Michel Bussi, geb. 1965, Politologe und Geograph, lehrt an der Universität in Rouen. Seine Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und haben sich als internationale Bestseller durchgesetzt. Bussi ist der meistprämierte französische Autor des Jahres 2011 gewesen.
Olaf M. Roth, geb. 1965, studierte Romanistik und Germanistik. Er übersetzt aus dem Französischen, Italienischen und Englischen, außerdem arbeitet er als Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Theater Kiel. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören u.a. Bernard-Henri Lévy, Tiziano Scarpa, Jim Dodge, Samuel Benchetrit, Michel Bussi.
Ein Flugzeugabsturz – nur ein namenloses Baby überlebt
1980. In der Vorweihnachtsnacht kommt es im verschneiten Jura zu einem tragischen Unfall: Ein Flugzeugabsturz, den allein ein kleines Baby überlebt. Doch auf der Passagierliste sind zwei Säuglinge vermerkt, beide Mädchen, beide drei Monate alt. Welches der Babys wurde gerettet? In einer Zeit, in der es noch keine DNA-Tests gibt, ist dies kaum mit Sicherheit nachzuweisen. In einem aufwühlenden Sorgerechtsprozess, den die Großeltern beider Familien führen, fällt trotz letzter Zweifel schließlich ein Urteil: Emilie Vitral hat überlebt, nicht Lyse-Rose de Carville. Achtzehn Jahre später entdeckt ein Privatdetektiv den Schlüssel zur Wahrheit, kurz darauf wird er tot aufgefunden. Zuvor aber hat er Emilie seine Aufzeichnungen zukommen lassen, die das Leben der jungen Frau von Grund auf verändern.
Ausgezeichnet mit dem Prix Maison de la Presse
»Originelles Thema und emotionale Spannung bis zur letzten Seite.« Eliane Girard, Prima
»Exzellenter Spannungsroman made in France. Durchwachte Nächte garantiert.« Isabelle Bourgeois, Avantages
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Das Mädchen mit den blauen Augen
Aus dem Französischen von Olaf Matthias Roth
Für Malou, die kleine Libelle,
die zusammen mit diesem Buch
das Licht der Welt erblickt hat
Inhaltsübersicht
Über Michel Bussi
Informationen zum Buch
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23. Dezember 1980, 0 Uhr 33
Achtzehn Jahre später
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Impressum
Leseprobe
Ganz plötzlich verlor der Airbus 5403 auf dem Weg von Istanbul nach Paris an Höhe. Fast tausend Meter in weniger als zehn Sekunden, beinah senkrecht stürzte die Maschine nach unten, ehe es dem Piloten gelang, sie wieder zu stabilisieren. Die meisten Passagiere wurden aus dem Schlaf gerissen und hatten das ungute Gefühl, auf einem dahinwirbelnden Karussell durch die Luft zu fliegen.
Es waren die Schreie, die Izel aus ihrem leichten Schlaf hochfahren ließen, die Sprünge des Flugzeugs machten ihr nichts aus. An heftige Böen und Luftlöcher war sie gewöhnt, denn seit drei Jahren flog sie nun mit Turkish Airlines rund um die Welt. Sie hatte gerade Pause. Zwanzig Minuten hatte sie geschlummert, und als sie jetzt die Augen aufschlug, starrte sie auf das pralle Dekolleté ihrer diensthabenden, schon etwas älteren Kollegin Meliha, die sich zu ihr herabbeugte.
»Izel? Izel? Schnell! Hier ist ganz schön was los. Da draußen tobt anscheinend ein Sturm. Sicht gleich null, sagt der Käpt’n. Checkst du deinen Gang?«
Izel setzte den gelassenen Blick der erfahrenen Stewardess auf, die sich durch derartige Kleinigkeiten nicht aus der Ruhe bringen lässt. Sie erhob sich, straffte ihr Kostüm und schritt lächelnd die Reihen ab.
Das Flugzeug schaukelte immer noch bedenklich hin und her. Izel redete beruhigend auf die Passagiere ein.
»Alles in Ordnung. Keine Sorge. Wir sind gerade in einem Schneesturm über dem Jura. In weniger als einer Stunde sind wir in Paris.«
Izels Lächeln war nicht gespielt. In Gedanken spazierte sie bereits durch die Straßen von Paris. Drei Tage, bis Weihnachten, würde sie diesmal in der französischen Hauptstadt bleiben.
Sie strich einem zehnjährigen Jungen über den Kopf, der sich an die Hand seiner Großmutter klammerte, dann scherzte sie mit einem jungen Mann in zerknittertem Hemd, dem sie gerne am nächsten Tag auf den Champs-Élysées begegnet wäre, beschwichtigte eine Türkin, die ihren Schleier zurechtrückte, der ihr infolge des unsanften Erwachens halb über die Augen gerutscht war, und schließlich einen zusammengekauerten alten Mann, der seine Knie umklammerte und der Stewardess einen flehentlichen Blick zuwarf.
»Alles in Ordnung«, sagte Izel sanft. »Machen Sie sich keine Sorgen.«
Ruhig schritt sie weiter den Gang entlang, als der Airbus sich erneut bedrohlich zu einer Seite neigte. Inmitten der Entsetzensschreie einiger anderer Passagiere bemühte sich ein junger Typ mit Walkman besonders locker zu bleiben und rief in die Runde:
»He, wann schlagen wir einen Looping?«
Schüchternes Gelächter erhob sich, das augenblicklich vom Plärren eines Babys übertönt wurde. Der Säugling lag, ein paar Reihen von Izel entfernt, in einem Babysitz. Das Neugeborene, laut Passagierliste ein kleines Mädchen, war erst ein paar Monate alt, es trug ein weißes Kleid mit Orangenblüten, das unter einem Wollpulli hervorlugte. Die Mutter war gerade dabei, ihren Gurt zu lösen, um das Kind aus seinem Sitz zu nehmen.
»Nein, Madame!«, rief Izel alarmiert. »Sie müssen bitte unbedingt angeschnallt bleiben! Sonst …«
Die Mutter schien Izels Einwände nicht zu beachten und beugte sich über ihr schreiendes Baby. Mit eiligen Schritten näherte sich Izel der jungen Frau, als die Maschine erneut einen Satz nach unten machte. Drei Sekunden, an die tausend Meter.
Izel kippte zur Seite. Als sie sich wieder aufrichtete, machte die Mutter Anstalten, ihr Kind auf den Arm zu heben.
»Nein, Madame!«, rief Izel nun ein wenig strenger. Ihre drei Tage in Paris hatte sie sich wirklich redlich verdient! »Sie dürfen nicht …«
Dann ging alles sehr schnell. Ein anderes Baby begann zu schreien, wie ein Echo. Der alte Türke hatte den einen Arm um die Schulter der verschleierten Frau gelegt und streckte den anderen flehentlich Izel entgegen. Die Mutter drückte ihr Baby fest an sich.
Das waren die letzten Bilder vor dem Zusammenstoß des Flugzeugs mit dem Bergmassiv.
Bei dem Aufprall wurde Izel zehn Meter durch das Flugzeug geschleudert, sie war auf der Stelle tot. So gesehen hatte sie am meisten Glück von allen.
Sie bekam nicht mehr mit, wie die Lichter verloschen. Auch nicht, wie das Flugzeug, als wäre es ein Strohhalm, zusammenknickte, während sich ihm ein ganzer Wald entgegenstemmte. Und als das Flugzeug endlich zum Stillstand kam, roch sie nicht mehr das Kerosin, das sich überall ausbreitete.
Sie spürte keine Schmerzen, als die Explosion alles um sie herum zerfetzte, und sie schrie auch nicht, als Feuer in der Kabine ausbrach und die hundertfünfundvierzig Überlebenden in einer Flammenhölle einschloss.
~~~
Jetzt wissen Sie alles.
Crédule Grand-Duc legte den Stift beiseite, und sein Blick verlor sich im klaren Wasser des riesigen Vivariums, das an der gegenüberliegenden Wand stand. Ein paar Sekunden verfolgte er den verzweifelten Flug der Harlekin-Libelle, die er sich vor weniger als drei Wochen für 1500 Francs gekauft hatte. Eine seltene Art, eine der größten weltweit, eine genaue Replik ihres prähistorischen Vorfahren. Das langgestreckte Insekt schwirrte von einer Scheibe zur anderen, mitten in einem Schwarm hektischer Artgenossen. Lauter Gefangene, die in der Falle saßen.
Alle wussten, dass sie bald sterben würden.
Nervös griff Crédule Grand-Duc wieder nach dem Stift.
Ich habe in diesem Heft alle Indizien zusammengetragen, alle Spuren, alle Hypothesen. Achtzehn Jahre Nachforschungen. Diese etwa hundert Seiten enthalten alles. Wenn Sie sie aufmerksam gelesen haben, wissen Sie so viel wie ich heute. Vielleicht fällt Ihnen ja etwas auf, das mir entgangen ist? Vielleicht finden Sie den Schlüssel, wenn es denn einen gibt? Vielleicht …
Warum nicht?
Ich jedoch habe abgeschlossen.
Crédule Grand-Duc löste den Stift vom Papier und hielt ihn zitternd wenige Millimeter vor sich in der Luft. Erneut ließ er den Blick aus seinen blauen Augen zu den Glasscheiben des Vivariums wandern und dann zum Kamin hin schweifen, in dem lodernde Flammen einen Packen Zeitungen, Papiere und Aktenmappen verzehrten. Entschlossen setzte Grand-Duc einen letzten Satz auf den Papierbogen.
Es wäre falsch zu behaupten, ich hätte keine Gewissensbisse, aber ich habe getan, was ich tun konnte.
Lange Zeit starrte Crédule Grand-Duc auf diese finale Zeile, dann klappte er das mattgrüne Heft langsam zu.
Ich habe getan, was ich konnte, wiederholte er für sich, endlich überzeugt von seiner Schlusssentenz.
Grand-Duc steckte den Stift in einen runden Behälter vor ihm, riss ein Post-it von einem Blöckchen ab und klebte es auf die Vorderseite des Heftes. Mit einem Marker schrieb er groß und deutlich Für Lylie auf das Post-it. Dann schob er das Heft von sich und stand auf.
Sein Blick verharrte einige Augenblicke auf dem kupferfarbenen Schild, das auf dem Schreibtisch lag: CRÉDULE GRAND-DUC, PRIVATDETEKTIV. Er lächelte bitter. Seit langem nannten ihn alle Grand-Duc, es verwendete niemand mehr seinen lächerlichen Vornamen. Niemand, abgesehen von Emilie und Marc Vitral. Aber das lag ja eine Ewigkeit zurück, damals waren sie noch Kinder gewesen.
Grand-Duc ging zur Küche hinüber. Er warf einen letzten Blick auf die Spüle aus Edelstahl, die achteckigen weißen Fliesen, die Wandschränke aus hellem Holz. Alles war aufgeräumt, lag ordentlich an seinem Platz, jeder Hinweis auf ein vorheriges Leben war säuberlich getilgt worden, als handelte es sich um eine Wohnungsübergabe. Grand-Duc war penibel, bis ganz zum Schluss. Er wusste es. Das erklärte einiges. Alles, um genau zu sein.
Er drehte sich um und trat an den Kamin, bis er die Hitze förmlich greifen konnte. Dann beugte er sich vor und warf zwei Kartons mit Archivmaterial ins Feuer. Er wich zurück, um den aufstiebenden Funken auszuweichen.
Eine Sackgasse.
Tausende Stunden hatte er verbracht, um auch das unbedeutendste Detail dieser Geschichte auszuloten … All diese Indizien, Notizen, Nachforschungen lösten sich nun in Rauch auf. Die Spuren dieser jahrelangen Untersuchung verschwanden binnen weniger Stunden.
Achtzehn Jahre Arbeit – umsonst.
Was für eine Ironie des Schicksals: Sein ganzes Leben schrumpfte auf diesen Scheiterhaufen zusammen, den nur er auflodern sah.
In elf Minuten würde Lylie volljährig sein, zumindest offiziell. Wer war sie? Noch immer gab es darüber keine Gewissheit. Es stand fünfzig zu fünfzig, wie am ersten Tag. Kopf oder Zahl.
Lyse-Rose oder Emilie?
Er hatte versagt. Mathilde de Carville hatte ein Vermögen ausgegeben, achtzehn Jahre lang hatte sie ihm ein Gehalt gezahlt, für nichts und wieder nichts.
Grand-Duc goss sich ein weiteres Glas Vin Jaune ein. Fünfzehn Jahre alt, Réserve spéciale von Monique Genevez, womöglich die einzige gute Erinnerung an diesen Auftrag. Er lächelte, als er das Glas an die Lippen setzte. Von dem Klischee des Schnüfflers, der dem Alkohol verfallen ist, war er weit entfernt, er trank nur zu besonderen Anlässen. Lylies Geburtstag war ein solcher Anlass. Ebenso wie die letzten Minuten seines Lebens.
Der Detektiv leerte das Glas Vin Jaune in einem Zug.
Augenblicke wie diese würde er vermissen, den unvergleichlichen Geschmack des Vin Jaune auf seinen Lippen, der so süß in der Kehle brannte und ihn für eine Sekunde seine Obsession vergessen ließ, dieses Rätsel ohne Lösung, dem er sein Leben gewidmet hatte.
Grand-Duc stellte das Glas auf dem Schreibtisch ab und nahm das mattgrüne Heft noch einmal zur Hand, unschlüssig, ob er es öffnen sollte oder nicht. Er starrte auf das Post-it, Für Lylie.
Dieses Heft war alles, was blieb, diese Seiten, die er in den letzten Tagen noch einmal überarbeitet hatte – für Lylie, für Marc, für Mathilde de Carville, für Nicole Vitral, für die Polizei, die Anwälte, für alle, die sich in diesen ständig um sich selbst kreisenden Strudel stürzen wollten.
Eine fesselnde Lektüre, kein Zweifel. Ein wahres Meisterwerk, ein Detektivroman, der einem den Atem raubte. Alle nötigen Zutaten waren vorhanden.
Nur das Ende fehlte …
Er hatte einen Krimi geschrieben, dessen letzte Seite jemand herausgerissen hatte. Ein Schwindel!
Ohne Zweifel würden sich künftige Leser, die klüger waren als er, in den Fall verbeißen. Sie würden fest daran glauben, die Lösung zu finden.
Auch er hatte das ja einst geglaubt. Insgeheim war er immer überzeugt davon gewesen, dass es einen Beweis geben musste, dass die Gleichung aufging, dass er etwas übersehen hatte. Und nur diese Illusion hatte ihn bei der Stange gehalten – es wäre schrecklich gewesen, hätte er all die Jahre gewusst, dass er mit einem Rätsel beschäftigt war, das einfach nicht zu knacken war. Doch nun musste er sich sein Scheitern eingestehen, heute, am Abend vor Lylies achtzehntem Geburtstag.
Ich habe getan, was ich tun konnte, las der Detektiv erneut. Der Rest ging ihn jetzt nichts mehr an.
Grand-Duc ließ seinen Blick durchs Zimmer streifen. Er konnte sich nur mit Mühe zurückhalten, die leere Flasche und das gebrauchte Glas aufzuräumen. Er lächelte unwillkürlich: Die Gerichtsmediziner würden, wenn sie sich später über seine Leiche beugten, sicher andere Sorgen haben als ein ungespültes Glas. Auch wenn sein Tod wahrscheinlich nicht sofort bemerkt werden würde – wer sollte ihn schon vermissen? –, würde der Verwesungsgeruch schließlich doch die Aufmerksamkeit der Nachbarn erregen.
Er beugte sich vor und warf ein kleines Stück Pappe in den Kamin, das außerhalb der Reichweite der Flammen lag.
Dann näherte er sich bedächtig dem Mahagoni-Sekretär in der gegenüberliegenden Ecke. Er zog die mittlere Schublade auf, entnahm ihr ein Lederetui mit einem Revolver, einem Mateba, der noch ganz neu wirkte und im Feuerschein glänzte. Die Hand des Detektivs verschwand noch tiefer in der Schublade und förderte schließlich drei 38er Patronen zutage.
Grand-Duc lächelte. Mit einer routinierten Handbewegung ließ er die Trommel aufschnappen und füllte sie mit Patronen.
Eine einzige genügte, auch wenn er angetrunken war und vielleicht zitterte oder sogar zauderte. Doch es würde ihm gelingen, den Lauf an die Schläfe zu setzen, ganz fest, und abzudrücken.
Es würde ihm gelingen, auch mit einer ganzen Flasche Wein im Blut.
Er legte den Revolver auf den Schreibtisch und holte aus einer anderen Schublade eine Zeitung hervor, eine bereits vergilbte Ausgabe des Est républicain. Seit Monaten plante er diese makabre Szene, dieses symbolische Ritual, das ihm helfen würde, den Schlussstrich zu ziehen und für immer aus diesem Labyrinth zu entfliehen.
Die letzten Blätter kräuselten sich im Würgegriff der Flammen. Matt brummten die Libellen in ihrem Vivarium. Seit einer halben Stunde war der Strom abgestellt. Ohne Sauerstoff, ohne Nahrung würden die Libellen nicht einmal eine Woche überleben. Dabei hatte er Unsummen aufgebracht, um die seltensten Exemplare zu erstehen, die ältesten bekannten Arten. Stunden hatte er damit zugebracht, das Vivarium in Schuss zu halten, hatte die Libellen mit allen möglichen winzigen Insekten gefüttert, damit sie stark und kräftig wurden, sich paarten. Er war sogar so weit gegangen, eine Spezialfirma mit der Libellenpflege zu beauftragen, wenn er dienstlich unterwegs war.
Und nun ließ er sie einfach so sterben. Gemeinsam mit ihm.
Eigentlich ist es doch ganz angenehm, dachte Grand-Duc, über Leben und Tod entscheiden zu können. Erst päppelt man jemanden auf, macht ihm Hoffnung, dann stößt man ihn in den Abgrund. Man spielt mit dem Schicksal, als wäre man ein listiger, unberechenbarer Gott. Und war er letztlich nicht selbst Opfer eines ebensolchen sadistischen Gottes geworden?
Crédule Grand-Duc setzte sich an den Schreibtisch, schob unwillkürlich das grüne Heft noch näher an den Rand der Tischplatte, als habe er Angst, es könnte Blut darauf spritzen.
Er breitete den Est républicain vor sich aus. Es war die Ausgabe vom 23. Dezember 1980. Sein Blick blieb an der Schlagzeile der Titelseite haften: »Wundersame Rettung am Mont Terrible«.
Die Schlagzeile lief über die gesamte Breite der Zeitung. Gleich darunter sah man das unscharfe Foto eines Flugzeugwracks, entwurzelte Bäume, die Fußstapfen der Rettungsmannschaften im Schnee. Mit wenigen Zeilen unter dem Foto wurde die Katastrophe zusammengefasst:
»In der Nacht vom 22. auf den 23. Dezember prallte der Airbus 5403 auf der Strecke zwischen Istanbul und Paris gegen einen Hang des Mont Terrible an der französischschweizerischen Grenze. Hundertachtundsechzig der insgesamt hundertneunundsechzig Passagiere und Crewmitglieder fanden den Tod, sie starben entweder gleich bei der Kollision oder verbrannten, als das Wrack in Flammen aufging. Wie durch ein Wunder überlebte ein drei Monate altes Mädchen, das bei dem Zusammenprall aus dem Flugzeug geschleudert wurde, bevor das Feuer ausbrach.«
Grand-Duc hob den Blick. Wenn er sich die Kugel in den Schädel jagte, würde er vornüber auf die Zeitung kippen. Sein Blut würde das Foto der Katastrophe vor achtzehn Jahren rot färben und sich mit dem der hundertachtundsechzig Opfer vermischen. In ein paar Tagen würde man ihn so finden. Niemand würde seinen Tod bedauern, schon gar nicht die Carvilles. Die Vitrals wären vielleicht ein wenig traurig. Emilie, Marc. Und vor allem Nicole.
Man würde ihn finden und dann Lylie das Heft überreichen, das Buch ihres kurzen Lebens. Sein Testament.
Grand-Duc betrachtete sein Spiegelbild in dem Messingschild, beinahe stolz. Eigentlich war das doch ein schönes Ende, viel besser als alles Übrige.
Er hatte seine Chance gehabt, es war nicht zu leugnen: achtzehn Jahre andauernde Ermittlungen.
Es war so weit.
Sorgfältig legte er die Ausgabe des Est républicain vor sich zurecht, rückte den Stuhl etwas näher an die Tischkante heran und ergriff den Kolben des Revolvers mit der feuchten rechten Hand.
Langsam hob er den Arm.
Als das kalte Metall seine Schläfe berührte, begann er wider Willen zu zittern. Doch er war bereit. Der Alkohol würde ihm dabei helfen.
Er versuchte, an nichts zu denken, vor allem nicht an die Kugel, die ihm gleich in den Schädel dringen würde. Starrte einfach ins Leere.
Sein Zeigefinger berührte den Abzug. Er musste nur noch abdrücken, dann wäre alles vorbei.
Sollte er die Augen schließen oder öffnen?
Ein Schweißtropfen rann ihm über die Stirn und tropfte auf die Zeitung. Er blickte ein letztes Mal auf das Foto des ausgebrannten Flugzeugwracks, dann auf das daneben, welches den Feuerwehrmann vor dem Krankenhaus in Montbéliard zeigte, in seinen Armen dieser völlig verfrorene kleine Körper. Das gerettete Baby.
Der Zeigefinger drückte fester auf den Abzug.
Ohne etwas zu sehen, heftete der Detektiv seinen Blick abermals auf die schwarzen Lettern der Schlagzeile. Als blickte er durch ein letztes Fenster auf die Welt, bevor alles im Nebel versank.
Der Zeigefinger. Der Abzug.
Die Augen, weit geöffnet.
Plötzlich durchzuckte Grand-Duc das Unvorstellbare, wie eine elektrische Ladung fuhr es durch seinen Körper.
Was seine Augen da sahen, war unmöglich!
Der Druck des Zeigefingers ließ unmerklich etwas nach.
Zuerst hielt Grand-Duc es für eine Halluzination, die sein unmittelbar bevorstehender Tod hervorgerufen hatte, einen Überlebensreflex seines Gehirns.
Nein!
Was er sah, was er da in der Zeitung las, war ganz real – es gab keinen Zweifel.
Der Verstand des Detektivs setzte sich in Bewegung. Im Lauf der Jahre hatte er so viele Thesen aufgestellt und wieder verworfen, an die hundert waren es gewesen. Aber jetzt hatte er einen Ausgangspunkt, er brauchte nur noch an dem Faden zu ziehen, und schon würde sich alles mit entwaffnender Schlichtheit entwirren.
Alles lag klar zutage.
Er ließ die Waffe sinken und brach unwillkürlich in irres Lachen aus.
Er sah auf die Wanduhr.
Noch immer konnte er es nicht fassen. Seine Hände zitterten.
Er hatte es geschafft!
Die Lösung war zum Greifen nah, sie stand in dieser Zeitung, auf der Titelseite, von Anfang an. Sie hatte geduldig auf ihn gewartet: Es war allerdings unmöglich gewesen, sie damals, vor achtzehn Jahren, zu entdecken. Alle hatten diese Zeitung gelesen, sie ausführlich studiert und analysiert, tausendmal, und doch konnte 1980 und während all der Jahre danach noch niemand die Lösung auch nur ahnen.
Dabei sprang sie einem förmlich ins Auge. Unter einer Bedingung.
Einer einzigen Bedingung. Bei der einem schwindelig wurde.
Man musste diese Zeitung achtzehn Jahre nach der Katastrophe wieder aufschlagen!
~~~
Waren die beiden ein Liebespaar oder Bruder und Schwester?
Seit fast einem Monat beschäftigte Mariam diese Frage. Sie war die Inhaberin des Cafés Le Lénine an der Ecke Avenue de Stalingrad / Rue de la Liberté, nicht weit vom Campus der Universität Paris VIII-Vincennes-Saint-Denis entfernt. Noch war das Lokal recht spärlich besucht, und Mariam nutzte die Zeit, um ein wenig Ordnung zu schaffen.
Die beiden, um die es ging, saßen wie gewöhnlich hinten am Fenster, an einem winzigen Zweiertisch, und schauten sich händchenhaltend in die blauen Augen.
Liebende?
Freunde?
Geschwister?
Mariam seufzte. Diese Ungewissheit nervte sie. Normalerweise hatte sie ein ziemlich sicheres Gespür für die Herzensangelegenheiten ihrer Studenten. Rasch wischte sie mit einem Schwamm über die Tische und fegte den Boden. In wenigen Minuten würde die Métro-Linie 13 Tausende von gehetzten Studenten ausspucken. Der U-Bahnhof war erst seit vier Monaten in Betrieb, und doch hatte seine Eröffnung das Viertel bereits verwandelt. Die Uni Saint-Denis war nun direkt mit dem Herzen von Paris verbunden.
Mit ein, zwei zupackenden Handgriffen verteilte Mariam die herumstehenden Stühle um die Tische und trat dann hinter den Tresen. Jeden Morgen um Viertel vor neun fielen die Studenten überfallartig ins Lénine ein, sie hätte die Uhr danach stellen können. Sie hatte miterlebt, wie sich die Universität Paris VIII-Vincennes-Saint-Denis, die rebellische Kaderschmiede der Geistes- und Naturwissenschaften, in eine ganz banale Vorstadt-Uni verwandelt hatte. Mittlerweile machten die meisten Professoren ein langes Gesicht, wenn sie hierher berufen wurden, denn sie alle wollten an die ehrwürdige Sorbonne, zur Not auch an die Uni Paris-Diderot ( Jussieu) – alles war ihnen lieber als ein Arbeitsplatz in Saint-Denis. Denn hier waren sie gezwungen – zumindest war es bis vor kurzem so gewesen, als sie noch die Plaine de Saint-Denis durchqueren mussten –, sich mit dem Leben in der Banlieue auseinanderzusetzen. Jetzt, wo es die neue Métro-Station gab, war diese Hürde zumindest überwunden: Die Professoren konnten die Weihestätten der Pariser Hochkultur nun direkt ansteuern.
Mariam warf einen verstohlenen Blick auf das Pärchen in der Ecke, die hübsche Blonde und den schüchternen Jungen.
Das Paar ließ ihr einfach keine Ruhe.
Mariam verstand nichts von Klausuren, von Modulen oder von Streiks. Auf das Beobachten ihrer Studenten während der Pausen verstand sie sich hingegen bestens. Sie hatte noch nie etwas von Robert Castel, Gilles Deleuze, Michel Foucault oder Jacques Lacan gelesen, den Stars der Uni Paris VIII, und dennoch sah sie sich in Liebesdingen als Expertin der Psychoanalyse, Soziologie und Philosophie. Den amourösen Angelegenheiten ihrer Schützlinge jedenfalls widmete sie sich mit Kompetenz und Professionalität.
Und dennoch: Obwohl sie so viel Erfahrung hatte – die Beziehung dieser beiden ließ sich nicht durchschauen.
Emilie und Marc.
Mariam konnte sich einfach keinen Reim darauf machen. Sie waren einander so ähnlich und doch so unterschiedlich. Mariam wusste, wie sie hießen, sie kannte alle ihre Stammgäste beim Namen.
Sie wusste außerdem, dass Marc seit zwei Jahren an der Uni Paris VIII studierte, Euopäisches Recht, wenn sie sich recht erinnerte. Er kam regelmäßig ins Lénine, der Allerfleißigste schien er nicht zu sein. Er war groß und gutaussehend, wirkte sympathisch, beinahe zu nett, ein züchtiger kleiner Rebell aus der Provinz, etwas verträumt, ohne den letzten Schliff.
Sie, Emilie, war dieses Jahr gekommen, im September. Also musste sie zwei oder drei Jahre jünger sein als er.
Die beiden hatten einiges gemein, zum Beispiel diesen Akzent, dessen Herkunft Mariam nicht bestimmen konnte, der aber eindeutig derselbe war. Ein etwas plumper Akzent, der nicht zu Emilie, zu ihrer Persönlichkeit, passen wollte, ebenso wenig wie dieser kurze und banale Vorname: Emilie. Emilie war blond, wie Marc. Sie sahen sich überhaupt recht ähnlich. Doch während Marcs Gesten unbeholfen und ein wenig schlicht wirkten, wohnte jeder Bewegung von Emilie eine natürliche Anmut inne, die bestimmt auf ein gutes Elternhaus zurückzuführen war.
Seltsam war auch, mit welcher Eleganz Emilie gekleidet war, egal ob es sich um ein Stück von H&M, Zara oder Yves Saint Laurent handelte … Wobei Emilie nun auch nicht der Yves-Saint-Laurent-Typ war.
Nun ja, wenn Emilie und Marc aus ein und derselben Gegend stammten, so kamen sie in jedem Fall aus verschiedenen Welten, dachte Mariam.
Dennoch waren sie unzertrennlich. Zwischen ihnen herrschte eine Vertrautheit, die nicht in ein paar Monaten an der Uni entsteht. Es war eher so, als hätten sie schon immer zusammengelebt. Man merkte es an den tausend kleinen Aufmerksamkeiten, die Marc Emilie gegenüber an den Tag legte: Mal zog er ihr den Stuhl heran, mal hielt er ihr die Tür auf, mal schenkte er ihr zu trinken ein. Wie ein großer Bruder, der sich um seine kleine Schwester kümmerte!
Mariam hielt Emilie für eine brillante Studentin, klug, ehrgeizig und entschlossen. Vielleicht studierte sie Kunst. Oder Literatur. Wenn Emilie ein Buch aus der Tasche zog, las sie konzentriert und machte sich Notizen – noch nie hatte Mariam Marc in solchem Eifer beobachtet.
Bruder und Schwester, tatsächlich?
Nein, als sie die beiden nun dort am Fenster so sitzen sah, wurde ihr klar, dass Marc sich nicht wie ein Bruder verhielt … Er war bis über beide Ohren verliebt in das Mädchen! Kein Zweifel.
Und doch war da die Sache mit den Namen.
Marc Vitral.
Emilie Vitral.
Die logische Schlussfolgerung war, dass es sich um Geschwister handelte. Doch was sollten dann diese intimen Gesten? Die Art, wie Marc Emilie die Hand auf den Rücken legte. Vielleicht waren sie verheiratet? Im zarten Alter von achtzehn und zwanzig Jahren? Ungewöhnlich für Studenten, aber immerhin möglich. Nein, Mariam konnte sich keinen Reim darauf machen. Energisch spülte sie ein paar Gläser ab und sah immer wieder verstohlen zu dem Zweiertischchen hin.
Emilie schien sehr an Marc zu hängen. Dennoch umgab sie eine schwer zu deutende Traurigkeit, wenn sie mit ihm zusammen war. Auch wenn sie allein war, überlegte Mariam, wirkte sie ein wenig melancholisch und distanziert, vielleicht sogar überheblich. Jedermann auf dem Campus verschlang die schöne Emilie mit den Augen, doch niemals hätte einer es gewagt, sie abzuschleppen.
Außer Marc!
Emilie war der Grund, weshalb er hier zur Uni ging. Nicht sein Studium. Er wollte bei ihr sein, sie beschützen.
So viel hatte Mariam begriffen.
Doch was war das für ein Band, das die beiden zusammenhielt? Mariam hatte nie etwas Persönliches über Emilie und Marc erfahren, obwohl sie Tag für Tag ins Lénine kamen.
Aber sie würde es noch in Erfahrung bringen.
»Mariam«, rief Marc, »bringst du uns noch zwei Kaffee und ein Glas Leitungswasser für Emilie?«
Mariam musste schmunzeln. Marc bestellte nie einen Kaffee, wenn er allein war, und er bestellte immer einen, wenn er mit Emilie kam. Einen verlängerten.
»In Ordnung, ihr Turteltäubchen«, erwiderte Mariam.
Nur so als Testballon.
Marc lächelte verschämt. Emilie nicht. Sie hielt den Kopf leicht gesenkt. Erst jetzt bemerkte Mariam, dass Emilie an diesem Morgen schrecklich aussah, sie hatte offensichtlich nicht geschlafen. Hatte sie Angst vor einer Prüfung, für die sie die ganze Nacht hatte lernen müssen?
Mariam klopfte das Kaffeesieb aus, spülte es sauber und ließ zwei Espresso durchlaufen.
Ihr Gefühl sagte Mariam, dass es um etwas Ernsteres als eine Prüfung ging.
Sie hatte schon so viele Abschiedsszenen miterlebt, letzte Treffen voller Pathos, tapfere Jungs, die vor ihrem Kaffee sitzen blieben, während ihr Mädchen aufstand und ging. Emilie sah aus, als hätte sie die ganze Nacht gegrübelt und am frühen Morgen eine Entscheidung getroffen, an deren Konsequenzen sie schwer zu tragen haben würde.
Mariam seufzte.
Armer Marc. Wusste er, dass er bereits in Ungnade gefallen war?
Sie stellte den Kaffee und das Glas Wasser auf den Tisch und zog sich, ohne zu lauschen, hinter ihren Tresen zurück. Sie konnte auch diskret sein.
~~~
Marc Vitral wartete ein wenig, bis Mariam sich entfernt hatte. Dann beugte er sich vor und holte aus dem Eastpack-Rucksack neben seinem Stuhl einen kleinen Würfel hervor, der in Silberpapier eingewickelt war.
»Alles Gute zum Geburtstag, Emilie«, sagte Marc fröhlich.
Er hielt ihr das Päckchen hin.
Emilie rollte in gespieltem Zorn mit den Augen.
»Marc!«, rief sie vorwurfsvoll. »Seit einer Woche beglückwünschst du mich drei Mal täglich … Du weißt doch, dass das alles nicht nötig ist.«
»Psst … Mach es auf.«
Kopfschüttelnd wickelte Emilie das Geschenk aus. Ein Schmuckstück aus Silber. Ein Kreuz, das in raffinierten Formen zu den Seiten hin jeweils in eine kleine Raute auslief und das oben mit einem großen Kreis abschloss, auf dem eine winzige Krone saß. Emilie nahm das Schmuckstück in die Hand und betrachtete es.
»Marc, du bist ja verrückt …«
»Das ist ein Tuareg-Kreuz! Es gibt einundzwanzig Varianten davon, soweit ich weiß. Für jede Stadt der Sahara eines. Das hier ist das Kreuz von Agadez. Gefällt es dir?«
»Und wie! Aber …«
Marc ließ sich nicht beirren.
»Es heißt, die Rauten stellen die vier Himmelsrichtungen dar. Wer ein Tuareg-Kreuz verschenkt, verschenkt zugleich die ganze Welt.«
»Ich kenne die Legende«, sagte Emilie leise. »Ich schenke dir die vier Himmelsrichtungen, weil ich nicht wissen kann, wo du sterben wirst.«
Marc lächelte verlegen. Natürlich kannte sie die Legende der Tuareg-Kreuze und all das andere. Eine Weile saßen sie schweigend da. Emilie streckte die Hand nach der Tasse aus. Instinktiv tat Marc es ihr gleich. Seine Finger tasteten sich ihr entgegen. Doch plötzlich hielt er in seiner Bewegung inne. Emilie trug einen Ring! Er war aus Gold, sehr aufwendig gestaltet, mit einem hellen Saphir, ein fantastisches altes Schmuckstück, das sicher ein Vermögen wert war. Marc hatte es noch nie an ihr gesehen. Sein Blick trübte sich vor Eifersucht, wie immer, wenn ein Detail, das er nicht verstand, ihn von ihr entfernte. Schließlich stammelte er:
»Dieser … dieser Ring. Gehört der … dir?«
»Nein … Den habe ich heute Morgen gestohlen! An der Place Vendôme!«
Marc verschlug es die Sprache. Seine Lider flatterten nervös. Auch wenn er für das Kreuz ein ganzes Wochenende und drei Nächte in dem Callcenter gejobbt hatte, war es billiger Tand im Vergleich zu diesem Ring. Außerdem hatte Emilie ihr afrikanisches Schmuckstück bereits wieder in dem kleinen Etui verstaut. Er zwang sich, einen Schluck Kaffee zu trinken, und fragte unsicher:
»Dieser Ring da. Ist das … ein Geschenk?«
Emilie senkte langsam den Blick.
»Wenn man so will, ja … Das ist eine etwas kompliziertere Geschichte. Er ist wunderschön, nicht wahr?« Sie suchte nach Worten. »Ich werde es dir erklären, mach dir keine Sorgen. Zumindest nicht wegen dieses Rings …«
Marc wurde stutzig. Was sollte das heißen? Sie sah entsetzlich aus, als hätte sie die ganze Nacht nicht geschlafen, obwohl sie ihn tapfer anlächelte, während sie wie üblich ihren Kaffee mit ein wenig Wasser verdünnte. Plötzlich, als hätte sie eine wichtige Entscheidung getroffen, hellte sich ihre Miene auf, sie nahm einen Schluck Kaffee und kramte in ihrer Tasche. Ein mattgrünes Heft kam zum Vorschein, sie schob es Marc hinüber.
»Hier, ich hab auch was für dich.«
Erneut wurde Marc von einer dumpfen Unruhe ergriffen.
»Was ist das?«
»Die Aufzeichnungen von Grand-Duc«, antwortete Emilie wie aus der Pistole geschossen. »Er hat sie mir vorgestern vorbeigebracht, am Abend vor meinem Geburtstag. Na ja, sagen wir, er hat das Heft in meinen Briefkasten geworfen oder jemanden damit beauftragt. Ich habe es am nächsten Morgen erhalten.«
Marc betastete das Heft vorsichtig, wie einen kostbaren Gegenstand.
Dieses Heft. Die Aufzeichnungen von Grand-Duc. Offenbar hatte Emilie die beiden vergangenen Tage und Nächte damit verbracht, sie wieder und wieder zu lesen … Achtzehn Jahre lang hatte dieser durchgeknallte Detektiv seine Nachforschungen betrieben. Ein ganzes Leben lang. Seit Emilie auf der Welt war.
Was für ein Geburtstagsgeschenk!
Marc suchte in Emilies Blick nach Indizien. Auf welche Wahrheit war sie in diesem Heft gestoßen? Eine neue Identität? Etwas, das ihr endlich innere Gelassenheit schenkte? Oder stand gar nichts Neues darin?
Sie ließ sich nichts anmerken. Dieses Spiel beherrschte sie zur Perfektion. Bedächtig goss sie weiteres Wasser in ihren Kaffee und nippte in kleinen Schlucken daran.
»Endlich hat er mir dieses Heft übergeben. So wie er es mir immer versprochen hatte: Die Wahrheit, sobald ich ins Erwachsenenleben eintrete.«
Marc wusste nicht, ob er das Heft an sich nehmen solle.
»Und?«, fragte er. »Steht irgendetwas Wichtiges drin, in dem Heft? Weißt du jetzt Bescheid?«
Emilie sah aus dem Fenster. Draußen auf dem Platz gingen die Studenten in kleinen Grüppchen zur Uni.
»Bescheid worüber?«
Marc spürte eine Welle des Ärgers in sich aufsteigen. Gerne hätte er gesagt: »Bescheid darüber, weshalb dieser Scheißprivatdetektiv all die Jahre bezahlt wurde! Bescheid darüber, wer du bist, Lylie!« Doch er behielt diese Worte wieder einmal für sich.
Emilie spielte zerstreut mit der linken Hand an ihrem Ring. Eine Mischung aus Erschöpfung und Distanz schien sie gleichgültig gegen Marcs wachsende Entrüstung zu machen.
»Jetzt bist du dran, Marc. Jetzt musst du es lesen.«
In Marcs Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Von wem stammte dieser Ring, den Emilie an ihrem Finger trug? Seit wann hatte sie ihn? Mechanisch griff er nach dem Heft und hörte sich sagen:
»In Ordnung, meine Libelle. Ich werde diese verdammten Aufzeichnungen lesen.« Er räusperte sich. »Und sonst, geht es dir gut?«
»Ja, ja … Mach dir keine Sorgen.«
Emilie führte die Tasse an ihre Lippen und trank, aber sie musste sich zwingen, den Kaffee hinunterzubekommen.
Nein, es ging ihr nicht gut. Emilie verheimlichte etwas. Irgendetwas, das Grand-Duc entdeckt und in sein Heft notiert hatte. Einen Hinweis auf ihre Identität?
»Hat Grand-Duc dir zusammen mit dem Heft irgendeine Nachricht hinterlassen?«
Emilies Gesichtsausdruck verdüsterte sich, als sei sie im Besitz einer schrecklichen Information, die sie nicht weitergeben wollte. Sie schaute demonstrativ auf die Armbanduhr. Marc zuckte zusammen.
»Musst du schon wieder weg?«
»Ja … Ich habe heute Morgen keine Uni. Du dagegen schon! Um zehn. Europäisches Verfassungsrecht. Übung mit dem jungen, leidenschaftlichen Grandin! Lass uns gehen, Marc.«
Marc machte eine jämmerliche Miene.
»Was hast du vor?«
Emilie goss den letzten Wassertropfen in ihren Kaffee, leerte die Tasse und warf Marc einen müden Blick zu. Sie beugte sich vor, griff nach ihrer Tasche und erhob sich.
»Ich habe noch etwas für dich.«
Sie hielt ihm ein kleines Päckchen hin, kaum größer als eine Streichholzschachtel.
Marc schwante nichts Gutes. Alles an Emilies Haltung schien gespielt. Ihre gute Laune, ihre bemüht ungezwungenen Gesten.
»Aber du darfst es nicht gleich öffnen«, fügte Emilie hinzu. »Erst wenn ich weg bin. Nach einer Stunde! Versprochen? Es ist wie beim Versteckspielen, du musst mir Zeit lassen, damit ich verschwinden kann … Du machst die Augen zu, zählst bis … na, sagen wir, bis tausend.«
Emilie schien die gesamte Energie, die ihr noch verblieben war, darauf zu verwenden, ihre Bitte als Spiel zwischen zwei Verliebten zu kaschieren. Doch Marc ließ sich nicht hinters Licht führen.
»Versprochen?«, bettelte Emilie.
Er nickte resigniert. Ihre Blicke begegneten sich, lange sahen sie sich an.
»Nein, du wirst es nicht tun. Du bist stur wie ein Maulesel, Marc, ich kenne dich! Du wirst dich darauf stürzen, sobald ich dir den Rücken gekehrt habe.«
Marc widersprach ihr nicht. Emilie hob die Hand. Wieder blitzte dieser verflixte Ring an ihrem Finger auf.
»Mariam?«
Die Wirtin, die das Pärchen aus den Augenwinkeln beobachtet hatte, machte eine Vierteldrehung und war sofort am Tisch.
»Mariam, ich habe einen Mission für dich. Nimm doch bitte dieses Päckchen an dich und gib es Marc in einer Stunde, nicht früher. Selbst wenn er dich anfleht, dir Geld bietet oder dich erpresst. Ach, und um zehn muss er in der Uni sein, Hörsaal B 318 …«
Verblüfft stand Mariam da, das Päckchen in Händen.
»Ich verlasse mich auf dich, Mariam.«
Ihr blieb keine andere Wahl. Emilie sprang auf, stopfte das Etui mit dem Tuareg-Kreuz in die Tasche und gab Marc ein Küsschen. Halb auf die Wange, halb auf die Lippen. Zweideutig, so als wollte sie Mariam zum Narren halten.
Emilie verschwand durch die Glastür des Lénine und wurde sogleich, wie ein Gespenst, von der Menge der Studenten auf dem Platz verschluckt.
Mariam betrachtete ratlos das Päckchen in ihrer Hand. Sie musste natürlich tun, was Emilie ihr aufgetragen hatte, aber dieses Spiel gefiel ihr nicht. Emilie war eine besondere Frau, doch an dieser ganzen Sache war etwas faul. Mariam hatte das Gefühl, eine tickende Zeitbombe aufbewahren zu müssen.
Marc hätte Emilie nicht einfach so gehen lassen dürfen. Der brave Junge, er war einfach zu naiv, zu vertrauensselig. Egal, ob es sich bei dem Mädchen um seine Schwester, seine Frau, seine Geliebte oder seine Freundin handelte. Mariam vermochte vielleicht nicht zu erkennen, was für ein Band die beiden einte, aber sie war überzeugt, dass Emilie nur eines im Sinn hatte: dieses Band zu zerschneiden.
~~~
Marc sah Mariam lauernd nach. Zwischen zwei Bestellungen hatte die Wirtin das kleine Päckchen in ihre Registrierkasse gesteckt und Marc dabei einen unmissverständlichen Blick zugeworfen. Vor Ablauf der vereinbarten Zeitspanne würde sie es nicht herausrücken. Solidarität unter Frauen. Er seufzte und nahm das grüne Heft von Crédule Grand-Duc an sich. Emilie wusste genau, was sie tat. Sie zwang ihn, hier zu warten, bis sein ödes Seminar zum Europäischen Verfassungsrecht begann, das ein junger Professor leitete, der die meiste Zeit mit seinem Handy beschäftigt war. Emilie hatte ihn in die Falle gelockt. Jetzt kam er nicht mehr raus und musste eine Stunde totschlagen.
Das Lénine hatte sich mittlerweile gefüllt. Ein hochgewachsener Typ fragte Marc, ob er den Stuhl haben könne, auf dem Emilie eben noch gesessen hatte. Marc nickte zerstreut. Die Wanduhr mit dem schwarz-weiß-roten Martini-Logo zeigte drei Minuten nach neun an. Marc zögerte, bevor er das Heft aufschlug. Er strich über den lackierten Einband, wartete, blickte erneut auf die Zeiger der Martini-Wanduhr. Sie schienen festgeklebt zu sein: 9 Uhr 04.
Marc seufzte.
Er hatte seinen Kaffee noch nicht angerührt und würde ihn auch jetzt nicht trinken, Kaffee hatte ihm noch nie geschmeckt. Ein alter Professor, der vor seinem kleinen Bier am Tresen stand, den Parisien in der Hand, schielte zu seinem Platz hinüber. Marc sah offenbar so aus, als ob er aufspringen und Emilie nachlaufen wollte – und dieses verdammte Heft in den Mülleimer zu pfeffern gedachte.
Er schaute zum Fenster hinaus, als suchte er in der immer dichteren Menschenmenge nach Emilies vertrauter Silhouette, als könnte diese Masse sie aufhalten und ein Spalier bilden, das ihn zu ihr hinführte. Er spürte, wie sich ihm die Kehle zusammenschnürte.
Unschlüssig trommelte er mit seinen Fingern auf dem Heft herum.
Emilie würde gewinnen, wie immer. Auch er musste sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen.
Marc atmete tief durch und schlug das Heft auf. Grand-Ducs Schrift war klein und dichtgedrängt, sehr regelmäßig. Und von perfekter Lesbarkeit.
Er beugte sich vor, vertiefte sich in die blauen Linien aus Buchstaben, Worten, Zeilen, als würde er in einen Ozean aus Zweifeln tauchen.
Aufzeichnungen von Crédule Grand-Duc
Alles begann mit einer Katastrophe. Ich glaube, niemand oder fast niemand hatte vor dem 23. Dezember 1980 vom Mont Terrible gehört. Ich jedenfalls nicht. Der Mont Terrible ist einer der kleineren Berge im Jura. Er befindet sich an der französisch-schweizerischen Grenze, dort wo der Fluss Doubs eine Biegung macht: ein Berg, auf dessen Hängen Kühe weiden, weit weg von Montbéliard auf französischer und Porrentruy auf Schweizer Seite. Er ist nicht sehr hoch, genau 804 Meter, aber gar nicht so leicht zugänglich, vor allem im Winter nicht, wenn er schneebedeckt ist. Die Bezeichnung »Mont Terrible« ist lediglich Historikern geläufig, heute heißt er »Mont Terri«. Natürlich war nach dem Flugzeugunglück in allen Zeitungsberichten wieder vom »Mont Terrible« die Rede, vom schrecklichen Berg. Als Ort der Katastrophe hatte das einfach einen besseren Klang: »Die Trägödie vom Mont Terrible«.
Unfälle wiederholen sich, sie gleichen sich. Ein paar Monate zuvor war eine Boeing 747 in der Nähe von Teneriffa auf den Kanaren ins Meer gestürzt. Hundertsechsundvierzig Tote. Im Jahr nach dem Crash am Mont Terrible, am 1. Dezember 1981, kollidierte die DC 9 Ljubljana–Ajaccio mit dem Monte San Pietro: hundertachtzig Tote – der einzige Flugzeugabsturz in der Geschichte der korsischen Luftfahrt. Kaum jemand erinnert sich noch an diesen Absturz, allenfalls die Korsen. Heute haben die Leute den Absturz am Mont Sainte-Odile vor Augen und warten darauf, dass ihn der nächste ablöst.
Damals, 1981, sprach man von einer Unglücksserie!
Was für ein Unsinn. Die Statistiken sprechen eine andere Sprache. Stundenlang habe ich recherchiert und Daten ausgewertet: Man findet verblüffend genaue Angaben zur Anzahl der Toten und zu den letzten Augenblicken vor der Katastrophe. Es klingt unglaublich, aber in den letzten vierzig Jahren wurden über tausendfünfhundert Flugzeugabstürze verzeichnet, die mehr als fünfundzwanzigtausend Opfer forderten. Das bedeutet fast vierzig Abstürze pro Jahr, fast einer pro Woche irgendwo auf der Welt …
Den Absturz aus dem Jahr 1980, die Katastrophe am Mont Terrible hat die Welt daher längst vergessen. Hundertachtundsechzig Tote. Zu Staub zerfallen. Zu Sternenstaub.
Mich berührte das Flugzeugunglück am Mont Terrible zunächst nicht über die Maßen. Davon gehört hatte ich an jenem Morgen nur durch Zufall. Ich hatte in der Nähe von Hendaye zu tun, es ging um Veruntreuung von Geldern in Zusammenhang mit einem Casino, der baskische Terrorismus war auch darin verwickelt – ein ziemlich aufregender Fall. Damals packte ich gern jedes heiße Eisen an, das war meine Spezialität. Es war keine fünf Jahre her, seit ich mich als Privatdetektiv selbständig gemacht hatte.
Ich hatte von dem Unglück morgens im Radio gehört, während ich vor dem Casino in Hendaye auf der Lauer lag. Wie konnte ich ahnen, dass diese Tragödie ein paar Monate später Dreh- und Angelpunkt meines Lebens werden sollte!
Der Airbus 5430 Istanbul–Paris zerschellte den offiziellen Nachrichten zufolge in der Nacht des 23. Dezember, um 0 Uhr 37, am Mont Terrible. Niemand hat je erfahren, was damals genau passiert ist. Der Winter war bis dahin ziemlich mild gewesen, doch an jenem Morgen hatte es unablässig zu schneien begonnen, und in der Nacht erhob sich ein fürchterlicher Schneesturm. Der Mont Terrible stellt eine Art Schwelle zwischen dem französischen und dem Schweizer Jura dar. Der Pilot schien direkt darauf zugeflogen zu sein. So hieß es zumindest damals – die Black Box ließ lediglich den Schluss zu, dass die Flughöhe der Maschine zu gering gewesen war und der Pilot zuletzt die Kontrolle verloren hatte. Die Angehörigen der Opfer und die Familie des Piloten versuchten Genaueres herauszufinden, jedoch ohne Erfolg. Schuld war erst der Pilot, dann der Schnee, der Sturm, der Berg, eine verhängnisvolle Verkettung der Umstände, das Schicksal.
Vor Weihnachten hatten die Umweltschützer um jeden kleinen Tannenbaum im Jura gekämpft, und dann pflügte die Unglücksmaschine binnen weniger Sekunden kurz vor ihrer Explosion eine mehrere Hundert Meter lange Schneise in den Wald – das Weihnachtsgrün für ein ganzes Jahrhundert!
Die Katastrophe wurde mit großer Verspätung bekannt: Die Rettungsmannschaften fanden sich erst eine Stunde nach dem Absturz bei dem brennenden Flugzeugwrack ein. Im Umkreis von fünf Kilometern lebte keine Menschenseele. Der Feuerschein war es, der die Anwohner des Tals schließlich alarmierte. Dann verzögerte der Schnee die Ankunft der Rettungsteams, die Helikopter blieben am Boden, die ersten Feuerwehrleute gelangten zu Fuß zum Unglücksort, indem sie der glühenden Schneise folgten. Am frühen Morgen ließ der Sturm nach, und der Mont Terrible erlangte für wenige Stunden traurige Berühmtheit. Es gab sogar einen Prozess oder doch zumindest gerichtliche Untersuchungen, weshalb die Rettungsleute so spät eingetroffen waren, aber mit der Zeit verlor die Öffentlichkeit das Interesse an dem Drama.
Die Rettungsmannschaften suchten fieberhaft nach Überlebenden, die Augen brannten ihnen vom Rauch. Und dann geschah das ganz und gar Unwahrscheinliche: Ein junger Feuerwehrmann, Thierry Mouchot von der Brigade Souchaux, entdeckte schließlich, dreißig Meter von dem brennenden Wrack entfernt, ein winziges Baby, und es lebte!