Anette und Peter Horn

In einer fenster- und türlosen Zelle

Die Romane Franz Kafkas

ATHENA

Beiträge zur Kulturwissenschaft

Band 34

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Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht

1 Was heißt die Tautologie: »nur der Text Kafkas stimmt mit Kafkas Text überein«?

»Alles ist Phantasie, […] Wahrheit aber ist nur daß du den Kopf gegen die Wand einer fenster- und türlosen Zelle drückst.« (T 869)

Dass Kafkas Texte der Interpretation große Schwierigkeiten entgegensetzen und dass eine allzu rasche Allegorisierung seiner Texte sie verfehlt, hat sich inzwischen durchgesetzt, ja Jahraus (2006: 157) ist sogar der Auffassung, dass Kafkas Werk die Grundlagen, Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation selbst in Frage stellt. Kaul (2010: 9) findet, dass sowohl die Vieldeutigkeit als auch die Undurchdringlichkeit der Texte Schwierigkeiten macht, und sieht in der Kafka-Forschung folgerichtig »weniger die Suche nach neuen Entdeckungen als vielmehr die Deutung dessen, was in den Texten vorzufinden ist.« Jede Interpretation Kafkas müsse nicht nur den eigentlichen Text, sondern auch die mit ihm verbundene Interpretationsproblematik zum vorrangigen Thema erheben: »Bevor man Kafka interpretiert, muss man die Frage klären, warum es schwierig ist, Kafka zu interpretieren.« (Jahraus 2006: 161)[1] Voigts (2008: 65) behauptet, bei Kafka seien »die üblichen Kategorien nicht anwendbar, weil kein vom Text unabhängiger und ablösbarer Sinn durch den Text vermittelt werden soll.« Auch Brod (1966: 249) meint: »wahrscheinlich gibt es für jedes Symbol Kafkas eine unendliche Folge von Deutungen«.

Dafür, dass es eine enge Verbindung zwischen dem Leben Franz Kafkas und seinem Schreiben gibt, zeugen nicht nur zahlreiche Studien zu den biografischen Details, die auf die eine oder andere Weise in Kafkas Werke eingegangen sind, sondern auch zahlreiche Hinweise Kafkas selbst. Genau worin diese Verbindung besteht, ist allerdings immer noch ein strittiger Punkt. Die Tatsache, dass alle Texte Kafkas autobiografische Elemente enthalten, sollte zu besonderer Vorsicht anhalten, denn sie bleiben im fiktionalen Text Fiktionen. (Stern 1972: 114) Zimmermann (1985: 13) ist der Auffassung, man dürfe Kafkas literarische Texte nicht »als Reflex von Kafkas Leben« lesen und ein Rückgriff auf Kafkas Biografie sei nicht hilfreich: »War ein Ereignis aus dem Leben des Autors Anlaß zur Niederschrift des Textes – etwa Verlobung, Entlobung etc. – so ist der Text noch lange nicht mit diesem Ereignis identisch, also auch nicht mit diesem Ereignis ›erklärt‹.« In diesem Sinne argumentiert auch Martin Walser (1972: 9): Franz Kafka sei ein Dichter, »der seine Erfahrung so vollkommen bewältigt hat, daß der Rückgriff auf das Biographische überflüssig ist. Er hat die Verwandlung der Wirklichkeit schon vor dem Werk vollzogen, indem er seine bürgerlich-biographische Persönlichkeit reduziert, ja zerstört, um einer Ausbildung willen, die die Persönlichkeit als Dichter zum Ziel hat; diese dichterische Persönlichkeit, die ›poetica personalita‹ fundiert die Form.« Auch Sander Gilman (2005: 10) meint, Kafka eliminiere sich selbst als historische Figur aus seinen Texten. Kafka selbst beschreibt sich als Schriftsteller so: »Ich will niemanden sehen, ich will mich durch keinen Anblick verwirren lassen, beim Schreibtisch, das ist mein Platz, den Kopf in meinen Händen, das ist meine Haltung.« (NSF II: 16) Die meisten Interpretationen gehen aber dennoch von außerliterarischen, oft biografischen, psychologischen oder soziologischen Analysen der Texte aus, als seien die literarischen Texte nur leicht verschlüsselte autobiografische, psychologische Dokumente, oder so, als erkläre die Umwelt Kafkas schon den literarischen Text.[2] Das trifft auch auf die Deutung zu, nach der z. B. »K. als der von seinem Unbewußten (dem Dorf, dem Schloß) abgeschnittene Mensch ist« oder Kafkas Werke als »Allegorie des Judentums« begriffen werden,[3] diese Deutungen »suchen die Fluchtpunkte der Interpretation außerhalb des Textes.« (Binder 1979, 2: 453)[4] Marthe Robert (1985: 27) betont dagegen, dass wir die autobiografischen Schriften und damit auch die Psychologie des Autors Kafka nicht ganz vernachlässigen dürfen: »Diese autobiographischen Dokumente, die in seinen Tagebüchern, in seinen Briefen und in den verschiedenen Heften verstreut sind und, vergessen wir es nicht, ausnahmslos verbrannt werden sollten, sind die einzig zuverlässigen Quellen zu unserem Thema, an denen sich mit guten Gründen nicht zweifeln läßt«. Nur die Beschäftigung mit diesen Quellen könne »Kritiker vor mehr oder weniger tendenziösen Hypothesen und Auslegungen« bewahren.

Hartmut Binder (1993: 153) kritisiert die Beliebigkeit der Interpretationen, die »Kafkas Werke ganz nach Wunsch und Belieben als Ausdruck einer latenten Homosexualität des Autors, als Darstellung des christlichen Trinitätsdogmas, der Aufarbeitung der Geschichtsspekulationen Nietzsches oder welcher Lehre auch immer, die der jeweilige Interpret glaubt, propagieren zu müssen.«[5] Die Erfahrung, die der Leser Kafkas z. B. mit der theologischen Auslegung seit Max Brod gemacht hat, ist, dass sie – bei mancher bedenkenswerter Auslegung im Detail – Kafkas Werk Gewalt antun muss, wenn sie es in das Schema einer umfassenden Göttlichkeit einzufügen versucht.[6] Ebenso geht es dem Leser mit der biografischen und psychoanalytischen Auslegung. Unzureichend bleiben aber auch jene Interpretationen, die das Gesellschaftliche und das Gesellschaftskritische ohne Vermittlung mit dem Psychologischen zu analysieren versuchen. Schließlich greifen auch jene an Kafkas Schriften vorbei, die in einer strukturalen Analyse den psychologischen, soziologischen und biografischen Nährboden von Kafkas Erzählkunst völlig aus ihrer Betrachtung ausschalten. Wenn Martin Walser (1972: 9) zum Beispiel seine Studie zu Franz Kafka mit folgenden Worten einleitet, – »Je vollkommener die Dichtung, desto weniger verweist sie auf den Dichter. Bei der nicht vollkommenen Dichtung ist der Dichter zum Verständnis nötig; dann ist das Werk nicht unabhängig geworden von der Biographie des Dichters« – und damit alle »dichtungsfremden Kommentare« abzuweisen versucht, postuliert er eine Autonomie der Dichtung, die die Verwurzelung der Literatur im gesellschaftlichen Subjekt einfach negiert. Dennoch sammelt er auf eben dieser ersten Seite seines Versuchs ausreichendes Material, das seine These von dem Aufgehen der Persönlichkeit Kafkas in seiner »poetischen Persönlichkeit« belegen soll, aber eben gerade dadurch die Verknüpfung des gesellschaftlichen Subjekts Kafka mit dem, was er »Schreiben« nannte, demonstriert.

Schließlich dürfen wir die metaphorische Herkunft der Sprache nicht vergessen. Kafka selbst hat über die Probleme der Sprache, ihre grundsätzliche Metaphorizität und daher ihre Nicht-Eindeutigkeit geschrieben: »Die Metaphern sind eines in dem Vielen, was mich am Schreiben verzweifeln läßt.« (T 875) Wir können natürlich ihre Unabhängigkeit von den Fesseln der Referenz ausnützen, um Mythen oder Kunst zu schaffen. In Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn sagt Nietzsche (1954a: Bd. 3, 312–313): »Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden, und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen.«[7] Und kommt zu dem Schluss: »Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind« (Nietzsche 1954a: Bd. 3, 314).[8] Über die Grenzen der Sprache schreibt daher Kafka: »Die Sprache kann für alles außerhalb der sinnlichen Welt nur andeutungsweise, aber niemals auch nur annähernd vergleichsweise gebraucht werden, da sie entsprechend der sinnlichen Welt nur vom Besitz und seinen Beziehungen handelt.« (NSF II: 126)[9] Harman (2011: 48f.) warnt aber davor, die Ablehnung der figurativen Sprache zu weit zu treiben und Kafkas Gabe zur Metapher aus dem Auge zu verlieren. Seiner eigenen Sprache stand er manchmal extrem kritisch gegenüber: »Kein Wort fast das ich schreibe paßt zum andern, ich höre wie sich die Konsonanten blechern an einander reiben und die Vokale singen dazu wie Ausstellungsneger. Meine Zweifel stehen um jedes Wort im Kreis herum« (T 130). Selbstkritisch meinte er: »In der deutschen Sprache bin ich nur Gast, als Gast kann ich und mag ich mir keinerlei Extravaganzen erlauben.« (Zit. Brod 1966: 177)

Kafkas Aphorismus – »Psychologie ist Lesen einer Spiegelschrift, also mühevoll, und was das immer stimmende Resultat betrifft, ergebnisreich, aber wirklich geschehen ist nichts« (NSF II: 100) – könnte den Interpreten nicht nur der Werke Kafkas dazu bringen, am Geschäft des Interpretierens überhaupt zu verzweifeln. Jede Psychologie bleibt hinter dem zurück, was in Kafkas Text geschieht. Was Kafka selbst schon angedeutet hat – Psychologie ist Ungeduld – und Benjamin behauptet hat – Psychologie sei einer der zwei Wege Kafka zu verfehlen, – ist inzwischen Gemeingut der Forschung. Kafkas Ausruf »Zum letztenmal Psychologie« (NSF II: 81) und seine Anmerkung, er »sehe in dem therapeutischen Teil der Psychoanalyse einen hilflosen Irrtum« (NSF II: 341) ist oft zitiert worden. Beicken (1974: 201) präzisiert allerdings: »Sein Schlachtruf ›Zum letztenmal Psychologie‹ richtet sich gegen die ›deskriptive Psychologie‹ Franz Brentanos, für den psychischer Akt und Bewußtsein dasselbe sind.« Binder (1966: 60ff.) schreibt über Brentano: »Seine Psychologie ist Bewußtseinspsychologie: Psychisch darf heißen, was bewußt ist« daraus folgert er: »Für den Psychologen gibt es keine Seele«. Brentano geht davon aus, »daß Sinneswahrnehmungen trügen können.« Denn »Psychische Phänomene erscheinen im Bewußtsein als Vorstellungen« und »Vorstellungen geben noch keine Erkenntnis.« (Ebd.: 61)[10] Martin Walser (1972: 36) geht soweit, zu behaupten, Kafkas Menschen seien »nicht ›wahr‹ im psychologischen Sinne, sie sind nicht ›wirklich‹ im empirischen, nicht ›menschlich‹ im anthropologischen und nicht ›natürlich‹ im biologischen Sinne.« Sie seien in seiner Welt nur »notwendig« und sie seien nichts weiter als eine »Funktion in der organisierten Welt«.[11] Ebenso sind die existenziellen Deutungen der 60er-Jahre, z. B. Fritz Martinis Beschreibung des Romans als einer des menschlichen Daseins überhaupt, fragwürdig.[12] Goldschmidt (2010: 42) versucht das zu vermeiden, ohne auf das Philosophische zu verzichten: »Kafka verschiebt nicht Philosophisches ins Literarische, er findet das Philosophische im Literarischen.«

Beicken (1974: 199) erwähnt andererseits die Möglichkeit, »Kafka habe bewußt die Theorien der Psychoanalyse bei der Abfassung seiner Werke angewandt.«[13] Auch Hiebel begründet den tiefenhermeneutischen Ansatz seiner beiden Arbeiten von der hermetischen Schreibweise Kafkas her, die einen Zugang, wenn schon keine »Entschlüsselung« nur über die Analyse unbewusster Textanteile erlaubt. Der psychoanalytische Ansatz Lacans soll Kafkas Texte entschlüsseln. Dass Kafkas Texte »Mythen des Unbewussten« sind, ist ein plausibler Ansatz, den wir unten weiter differenzieren werden. Hiebels Gebrauch des Wortes »unbewusst« bezieht sich auf das »Unbewusste sozialer Rechts- und Machtverhältnisse wie auch aufs Unbewusste im engeren, im psychoanalytischen Sinne«. (Hiebel 1989: 78) Entscheidend ist dabei, dass er im Gegensatz zu den meisten bisherigen psychoanalytischen Arbeiten zu Kafka die Texte nicht als Dokumente zu einer posthumen Analyse des Schriftstellers verwendet; das Werk und nicht der empirische Autor ist Gegenstand der Analyse. Die psychologische Perspektive seiner Arbeit richtet sich ausdrücklich nicht »auf die Biographie des Autors, gar seine mutmaßlichen Psychopathien, sondern auf das, was in den Texten selbst am Werk ist«. (Hiebel 1989: 14)[14]

Das zeigt sich besonders überzeugend dort, wo Hiebel die Struktur dieser Texte als eine atemporale entziffert und nachzuweisen vermag, »daß das temporale Syntagma nur einen Konflikt inszeniert, eine Zuständlichkeit«. (Hiebel 1984: 73) Die »mythische Logik«, die sich bei einer solchen Lesung des Textes darbietet, ist nach Hiebel die des »double bind«, der das Subjekt in einem nie vollzogenen Fluchtversuch in eine frenetische Bewegung am Ort versetzt: denn »flieht der Sohn, so bleibt er dem Vater unterworfen, bleibt er, so wird er ihm unterworfen. Er hat nur die ›Wahl zwischen Selbstentmannung oder Entmannung des Vaters‹.« (Hiebel 1989: 118) Ergebnis dieser ausweglosen Situation ist: »das Über-Ich hat das Es eingefroren«, (Hiebel 1989: 27) so »daß von dem verdrängten Begehren überhaupt nur noch der Unterdrückungsmechanismus geblieben ist«. (Hiebel 1989: 27) Diese Struktur des double bind erweist sich als ein immer wiederkehrender Grundgestus auch der Sprache Kafkas: Geh, aber bleib! Lebe, aber töte dich! Liebe, was du nicht lieben darfst! Die Paradoxie und Unentschiedenheit, die bis in die Struktur einzelner Sätze hinein zu verfolgen ist, gipfelt in der Formel, Wunsch = Kastration. Das Sein einer Sache ist immer auch ihr Nichtsein, Leben ist immer auch Tod. Der Vater und Machthaber seinerseits ist von derselben Paradoxie[15] bedroht; die Familie und ihr Begehren zerstört notwendigerweise das Subjekt, das sie durch ihr Begehren herzustellen versucht. Hiebel kann sich dabei auf Kafkas Darstellung des »Familientiers« berufen, auf seine Einsicht in die Ursachen seiner eigenen Zerstörung: »Der Vater hämmert dem Kind seine Ideale ein und ›zerhämmert‹ es dabei« (Br 345) […] Die Erziehung zum unselbstständigen, ›schwächlichen, ängstlichen‹ Menschen voller ›Schuldbewußtsein‹ (H 164, 185) wird durch den Narzißmus der Eltern – auch der Mutter – befördert: durch die ›tierische, sinnlose, sich mit dem Kinde immerfort verwechselnde Liebe‹ (Br 346)«. (Hiebel 1984: 126)

Hiebel spricht nicht wie andere Kafka-Interpreten vom Schuldigsein der Gestalten Kafkas, sondern davon, dass sie schuldig gemacht werden (Culpabilisierung). Die Erbsünde ist die Installierung des Schuldbewusstseins im Einzelnen, und dieses Schuldbewusstsein blockiert (als Erinnerung – wie Deleuze und Guattari zeigen) den Wunsch. Der Wunsch ist von seinem Ziel durch das »Bild«, das Glas und den Rahmen getrennt, den Rahmen der Gesellschaftlichkeit, die den Wunsch immer schon in einen verbotenen Wunsch transformiert: »Das eingerahmte, verbotene Foto, das man nicht berühren, nicht lieben kann, das nur durch seinen Anblick Genuß verschafft, gleich dem durch Dach und Decke beengten Wunsch, dem unterworfenen, unterdrückten Verlangen.« (Deleuze und Guattari 1976: 8) Hier, so meinen sie, zeigt sich: »Die Erinnerung blockiert den Wunsch […] Sie ist eine Sackgasse.« (Deleuze und Guattari 1976: 8) Die »Erinnerung« in Deleuze und Guattaris Sprachgebrauch ist jenes immer schon verfälschende Festhalten am Vergangenen, das alles Geschehene als »schuldhaft« sehen muss. Verfälschend ist die Erinnerung, indem sie die Schuld in die Vor-Geschichte verlegt, dem Subjekt eine Schuld zuschreibt, bevor es Subjekt ist: als Erbsünde ist sie immer schon da, schon bevor wir irgendetwas getan haben. In diesem Sinn, und nur in diesem, sind Kafkas Helden immer schuldig, nämlich immer schon von der Gesellschaft schuldhaft gemacht.

Was Hiebel (1989: 198) »Culpabilisierbarkeit« nennt, d. h. die Möglichkeit, dem Individuum eine imaginäre Schuld (Mord des Vaters oder zumindest den Wunsch danach) aufzubürden, ist die Voraussetzung dafür, dass das Individuum sowohl in die symbolische Ordnung als auch in die gesellschaftliche Ordnung des Gesetzes aufgenommen wird: »Der Mythos ist ja nur ein Spiegel des Gesetzes, ein imaginäres Bild der symbolischen Ordnung, welche die kulturelle Wirklichkeit prägt«. (Hiebel 1984: 70) In diesem Sinne seien Kafkas Texte als ein neuer, individueller Mythos zu lesen. Hall und Lind, (1970; zit. in Beicken 1974: 197) meinen: »Das vorliegende Material zeigt dabei einen Habitus, der zwischen Traum und Wachsein kaum signifikante Unterschiede aufweist.« A. Peter Foulkes (1956: 47–69) aber »warnt davor, die Vorstellung von den Werken als Traumniederschriften fraglos hinzunehmen, weil bei der Traumdeutung letzten Endes nur die aus der Biographie bekannten Lebensprobleme Kafkas als Ergebnisse herauskämen.« (Beicken 1974: 199) Das hat Rainer Nägele so formuliert: Freud nannte die Trauminterpretation die ›via regia‹, den Königsweg zum Unbewussten. Dieser Weg führt zu einem ›Wissen‹, daher könne die Königsfigur, die diesen Weg wandert als das Bewusstsein verstanden werden, das seine Herrschaft über das Unbewusste einfordert. Die Psychoanalyse hat ein Doppelgesicht der Art, dass sie einerseits das »Unbewusste« als grundsätzlich unzugänglich zeichnet, und damit die grundsätzliche Unmöglichkeit, Verhalten und Aussagen von Menschen zu entziffern, voraussetzt, andererseits aber im Prozess der Analyse den Anspruch erhebt, »die individuellen oder kollektiven Phantasmen oder Spiegelungen« zu beschreiben, d. h. zu enträtseln. Nach Hiebel (1984: 99) aber verkennt sie damit, »daß es gar kein Eigentliches hinter dem Gleichnis gibt, keinen ›Boden‹ hinter den ›Glaubenstatsachen‹.« Für den Interpreten gilt ebenso wie für den Psychoanalytiker: »der Therapeut soll die Kluft überbrücken, der er selbst seine Existenz verdankt« (Hiebel 1984: 119). Wäre das Symptom der Neurose oder Psychose »verständlich«, bräuchte niemand einen Analytiker, wäre der literarische Text »verständlich«, bräuchte niemand einen Interpreten. Da sich weder der Analytiker noch der Interpret an einen Standort begeben kann, von dem aus ihnen ihr eigenes Unbewusstes transparent würde, können sie nur einen phantasmatischen Anspruch darauf erheben, ein Symptom oder einen Text besser zu verstehen als der Sender oder der Empfänger. Daher bleibt jede Psychologie hinter dem zurück, was in Kafkas Text geschieht.

Bei aller Analogie zum Traum, der in Kafka-Interpretationen immer wieder festgestellt wird: es sind keine Träume. Vom Traum unterscheiden sich Kafkas Texte durch die in ihnen enthaltene literarische Arbeit, die Herstellung einer textuellen Struktur, die sich nicht allein aufgrund der Traumlogik und der Traumzensur bewegt.[16] Während Freud die Gründe, warum ein schlafendes Ich die Arbeit des Verdichtens, Verschiebens und Verzerrens auf sich genommen hat, hinreichend erläutert hat, hat er die eigentlich künstlerische Arbeit als letztlich inkommensurabel aus seinem Kalkül ausgeschlossen. Die Schreibarbeit ist eine weitere Bearbeitungsstufe der manifesten Trauminhalte. Der eigentlich künstlerische Vorgang kann zwar nicht bis ins letzte Detail schlüssig beschrieben werden, bedarf aber in seinen Grundzügen ebenso wenig der transzendentalen Begrifflichkeit wie die Erklärung des Traumes selbst.

Auf einen anderen möglichen Aspekt der Sprache Kafkas verweist eine Aussage von Freud: die Psychotiker haben Ähnlichkeiten mit Philosophen, unerwünschte, und er nennt sie Idioten, weil sie alles ›wörtlich‹ nehmen.[17] Kafka ist ein Freud’scher »Idiot«, ein Psychotiker, der die Worte für die Sachen selbst nimmt. Wer ihn lesen will, muss das begreifen und nachvollziehen. Auch Kafka nimmt die Sprache in diesem Sinn ›wörtlich‹: in der Strafkolonie muss jemand etwas »am eigenen Leib« erfahren, und das Tier im Bau »verkriecht sich«, das »Schloss« ist »verschlossen« und der »Landvermesser« ist »vermessen«, der Sohn in der Verwandlung ist ein »Ungeziefer«. Man vergleiche z. B. folgende Variante zur »Strafkolonie«: »Die Hand auf dem Herzen, sagte er: ›Ich will ein Hundsfott sein, wenn ich das zulasse.‹ Aber dann nahm der das wörtlich und begann, auf allen Vieren herumzulaufen.« (T 327)[18] Auch Adorno verlangte, man müsse bei Kafka »alles wörtlich nehmen, nichts durch Begriffe von oben her zudecken. Die Autorität Kafkas ist die von Texten.« (Adorno 1963: 251)

Je mehr wir über Kafkas Welt wissen, umso mehr geraten wir in Versuchung, sie als Abbildung der soziologischen Spannungen der K. u. K. Monarchie oder der Tschechoslowakei zu lesen: »Auch soziologische Deutungen richten ihr Augenmerk vorzugsweise auf K., der als Opfer einer Herrschaft mit totalitären Zügen erscheint (Adorno), oder auf den Autor, dem bescheinigt wird (E. Fischer), dem revolutionären Kampf gegen eine mystifizierte Macht die kleinbürgerliche Revolte gegen den Vater vorzuziehen.« (Rösch 2013) Ohne Zweifel sind in Kafkas Texte Elemente seiner Autobiografie und der von ihm wahrgenommenen soziologischen und politischen Wirklichkeit ebenso eingegangen wie Elemente seiner Lektüre. Aber keines dieser Elemente kann Kafkas Texte »erklären«.[19] Auch wenn »Kafka auf den Mythos des modernen Menschen, auf den entwurzelten, heimatlosen, entfremdeten, preisgegebenen Einzelnen zurechtgestutzt« (Beicken 1974: 101) wird, wird der Text eindimensional gelesen. Vielen Kritikern ist aufgefallen, dass Kafka an sich realistische Texte schreibt, dass in diese Welt aber plötzlich ein Element einbricht, das die Realität grundsätzlich in Frage stellt. Das Phantastische wird in seinen Texten aber nicht als Phantastisches verstanden. Es wird selbst zum Teil der Realität. (Vgl. Jahraus 2006: 174–175)

Wie die Hauptfigur in den Romanen Kafkas befindet sich der Leser in einer Fremde, die er nicht versteht. Diese Fremde muss nicht unbedingt Amerika sein, oder ein fremdes Dorf, in das es einen verschlagen hat, diese Fremde zeigt sich unmittelbar in der gewohnten Lebenswelt, in der Bank, in der man arbeitet, sogar im eigenen Schlafzimmer. Fremde bedeutet, dass man die Regeln des Lebens in diesem Raum nicht versteht, dass die gewohnten Verhaltensweisen nicht mehr gültig sind. Das wird Kafkas Gestalten ja auch immer wieder gesagt. Aber auch die Bewohner dieser »Fremde« können Kafkas Gestalten diese Fremde nicht erklären, denn für sie ist es das Selbstverständliche, das keiner Erklärung bedarf. Sie können sich nur immer wieder wundern, wie Kafkas Gestalten die Regeln dieser Welt missverstehen. Aber sie selbst können die Regeln nicht erklären.

Ist Kafkas Text also die »undeutbare Parabel der Undeutbarkeit«, ist er eine »Leerform, welche durchs Prinzip der ›gleitenden Sinnestäuschung‹ nur die Sinnprojektionen seiner Deuter aufruft und widerlegt«? (Hiebel 1989: 209) Hat Kafka seine Texte so angelegt, dass alle seine Deuter nichts anderes tun können, als das, was er selbst z. B. in seiner Umbildung der Prometheussage getan hat, »das Unerklärliche erklärend ins Unerklärliche« zurückzuführen? (Hiebel 1989: 210) So meint Beicken (1974: 117): »Der Text erscheint als Kommentar jener Situation, in der alle Fragen ihre generelle Unbeantwortbarkeit erweisen.« Wenn allerdings Kafkas Texte tatsächlich eine »unerklärliche Symbolisierung des Unerklärlichen« (Hiebel 1989: 70) sind, dann kann keine Interpretation dieses »Unerklärliche« erklären. »Benjamin schreibt, Kafka habe ›alle erdenklichen Vorkehrungen gegen die Auslegung seiner Texte getroffen.‹ ›Designifikation‹ ist der Name für diese Vorkehrungen. Die Bedeutungen bleiben schwebend.« (Benjamin 1980 Bd. I/: 422; zit. Hochreiter 2007: 114)[20] Der Interpret kann natürlich nicht »die Metaebene eines sich selbst wissenden absoluten Geistes erreichen«, (Hiebel 1989: 100) die eben jene Bedeutung bereitstellte, die der Text verweigert. Aber: »auch wenn Kafkas Texte das Interpretationsproblem derartig radikalisiert haben, bedeutet das dennoch nicht, dass sie gänzlich uninterpretierbar wären.« (Jahraus 2006: 163) Solomon Spiro (1971: 169) meint, selbst wenn es falsch wäre, bei Kafka nach verborgenen Bedeutungen zu suchen, sei eine Interpretation seiner Werke dennoch notwendig. Allerdings könne jede Interpretation nur eine Facette des komplexen Ganzen wiedergeben. Es handelt sich bei dem »Unerklärlichen« ja nicht um »Rätsel«, oder »Verrätselungen«, die man »enträtseln« oder lösen kann, wie Dagmar Fischer in ihrer Dissertation (1985) oder Günter Mecke (1982) angenommen haben (vgl. Uschmann 2007: 102). Kafkas »semi-private games« oder Mystifikationen (Pasley 1971/72) weisen immer über das Private hinaus, die »Rätsel« und »Verrätselungen« sind immer auch »Mythen«, die sich dem Zugriff des Rätsellösers entziehen.[21]

Schon Politzer (1973b: 214) meinte: »Das charakteristische Stilmerkmal von Franz Kafkas Werk ist das Paradox.«[22] Das Paradox ist eine Form der Sprache, bei der Ideen und Worte, die normalerweise als gegensätzlich oder selbstwidersprüchlich angesehen werden, miteinander verbunden werden, und so überraschenderweise eine tiefere Bedeutung offenbaren. (Vgl. Taylor 1984: 152f.)[23] Taylor versteht die Ökonomie des Paradoxes so, dass es die Negativität einer Verbindung benutzt um emphatisch eine positive Bedeutung auszusprechen. Wenn wir Kafka interpretieren, dann müssen wir versuchen, »den paradoxen Zirkel nachzuvollziehen und zu zeigen, ›weshalb das Streben nach positiven Bestimmungen in paradoxe Zirkel umschlägt, weshalb schließlich der Bereich jenseits des Zirkels sich der Formulierbarkeit entzieht.‹« (Beicken 1974: 105) Es geht nicht um einen Vergleich oder eine Ähnlichkeit, um eine Kontiguität oder Verstehen – das alles ist abwesend. Ganz richtig betont daher J. Vogl (1990: 40): »Die sichtbaren Anzeichen [des Paradoxes] sind nicht Ausdruck eines verborgenen Sinns, sondern umgekehrt, dieses Verborgene ist Effekt einer Oberfläche.«[24]

Es könnte scheinen, als sei einer der Regeln der Kafka’schen Welt, dass der Held von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist – und vielleicht trifft das auch auf den Interpreten zu: »Niemand kann sich mit der Erkenntnis allein begnügen sondern muß sich bestreben ihr gemäß sich zu verhalten. Dazu ist ihm aber die Kraft nicht mitgegeben, er muß daher sich zerstören, selbst auf die Gefahr hin, auch dadurch die notwendige Kraft nicht zu erhalten, aber es bleibt ihm nichts anderes übrig als dieser letzte Versuch.« (NSF II: 74)

Georges-Arthur Goldschmidt (2010: 112) hat versucht die Konstellation der Romane Kafkas so zu beschreiben: »Von Anfang an weiß der, der bei Kafka spricht, daß er unfähig ist, irgendetwas zu erreichen. Vor dem ersten Moment war alles gegeben und alles möglich, vom ersten Moment an ist alles zu spät«. Daraus zieht er den Schluss, dass es keine endgültige Kafka-Deutung gibt, auch wenn gerade das natürlich eine »Deutung« ist. Im Grunde kommt Goldschmidt damit zu einer völligen Beliebigkeit aller Deutungen: »Nichts von dem, was über Kafka geschrieben wird, ist falsch und nichts stimmig, nur der Text Kafkas stimmt mit Kafkas Text überein. Es gibt keine mögliche Wahrheit der Interpretation, alles darüber Gesagte trifft es und trifft es nicht. Keiner ist kompetent und alle sind es.« (Goldschmidt 2010: 21) Wie er aus der Prämisse, dass von Anfang an alles zu spät ist, die Schlussfolgerung ziehen kann, dass Kafkas Texte nicht interpretiert werden können, ist allerdings nicht nachvollziehbar. Außerdem stellt sich dann natürlich die Frage, wie er überhaupt etwas über Kafkas Texte sagen kann. Was heißt die Tautologie: »nur der Text Kafkas stimmt mit Kafkas Text überein«? Und welchen Wert haben Kafkas Texte, wenn Emrichs (1973: 287) Bemerkung stimmt: »Ja, seine Vorstellungen selbst werden grundlos. Die Namen, mit denen er die Dinge bezeichnet, die Bilder, unter denen er sie anschaut, werden gleichsam zufällig über die Dinge geschüttet, ohne ihre Wirklichkeit oder ihr Wesen zu treffen. Entsprechend verlieren die Dinge ihr festes, sicheres Gefüge, wenn man über sie ›nachdenkt‹.« Oder: »Die Realitätsebenen werden ständig durchbrochen und ineinandergeschoben. Alles bleibt in der Sphäre bloßer Vermeintlichkeit.« (Ebd.: 291)

Immer wieder ist in der Kritik von der »Vieldeutigkeit« der Werke Kafkas die Rede. Nun ist es deutlich, dass Kafkas Werke schwierig zu deuten sind, aber dass sie wohl nicht unergründlich vieldeutig sind, wenn auch »keine Einzeluntersuchung in der Lage ist, sein vielschichtiges Werk vollständig zu erfassen.« (Beicken 1974: 99: Sokel 1973: 270) Interpretieren ist dennoch nicht nutzlos, denn: »Was Kafka schreibt, ist von so verblüffender Klarheit, daß es einem buchstäblich die Sprache verschlägt«. (Goldschmidt 2010: 7) Das setzt aber voraus, dass Sprache immer schon ohne Interpretation verständlich ist. Das ist natürlich unmöglich; Worte, die wir nicht dekodieren, sind bloßer bedeutungsloser Schall.

Nach Voigts (2008: 20ff.) muss der Germanist davon ausgehen, »dass seine Interpretation die Intentionen des Schriftstellers aufnehmen kann und diese affirmativ oder kritisch mit den Traditionen verbinden kann.« Diese Voraussetzung sei bei Kafka aber nicht gegeben: »Kafkas Texte entziehen sich den klassischen Möglichkeiten der Interpretation.« Vor allem lassen sie sich nicht in eine Tradition einfügen und durch sie deuten: »Kein Licht der Überlieferung kann die Texte Kafkas erleuchten und verständlich machen.« Vor allem sei es unmöglich, die Intention Kafkas zu enträtseln: »Dieses produktive Verstehen setzt die Intention, die mens auctoris voraus, die bei Kafka […] aber nicht gegeben ist.«

Eine Frage, die sich stellt, ist, ob sich überhaupt ein belegbarer Sinn ergibt, oder ob seine Texte nicht nur die Sinnlosigkeit der Welt zum Thema haben, sondern dass der Text diese Sinnlosigkeit selbst ist. Hans Dieter Zimmermann (1985: 13) vertritt eine gängige Meinung, wenn er sagt: »Bei Kafka sind die üblichen Kategorien nicht anwendbar, weil kein vom Text unabhängiger und ablösbarer Sinn durch den Text vermittelt werden soll.« Gewiss sind »seine Texte […] vieldeutig«, aber darf man sagen: »alle [Deutungen] sind gleich richtig oder falsch«? (Zimmermann 1985: 125) Denn wenn »alle Deutungen gleich sinnvoll erscheinen«, stellt sich die Frage, »ob sie nicht vielmehr alle gleich sinnlos sind.« (Henel 1973: 407)[25] Aber was bedeutet das? Warum sollten wir einen »sinn-losen« Text lesen wollen?

Der Grund unseres Interesses sind die Texte.[26] Aber die werkimmanente Methode »dient häufig als Vorwand, unbequeme, angeblich außerliterarische Fragestellungen auszuschalten, um desto freier einen unverbindlichen philosophischen Gehalt in das Werk hineinzutragen. […] Andererseits steht die Werkimmanenz als Methode in Gefahr, aufgrund ihrer Selbstbeschränkung auf das autonome Kunstwerk, sich um eine leere Mitte zu drehen, sofern nicht die Grundbeziehungen des Werkes zum Autor, zur Wirklichkeit, zur Geschichte und Gesellschaft und zur literarischen Tradition in die Interpretation der ästhetischen Phänomene einbezogen werden.« (Beicken 1974: 91). Die Frage bleibt: wie kann einerseits die notwendige Konzentration auf den Text der werkimmanenten Interpretation durch andere Methoden ergänzt werden, »ohne in alte Fehler der allegorischen, symbolübersetzenden, philosophischen und soziologischen Deutung zu verfallen.« (Beicken 1974: 161) Man kann auf keinen Fall den literarischen, historischen, gesellschaftlichen Kontext ausklammern, der vieles in Kafkas Werk erst verständlich macht. »Auch wenn ›alle historischen Abläufe (und dazu gehören auch die literarhistorischen) nicht als vollständig determiniert betrachtet werden können‹, so enthebt das nicht der Aufgabe, den vorliegenden Kontext, also die Werkgeschichte, das Gesamtwerk, die Biographie, die historische Situation, die Gattungsgeschichte, die Rhetorik, die Motivgeschichte und die Sprachgeschichte, und alles, was in nächster Beziehung zum Gegenstand steht, in die Betrachtung einzubeziehen und in den Verstehensprozeß zu integrieren.« (Beicken 1974: 159) Deswegen warnt Neumann (2008: 130): »Es wurden Gleichnisse dort geschaffen, wo Kafka sich noch durchaus an Realitäten orientiert hatte.«[27]

Beicken (1974: 14) weist uns einen anderen Weg: »Um der deuterischen Verwirrung, dem Chaos der Meinungen und bloßen Ansichten zu entgehen, mußte man von vorn, beim Buchstaben und Wort beginnen«. Es soll also zunächst und vor aller »Deutung«, die meist eine »Missdeutung« ist, der Text gelesen werden. Eine genaue Lektüre des Textes macht auf eine entscheidende Gemeinsamkeit aller drei Romane aufmerksam: Fast überall ist der Blickwinkel des Erzählers mit dem seiner Hauptfigur Karl Roßmann, Josef K. und K. kongruent. Diese Identität wird von Roman zu Roman immer konsequenter durchgeführt, auch wenn es noch im Schloß Stellen gibt, wo für ein paar Sätze der Erzähler mehr weiß als die Hauptfigur. Dabei handelt es sich meistens um einführende Sätze, die aber nicht viel erklären, was den Hauptfiguren nicht sowieso bekannt sein könnte oder kurz darauf bekannt wird. Die Welt der Romane ist bewusst beschränkt auf die Sicht der Hauptfigur und die Leseerfahrung ist gleichfalls durch diese Sicht fast ausschließlich begrenzt. Auch Kraft (1972: 3, zit. Beicken 1974: 166) sieht Kafkas darstellbare Welt immer mehr auf den Erkenntnis- und Erfahrungsbereich der dargestellten Subjekte eingeschränkt[28] und meint: »die einschränkende Konzentration auf das Subjektive ist als Objektivierung der Situation des Menschen zu begreifen. Die Welt ›objektiviert sich‹ in der Subjektivität: Das Subjekt als absolutes wird als dasjenige vorgestellt, dem allein Notwendigkeit und Allgemeinheit zukommt.«[29]

Nach Foucault (1980a: 204; 1977: 29, 104) wird Subjektivität in bestimmten Praktiken konstituiert.[30] Subjekte sind Effekte der Machtstrategien und diese sind wiederum Strategien ohne Subjekte. Man muss sich bewusst bleiben, wie Machtverhältnisse durch diskursive Praktiken entstehen und auf welche verschiedenen Weisen Subjektivität in verschiedenen historischen Epochen konstituiert wird. (White 1986: 421). Macht macht aus Individuen Subjekte. Das Wort »Subjekt« hat zwei Bedeutungen: jemanden seiner Kontrolle unterwerfen und ihn in Abhängigkeit halten; und an seine eigene Identität durch ein Gewissen oder Selbsterkenntnis gebunden sein. Beide Bedeutungen suggerieren eine Form der Macht, die unterwirft und uns zum Subjekt (Unterworfenen) macht. (Foucault 1982: 781) Foucault (1977a: 209, 216, 218ff., 296ff.) zeigt die Folgen einer zunehmend »disziplinären« Gesellschaft mit ihren »Gefängnissen« auf. Er zeigt uns, dass die Strukturen, die uns als ermächtigend erscheinen immer auch einschränkend sind. (White 1986: 421) »Auf den weichen Fasern des Gehirns beruht die unerschütterliche Grundlage der stärksten Reiche.« (Servan 1767, zit. in Foucault 2013: 131)

2 »Ich stehe auf der Türschwelle, im Begriffe, mein Zimmer zu betreten.« Zur Unmöglichkeit die Welt zu denken.

»Ein wissenschaftlich überprüfbarer, ›allgemeingültiger Wirklichkeitsbegriff existiert weder in den Naturwissenschaften, noch in der Philosophie oder in den Geistewissenschaften.« (Gottwald 1990: 61) In einem ausführlichen Brief vom 12. Juni 1938 an seinen Freund Gerhard Scholem zitiert Walter Benjamin (1980: 270) Eddingtons ›Weltbild der Physik‹, um Kafkas Probleme mit der ›Realität‹ zu erklären:

»Ich stehe auf der Türschwelle, im Begriffe, mein Zimmer zu betreten. Das ist ein kompliziertes Unternehmen. Erstens muß ich gegen die Atmosphäre ankämpfen, die mit einer Kraft von 1 Kilogramm auf jedes Quadratzentimeter meines Körpers drückt. Ferner muß ich auf einem Brett zu landen versuchen, das mit einer Geschwindigkeit von 30 Kilometer in der Sekunde um die Sonne fliegt; nur den Bruchteil einer Sekunde Verspätung, und das Brett ist bereits meilenweit entfernt. Und dieses Kunststück muß fertiggebracht werden, während ich an einem kugelförmigen Planeten hänge, mit dem Kopf nach außen in den Raum hinein, und ein Ätherwind von weiß Gott welcher Geschwindigkeit durch alle Poren meines Körpers bläst. Auch hat das Brett keine feste Substanz. Darauftreten heißt auf einen Fliegenschwarm treten. Werde ich nicht hindurchfallen? Nein, denn wenn ich es wage und darauf trete, trifft mich eine der Fliegen und gibt mir einen Stoß nach oben ich falle wieder und werde von einer anderen Fliege nach oben geworfen, und so geht es fort; ich darf also hoffen, das Gesamtresultat werde sein, daß ich dauernd ungefähr auf gleicher Höhe bleibe. Sollte ich aber unglücklicherweise dennoch durch den Fußboden hindurchfallen oder so heftig emporgestoßen werden, daß ich bis zur Decke fliege, so würde dieser Unfall keine Verletzung der Naturgesetze sondern nur ein außerordentlich unwahrscheinliches Zusammentreffen von Zufällen sein […] Wahrlich, es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe denn daß ein Physiker eine Türschwelle überschreite. Handle es sich um ein Scheunentor oder einen Kirchturm, vielleicht wäre es weiser, er fände sich damit ab, ein gewöhnlicher Mensch zu sein, und ginge einfach hindurch, anstatt zu warten, bis alle Schwierigkeiten sich gelöst haben, die mit einem wissenschaftlich einwandfreien Eintritt verbunden sind.«

Ganz ähnlich schreibt Kafka im Tagebuch (VI, 164, zit. Brod 1966: 249): »Eine heikle Aufgabe, ein Auf-den-Fußspitzen gehen über einen brüchigen Balken, der als Brücke dient, nichts unter den Füßen zu haben, mit den Füßen erst den Balken zusammenscharren, auf dem man gehen wird, auf nichts gehen als auf seinem Spiegelbild, das man unter sich im Wasser sieht, mit den Füßen die Welt zusammenhalten, die Hände nur oben in der Luft verkrampfen, um diese Mühe bestehen zu können.«[31]

Dem Leser Kafkas mag es manchmal ähnlich gehen, wenn er sich in Kafkas Welten zurechtzufinden sucht. Wo er einen stabilen Boden vermutet, bricht sein Bein unvermutet durch ein Loch und wo die Welt oberflächlich an seine gewohnte Lebenswelt erinnert, zeigt sich plötzlich eine ihm unverständliche Fremde. Es soll hier nicht suggeriert werden, Kafka habe sich intensiv mit der Relativitätstheorie oder der Quantenphysik beschäftigt, obwohl z. B. Einstein von 1911–1914 Professor an der Prager Karl-Ferdinands-Universität war und Einsteins Theorien zumindest auf einem populärwissenschaftlichen Niveau weithin diskutiert (und missverstanden) wurden.[32] Es geht vielmehr um grundlegende Veränderungen in der Aristotelischen Logik, der Denkweise mit der die Phänomene der sichtbaren Welt in einer Nicht-»Newtonschen« Physik sich beschreiben ließen. Die Entwicklung einer Nicht-Aristotelischen Logik, einer Denkweise, die zum Teil unseren gewohnten Anschauungen von der Welt der Erscheinungen widerspricht, wirkte sich auf alle Wissenszweige aus. Es breitete sich die Einsicht aus, dass die Sprache unfähig ist, bestimmten Formen des menschlichen Denkens gerecht zu werden: nur die Mathematik, die sich langsam von der sprachlichen Intuition gelöst hat, was »Realität« ist, kann das.[33]

Zeit, Raum und Identität sind, wie Kant gezeigt hat, fundamentale Postulate auch unseres Alltagsbewusstsein, das alle »Realität« in diesen Kategorien erfährt. Die Entwicklung einer neuen »nicht-Aristotelischen« Logik in der Physik hat sich sehr schnell auf andere Gebiete ausgewirkt, z. B. die Linguistik und die Psychologie. Sätze wie die von Einstein, dass in der Quantenphysik »nur mit Ansammlungen gearbeitet (wird), und die Gesetze beziehen sich hier nur auf Kollektive, nicht aber auf einzelne Teilchen« und »Nicht Eigenschaften, sondern Wahrscheinlichkeiten werden beschrieben; nicht für zukünftige Entwicklung von Systemen werden Gesetze aufgestellt, sondern für Veränderungen der Wahrscheinlichkeiten in der Zeit, Gesetze, die für große Ansammlungen von Individuen gelten« (Bachelard 1980: 108) wurden auf Gebiete wie die Ökonomie und die Soziologie angewandt.

In Frage gestellt wurden solche grundlegenden Aussagen wie: »Was ist, ist«, »Ein Objekt ist, was es ist, was gleichbedeutend ist, dass es sich selber in jeder Hinsicht identisch ist«, »Ein Objekt ist dort, wo es ist«, »Das gleiche Objekt kann nicht gleichzeitig an zwei verschiedenen Stellen sein«, »Zwei verschiedene Objekte können nicht gleichzeitig am gleichen Ort sein«, »Um sich von einer Stelle zu einer anderen zu bewegen, muss jedes Objekt den dazwischen liegenden Raum durchqueren, was nur in einem bestimmten Zeitraum möglich ist«, »Das gleiche Objekt oder das gleiche Ereignis kann gleichzeitig von zwei verschiedenen Gesichtspunkten beobachtet werden«, »Zwei verschiedene Ereignisse können sich gleichzeitig abspielen und vom selben Gesichtspunkt her als gleichzeitig beobachtet werden«. (Bachelard 1980: 108)

In Kafkas Welten geht es zwar nicht direkt um diese Probleme, aber seine Welten sind in ihrer Weise oft ebenso nicht-intuitiv wie die Sätze dieser neuen Logik. Max Bense (1952: 52f.) sieht, dass bei Kafka die Unterscheidung zwischen realen und irrealen Bestandteilen der Welt keinen ontologischen Sinn mehr hat und die realistische Aufgabe nicht mehr gestellt wird. Er spricht bei Kafka von der Genauigkeit des Irrealen und der Präzision des Imaginären. Er verweist auf den cartesischen Zweifel und die Fiktion des Feindes und des Bösen, durch die die Sicherheit der Existenz ständig gefährdet wird. (Ebd.: 58) Bense sieht zudem bei Kafka eine Ausschaltung der objektiven Zeit als dinglicher Weltzeit und dinglicher Dauer. (Ebd.: 61) Dabei verweist er auf Husserls Phänomenologie und Heideggers Fundamentalontologie, in der die Subjektivität, nicht Gott, das Fundament ist, auf dem alles ruht. (Ebd.: 67)

Alle die scheinbar selbstverständlichen Aussagen über die Realität sind durch die Entwicklung nicht nur der modernen Physik als bloße Aussagen des Alltagsverstandes entlarvt worden. So bekommt z. B. der Begriff der Gleichzeitigkeit in der Relativitätstheorie einen ganz neuen Sinn, wenn zwei Ereignisse, die Millionen von Lichtjahren auseinanderliegen, vom selben Beobachter »gleichzeitig« beobachtet werden. Die relativistische Definition der Gleichzeitigkeit läuft darauf hinaus, dass Sätze wie »Das gleiche Objekt oder das gleiche Ereignis kann gleichzeitig von zwei verschiedenen Gesichtspunkten beobachtet werden« im Sinne der klassischen Physik sinnlos oder widersprüchlich werden. Postulate der Identität werden durch das Konzept des »Werdens« in Frage gestellt: »Was ist, wird« widerspricht dem »Was ist, ist« der klassischen Physik. Nicht nur überschreitet der Satz »Ein Objekt ist in jeder Hinsicht mit sich selbst identisch« immer und notwendigerweise unsere Erfahrung, da man nie gewiss sein kann, ein Objekt in jeder Hinsicht untersucht zu haben, es setzt auch einen Vergleich voraus, der kein Drittes hat, mit dem verglichen werden kann. Heisenbergs Unschärferelation hat die Sicherheit erschüttert, wir könnten jedes Mal angeben, wo ein Objekt ist, und damit die Sicherheit, ein Objekt könne nicht gleichzeitig an zwei verschieden Orten sein, und die Physik der Kraftfelder hat den Satz, zwei verschiedene Objekte könnten nicht an der gleichen Stelle sein, fragwürdig gemacht. Die drei grundlegenden Kategorien, mit denen wir Wirklichkeit beschreiben, Substanz, Einheit (Identität) und Kausalität, die zunächst in der Physik in Frage gestellt wurden, werden auch durch Kafkas Text grundlegend relativiert. »Seit über einem Jahrhundert läßt sich diese Unruhe in der Philosophie, der Wissenschaft und der Literatur registrieren, deren Revolutionen als Erschütterungen interpretiert werden müssen, die das lineare Modell – unter dem wir das epische Modell verstehen – nach und nach zerstören.« (Derrida 1983: 155) Es ist, wie es im Gespräch mit dem Beter heißt: »eine Seekrankheit auf festem Lande« (DzL 389). Im Gespräch mit dem Betrunkenen heißt es: »Was ist es doch, daß ihr tut, als wenn ihr wirklich wäret. Wollt ihr mich glauben machen, daß ich unwirklich bin, komisch auf dem grünen Pflaster stehend? Aber doch ist es schon lange her, daß du wirklich warst, du Himmel, und du Ringplatz bist niemals wirklich gewesen.« (DzL 395) (Vgl. auch NSF I: 102)

Während man früher einmal (z. B. im Alten Testament) davon ausgehen konnte, dass es jeweils richtige und wahrhaftige Namen für die Dinge gegeben hat (die Adam den Dingen gegeben hat), stellt sich nun heraus, dass alle Namen arbiträr sind, und man jedes Ding auch anders nennen könnte. »Deren Wesen ist so, daß Ihr den wahrhaftigen Namen der Dinge vergessen habt und über sie jetzt in einer Eile zufällige Namen schüttet. Nur schnell, nur schnell! Aber kaum seid Ihr von ihnen weggelaufen, habt Ihr wieder ihre Namen vergessen. Die Pappel in den Feldern, die Ihr den ›Turm von Babel‹ genannt habt, denn Ihr wußtet nicht oder wolltet nicht wissen, daß es eine Pappel war, schaukelt wieder namenlos, und Ihr müßtet sie nennen ›Noah, wie er betrunken war‹.« (Ebd.)[34]

In der Linguistik entstand (bei de Saussure) die Auffassung, dass das Zeichen nicht Abbild der Realität ist, dass der Signifikant keine natürliche Zusammengehörigkeit mit dem Signifikat besitzt (»arbiträres Zeichen«), dass »Bedeutung« nichts anderes ist als das System der Differenzen der Laute (Signifikanten). Arbiträr und differenziell sind zwei korrelative Eigenschaften. Das sogenannte Ding selbst ist immer schon ein Repräsentiertes, das der Einfältigkeit der intuitiven Evidenz entzogen ist. Es gibt keine »absolute« sondern nur eine »relative« Bedeutung. Wenn man einen Text interpretiert, sagt Roland Barthes, gibt man ihm nicht eine mehr oder weniger berechtigte Bedeutung, sondern begreift, welcher Plural den Text konstituiert. (Barthes 1975: 5)[35] Die Identität eines Textes mit sich selbst, die auf der Konzeption des Ursprungs des Textes in einem mit sich selbst identischen Ich beruht, auf dem, was man die Intention dieses Ichs nennen könnte, wird dann unhaltbar, wenn das ›Ich‹, das den Text produziert, und das ›Ich‹, das sich dem Text nähert selbst bereits eine Pluralität von anderen Texten ist. (Barthes 1975: 10) Die Sprache, sagt de Saussure, ist nicht eine Funktion des sprechenden Subjekts.[36] Jede Logik und jede Grammatik, und daher jede Interpretation, die sich auf diese Strukturen stützt, um die Intention des Autors plausibel zu machen, stützt sich auf diese Einheit des aussagenden Subjekts: Alles das bedeutet nichts anderes, als dass es für den pluralen Text keine narrative Struktur, keine Grammatik oder Logik gibt. (Barthes 1975: 6) Was demjenigen, der gewohnt ist, in einem Text »Bedeutung« aufzuspüren, aufs höchste befremden muss, und ihn dennoch immer wieder anspornen muss, Bedeutung in diesen leeren Raum zu projizieren, ist die Tatsache: »Es geht um eine bloße Differenz (S/Z), eine Relation wie von Plus und Minus, Nullmorphem und Morphem, Leerstelle und Zeichen (0/1).« (Hiebel 1984: 106) Jacques Derrida (1983: 81, 129) schreibt: »Daß das Signifikat ursprünglich und wesensgemäß […] Spur ist, daß es sich immer schon in der Position des Signifikanten befindet – das ist der scheinbar unschuldige Satz, in dem die Metaphysik des Logos, der Präsenz und des Bewußtseins die Schrift als ihren Tod und ihre Quelle reflektieren muß.« Mit der Subversion der logozentrischen Metaphysik und der aristotelischen Logik werden auch die abendländischen Methoden der Analyse, der Auslegung, der Lektüre und der Interpretation in Frage gestellt. Das läuft, so Kafka, darauf hinaus: »Du leugnest in gewissen Sinn das Vorhandensein dieser Welt«. (NSF II: 90) Wenn die Welt schon vorhanden wäre, dann fehlt ihr doch Sinn und Zusammenhang: »Wenn das einen Zusammenhang hat, so verstehe ich ihn nicht. Aber ich weiß nicht einmal, ob das einen Zusammenhang hat.« (NSF I: 97) Auch den Menschen fehlt eine substanzielle Realität: »mein Herr, denn wie sehen Sie doch aus! Sie sind in Ihrer ganzen Länge nach aus Seidenpapier herausgeschnitten, so silhouettenartig und wenn sie gehen, so muß man sie knittern hören.« (NSF I: 97)