Nacht, Wald und alles ist dunkel. Du musst rennen. Los, vorwärts! Hör auf den Takt deiner Füße! Weiter! Los, weiter! Atemlos, rasselnde Lungen, Seitenstechen. Du kannst nicht mehr. Renn, los, renn weiter! Du musst einfach.
Du weißt immer noch nicht, wer da hinter dir her ist?
Du musst rennen! Los, renn! Als könntest du davonlaufen! Entkommen, ha! Die Idee ist verrückt, und das weißt du. Dort, wo dein wütendes Herz wohnt, da spürst du, dass es kein Entrinnen gibt.
Und deshalb: Lauf! Wenn dein Herz dafür zerspringen muss, und? Und was? Los, los, was ist schon dein Herz! Und das Reißen deiner Lungen, lächerlich! Nicht drauf achten!
Die Brombeerranken, die dich festhalten wollen, die Bäume, die eng aneinanderrücken und dir den Weg abschneiden. Weiter, weiter!
Ist da nicht jemand? Direkt hinter dir, schon ganz nah? Wie kannst du jetzt, ausgerechnet jetzt, daran denken? Weißt du denn nicht, dass jeder Gedanke dich langsamer macht? Denk nicht! Lauf weiter, vorwärts, weiter!
Da ist etwas, da vorne! Direkt vor dir! Und du hast gedacht, dass du weglaufen kannst! Ha! So kommt es aus deinen Lungen: Ha! Zu mehr reicht die Luft nicht. Und kurz bevor alles vorbei ist, erinnerst du dich.
JULIE Ich hielt das lange Streichholz an die erste der Gartenfackeln. Die Flamme leckte am Docht, wuchs blau daran empor und änderte ihre Farbe in strahlendes Gelb und Rot.
Jasmina, meine beste Freundin, riss ein weiteres Streichholz an und hielt es an die nächste Fackel. Ich sah zu, wie rund um den dicken Baumwollfaden das Wachs schmolz und die zweite Flamme emporwuchs.
„Jetzt noch die dahinten beim Zaun!“, sagte ich und machte einen großen Schritt über den duftenden Salbeibusch.
Jasmina reichte mir ein brennendes Streichholz und ratschte das nächste über die Schachtel.
„Wow“, machte sie, als alle Fackeln brannten. Unser Garten sah fantastisch aus.
„Wie ein Zaubergarten!“, sagte ich zu ihr. Genau so hatte ich es mir vorgestellt.
„Echt geil“, sagte sie und kicherte grundlos.
Jasmina war heute Abend ziemlich aufgekratzt. Vielleicht hing es damit zusammen, dass Ben hier war. Endlich! Und Ben war nicht bloß einfach hier, Jasmina hatte ihn mitgebracht, sie hing an ihm, ihre Blicke folgten ihm, und was auch immer er sagte, sie grinste und lachte ihm zu. Ben lachte zurück.
Auf der Terrasse saßen außer Ben noch rund zwanzig andere Gäste unserer Sommerparty. Wir hörten die Gesprächsfetzen und das Gläserklirren, das helle Auflachen eines Mädchens, die dunkle Stimme meines älteren Bruders Noah, dann die ersten Gitarrenakkorde, die Sebastian anschlug. Ein paar Gäste klatschten, als sie den Song erkannten.
„Sweet Home Alabama“, rief Ela begeistert und sang mit.
Ela war nicht gerade meine Freundin, aber an einem Sommerabend wie diesem war mir das egal.
Grillen zirpten im Gras. Die Fackeln beleuchteten flackernd die niedrigen Büsche und Stauden. Uns umhüllte die Sommernacht wie ein Mantel aus dunkelblauem Samt.
Wir gingen über die Trittsteine zur Terrasse hinauf, setzten uns nebeneinander und nahmen jeweils einen Schluck aus unseren Gläsern.
Alle sangen den Refrain, dann spielte Sebastian ein kleines Solo, schrammelte zum Abschluss schnell über die Saiten und lachte.
Ela warf den Kopf in den Nacken und jauchzte laut auf, so als könne sie ihrer Begeisterung über die Gitarrenkünste ihres neuen Freundes sonst keine Luft machen.
Jasmina und ich wechselten einen Blick. Wir brauchten nichts zu sagen. Ela, die ging gar nicht. Kurz nachdem Jasmina mit Ben zusammengekommen war, hatte sich Ela ihren Zwillingsbruder Sebastian geschnappt. Zugeschnappt wie eine Falle, dachte ich immer, wenn ich die beiden zusammen sah.
„Was jetzt?“, fragte Sebastian. „Was soll ich spielen?“
Alle riefen unterschiedliche Titel durcheinander, aber Sebastian lehnte jeden Song ab.
Dann schlug mein Bruder Noah True Colours von Cindy Lauper vor, eine uralte Nummer und nicht gerade zum Mitsingen geeignet.
„Das ist doch voll Neunziger!“, meinte Ela.
„Achtziger“, berichtigte Sandra, meine Mutter. Sie war mit einem Tablett voller kleiner leckerer Häppchen auf die Terrasse getreten und lächelte Ela halb freundlich, halb belehrend an. „Ist eines meiner Lieblingslieder.“
„Dann muss Julie singen!“, bestimmte Sebastian.
Er zupfte die ersten Töne an, wechselte dann zu einer langsamen Akkordfolge, die die warme Nacht erfüllte.
Ich summte mit, dann nickte Sebastian mir zu. Mein Einsatz und die ersten Worte kamen ganz ruhig und wie selbstverständlich aus meinem Mund. Singen ist mein Ding, schon immer. Jahrelang hatte ich Gesangsunterricht bei Frau Oprea-Kahn, einer strengen, breiten Rumänin mit hartem Akzent, die mich mit Atemstützübungen und Tonleitern traktiert hatte. Nicht zu vergessen das Theoriewissen, das sie zu Beginn der Stunde stets abfragte. Jahrelang hatte ich täglich mindestens zwei Stunden geübt, meistens mehr, damit es jetzt so selbstverständlich klang. Aber Singen war immer noch das Schönste auf der Welt für mich, trotz Oprea-Kahn und der ganzen langweiligen Tonübungen.
Sebastian grinste mir zu. Ich öffnete meine Kehle weiter und legte besonders viel Gefühl in den Refrain. Ich holte kurz Atem und sang dann mit weniger Druck weiter. Ich hatte das Lied schon tausendmal gesungen und ich hoffte zu wissen, wie ich die Zuhörer berühren konnte.
Sebastian schlug die Saiten noch einmal an und ließ den letzten Akkord verklingen.
Danach war es für einen Moment fast still. Nur die Grillen im Gras waren zu hören.
„Wow!“, machte einer von Noahs Freunden.
„Ich hab selbst Gänsehaut!“, gab Sebastian zu. Ela streichelte über seinen Arm, so als wollte sie das überprüfen.
Ich seufzte zufrieden. Meine Mutter drückte meine Schultern. „Danke, das war wirklich …“, sagte sie.
„… magisch“, sagte Noahs Freund schnell. „Würde ich sofort in meinem Magazin schreiben, wenn ihr das nächste Mal auftretet.“ Ich erinnerte mich, dass er einen Musikblog im Internet hatte, den er immer sein Magazin nannte.
„Tja“, machte Sebastian und schaute von Noah zu Jasmina und mir. „Wir bräuchten erst mal einen neuen Schlagzeuger.“
„Den finden wir schon“, sagte Jasmina leichthin.
Die ganze Party war so schön und zauberisch, dass ich den Anlass dazu fast vergessen hatte. Musste Sebastian ausgerechnet jetzt damit anfangen?
Wir feierten Noahs Abschied. Am Montag würden wir ihn zum Flughafen bringen. Noah ging für ein Jahr nach England, in ein kleines Dorf in der Nähe von Brighton. Er würde dort zur Schule gehen und natürlich sein Englisch verbessern. Am Anfang hatte sich das alles ganz klasse angehört, aber jetzt, so kurz vor dem Abschied, war ich doch ein bisschen traurig, nicht nur, weil der Band dann ein Schlagzeuger fehlte.
Die Band Jase Noju hatten wir vor einigen Jahren gegründet. War meine Idee gewesen. Auch der Name, der eigentlich nur aus den Anfangsbuchstaben unserer Vornamen bestand, sich aber – fand ich jedenfalls – immer noch gut anhörte. Ich sang natürlich, Jasmina spielte Bass, ihr Zwillingsbruder die Gitarre und Noah das Schlagzeug.
Am Anfang war es für die anderen eher ein Witz gewesen, aber inzwischen spielten wir beim Schulfest und auch schon mal bei einer Kirmes oder bei einem regionalen Wettbewerb.
„Ich kümmere mich darum“, sagte ich. „Da finden wir schon jemanden.“
„Was ist denn mit dir?“, fragte Jasmina Ben. Er saß natürlich eng an sie gedrückt.
„Bloß nicht! Ich bin nicht besonders taktvoll“, witzelte Ben und strich sich seine Haare zurück.
„Hm“, machten Jasmina und ich gleichzeitig. Dann schauten wir uns an und grinsten.
Sebastian zupfte schon wieder an den Saiten, spielte schneller und plötzlich erkannten alle den Song, einen von diesen Ski-Hütten-Hits, und sangen grölend mit.
„Heeeeeey, Baby!“, schrien alle durcheinander. Auch ich sang laut mit. Wir schauten uns alle gegenseitig in die Augen, flirteten einander an und kicherten ausgelassen. War aber nur Spaß. Bis ich Sebastian in die Augen sah, ein bisschen zu lang.
„Pass auf!“, rief Jasmina plötzlich. „Da, die Fackel!“
Ich sprang auf und war als Erste bei der Fackel, die umgefallen und in dem prächtigen Salbeibusch meiner Mutter gelandet war.
„Mist!“, fluchte ich, als ich versuchte, die Fackel wieder aufzurichten, aber ich konnte den Holzstab nicht fest genug in den Boden drücken. Ich stieß das Wachsende der Fackel in die Erde und löschte so die Flamme. Die anderen waren auf der Terrasse geblieben und gratulierten mir scherzhaft rufend zur Rettung des Salbeis, aber ich achtete nicht darauf.
Auf der anderen Seite des Gartenzaunes, auf dem Weg, der zum alten Forsthaus führte, stand Lisa.
Seit etwa einem halben Jahr lebten sie und ihre Mutter oben im alten Forsthaus. Keine Ahnung, warum sie ausgerechnet hierher gezogen waren. Lisa ging seitdem in dieselbe Schule wie wir und sie war – mit ihren merkwürdigen Klamotten und ihrer komischen Art – die Außenseiterin. Ich hatte sie nicht eingeladen. Es war mir gar nicht in den Sinn gekommen.
Jetzt schien sie unsere Party zu beobachten. Ihre Augen waren dunkel umrandet und wirkten in dem weiß geschminkten Gesicht groß wie Untertassen.
„Hallo, Lisa“, sagte ich und gab mir Mühe, meine Überraschung zu unterdrücken. War sie auf dem Heimweg? Oder hatte sie uns gehört und war vom Forsthaus hierher geschlichen? Mir kam sie da am Gartenzaun unheimlich und bedrohlich vor.
Lisa grüßte nicht zurück. Sie warf mir nur einen langen Blick unter ihren von Mascara verkleisterten Wimpern zu. Dann drehte sie sich um und schritt weit aus, so als ginge sie das alles nichts an.
SEBASTIAN „Mein Vater holt mich unten an der Hauptstraße ab“, sagte Ela, als sie sich ihre dünne Sommerjacke überstreifte.
Ich nickte und versuchte gleichzeitig, ein Seufzen zu unterdrücken. Ich würde sie bis zur Hauptstraße begleiten müssen. Dabei hätte ihr Vater für den Weg bis zur Förstersiedlung mit dem Auto nur fünf Minuten gebraucht. Wahrscheinlich musste ich auch noch dankbar sein, dass sie überhaupt zu dieser Party von Noah und Julie mitgekommen war. Julie war nicht gerade ihre Freundin.
Sie nahm meine Hand und ich war – wie immer – überrascht, wie sehr mir ihre Berührung unter die Haut ging. Manchmal war ich mir unsicher, ob ich Ela überhaupt mochte, doch wenn sie mich anfasste, vergaß ich diese Gedanken, ich vergaß überhaupt alles, was ich jemals über sie gedacht hatte.
Ich legte meinen Arm um ihre Taille und wir fielen in Gleichschritt. Sie benutzte ein süßes Parfüm, vielleicht hätte ich es nicht gemocht, wenn meine Schwester Jasmina es verwendet hätte, aber es passte zu Ela.
Wir gingen zwischen den hohen Buchen entlang, die die kleine geteerte Straße säumten. Die Bäume rauschten im Nachtwind. Wenn man den Kopf in den Nacken legte, konnte man ein Stück Himmel und die Sterne sehen, die wie winzige Diamanten funkelten.
Ela neigte den Kopf zu mir und ließ ihn auf meiner Schulter liegen. So wurde das Gehen unbequem und ich blieb stehen. Ich schlang beide Arme um die schmale Taille meiner Freundin. Ihre Augen waren groß und dunkel.
Der Nachthimmel schien sich in ihrem feuchten Glanz zu spiegeln. Ich griff unter ihr Kinn und drückte gleichzeitig einen festen Kuss auf ihre Lippen. Ela küsste mich zurück und ich schmeckte das Pfefferminzbonbon, das sie gelutscht haben musste.
Ich zog sie näher an mich. Meine Lippen spürten, wie ihr Mund sich langsam schloss, und ich beendete den Kuss mit einem kleinen Schmatzer nahe ihrem Ohr.
Sie nahm wieder meine Hand. Ich spürte mein flatterndes Herz in der Brust. Ein Echo des Kusses. Am liebsten hätte ich meine Hand darauf gelegt, aber ich zwang mich natürlich, einfach weiterzugehen.
„Julie war ja heute wieder groß in Form“, sagte Ela mit spöttischer Stimme.
„Tja.“ Das kann alles heißen, fand ich.
Aber Ela wollte weiter lästern. Sie machte ein paar schnelle Schritte und ließ dabei meine Hand los.
Falsch und laut schmetterte Ela den Refrain von True Colours in die warme Luft. Sie fasste sich melodramatisch an die Brust und verzog das Gesicht, so als habe sie Schmerzen.
„Ach, komm!“ Ich ärgerte mich. Musste das sein? Hatten wir uns nicht gerade geküsst? Ich legte meine Arme wieder um ihre Taille und versuchte, sie an mich zu ziehen.
„Denk doch nicht an Julie“, flüsterte ich nah an ihrem Ohr. Das Parfüm stieg mir wieder in die Nase. Ich fing an, Ela zu küssen, zuerst auf die Wange, dann auf ihre weichen Lippen. Ela schmeckte immer noch nach Minze. Sie drückte sich an meinen Körper. Irgendwie kam ihre Hand auf meinem flattrigen Herzen zum Liegen. Ihre Handfläche presste sich gegen meinen Brustkorb, so als wolle sie mein Herz selbst berühren. Wieder dachte ich, dass sie jetzt bloß nicht aufhören sollte zu küssen. Nicht reden, dachte ich. Bloß nicht reden.
Wir hörten das Motorengeräusch des Autos erst, als wir auch die Scheinwerfer sahen. Schnell ließ Ela mich los. Einen Moment lang stand ich allein in den Lichtkegeln, dann trat auch ich beiseite.
Das Fenster wurde heruntergekurbelt.
„Ich warte da unten schon über eine halbe Stunde!“, rief Elas Vater vorwurfsvoll. „Und du knutschst hier rum.“
„Guten Abend“, sagte ich ziemlich lahm. Mir fiel nichts weiter ein, was ich zu Elas Vater sagen konnte.
„Abend“, gab er widerwillig zurück.
„Ich hab Ela zur Straße …“
„Ja, ja. Ich hätt sie auch in der Siedlung abgeholt. Hier muss ich erst mal sehen, wie ich drehen kann.“
Ela gab mir ein kleines Küsschen auf die Wange.
„Kümmer dich nicht um ihn!“, sagte sie leise. „Ich ruf dich an.“
Sie schlüpfte auf den Beifahrersitz.
Ich sah zu, wie das Auto mühsam auf dem kleinen Weg gewendet wurde, wie Ela sich über das Lenkrad beugte und mir zuhupte, bevor ihr Vater ihre Hand wegschob.
Dann stand ich allein in der Nacht. Ich steckte meine Hände in die Taschen meiner Jeans und machte mich pfeifend auf den Heimweg. Mir fiel eine kleine Melodie ein, nur vier Takte, aber daraus konnte ich etwas machen, und ich pfiff weiter, während ich durch die hohen Bäume nach Hause ging.
In der Reihenhaussiedlung waren alle Lichter in den Fenstern gelöscht, die zur Straße hinaus gingen. Kein Geräusch war zu hören. Es musste kurz nach eins sein.
Ich fingerte nach meinem Haustürschlüssel, aber ich hatte ihn vergessen. Ich ging nach hinten, wo ein kleiner Weg bis zum alten Forsthaus führte, und kletterte über den Gartenzaun.
Aus dem Wohnzimmerfenster nebenan drang noch Licht. Ich kletterte in den Nachbargarten und trat auf die Terrasse. Im hell erleuchteten Wohnzimmer saßen die letzten Partygäste. Einige lagerten auch auf Kissen, die auf dem hellen Teppich verstreut waren. Sie schienen sich prächtig zu unterhalten, sie lachten und kicherten, gossen sich Wein nach.
Ich wollte klopfen, doch dann tat ich es nicht, obwohl ich nicht wusste, warum. Weil ich im Dunkeln stand, konnte mich niemand sehen.
Jasmina führte so eine Art Pantomime auf. Sie legte übertrieben ihren Kopf in den Nacken und lachte affektiert. Dann klatschte sie in die Hände und schien jemanden anzuhimmeln, der nicht da war. Plötzlich verstand ich. Meine Schwester machte Ela nach und die anderen lachten sich darüber schlapp.
Ich trat vom Fenster weg und ging hinüber zu unserem Reihenhaus, in dem meine Eltern schon schliefen. Die kleine Tür, die zum Keller führte, war wie immer unverschlossen. Während ich durch das stille Haus nach oben schlich, dachte ich die ganze Zeit daran, dass ich Ela genauso sah wie meine Schwester. Aber sehen war eben nicht alles, und wenn ich Ela berührte, dann gab es da etwas, was meine Schwester nicht verstand. Ich verstand es ja selbst nicht.
Ich würde Ela nie trauen können, nicht so, wie ich Jasmina vertraute oder auch Julie. Ela würde immer etwas Unberechenbares für mich haben. Aber sie roch so gut, sie fühlte sich so gut an, und wenn sie mich küsste, dann war ich – tja, das wusste ich eben nicht.
JULIE „Hier ist er!“, rief ich meiner Mutter zu. Das Bild von Noah auf dem Bildschirm war nicht besonders scharf, aber das machte nichts.
„Was geht?“, fragte Noah so deutlich, als sei er im Nebenzimmer. Dabei war er schon eine Woche in England und hatte bis jetzt nur kurz mit unserem Vater telefoniert und ein paar Bilder von der Seepromenade in Brighton auf sein Profil gestellt.
„Hallo!“, grüßte ich aufgeregt zurück. „Wie geht’s dir? Warum hast du mir noch nicht gemailt?“
Meine Mutter kam ins Wohnzimmer gelaufen und stellte sich hinter mich. Sie bückte sich über meine Schulter, damit Noah sie auch sehen konnte.
„Alles okay so weit“, sagte Noah. „Ihr wisst schon.“
„Wie ist das Essen? Ist es wirklich so schlimm?“, fragte Sandra.
Noah lachte und seine Gesichtszüge wurden durch die Übertragung merkwürdig verzerrt. „Nein“, sagte er schnell. „Aber es gibt zu allem Toast. Auch zu Pommes.“
„Und sonst? Verstehst du dich mit deiner Gastfamilie?“
„Klar, die sind cool. Morgen Abend gehen wir zu einem Fußballspiel. Also Darren, sein Vater und ich.“ Darren war der gleichaltrige Sohn der Gastfamilie, ein breiter Bursche mit heller Haut und fast schwarzen Haaren. Sehr englisch. Ich hatte ihn bereits auf einem Foto gesehen.
„Seit wann interessierst du dich für Fußball?“, neckte ich ihn.
„Seit heute“, gab Noah zurück.
„Und die Schule? Verstehst du alles?“, wollte Sandra wissen.
Auf dem Bildschirm sahen wir, wie Noah die Augen verdrehte.
„Es ist okay!“, sagte er fest. „Alles bestens.“
Wir schwiegen und ich merkte plötzlich, dass ich mich nie viel mit meinem Bruder unterhalten hatte, jedenfalls nicht so, ohne dass er da war. Wir hatten uns natürlich darum gestritten, wer die Spülmaschine ausräumen oder den Trockner anstellen musste. Und in den Bandproben gab es auch immer was, worüber wir reden konnten.
„Habt ihr schon einen neuen Schlagzeuger?“, fragte Noah.
Ich schüttelte den Kopf.
„Ihr habt noch gar nicht angefangen zu suchen, oder?“, fragte Noah weiter.
„Wir finden schon jemanden“, sagte ich. „Ist ja auch nur für ein Jahr.“
„Klar, in einem Jahr bin ich wieder dabei.“
„Wie ist das Wetter?“, fragte Sandra dazwischen. „Hast du genug warme Sachen mit?“
„Mama, hier sind es fast dreißig Grad. Ganz England stöhnt und meint, so einen heißen Sommer hätten sie noch nie gehabt.“
„Ja, ja gut dann“, sagte Sandra. Anscheinend gingen ihr die mütterlichen Themen aus.
Noah schien das zu bemerken, denn für uns überraschend gab er zu: „Ein bisschen Heimweh hab ich schon.“
„Echt?“ Sandra lächelte ganz weich.
„Ist ungewohnter, als ich gedacht habe. Aber ich komm schon klar.“
„Natürlich kommst du klar!“
Dann war wieder Sendepause. In meiner Familie redete man nicht großartig über Gefühle, aber wir waren trotzdem ziemlich eng miteinander verbunden. Deshalb reichte es jetzt auch, dass wir uns einfach nur anlächelten. Dann legte Noah entschuldigend den Kopf schief und sagte: „Mir fällt nichts mehr ein.“
„Tja, mir auch nicht.“
Das warme Gefühl zwischen uns blieb.
„Macht’s gut und haltet die Ohren steif.“
„Du auch!“, sagte ich und zwinkerte meinem Bruder zu.
Haltet die Ohren steif! Was war das denn? Redete man so, wenn man in England war?
Ich schloss Skype und wechselte zum Schreibprogramm.
„Drummer gesucht!“, tippte ich ein, markierte die Überschrift und machte die Buchstaben fett und groß.
„Die Band Jase Noju – euch allen gut bekannt von unseren legendären Auftritten auf dem jährlichen Schulfest und dem Sommer-Festival in der Stadt – braucht einen neuen Mann oder eine neue Frau an den Taktstöcken. Spielen alles, was gut ist und auch auf euren Playern läuft. Schreiben und texten auch eigenes Zeug.“
Ich veränderte die Schriftart und fügte Absätze in den Text ein, sodass er wie ein Plakat aussah. Aber „Drummer“, das war irgendwie voll Neunziger. Wer hatte diesen Ausdruck letztens benutzt? Ela, dachte ich, und ärgerte mich sofort, dass es zwischen Ela und mir anscheinend eine Gemeinsamkeit gab.
Ich mochte sie einfach nicht, und ich verstand überhaupt nicht, was Sebastian an ihr fand.
Ich tippte stattdessen „Schlagzeuger“ und fügte meine E-Mail-Adresse hinzu, damit Interessierte sich sofort mit mir in Verbindung setzen konnten.
Na ja, dachte ich, vielleicht sollte ich nicht zu viel erzählen. Schreiben und texten auch eigenes Zeug!
Ich löschte den Satz. Unsere eigenen Songs hatten wir noch nie vor Publikum gespielt. Einige Texte, eigentlich alle, die ich geschrieben hatte, fand ich auch viel zu persönlich, als dass ich sie vor fremden Leuten singen wollte.
Ich wechselte auf mein Profil, lud das Dokument hoch und klickte auf „Teilen“. So, jetzt musste ich nur abwarten.
Neben Sebastians Foto war ein kleiner grüner Punkt. Er saß anscheinend ebenfalls am Rechner. Ich musste darüber lächeln. Gleich würde er meinen Text lesen.
Kurz darauf wurde mein Pinnwandeintrag schon von Sebastian geteilt, und dann von Lena Mertens, einer Cousine von Sebastian und Jasmina, die ich nur flüchtig kannte.
„Was ist mit Noah?“, fragte sie dann in den Kommentaren. „Arm kaputt?“
„England, Schüleraustausch.“
Dann blinkte mein Pinnwandeintrag zum dritten Mal auf. Anscheinend hatte auch Conrad, einer von den beiden Computernerds, die uns gegenüber wohnten, den Eintrag geteilt.
Ich stöhnte leise auf. Der fehlte uns gerade noch. Hoffentlich meldete sich Conrad nicht zum Vorspielen.
Er und sein jüngerer Bruder Theo waren der Fluch. So nannten Jasmina und ich die beiden, seit wir denken konnten. Der Fluch hatte uns verfolgt, wenn wir oben an den Waldsee zum Schwimmen gingen oder wenn wir in die Stadt fuhren, um uns mit anderen zu treffen. Der Fluch war höchstwahrscheinlich im Besitz eines ungeheuer leistungsstarken Fernglases oder einer Kamera mit Zoom. Conrad und Theo verbrachten wohl viel Zeit damit, uns zu beobachten und dann sozusagen ganz zufällig zu erscheinen. Der Fluch tauchte immer zu zweit auf. Die beiden Jungs waren hoffnungslos und völlig wahllos in alle Mädchen verknallt, die halbwegs gut aussahen. Ehrlich gesagt, empfand ich das Ganze als ziemlich beleidigend. Als hätte ich es nötig, mich mit einer Hälfte des Fluchs zu belegen!
Ich druckte das Dokument aus, natürlich ohne den Hinweis auf die eigenen Songs, aber bevor ich den Computer herunterfuhr, schaute ich noch einmal nach, ob Sebastian online war. Neben seinem kleinen Profilbild war immer noch der grüne Punkt. Neben Elas Bild übrigens auch.
MAREK Ein neuer Eintrag ploppte auf, gerade als ich mein Profil schließen und endlich mit dem langweiligen Deutschreferat weitermachen wollte. Ich las ihn einmal, dann noch einmal. Und dann begriff ich endlich, dass es meine Chance war: Jase Noju suchten einen Schlagzeuger!
Ich rannte nach hinten, wo mein Vater die Doppelgarage zu seinem Büro umgebaut hat. Zum Glück war er nicht da, sondern bei irgendeinem Geschäftsessen. Das würde lange dauern, das wusste ich aus Erfahrung.
Egal, dachte ich und riss die Abdeckung vom Schlagzeug. Früher hatte mir mein Vater ein bisschen was an diesem Instrument gezeigt, aber inzwischen war es mehr dazu da, die Mädchen zu beeindrucken. Die von meinem Vater, meine ich. Ich beeindruckte keine Mädchen. Ich wusste, in welcher Liga ich spielte. Ich war der, der keinen Witz richtig rauskriegte, aber trotzdem welche erzählte. Und manchmal bekam ich Sachen nicht mit, Wichtiges, etwa wenn ich den Leuten auf die Nerven ging. Nachher war’s mir dann auch klar, aber dann war es zu spät.
Ich drehte die Stöcke hin und her, versuchte sie in den Händen zu wirbeln, aber das gelang mir immer noch nicht. Darauf kam es auch gar nicht an. Dieses Getue ist nur Angeberzeug und hat mit dem Schlagzeugspielen nicht viel zu tun, sagte mein Vater immer. Ich tippte gegen die Hi-Hat, dann legte ich los. Endlich, dachte ich. Das war meine Chance. Und außerdem war es auch die Chance von Jase Noju. Eine klassische Win-win-Situation, so würde mein Vater es beschreiben. Sie mussten einfach Ja sagen.
Bei meinem Vater war es immer darum gegangen, den Rhythmus zu halten und brav die Noten zu spielen. Aber Schlagzeug, das war doch in Wirklichkeit etwas ganz anderes! Aggression; Wut, die endlich mal raus durfte; Spaß am Krach, den man machen konnte, wenn man auf die Felle eindrosch. Ich spielte und spielte. Ich schwitzte und keuchte dabei, und erst als ich mit einem Wirbel auf die Tomtoms mein wildes Solo beendete, sah ich auf.
„Das ist Marek“, sagte mein Vater trocken. „Normalerweise flippt er nicht so aus, wenn ich nach Hause komme.“