Cover
Vorspann
Die Hauptpersonen des Romans
Prolog
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
Epilog
Glossar
Impressum
PERRY RHODAN – die Serie
Nr. 2340
Zum Tee bei Jonas Untergang
VRITRAS und Schwertlilien – ein Wissenschaftler auf der Suche
Uwe Anton
Über die Welten der Milchstraße bricht im Jahr 1344 Neuer Galaktischer Zeitrechnung – dies entspricht dem Jahr 4931 alter Zeitrechnung – eine Veränderung herein, wie sie sich niemand hat vorstellen können: Die Terminale Kolonne TRAITOR, eine gigantische Raumflotte der Chaosmächte, greift nach der Galaxis.
Im unmittelbaren galaktischen Umfeld soll in der Sterneninsel Hangay eine sogenannte Negasphäre entstehen, ein absolut lebensfeindlicher Raum. Die Menschheitsgalaxis soll dieser kosmischen Region als »Ressource« zugeführt werden.
Dagegen versuchen die Völker der Milchstraße zwar vorzugehen, aber bislang sind ihnen nur wenige Erfolge beschieden: Die Haluter konnten sich dem Zugriff TRAITORS ebenso durch Flucht entziehen wie der arkonidische Herrscher Bostich.
Zudem sind sowohl das Innere des Solsystems als auch die Charon-Sternwolke für die Terminale Kolonne derzeit unerreichbar. In der Charon-Dunkelwolke trifft sich so mancher ZUM TEE BEI JONAS UNTERGANG …
Delmar Shettle – Im Kampf gegen TRAITOR befasst der Hyperphysiker sich auch mit Schwertlilien.
Radek Beibel – Der ehemalige Sicherheitschef der Whistler Company sucht einen Verbrecher.
Aktakul da Urengoll – Der Chefwissenschaftler des Kristallimperiums erwirbt sich als Projektleiter von Jonathon großen Respekt.
Reginald Bull – Der Unsterbliche wagt einen riskanten Versuch.
14. Februar 1345 NGZ
Zum Tee bei Jonas Untergang … das wäre es doch! Was hast du zu verlieren?
Delmar Shettle sah verstohlen zu ihr hinüber. Nur sie machte den Flug erträglich.
Du darfst sie nicht permanent anstarren!, mahnte er sich. Sonst bemerkt sie es noch und lässt dich verhaften, sobald ihr in Athermarn landet. Wegen Belästigung, unsittlichen Benehmens und Erregung öffentlichen Ärgernisses. Und dann ist es endgültig vorbei. Dann wirst du sie nie wiedersehen. Sie wird einen richterlichen Beschluss erreichen, dass du ihr nicht näher als hundert Meter kommen darfst. Und wie willst du dann noch den Mut finden, so eine Gondel auch nur zu betreten?
Aber wohin sollte er denn sonst sehen? Etwa aus dem Fenster des verhassten Shuttles? Nein, nur das nicht. Es wunderte ihn sowieso, dass noch keins dieser primitiven Dinger abgestürzt war. Antigrav- und Gravojet-Triebwerke hin oder her, eine Katastrophe war seiner Einschätzung nach nur eine Frage der Zeit.
Aber wenn er Glück hatte, würde er wenigstens gemeinsam mit ihr sterben.
Verdammt, er wusste noch nicht einmal, wie sie hieß oder wo sie arbeitete!
Wie immer war der Sitzplatz neben ihr frei. Wie immer wäre er lieber gestorben, als sich dorthin zu setzen.
Sie war rothaarig. Ihre Nase war eine Spur zu lang, ihr Gesicht ein wenig zu schmal, ihr Mund vielleicht nicht voll genug. Sie war groß für eine Frau, fast so groß wie er. Ihr Körper wurde von der Wetterkleidung verborgen, aber er stellte sich vor, dass sie schlank war, sehr schlank; es passte einfach zu ihr. Immerhin konnte er ahnen, dass ihre Beine unglaublich lang waren, länger als die irgendeiner anderen Frau, die er jemals gesehen hatte. Lang wie der Stiel einer Schwertlilie. Vielleicht hatte er sich deshalb in sie verliebt, ohne sie überhaupt zu kennen.
Und sie war bestimmt sehnig und muskulös. Er vermutete, dass sie ohne Mikro-Neutralisator unterwegs war; zumindest hatte er noch nie einen bei ihr an der Hüfte bemerkt. Dennoch bewegte sie sich elegant, fast mit tänzerischer Leichtigkeit.
So schwer kann es doch nicht sein, dachte Delmar. Lade sie doch einfach ein. Für heute im Anschluss an die Arbeitsschicht. Reserviere einen Tisch in einem der Luxusrestaurants auf einem der neun Gipfel. Ein romantischeres Ambiente gibt es auf dem ganzen Planeten nicht.
Er schluckte. Den Flug dahin überlebst du nicht! Er spürte, dass ihm der Schweiß ausbrach. Aber es lag nicht nur an dem Flug, vielleicht hinauf zum Gipfel des Karom oder gar zum Fylam, mit 5357 Metern der höchste der neun Berge. Nein. Der Plan war aus einem ganz anderen Grund zum Scheitern verurteilt.
Er wusste, es würde ihm nicht gelingen, sie anzusprechen.
Es war ja nicht so, dass er es nicht versucht hatte. Er hatte es versucht. Er hatte sich von seinem Sitz in der Gondel erhoben, ihm war schwindlig geworden, er war gestolpert und hatte sich mit Müh und Not an einer Lehne festhalten können. Zum Glück war der Shuttle – wie immer – nicht voll besetzt gewesen, und er war auf den Sitz gerutscht und hatte gehofft, ach was, gebetet, dass sie nichts von seinem Missgeschick bemerkt hatte.
Dass sie ihn nicht bemerkt hatte.
Dummerweise war er bei dem missglückten Annäherungsversuch an die Kontrollen seines Mikro-Neutralisators gekommen und hatte die Justierung verstellt. Statt die erhöhte Schwerkraft von 1,2 Gravos auf den gewohnten Normalwert zu verringern, hatten nun fast drei Gravos auf ihm gelastet. Zappelnd wie ein Fisch auf dem Trockenen hatte er im Polster des Sitzes geklebt und gewartet, bis die Gondel landete und seine Lilie sie verließ, bevor er unter Aufbietung sämtlicher Kräfte den rechten Arm heben und die Justierung wieder korrigieren konnte.
Delmar zwang sich, den Blick von ihr zu lösen. Aber wohin sollte er dann sehen? Links von der Gondel erhob sich der Gipfel des Karom, ein schroffer, unwirtlicher Riese von Berg. Schiefergraue, steile Felswände, die stellenweise fast senkrecht abfielen, trieben ihm den Schweiß auf die Stirn, wenn er sie nur anschaute. Er spürte, dass seine Hände zu zittern anfingen.
Tu was! Sie sieht zu dir herüber!
Er wäre am liebsten durch den Boden der Gondel gesunken. Verdammt, was war denn so schwer daran, ihren Blick zu erwidern und einfach zu lächeln? Diese ganze Situation war seiner unwürdig. So benahm sich doch kein erwachsener Mann!
Nein. Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich gab es in Photon-City oder sogar auf ganz Jonathon nur ein einziges Intelligenzwesen, das solche Probleme hatte und sich so benahm.
Ihn, Delmar Shettle.
Aber er war nicht dumm. Nein, man konnte ihm alles nachsagen, und das meiste davon würde er eingestehen. Nur nicht, dass er dumm war.
Er fand eine Lösung für sein Problem.
Wenn auch nur eine vorübergehende.
Mit derselben Inbrunst, mit der er sonst Datenholos oder Schwertlilien studierte, betrachtete er nun die Spitzen der Stiefel seiner Wetterkleidung.
Delmar Shettle
»Traitank enttarnt sich!«, meldete Delmar Shettle. Mit einem Mal fiel sämtliche Anspannung von ihm ab. Seine Nervosität legte sich schlagartig, und eiskalte Ruhe überkam ihn.
Endlich hatte das Warten ein Ende. Der Tag, auf den sie alle hingearbeitet hatten, war gekommen. »Entfernung?«, fragte er.
»Zwanzig Millionen Kilometer!«, meldete Aloy Defait, Leiter der Abteilung Funk und Ortung des ENTDECKERS. »Abstand verringert sich schnell. Achtzehn Millionen … sechzehn …«
»Auf ein Holo!«, befahl Shettle. In der Mitte des Zentralerunds bildete sich eine große dreidimensionale Darstellung des feindlichen Schiffes.
Shettle hielt unwillkürlich den Atem an. So nahe hatte er die gefürchteten Schlachtschiffe der Terminalen Kolonne TRAITOR noch nie vor Augen gehabt. Bislang kannte er sie praktisch nur von Holodarstellungen, die er aus sicherer Entfernung hatte studieren können.
Der scharfkantige, elegante Diskus von ovalem Grundriss war vor der Dunkelheit des Leerraums kaum auszumachen; die nächsten Sonnen waren über ein Lichtjahr entfernt und kaum mehr als winzige funkelnde Diamanten auf einer samtschwarzen Unterlage. Kein Wunder, bestand die Schiffshülle doch aus glatt-schwarzem, fremdartigem Material. Von den Polen zogen sich grellweiß leuchtende, zehn Meter breite und zwei Meter tiefe Furchen bis zur Diskuskante, den Emissionen früherer Ortungen zufolge vermutlich multifunktionelle Projektoren, deren Emissionsmaximum jeweils an den Polen sowie den acht Einbuchtungen entlang der Diskuskante lag. Daten wurden eingeblendet und bestätigten endgültig, dass es sich in der Tat um einen Traitank handelte: Länge des Schiffs 810 Meter, größte Breite 610, größte Dicke 95. Vernichtungskraft …
Shettle lachte leise auf. Unbekannt, nahezu unbegrenzt, fügte er in Gedanken hinzu.
»Entfernung vierzehn Millionen Kilometer. Der Traitank hat den Kurs geändert, fliegt nun Konfrontationskurs.«
Die Meldung schockierte Shettle nicht, beunruhigte ihn nicht einmal. Genau das hatten sie gewollt. Sie konnten von Glück reden, dass ein Traitank direkt nahe ihrer Position so schnell die Tarnung des Dunkelfelds aufgegeben und sich gefechtsbereit gemacht hatte, sonst hätte das elende Warten noch länger angedauert.
»Schutzschirme aufbauen! Energieversorgung der VRITRA-Kanone?« Ihre Neuentwicklung war ein wahrer Energiefresser. Kritisch konnte es werden, wenn die ersten Schüsse nicht die gewünschte Wirkung erzielten und Energie aus den Schutzschirmen abgezogen werden musste.
»Gewährleistet!«, bestätigte der Kommandant des ENTDECKERS, der sämtliche seiner Anweisungen weitergab und für ihre Umsetzung sorgte. »Notfallaggregate zur zusätzlichen Energieversorgung hochgefahren. Energie der Schutzschirme bei einhundert Prozent.«
»Entfernung zwölf Millionen Kilometer!«
»VRITRA-Kanone, Transformkanonen, Dissonanz-Geschütze, Intervallstrahler?«
»Einsatzbereit!«
»Entfernung zehn Millionen Kilometer!«
Bald, dachte Delmar Shettle. Komm noch etwas näher, Traitank, näher, auf drei Millionen Kilometer, besser noch anderthalb … Das war natürlich das Risiko. Was, wenn die Besatzung des Traitanks sich nicht von der Neugier verlocken ließ, nachzusehen, wer ihn da so großspurig herausforderte, sondern auf Nummer Sicher ging und frühzeitig das Feuer eröffnete?
Das ist ein Risikofaktor, korrigierte er sich. Einer von Dutzenden. Aber Entdecker, Forscher, Entwickler haben schon immer Risiken auf sich nehmen müssen. Garantien gibt es weder auf Kühlaggregate noch auf VRITRA-Neuentwicklungen.
»Entfernung acht Millionen Kilometer!«
Noch spielte der Traitank mit. Noch hatte er das Feuer nicht eröffnet.
»Sechs Millionen Kilometer!«
Nun verspürte Shettle doch zunehmende Nervosität. Hatte er bei seinen Berechnungen vielleicht doch etwas übersehen? Sein Team und er hatten alle Daten hundertmal, tausendmal kontrolliert und durchgerechnet. Und trotzdem und trotzdem …
Nein. Und wenn doch, würden sie jetzt dafür bezahlen müssen. Jetzt war es zu spät.
»Vier Millionen!«
»Korkenzieherspirale des normalen Röhrenfelds?«
»Steht!«
»Zweite Spirale hinzufügen! Durchmesser drei Meter!«
Ein weiteres Holo bildete sich und verdeutlichte das komplexe technische Geschehen. Die erste Korkenzieherspirale des normalen Röhrenfelds war so eng gewunden, wie sie es nur hatten hinbekommen können. Die zweite war geringfügig größer und gegenläufig im UHF-Bereich von 4,15 mal zehn hoch fünfzehn Kalup und wurde in Millisekundenimpulsen hinzugefügt. Shettle wartete gespannt, während die gegenpolige Ladung der Röhre erfolgte.
»Entfernung zwei Millionen Kilometer!«
»Wir müssen noch warten! Noch warten!«, flüsterte er. Er merkte, dass er an seiner Unterlippe nagte. Doch dann siegte die Vernunft. »Feuer frei!«
Er riss den Kopf herum, sah auf das Holo, das den Traitank zeigte und dessen Schutzschirm, die Fraktale Aufriss-Glocke.
Und die Glocke reagierte!
Einen Augenblick lang konnte er ganz genau beobachten, wie ein helles Flimmern über den Schutzschirm lief und dann aufriss.
Shettle wusste, was dort geschah, zumindest theoretisch. Die Glocke wurde durch die schlagartige Entladung und Ableitung von Energie in den Hyperraum perforiert.
»Intervall-Dauerfeuer!«, rief er.
Der nur eine Millisekunde dauernde Moment, in dem die Feldstärke ausgelöscht oder sehr niedrig war, ließ in der Glocke eine Lücke entstehen, die nun höchstwahrscheinlich durch die Röhre in Millisekunden-Abständen Energie passieren lassen würde.
Höchstwahrscheinlich.
Die Energie musste theoretisch nur groß genug sein – zum Beispiel durch zusätzlichen Transformbeschuss –, dann würde sie sich im Inneren der Glocke zu einer wirksamen Menge kumulieren und schließlich zur Explosion des Traitanks führen … Theoretisch.
»Transformkanonen!«, befahl er.
Das Flimmern um den so schlanken, scharfkantigen, eleganten Diskus hielt noch einen Moment lang an, wurde sogar noch stärker … und erlosch dann. Der Traitank hielt weiterhin auf sie zu …
»Entfernung fünfhunderttausend Kilometer!«
… und zeichnete sich deutlich auf dem Holo ab, schwarz wie die Nacht, schwarz wie der Tod. Als Shettle die Augen zusammenkniff, erkannte er, dass der Diskus noch immer von der Fraktalen Aufriss-Glocke umschlossen wurde. Die Mengen von Energie, die der ENTDECKER in die Perforation gepumpt hatte, schienen nicht die geringste Wirkung erzielt zu haben.
Dann löste der Traitank seine Potenzialwerfer aus. Ihre maximale Reichweite lag bei 5,3 Millionen Kilometern; aus nicht einmal 500.000 Kilometern Entfernung entfesselten sie eine Wirkung, gegen die die Schutzschirme des ENTDECKERS nicht die geringste Chance hatten.
Vernichtungskraft unbekannt, dachte Shettle, nahezu unbegrenzt …
Er schrie auf und schloss ganz fest die Augen. Trotzdem machte er eine gleißende Helligkeit aus, die seine gesamte Umgebung ausfüllte.
Schmerz verspürte er aber nicht.
So weit war er dann doch nicht gegangen.
*
Delmar öffnete die Augen, doch die gleißende Helligkeit blieb.
Plötzlich fror er, viel heftiger, als er sonst auf diesem unwirtlichen, verdammten Planeten fror. »Holoprojektion aus!«, sagte er.
Woran liegt es?, fragte er sich. Was haben wir falsch gemacht?
Die gleißende Helligkeit blieb noch, brannte in seinen Augen. Es gibt mindestens drei potenzielle primäre Fehlerquellen, wurde ihm allmählich klar. Erstens, die hinzugefügte Energiemenge hat nicht ausgereicht. Vielleicht liegt es an den Intervallstrahlern. Vielleicht sind intermittierende überlichtschnelle Abstoßfelder nicht geeignet, die Glocke aufzureißen. Drittens könnten unsere Daten über Traitanks nicht ausgereicht haben, ein realistisches Modell zu erstellen.
Vielleicht brauchen wir auch lediglich mehr Transformbeschuss. Vielleicht, vielleicht …
Die Helligkeit ließ nach, und er stellte fest, dass er unverletzt vor dem Instrumentenpult im Holoraum stand. Ein weißer Boden, eine weiße Decke, weiße Wände, Holoprojektoren, deren Licht in seinen Augen geschmerzt hatte. Nun erloschen sie allmählich, und er konnte wieder deutlicher sehen.
Seine fünf Mitarbeiter standen dort wie er, mit hängenden Schultern, die Arme baumelnd, die Köpfe gesenkt. Ihnen allen war klar, dass sie versagt hatten.
Dass ihr Modell nicht funktioniert hatte.
Aber wir müssen nicht von vorn anfangen, dachte Delmar. Wir müssen modifizieren, modifizieren, modifizieren. Das Modell ist richtig. Wir müssen nur noch die Feinjustierung vornehmen.
Er drehte sich zu seinen Mitarbeitern um. Ihre Gesichter waren ratlos, so, wie auch das seine gerade wirken mochte.
Sie schwiegen.
»Was haben wir falsch gemacht?«
Weiterhin Stille, unschlüssige Gesichter.
»Noch einmal von vorn«, fuhr er fort. »Aufriss-Glocken bestehen aus einem Netz aus Strukturrissen, das Belastungen – Masse ebenso wie Energie – in den Hyperraum abstrahlt, wobei die Strukturrisse ein fraktales Muster bilden. Solange keine Fremdkörper und keine Energie das Netz zu passieren versuchen, bleiben die Maschen dieses Netzes grob gewebt. Die Risse sind dünn, die Knoten liegen in der Regel mehrere Meter auseinander. Im Augenblick eines Angriffs, also einer Belastung, schießen jedoch weitere Verästelungen aus den Strukturriss-Strängen, weben das Netz enger und enger – und auf dem Höhepunkt des Angriffs liegen die Knotenpunkte des Rissmusters nur mehr Zentimeter auseinander.«
»Das ist dein Modell, Delmar«, stellte Aloy Defait mit einem Hauch Trotz in der Stimme fest, der Kybernetiker des Teams. »Andere Wissenschaftler haben andere Modelle erarbeitet. Wir haben die Fraktale Aufriss-Glocke im Simulator nachgebaut – soweit wir überhaupt über deren Eigenschaften Bescheid wissen. Was, wenn dieses Modell grundlegend falsch ist? Unsere Datenbasis ist … vage.«
Delmar schüttelte den Kopf. Der Holoraum kam ihm plötzlich noch kälter vor. War es ein Fehler gewesen, den biopositronischen Simulator auf diese Art und Weise zu programmieren? Vielleicht hätte er sich auf die üblichen Holos und deren nüchterne und sachliche Analyse beschränken sollen.
Er war trotzdem der Meinung, dass es einen Versuch wert gewesen war. Er hatte gehofft, dass es ihn und die Angehörigen seines Teams zu Höchstleistungen anspornte, wenn sie solch eine Situation so lebensecht wie möglich durchlebten. Vielleicht erzeugte der erhöhte Adrenalinspiegel den einen oder anderen genialen Einfall. Eine genaue Analyse des holografischen Geschehens würden sie natürlich trotzdem vornehmen.
Allerdings war er nun geneigt, bei den Versuchsreihen wieder zu den üblichen Holodarstellungen ohne persönliche Beteiligung zurückzukehren. Höchstleistungen hin oder her, bislang waren sie bei jedem Probedurchlauf »gestorben«, und das demoralisierte.
»Wir gehen weiterhin davon aus, dass unser Modell richtig ist«, entschied er. »Bislang spricht nichts gegen diesen Denkansatz. Wir sind auf dem richtigen Weg. Aber während der maximale Ableitungsbereich normaler Paratronschirme der Schirmfeldoberfläche entspricht, vergrößert er sich bei der Aufriss-Glocke aufgrund der fraktalen Struktur der stark gefältelten Einzelaufrisse, die nicht nur die reine Fläche überziehen, sondern sich dreidimensional auch über eine Dicke von bis zu einigen Metern erstrecken.«
Vielleicht liegt es am UHF-Röhrendurchmesser, dachte er. Drei Meter sind zu viel, wir müssen die Energie punktgenau in den Schirm bringen. Und die Hyperfrequenz von 4,15 mal 10 hoch 13 Kalup ist auch zu hoch. Wir müssen tiefer gehen. Und wir trauen uns noch immer nicht, das Quintatron auf volle Leistung hochzufahren. 3,69 Millionen Quintron-Wari sind möglich. Wir müssen die VRITRA-Kanone neu kalibrieren.
»Hinzu kommt die ohnehin höherwertige Natur der Aufriss-Glocke an sich«, fuhr er fort. »Es handelt sich um einen Hybridschirm mit fünfdimensional-ultrahochfrequenten und auch sechsdimensionalen Anteilen, der den Messungen nach supratronisch aufgeladen ist. Diese hochwertige pedogepolte Paratronkomponente ist vielleicht vergleichbar mit der bekannten Individualaufladung eines Schirms durch Báalols – also im UHF-Bereich zwischen etwa 0,95 bis maximal 3,9 x 10 hoch 15 Kalup.«
»Dem widerspreche ich nicht«, erwiderte Defait. »Wir könnten versuchen, den Röhrendurchmesser zu verkleinern. Aber bevor wir aus dem Quintatron die volle Leistung herauskitzeln, müssen wir noch weitere Versuchsreihen fahren. Und die Hyperfrequenz ist wohl kaum zu hoch, sondern eher zu niedrig. Vielleicht liegt es auch an der Energiezufuhr. Vielleicht ist die Leistung der Transformkanonen eines einzelnen ENTDECKERS schlicht und einfach zu niedrig. Vielleicht brauchen wir ein ganzes Geschwader von ENTDECKERN, um die Glocke zu knacken.«