Widerstand gegen den Nationalsozialismus
Dr. Lenelotte Möller
studierte Geschichte, Latein und evangelische Theologie in Saarbrücken, Basel und Mainz; die Promotion in Geschichte folgte im Jahr 2000; sie unterrichtet am Gymnasium Schifferstadt im Rhein-Pfalz-Kreis. In der Reihe marixwissen bereits von ihr erschienen:
(mit Renate Kiefer) Die großen Reden der Indianer.
Das Buch bietet einen Überblick über die vielfältigen und verschiedenartigen Versuche in Deutschland und im Ausland, die Herrschaft der Nationalsozialisten aufzuhalten oder zu beseitigen sowie deren Verbrechen zu verhindern oder einzudämmen. Es beleuchtet die Beispiele des Widerstands und ihre Motiviertheit kritisch und schließt dabei keine politische oder weltanschauliche Richtung aus. Eine Zeittafel ermöglicht eine schnelle Orientierung über die wichtigsten Ereignisse, ausführliche aktuelle Literaturangaben erleichtern eine gezielte weitere Beschäftigung mit einzelnen Personen und Themenkomplexen.
Von 1923 bis 1945
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Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2013
Lektorat: Dietmar Urmes, Bottrop
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag
nach der Gestaltung von Thomas Jarzina, Köln
Bildnachweis: Porträt von Dietrich Bonhoeffer (um 1930)
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
ISBN: 978-3-8438-0380-9
www.marixverlag.de
Vorwort
1. Einleitung: Formen von Widerstand
Begriffsbestimmung
Mitwirkung – Anpassung – Widerstand
Widerstandsbegriff im vorliegenden Buch
2. Gegner Hitlers und der NSDAP bis 1933
Die Entstehung der NSDAP und erste Tätigkeit
Gegenbewegungen vor der Machtübernahme
Die Bayerische Volkspartei
Franz Schweyer
Liberale und Demokraten
Theodor Heuss
Hellmut von Gerlach
Sozialdemokraten, Sozialisten und Gewerkschaften
Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold
Eiserne Front
Karl Höltermann
Carlo Mierendorff
Wilhelm Leuschner
Julius Leber
Der Internationale Sozialistische Kampfbund
Willi Eichler
Wissenschaftler und Intellektuelle
Emil Julius Gumbel
Theodor Lessing
Hans Achim Litten
Schriftsteller und Journalisten
Kurt Tucholsky
Carl von Ossietzky
Fritz Gerlich
Ernst Niekisch
Theodor Wolff
Konrad Heiden
Der Aufstieg der NSDAP, »Machtergreifung« und »Gleichschaltung«
Reaktionen in den ersten Monaten der NS-Herrschaft (1933/34)
Kommunisten
Hans Beimler
Willi Münzenberg
Neu Beginnen
Sozialisten und Sozialdemokraten
Otto Wels
Der Weg der SPD ins Exil
Rudolf Breitscheid
Der ISK (Internationaler Sozialistischer Kampfbund)
Ludwig Gehm
Revolutionäre Sozialisten
Die SAP(D)
Roter Stoßtrupp
Sozialistische Front Hannover
Die katholische Kirche bis zum Konkordat
Edith Stein
Bernhard Lichtenberg
Evangelische Kirche bis zur Barmer Theologischen Erklärung
Deutsche Christen
Der Pfarrernotbund
Martin Niemöller
Dietrich Bonhoeffer
Barmer Theologische Erklärung
Hermann Mulert
Die Haltung der Reichswehr
Hans Oster
Einzelpersonen aus dem sogenannten bürgerlichen Lager
Die beiden Ewald von Kleist-Schmenzin (Vater und Sohn)
3. Widerstand 1933/34–1939
Die Nationalsozialisten sichern ihre Macht
Widerstand bis zum Kriegsausbruch
Widerstand der Kommunisten
Liselotte Herrmann
Karl Wagner
Sozialisten und Sozialdemokraten
St. Gallener Gruppe
Paul Grünwald und die Jugendgruppe des Zentralverbandes der Angestellten in Frankfurt
Jüdischer Widerstand
Hechaluz (Pionier)
Nathan Schwalb
Aufklärungsarbeit
Evangelische Kirche
Die Bekennende Kirche
Einzelne Theologen
Katholische Kirche
Pater Rupert Mayer
Max Josef Metzger
Gertrud Luckner
Die Enzyklika »Mit brennender Sorge«
Zeugen Jehovas
Reichswehr bzw. Wehrmacht
Ludwig Beck
Erwin von Witzleben
Weitere Personen und Gruppen des Widerstands
Die Robinsohn-Strassmann-Gruppe
Die Gruppe Freies Hamburg
Der Kölner Kreis
Jakob Kaiser und Josef Wirmer
Der Freiburger Kreis
Die Harnier-Gruppe
Ernst von Harnack
Die Edelweißpiraten
Georg Elser
4. Widerstand im Krieg 1939–1944
Ausbruch des Kriegs und Systematisierung der Verbrechen
Kriegsdienstverweigerer und Überläufer
Franz Jägerstätter
Ludwig Gehm
Kommunisten
Die Gruppe um Georg Schumann in Leipzig
Die Gruppe um Bernhard Bästlein in Hamburg
Gruppe von Robert Uhrig und Beppo Römer in Berlin
Die Gruppe um Anton Saefkow in Berlin
Sozialdemokraten
Rote Kapelle
Jüdischer Widerstand
Werner Scharff, Hans Winkler und die »Gemeinschaft für Frieden und Aufbau«
Die Chug Chaluzi
Herbert-Baum-Gruppe
Aktionen in Lagern und Ghettos
Evangelische Kirche
Katholische Kirche
Clemens August Graf von Galen, Bischof von Münster
P. Augustin Rösch SJ
P. Alfred Delp SJ
Josef Müller
P. Maximilian Kolbe OFM
Mormonen
Widerstandsgruppen verschiedener Weltanschauungen
Protest in der Berliner Rosenstraße 1943
Rettung von Juden und Zwangsarbeitern
Die Weiße Rose
Andere Jugend- und Studentengruppen
Weltanschaulich gemischte Gruppen
Die Wehrmacht
5. Widerstand im Exil
Oppositionspolitiker
Das Nationalkomitee »Freies Deutschland« und BDO
Schriftsteller
Thomas Mann
Anna Seghers
Stefan Heym
Lion Feuchtwanger
6. Widerstand in den besetzten Staaten
Polen
Jugoslawien
Griechenland
Italien
Frankreich
7. Widerstand in Deutschland 1944/45
Der Staatsstreich vom 20. Juli 1944
Claus Schenk Graf von Stauffenberg
Das Attentat vom 20. Juli
Die Rache der Nationalsozialisten
8. Nach 1945
Umgang mit dem Thema »Widerstand« nach 1945
Das Ausland
Deutschland
Die Kirchen
9. Würdigung
10. Zeittafel 1919–1945
Literaturverzeichnis
Dieses Buch soll einen Überblick über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus bieten. Im Mittelpunkt stehen Personen und Personengruppen und Selbstzeugnisse von ihnen. Der Schwerpunkt liegt auf den frühen und auf den sonst, etwa in Schulbüchern, knapper behandelten Gegnern Hitlers, während die berühmten Beispiele wie die »Weiße Rose«, über die der Marix Verlag dieses Jahr bereits einen Titel herausgegeben hat, oder der militärische Widerstand und die großen Widerstandskreise um Carl Friedrich Goerdeler und Helmut von Moltke, die in vielen Darstellungen den größten Raum einnehmen, kürzer behandelt werden.
Mein Dank gilt dem Marix Verlag und meinem Lektor Herrn Dietmar Urmes.
Speyer, am 20. Juli 2013 |
Lenelotte Möller |
Meiner Mutter
in Dankbarkeit
Der Begriff des Widerstands gegen den Nationalsozialismus ist nicht leicht zu fassen. Menschen, die die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze der NS-Ideologie nicht einhielten, die sich gegen Hitler, seine Partei oder die Verbrechen des Regimes stellten, taten dies unter sehr verschiedenen Bedingungen, auf unterschiedliche Weise, aus verschiedenen Gründen und mit unterschiedlichen Folgen:
Sie kamen aus höchst unterschiedlichen sozialen Schichten, waren Adlige, Bürger, Bauern oder Arbeiter, Offiziere oder Soldaten, und hatten höchst unterschiedliche Weltanschauungen, waren Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokraten, Liberale und Demokraten, Katholiken, Protestanten, Juden, Pazifisten und Patrioten und konnten in einer Person auch mehreren der hier bezeichneten Gruppen angehören. Ihre Kritik am Nationalsozialismus bezog sich entweder auf die Partei und ihre Herrschaft als Ganzes, oder sie lehnten einzelne Verbrechen besonders ab wie die Abschaffung von Demokratie und Grundrechten, den Staatsterror, den Antisemitismus, die Tötung Behinderter, die Kriegsvorbereitungen bzw. den Krieg oder nur die katastrophale Kriegsführung, Übergriffversuche auf Institutionen, denen sie angehörten, oder die Rivalität um den Einfluss auf die Bevölkerung und ihre Lebensbereiche im Vordergrund; manche verteidigten ihre Existenz und die ihrer Schicksalsgenossen, andere nur ihre eigenen Interessen, ja manche gerieten sogar durch eine einmalige, vielleicht sogar zufällige Situation in Gegensatz zum nationalsozialistischen Regime und setzten dann erst den ohne ihr bewusstes Wollen begonnenen Widerstand konsequent fort. Danach hing die Frage, ob jemand Widerstand leistete oder sich den Gegebenheiten anpasste, sehr von der Fähigkeit ab, unter den gegebenen Zwängen die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu erkennen.1
Zum Teil in Abhängigkeit davon waren auch die Ziele all der Maßnahmen, die sich gegen den Nationalsozialismus richteten, höchst unterschiedlich: Während es den einen darum ging, die eigene Unabhängigkeit und Freiheit oder die einer Institution zu bewahren, ihr eigenes überfallenes oder verratenes, jedenfalls unterdrücktes Volk zu befreien, setzten sich andere für die Rettung mehrerer oder auch nur einzelner Menschen ein, wieder andere für die Beseitigung Hitlers und des Regimes mit oder ohne Überlegungen für eine anschließende Ordnung Deutschlands, manche schließlich setzten um den Preis des eigenen Lebens nationalsozialistischem Zwang und Terror eine Grenze, indem sie ein anderes retteten.
Auch hinsichtlich des Zeitpunktes unterschieden sich die Aktionen gegen die NS-Herrschaft: Während die einen die Partei und ihre führenden Figuren schon früh durchschauten und gegen sie argumentierten und agitierten, vollzogen manche ursprüngliche Sympathisanten nationalsozialistischer Ideen den schweren Schritt, Fehler einzugestehen, Irrwege zu verlassen, Entschuldigungen nicht mehr vorzuschieben, die man lange hatte gelten lassen, erst spät – aber doch vor 1945 und bisweilen mit allen Konsequenzen. Es gab schließlich die Menschen, die gleichzeitig von der NS-Herrschaft profitierten, während sie an anderer Stelle jeweils ihre Möglichkeiten nutzen, Leben zu retten und Verbrechen zu verhindern oder zu mildern.
Die Taten des Widerstands waren offen, wie z. B. Protestaktionen, Predigten oder publizistische Werke zur Aufklärung im In- und Ausland, offen und gleichzeitig anonym wie Flugblätter, sie geschahen heimlich, wie etwa Sabotageakte, die Rettung von Verfolgten durch Verstecken oder Fluchthilfe, sie reichten von Kurierdiensten zwischen Stellen des Widerstands bis zu Attentaten und Umsturzversuchen. Viele Maßnahmen wurden lange geplant und gründlich organisiert, einige wenige ergaben sich spontan.
Das Risiko für die Träger des Widerstands reichte von persönlichen Nachteilen über den Verlust von Heimat, Freiheit und Gesundheit bis hin zur Lebensgefahr. Widerstand fand weder – wie es die Alliierten lange behaupteten – nur im Exil, noch – wie manche in Deutschland Verbliebenen glauben machen wollten – nur in Deutschland statt.
Schließlich unterschieden sich Akte des Widerstands in ihrer Wirkung. Während es den Kirchen gelang, in einzelnen Bereichen ihre Selbstbestimmung zu wahren und sogar zum Teil die sogenannten Euthanasie-Programme aufzuhalten, während Verfolgte in Deutschland und den besetzten Gebieten manchmal bis Kriegsende und damit endgültig vor dem Zugriff der Nationalsozialisten gerettet werden konnten, erzielten z. B. viele Aufklärungsmaßnahmen in Büchern oder Flugblättern keine messbare Wirkung.
Die Grenze zwischen der Nichterfüllung nationalsozialistischer Erwartungen und echtem Widerstand ist vor dieser unübersichtlichen Lage schwer zu bestimmen. Ian Kershaw gelangt nach einer gründlichen Untersuchung verschiedener Forschungsansätze der letzten Jahrzehnte zu folgenden Kriterien für Widerstand im engeren Sinn: »aktive Beteiligung an organisierten Bemühungen […], die […] auf die Unterminierung des Regimes oder auf Vorkehrungen für den Zeitpunkt seines Zusammenbruchs zielen.«2
Nicht zum Widerstand gehören demnach reine Abwehrversuche gegen nationalsozialistische Vereinnahmung: der Rückzug ins Private, der Versuch, Situationen der Mitwirkung oder des Mitmachens auszuweichen oder z. B. heimlich ausländische Radiosender zu hören, Ungehorsam aus wirtschaftlichen Erwägungen und dergleichen.
Widerstand kann nicht ohne den Blick auf Mitwirkung und Anpassung verstanden werden, weshalb diese Verhaltensweisen auch im vorliegenden Buch immer wieder im Kontrast betrachtet werden. Während einige Personen schon 1933 und vorher über Hitler und seine Partei aufklärten und sich andere während der Herrschaft der Nationalsozialisten auf verschiedene Weise dem Regime und seinen Taten widersetzten, gab es eine zu große Zahl von Menschen in Deutschland, die bis – und zum Teil noch lange nach – 1945 nicht bereit war, die Verbrechen der Gewaltherrschaft und des Kriegs in ganz Europa einzugestehen und dafür Verantwortung zu übernehmen. Dies ging bisweilen so weit, dass die Überlebenden und Hinterbliebenen des Widerstands noch lange Zeit von vielen wie in der NS-Zeit selbst als Verräter betrachtet und behandelt wurden.
Im Inland und während des Kriegs auch in den besetzten Staaten hatten die von den Nationalsozialisten geleiteten Behörden freiwillige Unterstützer in der Bevölkerung. Weder die Bespitzelung von Deutschen, noch die – in den europäischen Staaten unterschiedlich durchgreifende – Verhaftung, Deportation und Ermordung von Juden und anderen Verfolgten wären ohne die jeweils einheimischen Denunzianten in diesem Ausmaß nicht möglich gewesen, in dem sie stattfanden.
Grund für die Teilnahme an Verbrechen war bei den Tätern zuerst und vor allem der Wunsch, diese Verbrechen zu begehen, sowie die Ablegung aller Hemmungen, die in der menschlichen Fähigkeit des Mitgefühls liegen oder sonst in den letzten 2500 Jahren in der europäischen Geistesgeschichte entwickelt wurden.
Die Gründe für Passivität oder gar Unterstützung des Systems mögen neben persönlichen Vorteilen, das Einverständnis mit allen oder einigen Zielen des Nationalsozialismus gewesen sein, in Deutschland mag hier und da die Scheu hinzugekommen sein, während eines äußeren Kriegs gegen die eigene staatliche Obrigkeit zu kämpfen. Falsch verstandene Loyalität und bisweilen auch Angst um die eigene Person oder um Angehörige spielten eine Rolle, denn auch wenn das Risiko der möglichen Strafen nicht so groß war, wie oft gefühlt und behauptet, wenn es auch individuell sehr verschieden war – berechenbar war es gewiss nicht.
Das vorliegende Buch trägt den Begriff »Widerstand« im Titel und soll eine Überblicksdarstellung sein. Es fasst zwar, gemäß der bereits gegebenen Abgrenzung, nicht jede Handlung als Widerstand auf, die die Forderungen und Erwartungen der Nationalsozialisten nicht erfüllte, geht aber über das Wortverständnis Kershaws hinaus:
Erstens zeitlich: Außer denen, die sich der NS-Regierung widersetzt haben, werden zunächst Gruppen und Personen vorgestellt, die sich schon vor Hitlers Amtsantritt als Reichskanzler, vor der Sicherung der Macht und der sogenannten Gleichschaltung der NSDAP entgegengestellt haben, ihrer Etablierung entgegenwirken wollten, und z. B. von Matthias Strickler daher eher als Opposition bezeichnet werden.3
Zweitens räumlich: Obgleich nicht ausdrücklich erwähnt, scheint sich Kershaws Definition doch im Wesentlichen auf den Widerstand von Deutschen zu beziehen. Im vorliegenden Buch werden aber auch Beispiele von Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht in den Blick genommen, ebenso die Versuche deutscher Exilanten, das Regime zu behindern oder sich für die Zeit nach dem Zusammenbruch vorzubereiten.
Drittens hinsichtlich der Zielsetzung der handelnden Personen: Als Widerstand werden neben Maßnahmen zur Schwächung oder Beseitigung des NS-Regimes, zu denen z. B. Versuche der Volksaufklärung und -aufrüttelung gehören, auch solche aufgefasst, die auf die Verhinderung oder Eindämmung von NS-Verbrechen zielten, auch wenn sie nicht geeignet waren, die Herrschaft Hitlers insgesamt zu gefährden, dafür aber mit hohem persönlichen Einsatz und Risiko verbunden waren. In diesem Sinne wird die Rettung fremder Menschenleben oder die Kriegsdienstverweigerung um den Preis des eigenen Lebens durchaus als Akt des Widerstands aufgefasst.
Die wichtigsten Personen und Personenzusammenschlüsse des Widerstands gegen Hitler sollen hier vorgestellt werden, denn die Entscheidung für Anpassung oder Widerstand oder das, was dazwischen lag, war immer persönlich. Deswegen stehen die Personen des Widerstands mit ihren Hintergründen im Mittelpunkt. Soweit sie, direkt oder indirekt, Textzeugnisse ihrer Tätigkeit hinterlassen haben, sind Ausschnitte davon in dieses Buch aufgenommen worden. Selbstverständlich ist eine vollständige Darstellung nicht möglich, da nicht alle genannt, geschweige denn ausführlich besprochen werden können; das gilt insbesondere für regionale Gruppen in Deutschland, für den Kampf in den im Zweiten Weltkrieg besetzten Staaten und für die zahllosen Exilanten, die an ihren Zufluchtsorten, etwa als Journalisten oder Schriftsteller, versuchten, Aufklärung nach Deutschland zu bringen und die NS-Herrschaft zu schwächen.
Nach chronologischen und geographischen Gesichtspunkten geordnet werden Beispiele des Widerstands vorgestellt, wobei der Schwerpunkt im Unterschied zu vielen Gesamtbetrachtungen nicht auf dem militärischen Widerstand und dem 20. Juli 1944 liegt, sondern einer – wie schon der Buchtitel anzeigt – auf den Fällen, in denen Menschen schon sehr früh vor Hitler und seiner Partei gewarnt und sich gegen deren Herrschaft gestellt haben. Nicht alle wollten speziell die Weimarer Verfassung retten oder waren Anhänger der Demokratie, wie sie das Grundgesetz festlegt, aber der Wunsch nach Rechtsstaatlichkeit, besonders nach Geltung von Grundrechten war ein durchaus maßgeblicher Beweggrund.
Trotz Unterschiedlichkeit der Ausgangslage werden auch an fünf Beispielen die Kämpfe von Widerstandsgruppen in fünf besetzten Staaten gegen die deutsche Besatzungsmacht – und bisweilen auch untereinander – einbezogen. Schließlich werden die sich wandelnden Bewertungen des Widerstands, die zeitlich und abhängig von politischem System und vom Standort starken Veränderungen unterworfen waren, behandelt. Ausführliche Literaturangaben bei den betreffenden Abschnitten sollen die weitere Beschäftigung mit einzelnen Personen oder Gruppen erleichtern.
1Harald Welzer: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt 22013, S. 225.
2Ian Kershaw: Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick. Reinbek bei Hamburg 42006, S. 313.
3Matthias Strickler: Der Mensch im Widerstand. In: ders. (Hrsg.): Portraits zur Geschichte des deutschen Widerstands. [Historische Studien der Universität Würzburg, Bd. VI], Würzburg 2005, S. 9–24, hier S. 15.
Als eine von vielen Splitterparteien der frühen Weimarer Republik wurde am 5. Januar 1919 die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) in München gegründet; ihr Programm war völkisch-antisemitisch, aber auch von sozialistischem Gedankengut geprägt. Einer ihrer Initiatoren, der Schlosser Anton Dexler, gewann im darauffolgenden Spätsommer eine Reihe neuer Mitglieder, darunter der vor seiner Ausmusterung stehende Adolf Hitler, der für die kleine Partei zunächst ebenso nützlich wurde wie sie letztendlich für ihn, denn während er als geschickter Redner für sie Stimmen gewann, bot sie ihm ein Forum für seine Agitation und Profilierung. Im Münchner Hofbräuhaus wurde sie bei ihrer ersten Großveranstaltung am 24. Februar 1920 in »Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP)« umbenannt und ihr 25-Punkte-Programm feierlich vorgetragen. Inzwischen war Hitler für die Partei unentbehrlich und entsprechend einflussreich geworden. Er war bereits Werbeobmann, hatte eine Gruppe von Bewunderern und Unterstützern um sich, darunter Ernst Röhm und Rudolf Hess, und stieg am 29. Juli 1921 als Nachfolger Drexlers zum (zweiten und letzten) Parteivorsitzenden mit gleichsam unumschränkten Befugnissen auf. Die Anhänger der Partei wurden mehr von der Entschiedenheit und Aggressivität des Hauptredners beeindruckt als durch die Aussagen, die sich nicht wesentlich von denen anderer völkischer Gruppen unterschieden und bezogen sich vor allem auf die arische Rasse, auf die Schuld der sogenannten Novemberverbrecher an der Niederlage im Ersten Weltkrieg, die Ablehnung der Demokratie. Immer mehr gelang es Hitler, die Partei auf seine Person einzuschwören. Im August 1921 wurde die Sturmabteilung (SA) gegründet, die in ihren Uniformen und mit dem dynamisch wirkenden Symbol des Hakenkreuzes jene Ordnung symbolisierte, die man in München während der Räteherrschaft so sehr vermisst hatte. Schon 1920 war die Parteizeitung »Völkischer Beobachter« erstmals herausgegeben worden. Im Februar 1923 konnte sie als Tageszeitung erscheinen. Noch im selben Jahr wurde sie von der Parteizeitung »Der Stürmer« ergänzt, deren Herausgeber Julius Streicher im Oktober 1922 mitsamt den etwa 2000 Mitgliedern der Deutsch-Sozialistischen Partei zur NSDAP übergetreten war.
Betätigungsfeld der Partei war zunächst ihr Gründungsort München und die bayerische Umgebung. In München hielt sie am 27./28. Januar 1923 – inzwischen auf 20 000 Mitglieder angewachsen – ihren ersten Reichsparteitag ab. Am Ende desselben Jahres, das durch die Hyperinflation und den Vermögensverlust von Millionen Menschen gekennzeichnet war, hielten die Nationalsozialisten, die nicht auf dem durch die Verfassung vorgesehenen Weg, sondern durch Putsch die Macht erlangen wollten und Benito Mussolinis »Marsch auf Rom« von 1922 bewunderten, den Augenblick für einen Putsch für gekommen. Am 9. November begannen sie daher einen »Marsch auf Berlin«, der allerdings schon an der Feldherrnhalle in München im Kugelhagel der Polizei endete. Die 16 erschossenen Demonstranten wurden später als »Märtyrer der Bewegung« verklärt und zum Bestandteil nationalsozialistischen Totenkults. Der Prozess gegen die Putschisten, darunter auch der Weltkriegsgeneral und eigentliche »Sieger von Tannenberg« Ernst Ludendorff und der spätere Innenminister Wilhelm Frick, begann am 26. Februar 1924. Ludendorff wurde im Urteil vom 1. April freigesprochen, Hitler zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt und auf die Festung Landsberg überstellt. Die NSDAP wurde im ganzen Reich verboten. In der Haft arbeitete Hitler an seinem Buch »Mein Kampf«, in dem er seine Lebensgeschichte politisch verklärte und seine Ziele und Absichten darlegte. Am 20. Dezember vorzeitig aus der Haft entlassen, fand er seine Partei aufgelöst vor, indem führende Figuren in andere Bewegungen eingetreten waren. Er gründete die NSDAP am 26. Februar 1925 neu und gewann sogleich seine alte Machtstellung wieder, bald ließ er sich »Führer« nennen, 1926 wurde der sogenannte Hitlergruß eingeführt. Die Partei, deren Verbot im Februar 1925 aufgehoben worden war, nahm nun an Wahlen teil und weitete sich auf das ganze Reichsgebiet aus. Das neue bürgerliche Auftreten des Parteichefs hinderte die SA nicht an der Inszenierung von Straßenschlachten und der Ermordung politischer Gegner. Sie wuchs bis 1930 auf 100 000 Mitglieder.
Literatur: Hans-Ulrich Thamer: Verführung und Gewalt. Deutschland 1933–1945. [Siedler Deutsche Geschichte, Reihe: Die Deutschen und ihre Nation, (Bd. V)], Berlin 1994; Ursula Büttner: Weimar – Die überforderte Republik. 1918–1833. Stuttgart 2008
Schon aus weltanschaulichen Gründen ergaben sich bei Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokraten, Katholiken, Liberalen und Demokraten die vielen Reibungspunkte zur NSDAP. In Bayern, dem ersten Land nationalsozialistischer Agitation, traf dies auch auf die regierende Bayerische Volkspartei zu. Diese im November 1918 im Streit um Zentralismus und Länderhoheit aus dem Zentrum hervorgegangene Partei hatte ein konservativ-föderalistisches Programm auf der Grundlage des katholischen Glaubens. Mit den Sozialdemokraten zusammen bildete sie nach Beendigung der Räterepublik eine Regierung. Die BVP war lange stärkste Partei in Bayern und die stärkste deutsche Regionalpartei; von 1925 bis 1932 gehörte sie auch den Koalitionen an, die jeweils die Reichsregierung trugen. Die Schnittmengen mit der NSDAP waren also eher klein; einig war man sich gewiss in der Ablehnung des linken Spektrums, und beide Parteien waren gegen die Weimarer Verfassung eingestellt, doch die Alternativen, die sich die zur Monarchie und zu mehr Selbständigkeit tendierende BVP und die NSDAP vorstellten, waren höchst unterschiedlich. Dennoch kämpften sie zum Teil um dieselben Wählerstimmen.
Bei der Niederschlagung des Hitlerputsches war besonders die Entschlossenheit zweier bayerischer Minister der BVP von Bedeutung: Innenminister Franz Schweyer, der die Polizei gegen die Putschisten einsetzte, und Kultusminister Franz Matt (1860–1929), der folgenden Aufruf an die Bevölkerung richtete:
Bekanntmachung.
Durch einen Putsch Hitler-Ludendorff wurde die verfassungsmäßige Regierung für abgesetzt erklärt. Die verfassungsmäßige Regierung besteht weiter. Sie fordert die gesamte Beamtenschaft, die Polizei und das bayer[ische] Kontingent der Reichswehr auf, ihrer verfassungsmäßigen Regierung treu zu bleiben und den Revolutionären den Dienst zu verweigern. Wer dem entgegenhandelt, wird als Hochverräter betrachtet. Die Regierung erwartet, daß das bayer[ische] Volk in Stadt und Land dem Preußen Ludendorff und seinem Anhang, der es unternommen hat, unser bayerisches und deutsches Volk in namenloses Unglück zu führen, die Gefolgschaft versagen wird. Weitere Bekanntmachungen werden erfolgen.
Den 9. November 1923.
Für das verfassungsmäßige Gesamtministerium:
Gez. Dr. Matt
Zit. nach: Lydia Schmidt: Franz Matt, S. 77f., Anm. 291
Der Versuch, durch seinen Aufruf gegen den »Preußen Ludendorff« die Stimmung der Bevölkerung gegen die Putschisten zu wenden, funktionierte.4 Schweyer versuchte auch, Hitlers Begnadigung nach seiner kurzen Haft in Landsberg zu verhindern, und verhängte ein Redeverbot gegen Hitler in Bayern, das bis 1927 in Kraft blieb. So kam noch bei der Reichstagswahl im Juli 1932 eine Mehrheit für die demokratischen Parteien in Bayern zustande. Dem Ermächtigungsgesetz stimmten die BVP-Abgeordneten im Reichstag allerdings zu. Zur Verhinderung der Gleichschaltung wurden noch der Austritt Bayerns aus dem Reich bzw. die Wiedereinführung der Monarchie unter Kronprinz Ruprecht erwogen. Die Monarchisten wurden dabei von dem jüdischen Herausgeber der »Münchner Neuesten Nachrichten«, Nikolaus Paul Cossman (1869–1942), unterstützt. Doch kamen ihre Überlegungen zu spät. Bayern wurde als letztes deutsches Reichsland am 8./9. März gleichgeschaltet. Die BVP löste sich unter dem Druck der NSDAP im Juli 1933 selbst auf.
Literatur: Karl Sommer: Beiträge zur Bayerischen und Deutschen Geschichte in der Zeit von 1910 bis 1933. Privatdruck Kreuth 1981; Lydia Schmidt: Kultusminister Franz Matt (1920–1926): Schul-, Kirchen- und Kunstpolitik in Bayern nach dem Umbruch von 1918. [Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte] München 2000; Peter Claus Hartmann: Bayerns Weg in die Gegenwart. Vom Stammesherzogtum zum Freistaat heute. Regensburg 22004
Zu den frühen Kritikern der NSDAP gehörte der BVP-Politiker und bayerische Innenminister Franz Schweyer. Er wurde 1868 in Osterzell (Schwaben) geboren, studierte Rechtswissenschaften und war anschließend im bayerischen Verwaltungsdienst tätig. Er war Mitglied der BVP, machte aber als Verwaltungsfachmann Karriere, nicht als Parteimitglied. 1921 wurde er bayerischer Innenminister und sorgte 1923 für die Niederschlagung des Hitler-Putsches. Nach seinem Ausscheiden aus der Regierung verfasste er ein Buch über »Politische Geheimverbände«, unter denen er Gemeinschaften verstand, die »irgend eine für ihre Beurteilung entscheidend ins Gewicht fallende Einrichtung oder Eigenschaft der zuständigen Staatsbehörde oder der Öffentlichkeit tatsächlich planmäßig vorenthält«.5 Darin beschreibt Schweyer 27 größere und kleinere Vereinigungen gesellschaftlicher, politischer und krimineller Art aus Europa und Amerika mit dem Schwerpunkt auf Deutschland. Hinter den Freimaurern nehmen darin die Nationalsozialisten6 und die Bolschewisten den größten Raum ein. Er beklagt die Brutalität der Nationalsozialisten gegenüber Andersdenkenden, besonders Juden, Sozialdemokraten und Marxisten, wirft Hitler Charakterschwäche, Größenwahn und Hemmungslosigkeit vor, Demokratie- und Staatsfeindlichkeit, und besonders – daher die Aufnahme in das Buch – Unehrlichkeit. Schweyer beschreibt die Auseinandersetzungen Hitlers mit der bayerischen Staatsregierung. Er zeigt den Strategiewandel der Partei von den Umsturzplänen hin zur scheinbaren Integration in die Verfassung auf, thematisiert die Lüge vom Sozialismus im Parteinamen, kritisiert die Föderalismusfeindlichkeit der NSDAP und wendet sich selbst gegen jede Diktatur von rechts oder links. Die Nationalsozialisten seien Feinde des Katholizismus und des Christentums im Allgemeinen. Sie verstünden darunter nichts anderes als Antisemitismus und wollten es durch eine germanische Religion ersetzen und wie die Faschisten die Nation zum Gott erheben. Über die jüngste Entwicklung seit Hitlers Haftentlassung aus Landsberg schreibt Schweyer:
Von besonderem Interesse sind die Bestimmungen über die Sturmabteilungen (S.A.). Hierüber ist verfügt: »Die Neubildung der S.A. erfolgt nach den Grundlagen, die bis zum Februar 1923 maßgebend waren. Ihre Organisation hat dem Vereinsgesetze zu entsprechen. Bewaffnete Gruppen und Verbände sind von der Aufnahme ausgeschlossen. Die Abteilung, die gegen die Anordnung der Leitung öffentliche Umzüge veranstaltet oder sich an solchen beteiligt, wird sofort aufgelöst. Die Führer werden aus der S.A. und der Partei ausgeschlossen.« Hiernach behält sich die Leitung der Partei vor, ihrerseits über das Tragen von Waffen und die Veranstaltung von Umzügen das Geeignete zu bestimmen. Bewaffnung und Veranstaltung sollten hiernach nicht ausgeschlossen, sondern nur der Verfügung der Leitung vorbehalten sein. Die Vorschriften erwecken den Anschein einer den Anforderungen des Staates Rechnung tragenden Regelung; bei näherem Zusehen enthalten sie in versteckter Weise die Aufrechthaltung der ganzen früheren Organisation, vor allem auch der Sturmabteilungen und sonstiger Einrichtungen der Partei. Alle diese Einrichtungen werden nur noch strammer als bisher der zentralen Leitung, dem persönlichen Befehl Hitlers, unterstellt. Nach dem ersten Auftreten in öffentlichen Versammlungen scheint Hitler, der mit Bewährungsfrist entlassene Führer der Bewegung, die frühere Sprache und die frühere Agitationsmethode wieder aufnehmen und in der gleichen anmaßenden Weise wie früher den bestehenden Regierungen und Parteien den Fehdehandschuh hinwerfen zu wollen.
Schweyer, Geheimverbände, S. 118f.
Schweyers Warnungen verhallten bei vielen Wählern und schließlich bei den Verantwortlichen in Berlin ungehört. Nach der Übernahme der Macht durch die Nationalsozialisten wurde Schweyer in das Konzentrationslager Dachau verbracht, aber zuerst noch einmal freigelassen. Er starb an den Folgen eines im Gefängnis in München-Stadelheim 1935 erlittenen Schlaganfalls, wo er ohne Prozess eingesperrt war.
Quellen und Literatur: Franz Schweyer: Politische Geheimverbände. Blicke in die Vergangenheit und Gegenwart des Geheimbundwesens. Freiburg 1925; Peter-Claus Hartmann: Franz Schweyer. In: Strickler, Matthias (Hrsg.): Portraits zur Geschichte des Deutschen Widerstandes. [Historische Studien der Universität Würzburg VI], Würzburg 2005, S. 41–55
Von grundsätzlicher Art waren auch die Differenzen zwischen Nationalsozialismus und liberalen sowie demokratisch gesinnten Politikern. Dies wurde z. B. in der Person des späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss deutlich.
Als Württembergischer Abgeordneter war er 1930 nach einer Unterbrechung wieder in den Reichstag gewählt worden und hielt am 11. Mai 1932 eine Rede, durch die er mit Hermann Göring in Streit über die Außenpolitik geriet. Bereits Anfang des Jahres war sein Buch »Hitlers Weg. Eine historisch-politische Studie über den Nationalsozialismus.« erschienen, in der er die Entstehung der Bewegung und das Programm der Nationalsozialisten analysierte, sie aber vor allem durch argumentative Auseinandersetzung kritisierte. So legte er zum Beispiel die Widersinnigkeit des Rassenwahns offen:
Unausgeglichen bewegt sich der Antisemitismus zwischen zwei Polen hin und her. Der Arier erscheint nicht nur als die Krone der Schöpfung, er ist der Träger der Kultur, der Verwalter der ordnenden Eigenschaften, der Soldat, der Staatengründer, der geborene Herr – alles Starke geht von ihm aus, alle überlegene Weisheit ist sein Besitz, schließlich sind auch alle bedeutenden Erfindungen, weltumspannenden Gründungen wirtschaftlicher Natur seine Leistung. Und zugleich wird er das Opfer einer Handvoll Menschen, die feige und unschöpferisch sind, die er brutalisiert und die ihn doch in der Hand haben – in solcher Zeichnung muß etwas nicht stimmen. Denn sonst müsste ja ein Anhänger des Machtgedankens fast der Meinung sein, dieses Verhältnis habe sich mit innerer Notwendigkeit ergeben; jene auszeichnenden Eigenschaften seien nur gewählt worden, um mit der Benennung ein Manko zu verdecken.
So ist es natürlich nicht. Das Geschichtsbild ist falsch, weil es mit zu groben und zu einfachen Begriffen, mit Wunschvorstellung und Haßgefühl aufgebaut ist und weil seine Grundthese von dem »schicksaligsten Besitz«, dem Blut, den politisch konstituierenden Kräften nicht gerecht wird. Diese ruhen in Sprache und Siedlungsraum, mehr noch in der gemeinsam erlebten und Seelen gestaltenden Geschichte. Das hat noch niemand deutlicher erfahren müssen als das deutsche Volk, als die »nordische Rasse«, die so viel »Blut« in fremdes Staatenwesen und auch Volkstum gegeben hat und es dort völlig an die Fremde verlor, wo nicht Sprache und Boden den eigentümlichen Lebensraum hielten. Nach dem gleichen Gesetz sind die Juden in der Zerstreuung, umso stärker, je mehr ihre Zwangssiedlung aufgehört hat, von der Volks- und Staatengeschichte ihrer Umwelt aufgenommen und eingegliedert worden.
Heuss, Hitlers Weg, S. 43
Das Buch wurde noch im selben Jahr mehrfach aufgelegt und ins Schwedische, Italienische und Niederländische übersetzt. Ebenfalls im Mai zeigte sich in Reden anlässlich der Jubiläumsfeiern zum Hambacher Fest die Kluft zwischen Heuss und der NSDAP, die ihn in Person des Schriftstellers Kurt Kölsch massiv angriff.
Aus Faktionsdisziplin stimmte Heuss mit den übrigen Abgeordneten seiner Partei am 23. März 1933 für das Ermächtigungsgesetz, obgleich er selbst zwei Reden für diesen Anlass vorbereitet hatte: eine gegen das Gesetz und eine für den Fall der Enthaltung. Nach der Beugung unter das Unrecht zog er sich aus dem politischen Leben zurück und betätigte sich als Schriftsteller. Es erschienen in den nächsten Jahren folgende Titel: »Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit.« 1937 in Stuttgart; die Biographie des Architekten Hans Poelzig, »Hans Poelzig: Das Lebensbild eines deutschen Baumeisters« 1939; ebenfalls in Stuttgart und »Anton Dohrn in Neapel« 1940 in Zürich; 1942 erschien »Justus von Liebig. Vom Genius der Forschung.« in Hamburg; danach begann Heuss mit dem erst nach dem Krieg 1946 in Tübingen erschienenen Buch »Robert Bosch. Leben und Leistung.« 1943 zog er mit seiner Frau von Berlin nach Heidelberg um. Heuss hatte in Berlin in Kontakt mit Julius Leber und Karl Goerdeler gestanden. Letzterer wollte ihn nach einem erfolgreichen Umsturz zum Pressesprecher einer neuen Regierung machen.
Quellen und Literatur: Theodor Heuss: Hitlers Weg. Eine historisch-politische Studie über den Nationalsozialismus. Berlin 1932; Horst Möller: Theodor Heuss. Staatsmann und Schriftsteller. Bonn 1990; Thomas Hertfelder/Christiane Ketterle: Theodor Heuss, Publizist – Politiker – Präsident. [Begleitband zur ständigen Ausstellung im Theodor-Heuss-Haus.] Stuttgart 2003; Ernst Wolfgang Becker: Theodor Heuss. Bürger im Zeitalter der Extreme. Stuttgart 2011
In Mönchmotschelnitz in Schlesien wurde Hellmut von Gerlach 1866 geboren. Er studierte Jura und wurde im preußischen Staatsdienst angestellt, doch bald wandte er sich ganz dem Journalismus zu. Diese Tätigkeit begann mit Aufsätzen vornehmlich über die Jagd im »Deutschen Adelsblatt«. Durch seine Bekanntschaft mit Friedrich Naumann wurde er liberaler Politiker und Reichstagsabgeordneter. 1906 wurde er Chefredakteur der Wochenzeitung »Die Welt am Montag«, die in Berlin erschien, in der er ab 1914 gegen den Ersten Weltkrieg Stellung bezog und einen politischen Ausgleich forderte. 1918 war er Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei und wurde für kurze Zeit Unterstaatssekretär im preußischen Innenministerium, wo ihm besonders die Aussöhnung mit Polen und Frankreich am Herzen lag. Überzeugt von der deutschen Schuld am Ersten Weltkrieg forderte er die Erfüllung des Vertrages von Versailles und stellt sich gegen die Angriffe auf die Weimarer Republik von rechts. Berühmt geworden ist seine Analyse »Woher kommen Hitlers 6½ Millionen Stimmen?«:
[…] Die Welt zerbricht sich den Kopf darüber, worauf die Verneunfachung der Hitlerstimmen zurückzuführen ist. Die verschiedensten Deutungen kommen zum Vorschein. […]
Die Hitlerwähler setzen sich aus zwei Kategorien zusammen: einer kleinen Minderheit von Nationalsozialisten, die auf das Hakenkreuz eingeschworen sind, und einer riesigen Mehrheit von Mitläufern. Keine andere deutsche Partei ist so labil wie die nationalsozialistische, das heißt bei keiner anderen ist das Mißverhältnis zwischen Stammkunden und Laufkunden ebenso groß. Sozialdemokratie, Kommunisten, Zentrum, Demokraten, Volkspartei – überall gibt es Schwankungen, recht erhebliche vielleicht. Aber bei keiner anderen Partei ist es denkbar, daß eine plötzliche Verneunfachung erfolgt, die vielleicht bei der nächsten Wahl von einer Drittelung abgelöst wird. […]
Die 6½ Millionen werden ja durch kein inneres Band zusammengehalten. Sie sind zu neun Zehntel nicht Wähler für, sondern nur Wähler gegen. Dabei soll nicht verkannt werden, daß Hitler, der ein ausgezeichneter Organisator mit Suggestivkraft ist, über eine ihm blind ergebene Kerntruppe von einigen hunderttausend Mann, meist recht jugendlichen Truppen verfügt […] Idealisten mit verwirrtem Kopf und Landsknechte ohne Kopf, insgesamt ein paar hunderttausend Mann, das ist Hitlers Kerntruppe. Die Millionen der Wähler, die er diesmal mustern konnte, dank der Gunst der Umstände, das heißt dank der Ungunst der Wirtschaftslage, rekrutieren sich aus den verschiedensten Schichten. [Es folgt eine Aufzählung verschiedener Bevölkerungsgruppen, die die Nationalsozialisten gewählt haben, samt deren Bewertung.]
Da sind bedauerlich viele Beamte. Ihre politische Freiheit verdanken sie ausschließlich der Republik. Aber leider hat ihnen die Republik mit der politischen Freiheit nicht auch zugleich das politische Denken geben können, das ihnen in der Kaiserzeit ausgetrieben worden war. Sie sind ein besonders dankbares Objekt für Demagogen. […]
Da ist vor allem der große Block des sogenannten selbständigen Mittelstandes. Diese Millionen von Handwerkern, Gewerbetreibenden und Kleinkaufleuten führen seit der nach 1871 einsetzenden großindustriellen Entwicklung einen verzweifelten Kampf um ihre Existenz. Es fehlt ihnen an wirtschaftlicher Einsicht. Darum fallen sie auf jeden Schwätzer herein, der ihnen die Wiederherstellung des »goldenen Bodens« durch Kampf gegen Juden und Warenhäuser, gegen Börse und Gewerbefreiheit verspricht. […]
Das ist das erschütternd Trostlose an dem Wahlergebnis vom 14. September, daß die Welt sehen muß, wieviel Millionen politische Analphabeten es noch in Deutschland gibt.
Welt am Montag, 6. Oktober 1930
1931 gründete er, inzwischen aus der DDP ausgeschieden, die Radikaldemokratische Partei. Im folgenden Jahr wurde er Chefredakteur der Wochenschrift »Die Weltbühne«, begab sich aber schon 1933 ins Exil nach Österreich und von dort nach Paris, wo die französische Liga für Menschenrechte dem Vorsitzenden der deutschen Liga für Menschenrechte (das war er seit 1926) Aufnahme anbot. In Paris, wohin er noch manche Flüchtlinge vor den Nationalsozialisten gerettet hatte, starb Hellmut von Gerlach im August 1935.
Quellen und Literatur: Hellmut von Gerlach: Das Parlament. Frankfurt 1908; ders.: Die große Zeit d. Lüge. Charlottenburg 1926; ders.: Von rechts nach links. Hrsg. Von Emil Ludwig, Zürich (posthum erschienene Autobiographie) 1937; Adrien Robinet de Cléry: Gerlach, Helmut Georg von. In: NDB 6 (1964), S. 301f.; Franz Gerrit Schulte: Der Journalist Hellmut von Gerlach. München 1988; Ursula S. Gilbert: Hellmut von Gerlach (1866–1935). Stationen eines deutschen Liberalen vom Kaiserreich zum »Dritten Reich«. Frankfurt/Main 1984
Zu den geborenen Gegnern der Nationalsozialisten gehörten auch die Sozialdemokraten. Sie konkurrierten mit den Nationalsozialisten zum Teil um dieselben Wähler und standen ihnen gleichzeitig ideologisch unvereinbar gegenüber. Schon Mitte der 20er-Jahre nahm sie mit ihren Institutionen aber auch repräsentiert durch Einzelpersonen den Kampf gegen den Aufstieg der Nationalsozialisten auf.
Sowohl gegen rechte als auch gegen linke Angriffe auf die Weimarer Republik richtete sich das von den Sozialdemokraten am 22. Februar 1924 in Magdeburg gegründete »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold« für Kriegsteilnehmer, die sich weder in den nationalistisch-völkischen Veteranenvereinen sammeln wollten, noch kommunistisch gesinnt waren. Am Reichsbanner beteiligten sich auch die Gewerkschaften, das Zentrum und die Deutsche Demokratische Partei (DDP). Aufgrund dieser breiten Basis gewann es bis 1932 immerhin drei Millionen Mitglieder, davon drei Viertel aus der SPD. Gründer und Leiter der Bewegung war bis 1932 der Magdeburger Oberbürgermeister Otto Hörsing (1874–1937), ab 1932 Karl Höltermann (1894–1955), Journalist und ebenfalls Sozialdemokrat. Mitglieder waren auch namhafte Sozialdemokraten wie Paul Gerlach, Theodor Haubach, Julius Leber, Paul Löbe, Carlo Mierendorff, Erich Ollenhauer, Philipp Scheidemann, Kurt Schumacher und Otto Wels. Von der DDP gehörten dazu Thomas Dehler, Theodor Heuss, Gustav Heinemann, vom Zentrum z. B. Joseph Wirth. Ab 1930, nach dem großen Wahlerfolg der NSDAP, wurde es nach Jahren des Rückgangs reaktiviert und bekämpfte die Nationalsozialisten auch mit deren eigenen Mitteln, nämlich mit paramilitärischen Organisationen im Straßenkampf gegen die Sturmabteilung (SA), die es dabei jedoch in ihrer inneren Struktur nachahmte.
1931 schlossen sich unter Karl Höltermann das Reichsbanner und der allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund sowie andere Vereinigungen nach dem Vorbild der »Harzburger Front« aus NSDAP, DNVP und Stahlhelmbund zur sogenannten Eisernen Front zusammen, die sich gegen Nationalsozialisten und Kommunisten richtete und wie schon das Reichsbanner von den Sozialdemokraten dominiert war. Die Eiserne Front betrieb intensiven Wahlkampf, unterlag aber 1933 den Verbänden der Nationalsozialisten und wurde verboten.
Literatur: Günther Gerstenberg: Freiheit! Sozialdemokratischer Selbstschutz im München der zwanziger und frühen dreißiger Jahre. 2 Bde. Berlin 2001; Benjamin Ziemann: Die Zukunft der Republik? Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold 1924–1933. Bonn 2011; Günther Gerstenberg, Eiserne Front, 1931–1933, in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44704> (01.03.2013)
Karl Höltermann wurde am 20. März 1894 in Pirmasens geboren und war der Sohn eines Gewerkschaftssekretärs. Seine Jugend verbrachte er in Nürnberg. Nach der Schulausbildung lernte er Schriftsetzer und trat in die Sozialistische Arbeiterjugend ein. Als Soldat im Ersten Weltkrieg (1915–1918) erlitt er eine Gasvergiftung und schied 1919 als Unteroffizier aus dem Militärdienst aus. Nacheinander arbeitete er für die »Fränkische Tagespost«, den »Sozialdemokratischen Pressedienst« und die »Magdeburger Volksstimme«, wo er 1921 Chefredakteur wurde.
Besorgt um die junge Republik gründete er zusammen mit einigen Sozialdemokraten die »Republikanische Notwehr« und spielte ebenfalls eine unverzichtbare Rolle im »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold« von dessen Gründung an. Unter anderem gab er dessen Zeitung »Das Reichsbanner« heraus. Ab April 1932 war er Bundesvorsitzender der Organisation und betrieb die Gründung der »Eisernen Front«. Im selben Jahr wurde er Reichstagsmitglied. Seine letzte Rede als Reichsbanner-Vorsitzender vor dem Berliner Schloss beendete er mit den Worten: »Nach Hitler kommen wir!«
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten begab sich Höltermann ins Exil nach London. Zuerst versuchte er, das »Reichsbanner« am Leben zu erhalten, dann strebte er eine Exilpolitik im Gegensatz zum SPD-Exilvorstand an, die er jedoch aufgab.