dem Kugelschreiber herumkauen, an die Decke starren, eine Idee entwickeln und aufschreiben, noch bevor sie merkt, dass die zu dämlich ist. Drei Wörter durchstreichen, von vorn anfangen. Noch einen Tee machen, wieder an dem Passagierschiff vorbeigehen, das ihr noch immer die Sicht verdunkelt, ihren Geist von parasitären Gedanken befreien, drei neue Wörter hinschreiben und sich sagen Das Wichtigste ist doch, dass ich vorankomme, korrigieren kann ich später. Die paar Wörter lesen, sie energisch wieder durchstreichen, die Seite reißt auseinander.
Das nervt mich, beschließt sie und klappt das strassbesetzte Heft zu. Sie verschlingt eine letzte Madeleine und geht zum Fenster, um die Decks auf dem Passagierschiff zu zählen (elf), die Bullaugen pro Deck (fünfundfünfzig), multipliziert beides miteinander, was sechshundertfünf ergibt – es sind also mindestens sechshundertfünf Kabinen auf diesem schwimmenden Kaninchenstall für Touristen.
Rechnen beruhigt. Es wirkt derart beruhigend, dass sie ihr Talent ausgebaut hat. Das war einer der Gründe, weshalb sie im Mai bei Darty angestellt wurde, der andere war, dass sie dem Filialleiter ausnehmend gut gefiel. Dieser hatte nach einem fünfzehnminütigen Vorstellungsgespräch, in dem er selbst pausenlos sprach, während sie sich hütete, ihn zu unterbrechen, erklärt, dass die blonde junge Frau genau auf die Stelle passen würde. Sie hatte nur gesagt, dass das mit den Warenlagern kein Problem sei, zählen könne sie schon. Und zwei Monate lang war auch alles nahezu reibungslos verlaufen. Sie kam fast pünktlich zum Dienst, verkaufte nur etwas weniger Schnellkochtöpfe und Küchenmaschinen, als das Plansoll vorsah, aber das Warensortiment war in tadellosem Zustand, und der Chef hatte erklärt, dass dieser netten Person eine Zukunft bevorstand, man müsse ihr nur Zeit lassen, sich die Grundlagen des Einzelhandels und den allgemeinen Umgang mit dem Kunden anzueignen.
Sie bewältigte also erfolgreich die Probezeit, dann stellte sich die Frage nach dem Urlaub. Der Sommer rückte näher, die Luft wurde milder, und sie wollte ihre Tage nicht komplett im Neonlicht des Geschäfts zubringen, sie hatte Lust, nachmittags das Meer zu sehen. Doch als sie dem Abteilungsleiter ihre Pläne eröffnete, hatte Monsieur Baridou Nein gesagt. Nein, Mademoiselle, es ist ausgeschlossen, dass Sie im Sommer Urlaub nehmen, da sind Schulferien, und Sie haben keine Kinder, jedenfalls haben mir Madame Bloquet und Monsieur Piton, die beide welche haben, bereits ihre Daten mitgeteilt, es ist also zu spät, Sie fahren im November weg wie alle anderen unverheirateten Mitarbeiter auch.
Nun hatte Mademoiselle soeben einer beleibten Kundin, die nach einem Handrührgerät suchte, es aber am Ende doch nicht kaufte, ein solches vorgeführt. Sie hatte also dieses Gerät noch in der Hand und es sogleich drohend gegen den Abteilungsleiter erhoben. Sie hatte es auf die höchste Umdrehungszahl eingestellt und geschrien Sind Sie sicher, Monsieur Baridou? Sind Sie sicher, dass ich nicht im Sommer verreisen kann? Dann war sie noch näher an ihn herangerückt und hatte hinzugefügt Denn ich bin mir ganz sicher, dass ich meinen Sommerurlaub nehmen werde, und der Beweis dafür ist, dass Sie blass werden, ja, Monsieur Baridou, Sie kommen langsam zur Vernunft, Sie erinnern sich, dass hier jeder die gleichen Rechte hat und so weiter, und ich werde meinen Urlaub nehmen, wann ich will, verdammt nochmal.
Die Situation begann sich zuzuspitzen. Durch das Surren des Geräts in Mademoiselles ausgestreckter Hand aufmerksam geworden, waren die Verkäuferinnen der Kosmetikabteilung herbeigeeilt, um zu sehen, was da los war. Sylvie und Mathilde mochten Monsieur Baridou nicht sonderlich, beide hatten sie schon unter ihm gearbeitet, bevor sie der Abteilung für Damenaccessoires zugeteilt wurden. Erstere, die gerade ein Epiliergerät in Händen hielt, hatte sich Letzterer angeschlossen und drohte nun ihrerseits, die Tonsur des Abteilungschefs, der gegen einen Verkaufsständer gedrängt dastand, zu bearbeiten. Erst durch das Eingreifen der Verkäufer aus der Hi-Fi-Abteilung und der Muskelpakete des Servicepersonals konnte dem Durcheinander ein Ende gesetzt werden.
Monsieur Baridou hatte nicht gezögert, Anzeige zu erstatten. Als jedoch in der Lokalzeitung am nächsten Tag von »Panik in der Küchenabteilung« die Rede war, hatte er unter dem Vorwand, es sei ja nur ein Kratzer gewesen, davon abgesehen, weitere gerichtliche Schritte einzuleiten, um nicht nochmals so unvorteilhaft in der Presse zu erscheinen. Mademoiselle wurde entlassen, Sylvie kam mit einer Suspendierung davon, Mathilde erhielt eine Verwarnung. Alle drei gingen mit Bedauern auseinander, nachdem sie im Victoria ein paar Cocktails getrunken hatten.
Mademoiselle mochte ihre beiden Kolleginnen gern. Doch diese, die trotz ihres jungen Alters mit Ehemännern und Kindern ausgerüstet waren, über die sie sich unentwegt beklagten, hatten ein offensichtliches Vergnügen daran, über eine Menge Schwiegermütter, Schwager, Geburtstage und unmögliche religiöse Zeremonien zu reden. Worauf Mademoiselle nie etwas zu erwidern wusste, und so war sie, sobald es nicht mehr um Darty ging, der Gespräche mit den beiden schnell überdrüssig geworden.
Sie hätte sich eine Arbeit beschaffen können. Doch sie war nicht bei der Sache. Sie fing an, regelmäßig die Mediathek aufzusuchen und in Kinos zu gehen, die für Leute in ihrer Situation reduzierte Eintrittspreise anboten. Im Laufe der Monate, die Stunden zogen sich immer mehr in die Länge, entwickelte sie eine sprunghafte Impulsivität und ließ sich in ihren Handlungen nur noch von Lust oder Abscheu leiten.
Das ging so weit, dass sie eben noch wie wild gegen die Wand geschlagen hatte und auf einmal Lust bekam, frische Luft zu schnappen. Sie schlüpfte in ihre Turnschuhe mit Klettverschluss, ihren silberfarbenen Anorak mit dem Futter aus Kunstfell und rannte die Treppen hinunter.
Am Quai de Southampton war keine Menschenseele zu sehen und erst recht kein Baum, da der für den Wiederaufbau der Gegend zuständige Architekt der Ansicht gewesen war, das Grün würde den Blick des Betrachters nur von seinen Gebäuden aus Sichtbeton ablenken. In der Tat vermitteln die viereckigen Bauten einen angenehm harmonischen Eindruck, was vor allem dem Spiel verschieden hoher vertikaler und horizontaler Elemente – kleine Flächen, Säulen, Balkone, Terrassen – geschuldet ist, die zu einer sanften Gestaltung der Fassaden beitragen.
An der ersten Kreuzung biegt sie in die Rue de Paris ein, die so benannt ist, weil sie nach dem Vorbild der Rue de Rivoli gebaut wurde. Es gibt freilich Unterschiede. Die überdachten Galerien ruhen auf hässlichen Pfeilern und sind deshalb nicht mit eleganten Arkaden zu verwechseln, und anstelle der Luxusboutiquen beherbergen sie Agenturen für Zeitarbeit, Autovermietungen und eine auf Schädlingsbekämpfungsmittel – gegen Mücken, Motten, Schaben, Termiten, Ratten, Mäuse, Fledermäuse – spezialisierte Drogerie.
Da auf der Straße nicht mehr Autos unterwegs sind als Menschen auf dem Gehweg, schreitet sie die weiße Mittellinie entlang, wobei sie darauf achtet, jeden Schritt auf den Strich zu setzen. Die Querstraßen zur Rue de Paris bilden mit dieser zusammen ein regelmäßiges, rechtwinkliges Raster, wie es typisch ist für Städte, die auf dem freien Feld errichtet wurden. Kein Einödhof, der zum Weiler wurde und dann ein Dorf und schließlich eine Stadt bildete, sondern ein Komplex, den man auf nacktem, flachem Grund, in eine Wüste oder nach dem vollständigen Abriss des vorherigen hochgezogen hat. Nach einem Bombenangriff zum Beispiel.
Keine Spur mehr von der Architektur, die hier einst errichtet wurde und sich miteinander verwob, bevor die Alliierten kamen.
Die neuen Straßen bleiben unter sich, denn nach dem großen Wiederaufbau in der Nachkriegszeit sind die Menschen nicht mehr zurückgekehrt. Jahre gingen ins Land, und die Einwohner zogen an den Stadtrand, in die Viertel, die zur Hälfte nur aus Kreisverkehren und Einkaufszentren bestehen. Sie gelangt zum Mahnmal für die Gefallenen, ohne dass sie auch nur ein Gesicht gesehen hat.