Renate Götz Verlag
Es gibt immer mehr Einzelkinder und sie kommen häufiger als Geschwisterkinder aus Problemfamilien. Dieses Buch soll ihnen allen helfen!
Einzelkinder haben es meist viel schwerer, sich aus der geistigen Welt der
Eltern zu lösen, wenn es um Werte, Haltungen und Einstellungen geht. Als Einzelkind die Eltern zu enttäuschen ist für die meisten Menschen ein zu großes Problem.
Anhand von 45 Einzelbeispielen, wie:
stellt der Autor Schicksale und Chancen dieser Menschen emotional nachvollziebar und spannend dar.
Das Buch beschäftigt sich auch mit den Möglichkeiten von Einzelkindern und den konstruktiven Konsequenzen für ihre Eltern.
geb. 1942, ist Psychotherapeut in freier Parxis, Lehrtherapeut und Lehrbeauftragter der Ärztekammer. Nach der Matura zuerst Unternehmer und Lehrer an der Drogistenschule, beginnt er sein Studium an der Universität Wien, macht sein Doktorat im Hauptfach Psychologie und in den Nebenfächern Humanbiologie und Philosophie. Danach beginnt er mit der Ausbildung zum Psychotherapeuten. Seit 1991 ist er ausschließlich in freier Praxis als Psychotherapeut tätig.
Norbert Arlt ist selbst kein Einzelkind, seine Motivation zu diesem Buch entspringt den Erfahrungen mit KlientInnen, die oft schwer mit dieser Einzelkindproblematik kämpfen.
Dr. Norbert Arlt
Einzelkind
Privileg oder Schicksal
1. Auflage Juli 2009
Autor: Dr. Norbert Arlt, Wien und Kaumberg/NÖ
Copyright © by Renate Götz Verlag
A-2731 Dörfles, Römerweg 6
e-mail: info@rgverlag.com
Layout, Gesamtgestaltung und Coverbild „Einsam“ © by
outLINE|grafik Eva Denk .
A-2340 Mödling . www.outlinegrafik.at
Produktion: Druckerei Paul Gerin, Wolkersdorf
www.gerin.co.at
Printed in Austria
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
ISBN 9978-33-9902625-006-99
„Kein Buch kann jemals fertig werden;
während wir daran arbeiten, lernen wir immer gerade genug, um seine Unzulänglichkeit
klar zu sehen, wenn wir es der Öffentlichkeit übergeben.“
Sir Karl Popper
An meine Klientinnen und Klienten, die mich so viel über das Schicksal der Einzelkinder gelehrt haben. An meine Frau, Psychotherapeutin wie ich, die mir unbeschreiblich viele interessante Ideen und Hinweise geliefert hat. Dank an Peter Melzer und meinen ältesten Freund Manfred, die dieses Buch kritisch und beratend angesehen und mir bei der Gestaltung des Buches geholfen haben. Ganz besonders meiner Lektorin Hermi Bader, die das Buch in liebevoller Kleinarbeit in die vorliegende Gestalt gebracht hat.
Alle Namen und Lebensgeschichten sind so verändert, dass Rückschlüsse auf reale Personen nicht möglich sind.
Im Sinne einer guten Lesbarkeit wurde auf die heute übliche Schreibweise
KlientInnen, TherapeutInnen usw. verzichtet, es mögen sich aber bitte jeweils weibliche wie männliche Personen angesprochen fühlen.
„Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder Kostüme wechseln, wie er will.“
Heimito von Doderer
Das verwöhnte Einzelkind wird meist beneidet - und doch ist man unsicher, ob für diesen Menschen wirklich alles nur von Vorteil ist.
Es bekam die ganze Liebe seiner Eltern und musste sie nie mit Geschwistern teilen. Es bekam beim Essen das erste und schönste Stück. Natürlich wurden ihm am Sonntag die Wünsche von den Augen abgelesen. Mit niemandem musste es sich streiten, wer das größere Stück der Schokolade bekommt, wer in der Badewanne die rutschige Seite und wer den Knopf im Rücken hat, und ob der Kindersitz im Auto der Eltern eine gute Aussicht bietet. Niemals musste es neidisch zuschauen, wie ein weinendes oder krankes Geschwisterchen getröstet und somit für kurze Zeit ihm vorgezogen wurde. Niemals musste es die abgelegten Kleider anderer Geschwister tragen, niemals das alte Paar Ski und das alte Dreirad übernehmen. Das Kinderzimmer wurde nach seinen Vorstellungen gestaltet und kein lästiger Bruder und keine lästige Schwester redeten ihm drein. Ausrüstungen für die Schule oder den Schikurs waren kein Problem. Schließlich ließen sich die Eltern nicht lumpen.
Vor Freunden und Verwandten wurden seine Vorzüge in höchsten Tönen gelobt. Bei Spielzeug und Kleidung spielte Geld meist keine große Rolle. Hatten die Eltern Gäste, saß man mit bei Tisch und gab auch weise Sprüche von sich.
Ist vielleicht etwas daran, wenn es heißt: „Alles, was ein Vorteil ist, ist auch ein Nachteil“? Je mehr Vorzüge man aufzählt, umso trauriger und nachdenklicher wird man. Woran liegt das? Wahrscheinlich können Sie viele Inhalte dieses Buches in anderen Zusammenhängen und in anderen Veröffentlichungen ebenso lesen. Hier soll der Versuch gewagt werden, viele Nöte und Probleme von Einzelkindern darzustellen.
Die Beschreibungen in diesem Buch sind wie eine Perlenkette bekannter Phänomene, aufgefädelt am gemeinsamen Faden des Kindes ohne Geschwister.
Sie zeigen, dass das Einzelkind, das meist als verwöhnt, verhätschelt und somit als absolut egozentrisch verunglimpft wird, vielleicht ein großes Schicksal trägt, nämlich die Wucht, alle elterlichen Bedürfnisse und alle elterlichen Probleme allein aushalten und austragen zu müssen.
Freilich könnte man auch Schicksale von Kindern beschreiben, die einen Bruder oder eine Schwester haben, mit allen Differenzierungen, ob sie als Ältester, Jüngster oder gerade „in der Mitte“ aufwachsen.
Es macht auch Sinn zu überlegen, was es heißt, als Bub nur mit Schwestern, als Mädchen nur mit Brüdern aufzuwachsen und, und, und ...
In diesem Buch ist das Schicksal des Einzelkindes das Thema. Falls Sie selbst Eltern eines Einzelkindes sind, wird Ihnen dieses Buch vielleicht Schuldgefühle machen. Schuldgefühle helfen aber nicht weiter. Lesen Sie es so, als wären Sie selbst ein Einzelkind. Es gibt sicher Aspekte, wo Sie es waren. Nur wenn Sie Ihr eigenes Schicksal aufarbeiten, helfen Sie Ihrem Kind und verhindern, dass Sie eigene Wunden an Ihr Kind weitergeben.
Vielleicht hilft es Ihnen auch, wenn ich bekenne, dass ich gerne all das damals schon gewusst hätte, als meine Kinder noch klein waren. Aber es ist, wie es ist. Jeder von uns hätte es gerne besser gemacht, wenn er es gekonnt hätte. Und das Gleiche gilt für unsere Vorfahren.
Bei Jill Pitkeathley und David Emerson wird ein Einzelkind zitiert: „Ich möchte nicht wieder als Einzelkind zur Welt kommen, ich würde es keinem wünschen. Ich sage nicht, dass es schrecklich ist. Das war es nicht. Ich wünsche nur, dass ich früher erkannt hätte, was es bedeutet.“ 1
Liebe Helga!
Du weißt, ich liebe Dich und ich kann ohne Dich nicht sein. Du willst, dass wir uns zum Wochenende treffen. Nun, ich weiß noch nicht, wie ich es einrichten kann, denn meine Eltern sind gewohnt, dass ich zum Mittagessen erscheine. Es gibt wie jeden Sonntag Schnitzel mit Erdäpfeln. Sie reden immer davon, ob ich schon eine Freundin habe. Wie gibt es das, dass ich irgendwie ein schlechtes Gewissen habe, Dich meinen Eltern vorzustellen? Sie wollen doch mein Glück - ja ganz bestimmt! Von Woche zu Woche zögere ich es hinaus, Dich einmal zu meinen Eltern mitzunehmen. Sie wünschen sich doch, dass auch ich glücklich werde. Irgendetwas ist da komisch.
Nächsten Sonntag werde ich es ansprechen - ja, verlass Dich darauf. Wieso bekomme ich Herzklopfen, wenn ich das schreibe? Ich kenne mich nicht aus. Ich weiß auch nicht, wann ich wegkomme vom sonntägigen Schnitzelessen. Schließlich haben meine Eltern nur mich. Das gibt mir schon auch irgendwie ein Gefühl von Wichtigsein und gleichzeitig ein Gefühl von „Scheiße“.
Helga, es wird doch wohl eine Lösung für uns geben?
In Liebe Dein Hans
Lieber Hans!
Zum Wochenende mache ich auch gerne etwas mit meinen Geschwistern. Fad wird mir ganz bestimmt nicht, auch wenn ich traurig bin, Dich nicht zu sehen. Eines verstehe ich nicht. Meine Eltern haben sich immer gefreut, wenn ich ihnen einen netten Burschen vorgestellt habe. Mir selber war auch immer ganz leicht ums Herz dabei.
Deinen Brief verstehe ich nicht.
Ich umarme Dich Helga
Liebe Helga! Es wurde sonntags doch recht spät. Meine Eltern sprachen kein Wort davon, ob ich etwas vorhätte. Ich glaube, es war ihnen ganz selbstverständlich, dass ich den ganzen Nachmittag bei ihnen bleibe.
Ich kann es nicht beschreiben. Es zerreißt mir das Herz und ich weiß nicht, was los ist. Sie sind so arm, wie könnte man sie allein lassen?
In Liebe Dein Hans
Lieber Hans!
Weißt Du Hans, meine Eltern haben eigene Ideen, was ihnen Spaß macht und was sie vorhaben. Sie freuen sich auch, wenn ich komme, aber ich weiß, dass ihnen nicht langweilig wird, wenn ich gehe. Ich verstehe gar nicht, was Du mit Deinen Eltern hast. Haben die kein Eigenleben? Haben die nur Dich und sonst nichts? Ist das Liebe oder Dummheit, Lebensunfähigkeit und Egoismus? Haben Deine Eltern Dich ins Leben gesetzt, um durch Dich von ihrer Unerfülltheit erlöst zu werden? Bist Du das Faustpfand Deiner Eltern und Du musst ihnen Lebenssinn geben?
Du bist ein netter Kerl, aber aus uns wird nichts. So stark wie Deine Eltern werde ich nicht sein.
Ich wünsche Dir alles Gute für Dein weiteres Leben. Ich umarme Dich zum letzten Mal
Helga
Hans ist traurig, er versteht nicht, wieso die Liebe seiner Eltern und Helgas Liebe nicht unter einen Hut zu bringen sind. Im Augenblick versteht er überhaupt nichts, auch nicht, was Liebe sein könnte. Hans sitzt in seinem Kämmerchen, erlebt eine eigenartige Mischung aus wohlig-warm und traurig und summt ein Lied. Es ist ihm nicht bewusst, welcher Text zu dieser Melodie gehört. Würde er es wissen, die Musik würde ihm im Halse stecken bleiben. Er singt:
„Hänschen klein, ging allein in die weite Welt hinein, Stock und Hut steh’n ihm gut, ist gar wohlgemut. Doch die Mutter weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr, da besinnt sich das Kind, kommt nach Haus geschwind!“
„Es gibt nichts, das höher, stärker, gesünder und nützlicher für das Leben wäre als eine gute Erinnerung aus der Kindheit, aus dem Elternhaus.“
Fjodor M. Dostojewski
Viele psychologische Bücher, Vorträge und Medienbeiträge sind so angelegt, dass sie in Eltern ein schlechtes Gewissen erzeugen. Die Fülle an Möglichkeiten, es verkehrt zu machen, ist unendlich groß. Veröffentlichungen bohren dann säure- und giftversprühend in den Wunden der leidgeplagten Eltern.
Wenn man davon ausgeht, dass Kinder zu erziehen das vielleicht Verantwortungsvollste und Schwierigste auf der Welt ist, dann wird schon spürbar, dass uns dieses Thema unter den Nägeln brennt. Kinder haben erst in letzter Zeit durch die Popularität der Psychologie eine Lobby bekommen und die prügelt auf die Eltern ein. Nun, bei der verantwortungsvollsten und schwierigsten Sache der Welt bekommen Fehler ein gravierendes Gewicht.
Kunstfehler von Ärzten haben oft grausame Auswirkungen. Irrtümer der Schuhverkäuferin hingegen nicht. Daher steht der ärztliche Irrtum morgen in der Zeitung und bekommt Raum in allen Medien. Die zwei linken Schuhe, die mir irrtümlich eingepackt wurden, aber nicht. Wir sollten so fair sein wahrzunehmen, dass Ärzte, Eltern, Politiker, Priester, Journalisten usw. öfters kritisch gesehen werden, nicht weil sie schlechtere Menschen sind, sondern weil sie die viel größere Verantwortung haben.
Ich schlage vor, dass wir allen diesen Menschen Anerkennung zollen, dass sie diese undankbaren Aufgaben auf sich nehmen und jeden Tag riskieren, herber Kritik ausgesetzt zu sein.
Also an dieser Stelle Respekt für Eltern: Sie geben Zeit, Geld und Nerven für die nächste Generation. Ich sage ganz bewusst nicht, sie opfern, denn sie bekommen auch viel. Ein Lächeln, das erste „Mama“ und „Papa“, Schmunzeln über neue Wortschöpfungen und viele, viele nette Stunden beim gemeinsamen Spiel und beim Zusammensein. Aber Eltern geben auch viel. So manche Mutter und so mancher Vater waren schon neidisch, als ihnen Kollegen vom Wochenende in Istanbul erzählt haben, während sie am Krankenbett eines Kindes gesessen sind. Nehmen Sie bitte dieses Buch, auch wenn es elternkritisch geschrieben ist, als Respekt und Anerkennung einer schwierigen Sache, einem Balanceakt zwischen zuviel und zuwenig, zwischen zu nachgiebig und zu streng, zwischen Verwöhnung und Härte, zwischen gut gemacht und Fehlern.
Es fängt schon damit an, dass es nicht immer wirklich so ganz klar ist, wann man von einem Fehler sprechen soll oder kann. Gehen Eltern mit ihren Kindern ins Museum, finden die Kinder es lähmend fad. Machen sie Wanderungen, empfinden sie es als spießig. Machen sie nichts, bekommen die Erzieher dafür Schelte. Wie immer, wenn etwas neu ist, ist es noch nicht ausgewogen. Neu ist, dass Kinder ein Sprachrohr bekommen haben und das wird jetzt reichlich genützt. Auch dieses Buch soll Kindern und dem Kind in uns eine Sprache geben.
Lesen Sie es bitte als Betroffene oder Betroffener. Schuldgefühle helfen nicht.
Sie haben viel falsch gemacht, natürlich, ich auch. Sollten Sie aber Göttlichkeitsansprüche haben, also davon ausgehen, andere machen Fehler, Sie aber natürlich nicht, dann, so glaube ich ganz fest, lesen Sie dieses Buch ohnehin nicht.
Liebe Leserin, lieber Leser, liebe gewöhnlich Sterbliche, wir sind Suchende und Irrende unter uns. Vielleicht hilft uns Johann Wolfgang von Goethe weiter:
„Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen!“ Auch Goethe geht nicht davon aus, dass wir es ganz richtig machen können wir können uns nur strebend bemühen.
Viele Eltern wünschen sich sehnsüchtig Enkelkinder. Manchmal frage ich mich, warten sie wirklich auf den Nachwuchs oder warten sie darauf, dass ihre Kinder endlich aufhören sie zu kritisieren, weil sie erkennen müssen, dass auch sie es nicht perfekt schaffen, jetzt wo sie selbst Kinder aufziehen?
Aber gehört wirklich alles in die elterliche Verantwortung? Was ist mit den Diagnosen wie z. B. Autismus, Rett-Syndrom, Asperger-Syndrom, hyperkinetische Störung usw.? Gibt es nicht auch wirklich das schwierige Kind, das zum Schicksal seiner Eltern wird? Sophie Freud, die Enkelin von Sigmund Freud, hat auf einem Psychotherapiekongress in Wien ein Referat gehalten über „Das schwierige Kind“ und hinterließ auch das Bonmot: „So mancher kann sagen: Meine Kindheit haben meine Eltern ruiniert und mein späteres Leben meine Kinder!“
Dieser Respekt vor Eltern soll und darf uns nicht hindern, auf die Ungereimtheiten hinzuschauen, wahrzunehmen, dass es auch ganz anders sein kann.
Aber hier noch einmal die ganz dringende Bitte: Schauen Sie auf Ihre Kindheit.
Je besser Sie die eigene Geschichte klären, je mehr Sie sich die eigenen Wunden ansehen, umso mehr helfen Sie Ihren Kindern, denn Sie entlasten sie, die Schmerzen der elterlichen Verletzungen mit Ihnen teilen zu müssen.
„Aus Mutterliebe selbstverständlich, möchte man denken. Aber so verhält es sich durchaus nicht immer. Wie oft entsteht das Motiv, ein Kind zu gebären, aus dem unerträglichen Gefühl der Leere, der Angst, der Einsamkeit, ja einer verzweifelten Verlorenheit? Immer wenn eine Frau nicht weiter weiß, kann sie die Neigung überkommen, die Schwierigkeiten, die in ihrem eigenen Leben unlösbar erscheinen, buchstäblich in einem anderen Leben lösen zu wollen.“ 2
Unsere Kultur hat sich in die Vorstellung verliebt, dass es das Richtige und das Falsche gäbe. Dass das Gute und das Schlechte zu beobachten wären.
Was ist, wenn, wie der Volksmund sagt, jede Medaille zwei Seiten hat? Hat auch das Kinderkriegen zwei Seiten? Was ist mit jenen, die Kinder bekommen, damit sie nicht mehr außer Haus arbeiten müssen? Oder endlich das gute Recht haben, von zu Hause auszuziehen, schließlich „erwarten wir ein Kind“? Bedarf es des Nachwuchses, damit die Firma weiter bestehen kann? Was ist mit jenen ungeliebten Erwachsenen, die unbedingt ein Kind brauchen, damit es jemanden gibt, der sie lieb hat? Denken wir auch an jene, die gerne Macht haben, diese aber nirgends erreichen. Eine eigene, möglichst große Familie ist eine Chance, ein persönliches Königreich zu gründen. Partner und Kinder bilden die Untertanen, die dem König/der Königin Geltung und Ansehen verleihen.
Was man in der Jung’schen Psychologie „Schattenbewusstsein“ nennt und damit meint, eine Einsicht darin zu haben, dass „wo viel Licht ist, auch viel Schatten ist“ (Goethe), könnte uns jetzt weiterhelfen. Schattenbewusstsein heißt, man ist dazu fähig, sich auch die Nachteile oder die Problematik der eigenen Lebenseinstellungen und Lebenshaltungen einzugestehen. Ist fleißig nur gut oder heißt das auch, dass man wenig Zeit hat für die Familie? Ist abstinent nur gut oder bedeutet das auch, wenig Verständnis dafür zu haben, einmal auch ausgelassen zu sein?
Auch an die Philosophie von Georg Wilhelm Friedrich Hegel darf man denken, wenn er die Überlegung einführt, dass es zu jeder These eine Antithese gäbe und erst die Synthese von These und Antithese uns einem Ziel näher bringen kann. Ein kleines Beispiel dazu. Jemandem ist es besonders wichtig „vernünftig“ zu sein und er sieht sehr viel Sinn darin. Wenn man die Medaille umdreht, darf man auch überlegen, ob nicht auch Feigheit vor den Lebensrisiken dahinter steht. Vielleicht wird auch ein Überlegenheitsgefühl abgeleitet, nicht so „blöd“ wie andere zu handeln. Wenn ich Hegel richtig verstehen sollte, wäre es sinnvoll, sich Vor- und Nachteil der Vernünftigkeit zu überlegen und dann eine neue Synthese, eine Verbindung von beiden Seiten, herzustellen.
Ein Kind bedeutet auch Status, vor allem in einer bürgerlichen Gesellschaft.
Die Frau Kommerzialrat, die Frau Hofrat, die Frau Direktor, die Gemahlin des Schönheitschirurgen ist gut ausgestattet mit einem Kind und ebenso hebt es den Status des Gemahls. Ihr gibt es das Recht, nicht berufstätig zu sein. Es entbindet sie von dem Stress, den es in einem Wirtschaftsbetrieb, in einem politischen Amt oder in einer öffentlichen Institution gibt. Vielleicht beneidet sie in Worten ihren Mann um seinen gesellschaftlichen Auftrag und sieht nicht hin, dass viele dieser Berufe beinhart und nervenaufreibend sind. Auch hier fehlt das Schattenbewusstsein. Ihm gibt es das stolze Gefühl, ein rechtschaffener Bürger zu sein, der zum Fortbestand der Gesellschaft beigetragen hat. Ob es den Kindern gut geht, ob sie sich in Mathematik auskennen und ob sie Freunde haben, weiß er vielleicht gar nicht.
Wir müssen nicht gleich an die sexuell missbrauchten Kinder denken - auch wenn diese es bei Gott verdienen - ist es nicht ebenso Missbrauch, wenn ich ein Kind bekomme, weil ich es brauche? Brauche für mein soziales Ansehen? Es benützt habe, um einen Mann oder eine Frau zu fesseln und an mich zu binden? Weil ich ohne die Liebe eines Kindes am Leben verzweifle? Vielleicht sind sehr viel mehr Kinder „missbrauchte Kinder“, als wir uns je gedacht haben. Vielleicht sind wir auch selbst missbrauchte Kinder? Vielleicht ist die ganze Welt nicht so edel, wie sie sich gerne darstellt?
Die Überlegung ist durchaus legitim, ob nicht die Kinder, die einfach so passiert sind, wo keine problematischen Bedürfnisse und Defizite der Eltern der Hintergrund sind, ob diese Kinder nicht vielleicht die gesünderen Lebensbedingungen vorfinden. Hier gibt es keinen neurotischen Hintergrund der Eltern, den die Kinder auffüllen müssen.
Mir liegt es nahe die Frage zu stellen, ob nicht diejenigen Menschen ernsthafter und stimmiger im Leben stehen, die sich zumindest vorstellen können, dass nicht all ihr Tun als Titelstory der Kirchenzeitung geeignet ist. Wir alle sind nur „gewöhnliche Erdlinge“ voll leiderworbener Bedürfnisse und sind auch nicht besser als die anderen.
Zumindest in der westlichen Welt, die von manchen Forschern auch als „narzisstische Welt“ bezeichnet wird, wurde eine Haltung lieb gewonnen, die uns Menschen eher als edel, hilfreich und gut sieht. Es gibt schon auch das Dunkle, das Andere, von diesem lesen wir in der Zeitung, mit diesen Menschen und Vorgängen haben wir - die wir kulturell interessiert sind und sogar so ein Buch wie dieses hier lesen - nichts zu tun.
Es gibt Leute, die behaupten: „Was immer wir tun, wir tun es für uns!“ Liebe Leserin, lieber Leser, ich sehe, wie Sie sich empören. Zumindest in meinem Beruf, werden Sie im Brustton der Überzeugung sagen, da arbeite ich für die Anderen - für Kunden, für Schüler, für Patienten, für Schutzbefohlene usw.
Aber irgendetwas ist doch für einen selbst auch dabei. Wieso wollte ich gerade diesen Beruf oder diese Funktion haben? Wurde ich gezwungen Arzt, Lehrer, Krankenschwester, Sozialarbeiter, Geschäftsmann, Werbefachmann, Bauer, Politiker oder Psychotherapeut zu werden?
Was war wirklich dieser Motor in mir? Vielleicht kommen wir doch noch auf einen verständlichen Hintergrund.
„Jeder macht das, was er nicht kann!“, behauptet Rüdiger Dahlke. 3 Was ist, wenn der Banker den Umgang mit Geld übt und er ihn deshalb übt, weil er es bisher noch nicht konnte? Vielleicht will der Architekt die Fähigkeit, ein gemütliches Heim herstellen zu können, erlangen und eventuell übt er es, weil er das bisher nicht geschafft hat.
So haben wir, gerade wenn wir ein Thema zum Beruf machen, besonders viel Zeit und besonders viele Chancen unser Defizit aufzufüllen. Der Priester hat jetzt wirklich den Raum und viel Gelegenheit, sich mit dem Glauben auseinanderzusetzen. Der Arzt übt den Umgang mit dem Thema Tod. Ich denke, es ist an dieser Stelle legitim, gerade über dieses Beispiel nachzudenken. Geben denn nicht viele Ärzte noch eine Chemotherapie und sprechen von Heilung, statt mit dem Sterbenden über den Tod zu reden? Übt der Polizist den Umgang mit dem Verbrechen? Und wieder kann man überlegen, ob es für einen Polizisten nicht geradezu Berufsvoraussetzung ist, die Gedanken eines Verbrechers nachvollziehen zu können. Der Werbefachmann trainiert andere, sich gut zu verkaufen. Ist das vielleicht gerade sein eigenes Thema? Ich kenne Werbefachleute, die sich privat gar nicht gut verkaufen können. Der Psychotherapeut übt Beziehung und nicht nur der Klient. Der Komiker bemüht sich Stimmung und Fröhlichkeit zu erzeugen und wir wissen von Komikerfamilien, dass es dort oft sehr traurig zugeht. Jeder kennt das Bild vom Clown mit der Träne. Sind Komiker vielleicht manchmal depressive Menschen? Der Politiker versucht die Welt zu verbessern und will sich selbst beweisen, dass er das kann. Wäre es möglich, dass er dazu in seiner Familie besonders wenige Chancen hatte? Wäre es denkbar, dass ein Schauspieler zu Hause so gar keine Bühne hatte, wo er gehört und wahrgenommen wurde?
Somit möchte ich Respekt dafür empfinden, dass wir Menschen offensichtlich doch weiterkommen wollen. Dass wir unser Manko heilen möchten und somit für eine Entwicklung bereit sind.
Wer sich anfangs über den Satz „Jeder macht das, was er nicht kann!“ geärgert hat und geneigt war, ihn als esoterischen Schwachsinn abzutun, muss bei näherem Hinsehen erkennen, dass wir bei Sigmund Freud mit seiner Theorie vom „Neurotischen Wiederholungszwang“ und bei C.G. Jung mit der Idee von der „Individuation“ auch auf das Gleiche stoßen.
Neurotischer Wiederholungszwang heißt vereinfacht ausgedrückt, dass wir das ungelöste Thema der Kindheit im späteren Leben re-inszenieren. Jetzt verstehen wir auch, wieso wir so oft immer wieder ins gleiche Fettnäpfchen treten, immer wieder die falschen Personen heiraten und sich gewisse Probleme oft und oft wiederholen. Und wo habe ich die meisten Wiederholungsmöglichkeiten? Im Beruf, in der Familie und mit meinen Kindern!
Individuation meint, dass bei allem Respekt vor der ungeheuren Bedeutung der Sexualität ein Trieb in uns Menschen noch stärker angelegt wäre, nämlich der, uns zu entwickeln, weiterzukommen. Und wo habe ich besonders viele Möglichkeiten meine Reifung und Entwicklung voranzutreiben, wenn nicht im Beruf, in der Familie und mit Kindern.
Nun, auf welche elterlichen Bedürfnisse treffen Kinder? Hier müssen wir unterscheiden: Sind es Kinder oder ist es ein Kind? Lastet die ganze Wucht der elterlichen Nachholbedürfnisse auf nur einem Kind, kann es allzu leicht überfordert sein, vielleicht sogar zusammenbrechen.
Ich beziehe mich auf eine Studie von Hartmut Kasten 4 und zitiere daraus:
Ende des 19. Jahrhunderts lebten in einer deutschen Durchschnittsfamilie 5 Kinder.
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges waren es nur noch 3 Kinder.
Zwei Jahrzehnte später waren es nur noch 2 Kinder.
1990 lebten nur noch 1,4 Kinder in einer Familie.
Nur in 35% der deutschen Haushalte wachsen noch Kinder auf.
Kasten weist auch darauf hin, dass Einzelkinder etwas seltener als Geschwisterkinder in „regulären Familienverhältnissen“ aufwachsen. Dieser Zusammenhang ist wohl aus psychologischer Sicht leicht nachvollziehbar. Es macht doch nur dann Sinn und Menschen werden nur dann wirklich motiviert sein, ein Kind in die Welt zu setzen, wenn man als Eltern das Gefühl haben kann, dass das Leben schön und erfüllend ist. Es ist nur allzu verständlich, dass Eltern, die einander lieben, somit selbst glücklich sind, weit eher mit einem guten Gefühl wieder Kinder in die Welt setzen. Ebenso ist es begreiflich, dass eine Mutter, die nicht die Liebe ihres Partners spürt oder umgekehrt, die sich zwar von einem Mann schwängern ließ, ihn aber nicht wirklich achten und lieben kann, keine weiteren Kinder in diese „schreckliche“ Welt setzen möchte. Man findet daher in den Lebensgeschichten von Einzelkindern etwas häufiger Scheidung, Patchworkfamilie, und alleinerziehende Elternteile, ebenso Heimaufenthalte, Adoption und Pflegefamilien.
Um Missverständnisse zu vermeiden, immerhin 79,4% der Einzelkinder leben ganz normal mit ihren Eltern.
Zur Verdeutlichung eine statistische Übersicht:
Familientyp | verheiratet | geschieden | verwitwet | ledig |
Ein-Kind-Familie | 79,4% | 11,1% | 1,6% | 7,9% |
Zwei-Kind-Familie | 87,9% | 7,6% | 2,6% | 1,9% |
Drei-und-Mehr-Kinder-Familie | 88,3% | 7,3% | 3,7% | 0,7% |
Auch Eltern von Einzelkindern unterscheiden sich statistisch ein wenig von Mehrkind-Eltern. So beschreibt Kasten, dass den Eltern von Einzelkindern besonders wichtig wären: Schulleistung, Verantwortungsbewusstsein und Selbstvertrauen. Diese Eltern sind auch häufiger beide berufstätig und sind auch manchmal materialistischer und mehr karriereorientiert. Diese Eltern sind in akademischen, selbstständigen und in qualifizierten handwerklichen oder technischen Berufen überrepräsentiert. Einzelkindfamilien sind häufiger in Großstädten anzutreffen und in diesen Familien gibt es eher eine partnerschaftliche Haushaltsführung, was bedeutet, dass die Männer ebenso einkaufen, kochen usw.
Man kann der Studie auch entnehmen, dass Einzelkinder signifikant mehr Stunden wöchentlich außerhalb der Familie betreut werden, dass sie häufiger in eine Betreuungseinrichtung (Krippe, Kindergarten usw.) kommen. Einzelkinder werden mehr als Geschwister von den Großeltern versorgt oder von einer Tagesmutter.
Als Erklärung weist auch Kasten darauf hin, dass Einzelkinder häufiger als Geschwister in vom „Normalfall“ abweichenden Verhältnissen aufwachsen und auch häufiger einen strukturellen familiären Wechsel wie Scheidung, Trennung, Wiederverheiratung usw. miterleben.
Kasten, der auch viele andere Untersuchungen studiert hat, kommt zu folgen der Ansicht: „Die meisten Untersuchungen untermauern jedoch auch, dass das Ideal der Zwei-Kind-Familie nach wie vor Gültigkeit besitzt. Die Mehrheit der befragten Frauen und Männer scheinen die Norm, dass eine normale, glückliche Familie aus Vater, Mutter und mindestens zwei Kindern bestehen muss, verinnerlicht zu haben. Zu einer Verwirklichung dieser Einstellung kommt es jedoch nur bei einer hohen Gesamtzufriedenheit mit der aktuellen Lebenssituation.“ 5
Ein Einzelkind wird nicht von Geschwistern relativiert. In der Mehrkindfamilie erlebt jeder Einzelne, dass immer irgendeiner etwas besser kann. Franz singt schöner. Maria ist besser in der Schule, Karl läuft schneller und Helga kann sich am besten beim Papa einschmeicheln. Diese Erfahrungen führen nicht nur näher zur Realität, sie relativieren auch einiges. Man kann das als wichtige Einschulung in eine realistische Zukunft sehen, aber auch als Hindernis.
Das Einzelkind kann relativ lange nach den Sternen greifen und daran glauben, dass ihm alle Türen und Tore offen stehen. Scheinbar beweisen das viele klingende Namen wie: Karlheinz Böhm, Elvis Presley, Ella Fitzgerald, Clark Gable, Alan Greenspan, John Lennon, Elton John, Franklin D. Roosevelt, Joseph Roth, Anna Netrebko, Shakira, Carlos Kleiber, Sören Kierkegaard, Thomas Bernhard, Peter Handke, Oskar Werner, die drei Astronauten der ersten Mondlandung Neil Armstrong, Michael Collins und Edwin Aldrin.
Natürlich ließe sich auch eine lange Liste berühmter Persönlichkeiten aufzäh-
len, die in Mehrkindfamilien aufgewachsen sind, aber wir richten hier den Blick auf das Einzelkind. Zwei konkrete Beispiele:
Wikipedia berichtet, dass Kästner in Dresden als einziges Kind seiner Eltern zur Welt gekommen ist: Sein Vater war Sattlermeister, die Mutter Dienstmädchen und erlernte später den Beruf einer Friseurin. Zu seiner Mutter hatte Kästner eine äußerst intensive Beziehung. In seiner Leipziger und Berliner Zeit verfasste er täglich vertrauteste Briefe oder Postkarten an sie. Auch in seinen Romanen lässt sich immer wieder das Motiv der „Übermutter“ finden. Später kam das Gerücht auf, dass der jüdische Arzt Emil Zimmermann, der Hausarzt der Familie, sein leiblicher Vater gewesen sei. Dieses Gerücht wurde jedoch nie bestätigt.
Es passt dazu, dass Kästner in seiner Biografie schreibt: „Von den Vorfahren
meines Vaters zu erzählen macht nicht die geringsten Schwierigkeiten. Denn ich weiß nichts über sie.“ 6
Der mütterlichen Familie wird aber großer Raum gegeben und schon die Vorfahren werden sehr liebevoll geschildert: „Ja, die Augustins waren ein verwegenes Geschlecht! Aber es half ihnen nicht recht weiter. Obwohl sie Scheunen, Gärten und Wiesen kauften, Hopfen bauten und nicht nur Brot buken, sondern auch Bier brauten.“ 7
Liebevoll erzählt Kästner weiter über seine Mutter: „Was war wohl für ein hübsches, aber armes Mädchen besser? Vor Offizieren davonzulaufen? Gelähmten Damen dumme Bücher vorzulesen und darüber einzuschlafen? Oder sich zu verheiraten und alte Sorgen gegen neue einzutauschen? Hagelwetter gab es überall. Nicht nur dort, wo die Kirschenalleen übers Land liefen.“ 8
Aber eine gute, enge und herzliche Beziehung zur Mutter zu haben, hat auch Schattenseiten. So findet Kästner über diese von ihm so innig geliebte Mama auch andere Worte: „Ida Kästner wollte die vollkommene Mutter ihres Jungen werden. Und weil sie das werden wollte, nahm sie auf niemanden Rücksicht, auch auf sich selber nicht und wurde die vollkommene Mutter. All ihre Liebe und Phantasie, ihren ganzen Fleiß, jede Minute und jeden Gedanken, ihre ganze Existenz setzte sie, fanatisch wie ein besessener Spieler, auf eine einzige Karte, auf mich. Ihr Einsatz hieß: ihr Leben mit Haut und Haar!
Die Spielkarte war ich. Deshalb musste ich gewinnen. Deshalb durfte ich sie nicht enttäuschen. Deshalb wurde ich der beste Schüler und der bravste Sohn. Ich hätte es nicht ertragen, wenn sie ihr großes Spiel verloren hätte. Da sie die vollkommene Mutter sein wollte und war, gab es für mich, die Spielkarte, keinen Zweifel: Ich musste der vollkommene Sohn werden.“ 9
Wir können uns jetzt fragen, wie das Leben Erich Kästners verlaufen wäre, hätte er Geschwister gehabt. Einerseits wäre er entlastet gewesen, denn die Mutter hätte mehrere Spielkarten gehabt, anderseits war es vielleicht auch der Antrieb, zu dem zu werden, was er wurde, ein berühmter Schriftsteller. Kästner war Einzelkind, seine Eltern hatten eine unglückliche Ehe und er wurde besonders geehrt und ausgezeichnet als Kinderbuchautor. War seine Lebenserfahrung der Hintergrund, vor dem er das Leid und die Vielfalt einer Kinderseele so tief und ehrlich erspüren konnte? Sein Buch „Emil und die Detektive“ wurde in 59 Sprachen übersetzt und auch verfilmt!
Aber auch hier ein kritischer Einschub: Heißt berühmt sein auch glücklich sein?
Johann Wolfgang von Goethe, selbst kein Einzelkind, formuliert in diesem Zusammenhang in einem Brief:
„Dienstag, den 27. Januar 1824
Man hat mich immer als einen vom Glück besonders Begünstigten gepriesen; auch will ich mich nicht beklagen und den Gang meines Lebens nicht schelten. Allein im Grunde ist es nichts als Mühe und Arbeit gewesen, und ich kann wohl sagen, dass ich in meinen fünfundsiebzig Jahren keine vier Wochen eigentliches Behagen gehabt. Es war das ewige Wälzen des Steines, der immer von neuem gehoben sein wollte. Meine Annalen werden es deutlich machen, was hiermit gesagt ist. Der Ansprüche an meine Tätigkeit, sowohl von Außen als auch von Innen, waren zu viele.“
Soviel zu der Frage, ob berühmt oder prominent sein auch glücklich sein bedeutet.
Kästner war Hospitant am König-Georg-Gymnasium und war dort der Beste in allen Gegenständen außer in Englisch. Das Kriegsabitur bestand er so gut, dass er das Goldene Stipendium der Stadt Dresden bekam. Er studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Theatergeschichte.
Zuletzt noch eine charakteristische Begebenheit. Während des Studiums gab ihm seine Mutter am Anfang des Semesters 800 Mark, um davon zu leben. Am Ende des Semesters brachte Kästner seiner Mutter 400 Mark zurück. Wie nahe mussten sich die beiden wohl gefühlt haben?
Wie schwierig diese Mutterbeziehung war, können Sie auch im Kapitel „Die herzkranke Mutter“ nachlesen. Aber immer wieder zeigt sich, dass nichts mehr bindet als eine problematische Elternbeziehung. Es ist ganz offensichtlich, dass Kinder ewig in der Warteschleife bleiben und hoffen und hoffen, doch noch das zu bekommen, was sie so dringend gebraucht hätten - die Liebe. Kein noch so gut gemeinter Hinweis, zur Kenntnis zu nehmen, dass sie es nie bekommen werden, dass doch andere da sind, wie Partner und Freunde, nichts kann diese Menschen zurückhalten, ewig zu warten und zu warten. Dass dabei oft das ganze Leben an diesen Menschen vorbeizieht, ändert auch nichts.
Erich Kästner schildert im Kapitel „Meine Mutter, zu Wasser und zu Lande“ seine Gefühle der Mutter gegenüber: „Und noch einmal - weil eben von Fels und Fluss und Wiesen die Rede war - will ich die Fanfare an die Lippen setzen und das Lob meiner Mutter in die 3 Lüfte schmettern, dass es von den Bergen widerhallt. Aus allen Himmelsrichtungen antwortet das Echo, bis es klingt, als stimmten hundert Waldhörner und Trompeten, Frau Kästner zu Ehren, in mein Preislied ein. Und schon mischen sich die Bäche und Wasserfälle ins Konzert, die Gänse auf den Dorfstraßen, die Hämmer von der Schmiede, die Bienen im Klee, die Kühe am Hang, die Mühlräder und Sägewerke, der Donner überm Tal, die Hähne auf dem Mist und auf den Kirchtürmen und die Bierhähne in den abendlichen Gasthöfen. Die Enten im Tümpel schnattern Beifall, die Frösche quaken Bravo, und der Kuckuck ruft von weither seinen Namen. Sogar die Pferde vorm Pflug blicken von der Feldarbeit hoch und wünschen dem ungleichen Paar (gemeint sind Kästner und seine Mutter) auf der Landstraße wiehernd gute Reise.“ 10
Schon beim Lesen wird man müde, aber Kästner war es wert, seine Liebe zur Mutter so ausführlich darzustellen.
Ist es verwunderlich, dass Kästner ein Leben lang unverheiratet geblieben ist und das, obwohl er keineswegs homosexuell war?
Marilyn Monroe hatte zwar zwei Halbgeschwister, die aber bei ihrem Vater aufgewachsen sind, somit war Marilyn psychologisch betrachtet ein Einzelkind.
Nicht immer, aber oft, bleibt es deshalb beim Einzelkind, weil die Eltern keine stabile Liebesbeziehung aufbauen konnten. Marilyns Mutter war eine psychisch labile Frau, wurde arbeitslos, kam in psychiatrische Kliniken und konnte ihrer Tochter kein Zuhause bieten. Ein Vater wird zwar von Biographen genannt, es ist aber immer unsicher geblieben, wer tatsächlich Marilyns „Erzeuger“ war. Den Großteil ihrer Kindheit verbrachte sie in Kinderheimen und Waisenhäusern. Auch die Zeit bei Pflegeeltern wurde abrupt unterbrochen und, um einer weiteren Heimeinweisung auszuweichen, heiratete Marilyn 16-jährig.
Nur kurz war sie Fließbandarbeiterin, denn sie wurde bald von einem Fotografen entdeckt. Marilyn entschied sich für die Karriere und gegen die Ehe. Kleine Filmrollen folgten, sie nahm Schauspielunterricht. 28-jährig heiratete sie zum zweiten Mal. Dies sollte eine Beziehung sein, die trotz ihrer kurzen Dauer Qualität hatte, und die beiden blieben noch lange in Verbindung. Über diesen zweiten Ehemann meinte sie einmal: „Er hat mich als etwas Wertvolles behandelt.“ 11 Schon zwei Jahre später heiratete sie den Dramatiker Arthur Miller. Aber auch diese Ehe konnte ihr nicht die erhoffte Erfüllung bringen. Die Geborgenheit und Unterstützung, die die extrem unsichere und schüchterne Marilyn so dringend gebraucht hätte, konnte sie wieder nicht finden. Ihren Biographen zufolge suchte sie in ihren Männern immer den Vater, den sie nie gehabt hat. Jetzt versteht man auch, warum sie alle Ehemänner „Daddy“ nannte („Her Heart belongs to Daddy“).
Die Star-Rolle überforderte sie, Alkohol und Drogen machten immer wieder Klinikaufenthalte notwendig. Sie bekam Konzentrationsprobleme, konnte sich die Texte nicht merken, wurde bei den Proben immer unpünktlicher, sodass Billy Wilder trotz großer Erfolge und bei aller Liebe und Freundschaft die Zusammenarbeit mit ihr als Albtraum bezeichnete. Einmal meinte sie: „Ich will Künstlerin sein, kein erotischer Freak. Ich will nicht mehr der Öffentlichkeit verkauft werden als Aphrodisiakum auf Zelluloid.“ 12
Im Alter von 36 Jahren starb Marilyn Monroe in ihrem Haus, unter nicht ganz geklärten Umständen.
Wo konnte sich Marilyn Monroe anhalten? Bei der Mutter nicht, der Vater war abwesend und Geschwister hatte sie nicht. Ist ihr Schicksal nicht nachvollziehbar?
Wieso war sie ein Sexsymbol? Ich glaube, man kann die Vermutung wagen, dass sie sehr früh die Erfahrung gemacht hat, mit ihrer erotischen Ausstrahlung Beachtung und Zuwendung zu bekommen. Ein von den Eltern geliebtes Kind aber bekommt Zuwendung und Liebe einfach, weil es da ist, und nicht für das Eine - für einen erotischen Körper. Dieses geliebte Kind muss zumindest anfangs gar nichts dafür leisten. Die Eltern freuen sich über sein Singen, Plappern, Rülpsen und überhaupt über sein Dasein. Es ist willkommen und geliebt, weil es gekommen ist.
Marilyn hat mit ihrem Sexappeal ihre Nische gefunden, mit der sie endlich etwas bekam, das wie Liebe aussah, aber leider nicht war. So blieb sie bis zu ihrem tragischen Tod eine erfolglos Suchende und vielleicht spricht uns ihr Schicksal so an, weil wir möglicherweise alle Suchende sind.
„In Hollywood ist die Tapferkeit und Tugend einer Frau weniger wichtig als ihre Frisur. Hollywood ist der Ort, wo sie dir 1000 Dollar für einen Kuss zahlen und 50 Cent für deine Seele.“ 13
Elvira und Manfred sind beide ohne Geschwister aufgewachsen. Die Eltern sind achtbare und interessante Persönlichkeiten. Trotzdem haben die beiden die Einzelkind-Problematik hautnah erlebt. Beide wissen heute nur zu gut, dass die Erwartungen der Eltern zu goldenen Fesseln werden können, und sie sind es auch geworden. Golden deswegen, weil man spürte, dass alle Erziehungsmaßnahmen gut gemeint waren und weil man wahrgenommen hat, dass hinter fast allen elterlichen Argumenten durchaus auch Richtiges und Sinnvolles verborgen war.