Für meine Mutter (†)
Für meinen Vater
Für meine Patenkinder Theresa, Jan Philipp,
Sebastian und Maximilian
Für Karsten
Wann ist eine Gesellschaft gerecht? Eine große Frage. Also eine Nummer kleiner: Wann könnte eine Gesellschaft wie die deutsche von den Menschen, die in ihr leben, lieben und arbeiten, heute als gerecht erlebt werden?
Wenn alle exakt gleich sind? So etwas gibt es nicht. Jeder* unterscheidet sich von seinem Nächsten; eine Gesellschaft ist so vielfältig wie sie Mitglieder hat.
Wenn alle gleich viel verdienen? Funktioniert nicht – und benachteiligt auch jene, die sich mehr anstrengen als andere.
Wenn alle vor dem Gesetz gleich sind? Schon eher.
Wenn alle – durch Gesetze, aber nicht nur durch sie – die gleichen Chancen haben, etwas aus sich zu machen? Das wohl am ehesten.
Dieses Buch ist keines über Gerechtigkeit. Und doch: Es erzählt aktuelle Geschichten von Schwulen und Lesben in Unternehmen und Gesellschaft. Damit fragt es en passant auch nach den Chancen, die eine lange scharf ausgegrenzte Gruppe von Menschen erhalten soll. Indem es aber nach den Chancen fragt, rückt es auch den Beitrag in den Vordergrund, den Homosexuelle hierzulande leisten dürfen.
Dass sie ihn in vielen Bereichen der Gesellschaft lange nicht leisten sollten, stellen nur jene infrage, die ungenau hinschauen. Und dass der berüchtigte Paragraph 175 des Strafgesetzbuches erst vor zwanzig Jahren abgeschafft wurde, vergessen zudem nicht wenige. Jenseits des Paragraphen aber bestand in der Gesellschaft eine festgefügte und von vielen unhinterfragte Kultur der Ausgrenzung, die mit seiner Abschaffung nicht einfach endete. Sie war so tief verwurzelt, dass kaum kittbare Risse durch Familien gingen, Karrieren nicht stattfinden konnten, Tuscheleien und Pöbeleien an der Tagesordnung waren, Menschen krank wurden – wenn nicht gar noch Schlimmeres. Homosexuelle haben lange nicht die gleichen Chancen gehabt, etwas aus sich zu machen, wie die Mehrheit. Sie sollten sie nicht haben.
Wie es aussieht, ändert sich das nun. Nicht schnell, denn kulturelle Veränderungen brauchen Zeit. Auch nicht überall gleichermaßen, denn mancherorts gibt es immer noch stärke Widerstände. Und doch bekommen Schwule und Lesben allmählich mehr Handlungsmöglichkeiten, und sie leisten mehr erkennbare und anerkannte Beiträge für Unternehmen und die Gesellschaft.
Gekonnt haben sie das vorher bereits.
Gewollt ohnehin.
Getan auch, nur eben in der Regel unter dem Deckmantel der sexuellen »Norm« der Mehrheit und insofern stark gebremst.
Nun dürfen sie es auch – immer offener und immer kraftvoller.
In politischen Sonntagsreden hört sich es nicht selten so an, als lebten wir in einem Land, das jedem die gleichen Chancen bietet: Männern wie Frauen, Deutschen wie Migranten, Jungen wie Alten, Hetero- wie Homosexuellen.
In Wirklichkeit aber stellt ein Gesellschaftsbild, in der allen die gleichen Handlungsmöglichkeiten eingeräumt werden, ein Ideal dar. Ein sehr schönes, menschliches Ideal, das sich gerecht anfühlt und das es wert ist, danach zu streben.
Chancengleichheit für vielfältig verschiedene Menschen zu gewährleisten mag dabei für manche vor allem eine Frage der Menschlichkeit und Gerechtigkeit darstellen. Sie nur so zu sehen greift indes zu kurz. Denn Chancengleichheit kann und muss immer auch ökonomisch verstanden werden. Kreativität und Innovation – jene Grundkräfte moderner, global vernetzter wettbewerbsorientierter Unternehmen und Volkswirtschaften also – gedeihen heute nur auf dem Humus großer Diversität der sie schaffenden Menschen.
Anzuerkennen und wertzuschätzen, dass die Menschen in einer Gesellschaft so vielfältig verschieden sind wie die Anzahl der Individuen, die in ihr leben, ist also nicht nur human und fair, sondern auch wirtschaftlich vernünftig. Genauso human und vernünftig ist es, dass man es beim Anerkennen und Wertschätzen nicht bewenden lassen kann, sondern dass es auch um die Nutzung dieser Vielfalt geht – durch mehr Chancengleichheit auch für lange ausgegrenzte Gruppen. In deren Interesse und im Interesse aller.
Das hat noch nicht jeder verstanden. Doch nicht zuletzt der demografische Wandel wird den Umdenkprozess beschleunigen. Denn es ist klar: Wir werden immer älter und wir werden immer weniger. Und weil das so ist, brauchen Unternehmen und Gesellschaft über kurz oder lang jedes leistungswillige und leistungsfähige Talent – gleich welchen Geschlechts, Glaubens oder Alters, gleich welcher ethnischen Zugehörigkeit oder sexuellen Identität.
Wirtschaft und Gesellschaft reagieren darauf nach und nach mit der Institutionalisierung eines Managements von Vielfalt, für das sich auch hierzulande der englische Begriff »Diversity Management« durchsetzt. Manche Unternehmen haben dafür bereits eigene Abteilungen geschaffen. Als Experten für die Gestaltung und Nutzung von menschlicher Vielfalt sollen sie auch dafür da sein, die weitenteils noch anzutreffende Praxis von Diskriminierung und Chancenungleichheit gegenüber lange benachteiligten Gruppen wie Frauen, Älteren oder Homosexuellen zu überwinden.
Selbst in staatlichen Gliederungen tut sich etwas, denn sogar die Bundeswehr will nun Diversity Management praktizieren. Das Gleiche gilt für Universitäten und Behörden.
Viele private und öffentliche Unternehmen haben es aber auch nicht oder noch nicht institutionalisiert. Und für manche der Organisationen, die es taten, ist Diversity Management oft nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Gefangen im alten Denken wissen sie oft kaum etwas damit anzufangen.
Oder jene in den Top-Positionen nutzen die Institutionalisierung einer Diversity-Verantwortlichkeit, um einen schönen Blumenstrauß ins Fenster zu stellen, der verbergen soll, dass nicht wirklich etwas verändert wird.
Jenseits dessen aber, ob Diversity Management – wie und wo auch immer – funktioniert oder nicht, öffnet sich die Gesellschaft für Schwule und Lesben langsam.
Für alle wird sie damit chancenreicher. Dieses Buch erzählt Geschichten davon, wie sich Schwule und Lesben hierzulande aufgemacht haben, Chancen, die ihnen lange verwehrt waren oder die es vorher gar nicht gab, zu entdecken und zu nutzen – für sich und für andere.
Zwar sind Vorurteile, Diskriminierungen und Karrierebeschränkungen immer noch vorhanden. Beschimpfungen wie »Schwuchtel«, »schwule Sau« oder »Kampflesbe« verschwinden nicht so schnell von Schulhöfen, aus Kneipen und Stadien. Dass man über sie etwa in Unternehmen oder in Bundeswehrkasernen raunt, wird wohl auch noch ein wenig dauern.
Dennoch hat sich der Umgang mit Schwulen und Lesben in den letzten zehn, fünfzehn Jahren nach und nach verändert, und er wandelt sich weiter. Und mit dem veränderten Umgang mit ihnen verändert sich auch das Verhalten der Schwulen und Lesben selbst.
Die Gründe für diese Entwicklung sind vielschichtig. Einer davon: Neue, modernere Generationen haben im Gegensatz zu ihren Eltern und Großeltern heute einfach keine Lust mehr auf Ausgrenzung aufgrund von sexuellen Orientierungen, die nicht ihre eigenen sind. Leben und leben lassen: Jeder soll nach seiner Façon selig werden, so lautet die Devise der Jüngeren. Sie fordern Offenheit und Chancengleichheit ein, und für sie ist das auch gut so. Wer heute fünfzehn, zwanzig oder auch 35 Jahre alt ist und heterosexuell, schüttelt oft nur den Kopf, wenn er oder sie hört, was manche Leitbild-Konservativen in Politik, Unternehmen oder am Familientisch noch so von sich geben.
Ist deren Aufschrei auch ein Aufschrei der Verzweifelten, die um ihre alten Rechte und Privilegien gegenüber den (vormals) Ausgegrenzten fürchten? In jedem Fall sind sie auch rechtlich in die Defensive geraten. Denn die Veränderungen im Umgang mit Schwulen und Lesben und mit Blick auf ihre verbesserten Chancen wurden nicht zuletzt forciert durch Antidiskriminierungsgesetze und Urteile auf europäischer Ebene. Sie wurden ebenfalls beschleunigt durch rechtliche Revolutionen wie das Lebenspartnerschaftsgesetz oder das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Sie wurden schließlich auch vorangetrieben durch mehrere Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Deren Stoßrichtung ist klar: Es muss gleiche Rechte für alle geben, unabhängig auch von der sexuellen Identität.
Doch nicht nur veränderte Einstellungen neuer Generationen gegenüber Homosexuellen oder Gesetze und Urteile, sondern auch viele weitere Indikatoren machen deutlich, dass sich die Gesellschaft nach und nach liberalisiert.
Zum Beispiel in der Politik: Schwule Spitzenprotagonisten wie Klaus Wowereit, Guido Westerwelle oder Volker Beck kennt nun mittlerweile jeder, der sich nur ein bisschen für die Welt interessiert. Seit Kurzem gibt es zudem mit Barbara Hendricks eine lesbische Bundesministerin. Und dass Gesundheitsexperte Jens Spahn als offen homosexuell lebender Christdemokrat unlängst seinen Bundestagswahlkreis mit mehr als 50 Prozent der Stimmen wiedergewann, ist kaum mehr eine Meldung wert. Die inzwischen breit wahrgenommenen schwul-lesbischen Vereinigungen innerhalb der Parteien illustrieren diese Entwicklung ebenfalls, etwa LSU (Lesben und Schwule in der Union), QueerGrün, LiSL (Liberale Schwule und Lesben) oder Schwusos (Arbeitsgemeinschaft der Lesben und Schwulen in der SPD). Die Bundesvorsitzenden von Schwusos und LSU, Ansgar Dittmar und Alexander Vogt, geben auch schon mal gemeinsame Erklärungen heraus. So etwa im vergangenen Herbst, als sie die vollständige Gleichstellung von Lebenspartnerschaften mit der Ehe und die Schaffung eines einheitlichen Instituts Ehe forderten. Internationale Kooperationen sind ebenfalls nicht selten. Regelmäßig treffen sich etwa LSU-Repräsentanten mit Vertretern schwul-lesbischer Plattformen anderer bürgerlicher Mitte-Rechts-Parteien aus Finnland, Schweden, Frankreich oder Israel. Zuletzt plädierten sie vereint für einen europaweiten rechtlichen und gesellschaftlichen Wandel des Familienbildes, in dem Schwule und Lesben die gleichen Chancen haben, ihren Platz zu finden, wie alle anderen auch. Damit nicht genug, denn während in München der Chef der »Rosa Liste«, Thomas Niederbühl, gerade wieder in den Stadtrat gewählt wurde, entwickeln sich selbst auf dem Land die Dinge rasant. Wie sonst ist es zu deuten, wenn in der konservativen bayerischen Provinz offen homosexuell lebende Männer zu Bürgermeistern und Landräten gewählt werden?
Akzeptiert, wertgeschätzt und gebraucht werden Schwule und Lesben längst auch in Medien, Unterhaltung und Mode. Lange war das nicht so. Heute aber haben sie in diesen Bereichen selbstverständlich und überall erkennbar ihren Platz. Hape Kerkeling, Hella von Sinnen oder Tatort-Kommissarin Ulrike Folkerts belegen das ebenso wie etwa Anne Will, Harald Glööckler, Guido Maria Kretschmer und sehr viele andere.
Und dann kam auch noch Thomas Hitzlspergers Coming-out. Das letzte Tabu fällt, schwadronierte mancher, der Profifußball der Männer. Wenn man schon dort sagen könne, dass man schwul ist, dann sei doch alles schön.
Dass es ganz so einfach dann auch nicht ist, zeigten nicht zuletzt die Diskussionen nach dem Coming-out. Artikel, Blogs, Kommentare und Talkshows, vor denen man sich ein, zwei, drei Wochen lang kaum retten konnte, beförderten zum Teil erstaunliche Ansichten von erstaunlichen Protagonisten zutage. Ex-Spiegel-Kulturchef Matthias Mattusek etwa outete sich in einem beängstigend verqueren Beitrag als »homophob. Und das ist auch gut so.« Seine Argumente waren so krude, dass sie vielen kaum als satisfaktionsfähig erschienen. Und doch gab es sie, und Mattusek erhielt durchaus Zuspruch.
Ex-Nationalkeeper Jens Lehmann, Hitzlspergers ehemaliger Kollege beim VfB Stuttgart und im DFB-Trikot, redete sich mit skurrilen Anti-Coming-out-Bemerkungen im Fußball auf dem Pay-Kanal SKY ebenfalls fast um Kopf und Kragen. Ausgerechnet Lehmann, der durchaus als einer der reflektierten Köpfe des Profifußballs gegolten hatte – und nun noch Bizzareres anfügte: Hitzlsperger habe »von seiner Spielweise« her »überhaupt nicht den Anlass gegeben«, dass man »hätte denken können, da ist irgendetwas.«
Alt-Arbeitsminister Norbert Blüm schließlich blies ebenfalls, vorher und wie öfter bereits, kräftig ins Horn der Ewiggestrigen. Nicht jede Form von Zweisamkeit, sei »schon wertvoll, weil sie zustande kommt«. Und er erhob explizit die Forderung, Schwule, Lesben und Mitglieder anderer sexueller Minderheiten sollten nicht die gleichen Rechte und Chancen wie Heterosexuelle haben. Mit dieser Position und mit immer wieder neuen verqueren Äußerungen zur »Natur« der Dinge, zeigt sich ausgerechnet der Herz-Jesu-Sozialist Blüm als jemand, der Homosexuelle nicht achtet – wie er vorgibt –, sondern verachtet. Ob er das selbst merkt?
Wer also gemeint hatte, Homophobie sei hierzulande an die gesellschaftlichen Ränder verbannt worden, an sogenannte soziale Brennpunkte in Großstädten etwa oder in rechtsradikal angehauchte Ultra-Fankurven in den Fußballstadien, der konnte sich in den Wochen nach dem Coming-out von Thomas Hitzlsperger eines anderen belehren lassen. Wenn er denn wollte.
Mattusek, Lehmann, Blüm: drei männliche, bürgerliche Ex-Funktionsträger – ist das nun Zufall? Oder sind das Rückzugsgefechte in einer Entwicklung, die nicht mehr aufzuhalten ist? Einer Entwicklung hin zu einem regenbogenfreundlichen Land, das gleiche Chancen für alle bereithält – auch für Schwule, Lesben und andere sexuellen Minderheiten wie Bi-, Trans- und Intersexuelle –, die etwas aus ihrem Leben machen und zugleich einen Beitrag für andere leisten wollen?
Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Soziale Entwicklungen laufen nie auf ein festes Ziel zu, auch wenn manche sich das wünschen mögen. Es gibt keinen Endpunkt der Geschichte. Sie kann sich schlechter entwickeln. Vor fünf Jahren etwa fand die »Dr.-Sommer-Studie« der Jugendzeitschrift Bravo heraus, dass fast vierzig Prozent der Jungen zwischen 11 und 17 Jahren Homosexualität nicht »okay« finden, sondern befremdlich; bei den Mädchen sind es noch 23 Prozent. Ist das eine schlechte Nachricht? Vielleicht, vor allem weil bekannt ist, dass sich frühe Prägungen auf dem Schulhof und in anderen Bezugsgruppen später nun sehr langsam verändern lassen. Die Dinge können sich aber auch besser entwickeln. Neueste Studien des Pew Research Center aus dem Jahr 2013 zeigen, dass 87 Prozent der Deutschen der Ansicht sind, Homosexuelle sollten gesellschaftlich akzeptiert sein. Zwar weiß jeder: Es ist das eine, nach einer sozialen Erwünschheit zu fragen, und ein anderes, wie der Alltag aussieht. Dennoch: Sind diese Zahlen auch eine gute Nachricht? In jedem Fall. Nimmt man zudem wachsende Offenheit und wachsende Chancen als Unterscheidungskriterium, dann weist der Pfeil für Schwule und Lesben trotz der Mattuseks und Co. hierzulande in manchem in die bessere Richtung.
Was passiert, wenn man dem Pfeil folgt, erzählen die Geschichten in diesem Buch. Sie spielen an Orten, die so etwas wie die Mitte Deutschlands darstellen. Es sind auf ihre eigene Weise typische und konservative Orte, denn noch immer öffnet sich das Land gesellschaftlichen Neuerungen nicht allzu schnell. Skandinavische Länder wie Schweden oder auch die Niederlande und andere Staaten sind deutlich weiter in Sachen selbstverständlicher Akzeptanz und Offenheit für gleiche Chancen nicht nur gegenüber Frauen und Bürgern mit Migrationshintergrund, sondern auch gegenüber Schwulen und Lesben.
Die Geschichten, die in diesem Buch erzählt werden, spielen vor allem in der privaten Wirtschaft, der Bundeswehr und der Welt der Fußballfans. Es sind traditionell männerdominierte Bastionen, die sich bis heute deutlich schwerer tun mit Öffnung und Chancengleichheit als etwa Mode, Medien, Unterhaltung oder Politik.
Im Gegensatz zu diesen Bereichen gibt es hierzulande etwa in Unternehmen oder der Bundeswehr immer noch keine offen schwul oder lesbisch lebenden Top-Bosse.
Es braucht daher andere Vorbilder. Denn die braucht es immer, um gesellschaftlich und ökonomisch notwendige Veränderung und Modernisierung auf den Weg zu bringen und zu halten. Die Geschichten handeln daher nicht von bekannten Persönlichkeiten, sondern von anderen Helden – von einer breiten Öffentlichkeit meist unbekannten Helden des Alltags.
Es sind Schwule und Lesben wie Henry Pohle, Dirk Brüllau, Peer Uhlmann, Jessica Scholz, Susanne Hillens oder Bernd Schachtsiek, wie Stuart Cameron, Markus Delnef, Alexander Schüttpelz, Torsten von Beyme-Wittenbecher oder Mario Weiße, wie Renate Reinartz, Reiner Wolf, Ralph Breuer, Markus Müller, Thomas Lies oder Matthias Stupp.
Ihre persönlichen Hintergründe sind so vielfältig, wie die Welt vielfältig ist. Sie leben seit vielen Jahren in festen Beziehungen, sind Single oder verpartnert, sind wohlhabend oder auch nicht, sie kümmern sind um ihre Nichten, Neffen und Patenkinder, sie stehen für ihre Eltern, Großeltern, Nachbarn und (Wahl)Verwandten ein, nicht zuletzt für ihre Regenbogenfamilien.
Auch beruflich ist ihr Kosmos groß. Sie sind Unternehmer, Buchhalter, Beamte, Journalisten, Mathematiker, Romanisten, SAP-Administratoren oder Reserveoffiziere, sie sind Übersetzer, Betriebswirte, Techniker, Berater, Berufssoldaten oder Kommunikationselektroniker, sie sind Bankkaufleute, Theologen, Anwälte, Rezeptionisten, Businessentwickler, Verlagsleiter oder Theaterschneider.
Fernab oft schriller Klischees sind sie und viele andere neue Vorbilder: Schwule und Lesben, die anpacken und gegen Widerstände etwas bewegen – zum eigenen Vorteil, aber auch zum Vorteil des Unternehmens, für das sie arbeiten, der Bundeswehr, in der sie dienen, der Fußballstars und Vereine, denen sie zujubeln, der Gesellschaft, in der sie leben.
Zu den Geschichten gehören auch heterosexuelle Mitstreiter in Firmen oder schwul-lesbischen Fußball-Fanclubs, ohne die manches, das die queeren Macher auf den Weg bringen, nicht möglich wäre. Dass es sie gibt, weist ebenfalls auf eine wachsende gesellschaftliche Offenheit hin. Was nicht heißt, dass die Dinge damit leicht wären, oft immer noch im Gegenteil.
Indem die Geschichten von schwulen und lesbischen Machern erzählen, erzählen sie auch von grundlegenden Entwicklungen, historischen und vor allem aktuellen. Hie und da lohnt eine kleine Reise in die jüngere Zeitgeschichte, um zu verstehen, warum sich die Dinge nach wie vor sehr langsam verändern – zum Beispiel bei der Bundeswehr.
Jenseits der Tatsache, dass in Deutschland schwule und lesbische Top-Bosse, die es natürlich gibt, bislang nicht offen homosexuell leben, thematisieren sie auch die Frage, ob man denn nun ein Coming-out wagen sollte oder nicht. Die Gesellschaft wird zwar liberaler und Schwule und Lesben übernehmen immer mehr Verantwortung. Die Frage bleibt trotzdem wichtig. Und es geht dabei eben nicht um die Phantasie, was jemand im Bett treibt, sondern um Wichtigeres.
Die Geschichten berichten in starkem Maß auch von den Institutionen, in denen die homosexuellen Protagonisten wirken, von denen sie geprägt werden und die sie verändern:
Zum einen von Unternehmen wie Deutsche Post, Allianz, McKinsey & Company, Commerzbank, A.T. Kearney, Freshfields, White & Case und anderen. Kein Zweifel: Die deutschen Tochtergesellschaften vor allem US-amerikanischer Großunternehmen überwiegen bei den Bemühungen, zum schwulen- und lesbenfreundlichen Arbeitgeber zu werden. Gerade sie setzen nicht selten Trends. Aktuell etwa wieder IBM, indem der Konzern Wege sucht, wie er mit homosexuellen Mitarbeitern in jenen Ländern umgehen kann, in denen er zwar Tochterfirmen hat, in denen aber Homosexualität kriminalisiert ist. Andererseits rühren sich – meist seit Kurzem erst – vermehrt auch in Deutschland beheimatete Großunternehmen, um lange Versäumtes zum Teil sehr innovativ und konsequent aufzuholen. Sie tun das durch die Förderung schwul-lesbischer Mitarbeiternetzwerke, interne Diskussionsveranstaltungen, Schulungen für Auszubildende, die Gleichstellung von Verheirateten und Verpartnerten bei der Gewährung von Sozialleistungen und vieles mehr. Selbst die besonders konservative Zunft der Wirtschaftsanwälte fängt an, allmählich umzudenken – mit amerikanischen und englischen Vorbildern, aber deutschen Machern hierzulande.
Zum Zweiten erzählen die Geschichten auch von anderen Institutionen. Etwa von den Berufsverbänden für schwule und lesbische Führungskräfte. Oder von Vereinen wie AHsAB, dem Arbeitskreis für homosexuelle Angehörige der Bundeswehr. Oder von internationalen, durch Deutsche gestaltete Organisationen wie QFF (Queer Football Fanclubs), in denen sich schwul-lesbischen Fußball-Fanclubs wie Queerpass Sankt Pauli, Andersrum Rut-Wiess, Meenzelmänner, Queerpass Bayern, Letzi Junxx, Andersrum Auf Schalke oder MonacoQueers zusammengeschlossen haben.
Auch die katholische und evangelische Kirche, zu der Wissenschaftsjournalistin Petra Thorbrietz einen kompakten Gastbeitrag liefert, wird betrachtet.
Marc Pitzke, seit mehr als zehn Jahren US-Korrespondent für Spiegel Online in New York, steuert einen ebenso kompakten Gastbeitrag zum Mutterland der Schwulen- und Lesbenrechte bei. In den Vereinigten Staaten ist man deutlich weiter als in Deutschland. Und doch zeigt sich jenseits des Atlantiks ein komplexes Bild. Erwartet das auch uns?
»Der Regenbogen-Faktor« ist also kein Buch, das jeden Bereich der Gesellschaft ausleuchten will, sondern es setzt Schwerpunkte.
Ein kleiner Hinweis zur Lektüre sei noch gestattet: Die Kapitel können sehr gut nacheinander gelesen werden, andererseits aber auch – wer das lieber mag – je für sich. Am Ende findet sich zudem ein Überblick zur historischen Entwicklung des Rechtsrahmens für Schwule und Lesben in Deutschland, der vor Augen führt, dass die immer noch sehr junge allmähliche gesellschaftliche Akzeptanz eine lange dunkle Vorgeschichte hat. Am Ende findet sich außerdem ein bewusst umfassend gehaltenes Glossar zu Begriffen, Institutionen und Initiativen rund um die Welt der Schwulen und Lesben, das manche gerade bei diesem Buch besonders nützlich finden mögen.
Wir Deutschen sind lange weit vom Ideal der Chancengleichheit für vielfältig verschiedene Menschen entfernt gewesen.
Doch in den letzten Jahren ist eine Menge passiert. Das gilt ebenfalls für die lange stark ausgegrenzten Schwulen und Lesben. Neue individuelle und institutionelle Vorbilder des Alltags gibt es dabei mittlerweile an vielen Stellen – auch wenn sie nicht in diesem Buch vorkommen. Man muss nur genau hinschauen.
Etwa zur Polizei bzw. zum Verband lesbischer und schwuler Polizeibediensteter in Deutschland (VelsPol), dessen Vertretern es in einigen Bundesländern bereits gelungen ist, schwul-lesbische Thematiken fest im Ausbildungsplan der Polizei zu verankern. Braucht es die? Muss man das wollen? Natürlich braucht es die – genauso, wie die Akzeptanz sexueller Vielfalt demnächst ein Bildungsziel in den Schulen Baden-Württembergs sein sollte. Wer eine menschliche Gesellschaft will, die ökonomisch vernünftig alle Potenziale der Menschen, die in ihr leben, erkennen, wertschätzen und nutzen will, muss das wollen.
Oder er kann nach Berlin schauen: zu Constanze Körner, die für den Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg seit 2013 ihr Konzept des bundesweit ersten Regenbogenfamilienzentrums umsetzte – mit hohem persönlichen Einsatz, auch dem der eigenen Regenbogenfamilie. Finanziert wird das Zentrum von der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin und ist nun republikweit Vorbild für ähnliche Institutionen. Wie weit der Wandel gerade beim Familienbild bereits geht, zeigt, dass man das Zentrum nur ein paar Monate nach seiner Einweihung im Rahmen der von der Deutschen Bank geförderten Initiative »Deutschland – Land der Ideen« gleich zum »Ausgezeichneten Ort« kürte. Grußworte lieferten nicht nur, wie erwartbar, Politiker etwa von Grünen oder SPD, sondern auch von der CDU.
Der Weg in die vollständige Normalität und zu echter Chancengleichheit ist für Schwule und Lesben zwar noch weit. Wie weit er im Einzelfall sein kann, zeigte sich auch in nicht wenigen Begegnungen zu diesem Buch. Manchen verließ nach mehreren ausführlichen Gesprächen oder auch bereits kurz nach eigentlich erteilter Freigabe längerer Texte oder Zitate der Mut, sich öffentlich zu zeigen – also als streitbarer Schwuler, als engagierte Lesbe oder als regenbogenfreundliches Unternehmen breit erkennbar in Erscheinung zu treten.
Doch wichtige Schritte sind getan. Dunklere Zeiten hinter sich lassend und mit neuem Selbstverständnis haben sich viele Schwule und Lesben aufgemacht vom Rand ins Zentrum. Sie sind engagierte, verantwortungsbewusste Repräsentanten der Zivilgesellschaft und Leistungsträger – ob in Wirtschaft, Bundeswehr, Sport, Anwaltskanzleien, Medien, Politik oder anderswo.
Sie sind Bürger im besten Sinne des Wortes, werteorientierte Trendsetter – und doch ganz normal.
Sie sind der Regenbogen-Faktor. Indem Schwulen und Lesben die gleichen Chancen eingeräumt werden wie der Mehrheit auch und indem sie selbst kraftvoll Beiträge leisten, können sie im Zusammenspiel mit anderen einer jener entscheidenden Faktoren sein, die Gesellschaft, Unternehmen und andere Institutionen nicht zurückfallen lassen, sondern vielfältiger, reicher und besser machen.
Man muss sie nur lassen.
* In diesem Buch wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit die männliche Form verwendet, auch wenn die weibliche Form selbstverständlich mit eingeschlossen ist. Sofern möglich werden geschlechtsneutrale Formulierungen gewählt.