Nebulosa – Zeitschrift für Sichtbarkeit und Sozialität
04/2013
Maßnehmen / Maßgeben
Nebulosa – Zeitschrift für Sichtbarkeit und Sozialität
04/2013
Maßnehmen / Maßgeben
Nebulosa
Zeitschrift für Sichtbarkeit und Sozialität
04/2013
Maßnehmen / Maßgeben
Herausgegeben von Eva Holling, Matthias Naumann und Frank Schlöffel
Neofelis Verlag
Nebulosa − Zeitschrift für Sichtbarkeit und Sozialität
04/2013: Maßnehmen / Maßgeben
Hrsg. v. Eva Holling / Matthias Naumann / Frank Schlöffel
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2013 Neofelis Verlag UG (haftungsbeschränkt), Berlin
www.neofelis-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Marija Skara
E-Book-Format: epub, Version 2.0
ISSN: 2193-8490
ISBN: 978-3-943414-28-8
Erscheinungsweise: zweimal jährlich
Jahresabonnement 20 €, Einzelheft 12 €
Erhältlich in Ihrer Buchhandlung oder direkt beim Neofelis Verlag unter:
vertrieb@neofelis-verlag.de
Ein Abonnement verlängert sich automatisch um ein Jahr, wenn die Kündigung nicht mindestens drei Monate vor Ende des Kalenderjahrs erfolgt ist.
Inhalt
Eva Holling / Frank Schlöffel / Matthias Naumann
Homo Meter / Land und Redner_innen ein Maß geben / Keiner soll entkommen / Die aktuelle Ausgabe
Hannelore Bublitz
Vermessung und Modi der Sichtbarmachungdes Subjekts in Medien-/Datenlandschaften
Frank Engster
Maßgeblichkeit für: sich selbst
Das Maß bei Hegel und Marx
Bojana Kunst
Das zeitliche Maß des Projekts
Jörg Thums
Manifest für eine Apperzeption in der Zerstreuung
Christian Sternad
Das Maßlose des Werkes
Martin Heideggerund Maurice Blanchot über den Ursprung des Kunstwerkes
Fanti Baum
All this Useless Beauty oder das Maß durchqueren
Mirus Fitzner
Maßnehmen als rassistische Praxis
Warum das Konzept „Ethno-Marketing“auf rassistischen Grundannahmen basiert
Peter J. Bräunlein
Gelehrte Geisterseher.Anleitungen für den gepflegten Umgang mit Gespenstern
Gerald Siegmund
Gespenster-Ethik,oder warum Gespenster das Theater lieben
Julian Blunk
Die Gespenster bleiben nebulös
Małgorzata Sugiera
Gespenst und Zombie als Denkfiguren der Gegenwart
Abbildungsnachweise
Call for Papers
Homo Meter: Über Maße
Den Idealen der Französischen Revolution ordnet das Hessische Eichamt die Einführung von gemeinsamen Maßen zu. Innerhalb von eingedeutschter ‚Einheit, Freiheit und Brüderlichkeit‘ scheint sich die Idee der vereinten Nation besonders in einem gemeinsamen Maßstab auszudrücken, der die Kleinstaaten vereinigen konnte, ohne die jeweiligen Herrschenden zu gefährden.1 Das Amt nennt Großherzog Ludwig (X.) von Hessen und bei Rhein als Initiator des neuen Maße- und Gewichtegesetzes von 1817, das der Vielfalt Einhalt und Referenz gebieten sollte. Es legt die Einführung des Dezimalsystems fest und die Entnahme der Grundmaße von Naturkonstanten.2 Damit agiert Ludwig mit seinem Gesetz noch vor der Einführung der von Frankreich initiierten, 1875 beschlossenen Convention du Mètre, die das Maßnehmen innerhalb der teilnehmenden Staaten regelt – auch heute noch. Kontrollierende Institutionen wie das Eichamt Hessen sind an die Unterzeichnung der Meterkonvention gebunden, welche im Système International d’Unités (SI) die sieben Grundmaße der Länge, Masse, Zeit, Stromstärke, thermodynamischen Temperatur, Stoffmenge und Lichtstärke für die Unterzeichnenden definiert. Maß gaben dabei zuallererst nicht nur Naturmaße, sondern auch sichere Referenzkörper, Ur-Maße, die heute in einer Platin-Iridium-Ausgabe3 vorliegen und im Bureau International des Poids et Mesures (BIPM4) unweit von Paris sicher verwahrt werden. Diese Verwahrung ist eine der in der Convention aufgelisteten Aufgaben der Maß-Institution, neben der Kontrolle und Kommunikation der Vereinheitlichung, der Forschung und der Anpassung der Maßstäbe an technische Entwicklungen.
Die Maßstäbe wurden also zunächst der Natur entnommen, um sie dann an anderes zu Messendes ab- und als Grundlagen an alle weiterzugeben, die Teil des Maßstabes sind – so definiert sich über Jahre hinweg eine maßgebende Autorität samt eines hohen bürokratischen Aufwands zur Organisation kollektiven Messens: offizielle ‚Bekenner‘-Unterzeichnungen werden gesammelt, regelmäßige Treffen der Generalkonferenz für Maße und Gewichte (CGPM) finden statt, Forschung und kontinuierliche Verbesserung der Paragraphen werden vollzogen und kommuniziert, um die Maße auf der Höhe der Zeit zu halten (1908 etwa war es nötig geworden, Stromstärke hinzuzufügen). Mit forscherischer Fantasie werden die Naturkonstanten im Laufe der Zeit immer spezifizierter. Statt von einem Erdmeridianquadranten ausgehend, bemisst sich die Länge eines Meters nun durch den Weg, den Licht als immer gleich schnelles in einer bestimmten Zeit zurücklegt.5 Alle anderen Grundmaße sind – in ihrer Bemessung teilweise abhängig voneinander – ebenfalls Naturkonstanten, nur das Kilogramm bemisst sich noch am Objekt des Prototypen. Hier wird an einer Definition über eine Naturkonstante gearbeitet, denn „its long-term stability is not assured.“6 So lange bleibt die Definition von 1889 weiter in Kraft: „The kilogram is the unit of mass; it is equal to the mass of the international prototype of the kilogram.“7 Hier kommt das Maß immer wieder auf sich selbst zurück, ohne externen Referenzpunkt. Als eigenständiges System wird es so am deutlichsten; es erklärt und legitimiert sich selbst, ist Abmachung der Leute, die sich anschließen. Doch die Arbeit am Maß, die im Hintergrund des alltäglichen Messens geschieht, hat sich auch selbst Maßstäbe gesetzt, die ständig erweitert, aktualisiert und publiziert werden. So z. B. im „24th Meeting of the General Conference on Weights and Measures (2011)“, wo eine „redefinition of a number of units of the International System of Units (SI)“8 beschlossen wurde. In ihr wird bekräftigt, dass die Metrologie kein unflexibler Maßstab sein darf, sondern sich dem ‚Naturgegebenen‘ annähern soll, „extending the frontiers of metrology so that SI base units can be defined in terms of the invariants of nature, the fundamental physical constants or properties of atoms.“9
Mit großer Sorgfalt werden diese Maßstäbe entwickelt und gepflegt. Hannah Arendt erkennt dies als Charakteristikum des Homo faber, „dessen gesamte Tätigkeit darin besteht, Maßstäbe anzulegen, Richtlinien aufzustellen, Regeln anzuwenden und Meßbarkeit jeglicher Art in das ‚Chaos‘ zu tragen, das die unberührte Natur dem weltlichen Blick des Menschen bietet.“10 Abmessen und der Gebrauch eines zugehörigen Zeichensystems sind Kulturpraxis für Kommunikation und Ordnung, jedoch zeigt Arendt den engen Zusammenhang mit der Dimension des Tauschs auf.11 Standardisierungsmaße sind vor allem für Handel und globalen Austausch wesentlich, wie 1875 die Metrifizierung. Im Maß des Tauschs geht laut Arendt ein wichtiger Unterschied verloren, indem schließlich Geld zu einem Maßstab erhoben wird, der keine objektive Eigenständigkeit mehr besitzt – keine Naturkonstante, keine absolute Referenz:
[E]s gibt keine relativen Maßstäbe, wie es relative Werte gibt; jeder Maßstab ist im Verhältnis zu dem, was er zu messen sich anschickt, ‚absolut‘ und dem zu Messenden transzendent. Und das Geld, das ja offensichtlich als eine Art von Maßstab für die Bewertung der Dinge im Austausch dient, ist natürlich selber eine Ware, bzw. ein ‚Wert‘, und besitzt in keiner Weise die objektive Eigenständigkeit, die dem Maßstab zukommt, der alles, womit er in Berührung kommt, prinzipiell übersteigt und überdauert, und zwar sowohl die Dinge, denen er angelegt wird, wie den Menschen, der ihn handhabt und anlegt.12
Homo faber, der Selbst-Produzierende, stirbt aus, jedoch scheint sein Ermessen zu bleiben mit dem Irrtum, Geld sei ein Maßstab.
Arendts Annahme, dass es relative Werte, jedoch keine relativen Maßstäbe gibt, kann auf das derzeitig populäre Ermessen des Subjekts Anwendung finden. Wie kommt es, dass gerade auf das stets relative Subjekt so viele Maße angewendet werden? Und darüber hinaus: Woher kommt das Begehren der Sub-jektion unter absolute Maßstäbe und der Qualifizierung der Quantifizierung? Mit Geld als Maßstab kommt nach Quantifizierung die Qualifizierung im Sinne der Profitsteigerung, die sich das vermessene Subjekt offenbar zur Eigenqualifizierung herausnimmt, in seinem von Ökonomie und Tausch geprägten Universum ohne sichtbare Produktionszusammenhänge. Schon bei Platon liest sich eine Grundidee des profitablen intersubjektiven Tauschs beim Umgang mit als wertvoll bemessenen Subjekten, bei dem etwas „aus dem Volleren in den Leereren von uns flösse.“13 Das volle und das leere Subjekt ermöglichen den Austausch von Gutem als Konsumption – dafür muss aber überhaupt etwas als voll mit Gut ermessen worden sein, und ein anderes als insofern leer, als dass es zu befüllen sei. Durch diese Maßpraxis der Ab- und Aufwertung gilt es, die eigene subjektive Wertschätzung zu steigern, indem ein möglichst profitabler Tausch versucht wird, wie Sokrates ihn entlarvt, „anstelle des scheinbar Schönen das wirklich Schöne zu erwerben“, und „Gold gegen Erz einzutauschen.“14 Nicht mehr durch die Fabrikation eigener Herstellung wird „gebührende Achtung und Hochschätzung […] empfangen“15, sondern durch Konsumption der Werte des anderen; Grundprinzip des Sich-an-anderen-Messens – und dabei stets als Mangelwesen dazustehen, oder gleich den Mangel durch Erwerbliches zu beheben.
*
Land und Redner_innen ein Maß geben. Ein Blick auf frühzionistische Text-Bild-Propaganda vor dem 1. Weltkrieg
Im Dezember 1910 beauftragte der von der Zionistischen Weltorganisation zum Bodenkauf in Palästina gegründete Jüdische Nationalfonds ( JNF) den zionistischen Aktivisten Heinrich Loewe (1869–1951) mit der Erarbeitung des ersten Palästina-Lichtbildvortrags, der zu Werbezwecken den Vertrauensmännern und Kommissären des Nationalfonds zur Verfügung gestellt wurde.16 Die vom Hauptbüro des JNF angeregten Lichtbildvorträge waren Ausdruck einer zunehmenden Aneignung populärer Kulturpraktiken durch das zionistische Kollektiv, die als probate Ergänzung zur illustrierten, Palästinabilder zirkulierenden zionistischen Presse betrachtet werden müssen.17 Michael Berkowitz zufolge baute das zionistische Kollektiv in diesem Zusammenhang „a common visual stock“18 von Palästina auf, mittels dessen das Bewusstsein europäischer und assimilierter Jüdinnen und Juden ‚erobert‘ werden sollte. „By 1914“, schreibt Berkowitz,
the Zionist Movement was able to effect a change in Jewish consciousness. Many Jews now perceived Palestine as a Jewish country, or an incipient Jewish sovereignty, because it appeared to them a microcosm of the long-term goal of the mainstream of the movement – a Jewish State.19
Die nach 1910 im Auftrag des JNF erarbeiteten Lichtbildvorträge zeigen jedoch auch, dass es Ziel der Visualisierung des jüdischen Palästina war, der Wahrnehmung und Handlung längst organisierter zionistischer Aktivisten, beispielsweise den Vertrauensmännern des JNF, ein Maß zu geben, das es ermöglichen sollte, den Identifikationsprozess mit dem Land und der Organisation in dieser Hinsicht voranzutreiben.
Lichtbildvorträge als Instrumentarien der visuellen Maßgabe gehörten schon vor dem 1. Zionistenkongress 1897 in Basel zum Repertoire zionistischer Aktivisten. Auf einem Treffen einiger Chovevei Zion in London setzte man bereits 1896 Lichtbilder ein, um den Mitgliedern, die ein Jahr später nach Palästina reisen sollten, „an idea of the places“20 zu geben, welche sie besuchen würden; einzelne zionistische Akteure, darunter auch Loewe, blickten auf eine lange Karriere als Lichtbildvortragsredner zurück. In der Initiative des JNF wurden hingegen erstmals visuell gestützte Praktiken der Propaganda zentral koordiniert und standardisiert, Palästina wurde damit einem einheitlichen Maßstab unterworfen. Insgesamt drei Lichtbildvorträge arbeitete Loewe bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs aus. Während der erste von ihm konzipierte Vortrag, der 1911 unter dem Titel „Jüdische Volksarbeit im Lande Israel“21 erschien, sich darauf beschränkte, die Propaganda nach außen zu intensivieren, entstand mit dem letzten Lichtbildvortrag ein multifunktionales Instrument, das auch die Propaganda nach innen stärken sollte: Die überarbeitete Fassung von „Der Nationalfonds am Werke“, dem zweiten Vortrag, hatte das Ziel, die Vertrauensmänner in „bewusste Agitatoren“22 zu verwandeln, wie das Hauptbüro des JNF in Köln Loewe in einem Brief vom 21. Dezember 1913 mitteilte.
Überlegungen, die darauf abzielten, die Repräsentation eines Raums zu visualisieren und zu vereinheitlichen, wurden Anfang des 20. Jahrhunderts auch außerhalb des zionistischen Kollektivs angestellt und zur Ausführung gebracht. Das 1902 gegründete britische Colonial Office Visual Instruction Committee (COVIC) gehörte zu den ersten Einrichtungen, die auf Instruktionen basierende Lichtbildvorträge erarbeiteten. Jene hatten allerdings das Ziel, im Diskurs um ‚imperiale Staatsbürgerschaft‘23 zu wirken, indem sie – bidirektional – Großbritannien in seinen Kolonien und die Kolonien in Großbritannien (insbesondere) den Kindern vorführten. Wurde hier der Versuch unternommen, „photography and geography within an imperial vision“24 zu verbinden, fokussierten die von Loewe im Auftrag des JNF erarbeiteten Lichtbildvorträge die Fortschritte im jüdischen Aufbauwerk in Palästina, um die Geldakquise für den Bodenankauf zu beschleunigen. In einem Brief vom 8. Januar 1911 präzisierte das Hauptbüro des JNF exemplarisch das zentrale Anliegen dieses Vortrags dahingehend: [Es kann] uns ja vor allem nur daran gelegen sein […], eine günstige Stimmung für den Nationalfonds vorzubereiten und unserem Fonds auf die Weise grössere Mittel zuzuführen.25 Um in diesem Zusammenhang nichts dem Zufall zu überlassen, wurden jene von Loewe ausgearbeiteten Instruktionen benutzt,26 welche augenscheinlich die Qualitätskontrolle zukünftigen zionistischen Fundraisings intendierten. Für künftige Redner gab er darin kleinteilige Erläuterungen, wie sich auf den Vortrag vorzubereiten sei, was während des Vortrags zu beachten sei und wie man die Interaktion mit dem Publikum nach dem Vortrag zu gestalten habe. Jene Idee, die Propaganda zu ‚optimieren‘, indem Redner die zentrale Geographie des Zionismus vermessend zu erfolgreichen, „Anschauungsunterricht“27 inszenierenden und didaktisch adäquat handelnden Geldsammlern gemacht werden sollten, spiegelt sich im gesamten Dokument wider:
Wenn der Vortrag beginnt, wird die Beleuchtung abgestellt. Nur der weisse Lichtschirm ist hell. Auf diesem ist noch kein Bild zu sehen. Erst wenn der Vortragende von Gedera spricht, erscheint das Bild der Kolonie auf dem Rahmen.
Wer frei spricht, kann allerdings auch vorher einen etwa halbstündigen einleitenden Vortrag halten. Dann lässt man eine Pause von wenigen Minuten eintreten und, nachdem dann der Leiter der Versammlung das Publikum gebeten hat, die Plätze wieder einzunehmen, wird die Saalbeleuchtung abgestellt und fängt der eigentliche Lichtbildvortrag an […] Da der Lichtbildvortrag selbst nicht viel länger als eine Stunde dauern darf, wird immer noch Zeit übrig bleiben für eine kurze Ansprache des Versammlungsleiters. In derselben soll das Publikum unter anderem aufgefordert werden, schon gleich auf der Stelle für den N.F. [Nationalfonds] zu spenden und es soll zu diesem Zwecke eine Sammlung im Saale (nicht erst beim Weggehen am Ausgang) veranstaltet werden.28
Es liest sich wie ein Konvolut aus Regieanweisungen für ein Theaterstück, das in zweierlei Hinsicht Räume konstituierend und maßgebend auf die Wahrnehmung der Besucher_innen zu wirken vermochte – Räume schaffend insofern, als durch Wort und Bild Palästina als dezidiert zionistischer Raum zur Schau gestellt, diesem gleichzeitig aber auch eine spezifische, in einem Veranstaltungssaal eingebettete Dramaturgie gegeben wurde.
*
Keiner soll entkommen – Gerichtsverfahren als politische Maßnahmen & Maßgaben
In seinem im vorletzten Kriegsjahr in die US-Kinos kommenden und weiterhin beeindruckenden Film None Shall Escape (USA 1944) schlägt André de Toth, bereits im Bewusstsein des Sieges der Alliierten, eine Maßnahme für den Umgang mit den NS-Verbrechern vor, die in den Nürnberger Prozessen eine historische Form annehmen sollte, nämlich einen internationalen Gerichtshof, der im Film beispielhaft über den Reichskommissar im besetzten Polen, Wilhelm Grimm, zu Gericht sitzt. In als Zeugenbefragungen situierten Rückblenden werden zentrale Stationen seines Lebens und vor allem seiner NS-Karriere erzählt. Das hier filmisch imaginierte Gerichtsverfahren und das abschließende Urteil bilden einerseits eine durch gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse legitimierte Form der Bemessung politischer Handlungen als Verbrechen sowie der Abgabe eines Strafmaßes. Andererseits ist die filmische Darstellung eines historischen Geschehens anhand einer beispielhaften fiktionalen Biographie und ihrer Handlungen zugleich als Artikulation innerhalb eines sozio-historischen Diskurses zu verstehen,29 dessen Maße durch Dargestelltes und Form der Darstellung verschoben werden (sollen). Dies zeigt sich an der eindringlichen Darstellung der nationalsozialistischen Ideologie und der dieser untrennbar verbundenen Gewalt. Dabei ist insbesondere die Szene bemerkenswert, in der die jüdische Bevölkerung des polnischen Dorfes, in dem ein Großteil der Handlung spielt, deportiert werden soll. Am Bahnhof ruft der Rabbi mit den Worten „We will be remembered by our actions“ zum Widerstand auf, woraufhin die Jüdinnen und Juden von den Deutschen bereits hier, vor ihrer Deportation, ermordet werden. An dieser Szene überrascht nicht nur die Thematisierung eines jüdischen Widerstands, im Angesicht der deutschen Übermacht, sondern auch die eindeutige Darstellung der Judenvernichtung in den Bildern der Massenerschießung.
Der Film macht einen Vorschlag, wie über das zeitgleiche Geschehen in Europa und den politischen Willen und die Wirklichkeit des NS zu sprechen sei, einen Vorschlag, der zugleich eine Forderung ist, die im postnationalsozialistischen Deutschland nur langsam, und auch weiterhin oft widerstrebend, aufgegriffen wurde. In seinem Setting der rahmenden Gerichtsverhandlung über den NS-Verbrecher schlägt None Shall Escape nicht nur eine Maßnahme vor, die zugleich ein Maß für den Umgang mit derartigen Verbrechen abgeben möge (und historisch auch wird), sondern wirft angesichts der Shoah auch die Frage eines angemessenen Sprechens und Darstellens auf. Die Frage des Angemessenen beinhaltet immer die nach einem Maß, an dem ein konkretes Darstellen, Sprechen oder – nicht nur vor Gericht – Verhandeln zu messen sei, und danach, wie und durch wen dieses Maß des Angemessenen gegeben wird oder überhaupt gegeben werden kann und sollte.
Kursorisch nur sollen zwei weitere Prozesse beispielhaft aufgegriffen werden für die Fragen eines juristischen Bemessens und angemessenen Verhandelns des Nationalsozialismus. Die Absicht des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses 1963–65 bestand zum einen in eben solch einer Maßnahme, wie sie de Toth vorgeschlagen und u. a. die Nürnberger Prozesse durchgeführt hatten, nämlich ein Strafmaß für NS-Verbrechen zu finden und zu geben. Zum anderen aber lag das zentrale Moment des Prozesses in dem gesellschaftspolitischen Versuch, ein anderes, angemesseneres Sprechen als bisher über den NS zu ermöglichen, nämlich gerade indem Überlebende als Zeugen gehört wurden und ihre Erfahrungen zu Protokoll geben und öffentlich machen konnten, damit die Maße des Diskurses, des öffentlich Anerkannten und ‚Wissbaren‘ verschiebend.30 Zugleich hatten die bundesdeutschen Gesetzgeber jedoch bereits ausreichend Maßnahmen ergriffen, die Strafmaße für diese Verbrechen gering zu halten. So erhielten NS-Täter häufig, wenn sie denn überhaupt vor Gericht gestellt wurden, aufgrund der sogenannten Gehilfenrechtsprechung nur milde Strafen, da sie trotz Beteiligung an tausendfachem Mord nur als Gehilfen eingestuft wurden.31 Die institutionalisierten Herrschaftsverhältnisse zeigten deutlich, dass sie das Maß dessen geben, was eine zu bestrafende Gewalt sei, ein Verbrechen, und in welchem Maße zu strafen sei, falls denn überhaupt; und damit zeigten sie auch, was eine nicht oder kaum zu bestrafende – die im nationalen Kollektiv begangene – und damit weiter als legitim gedachte Gewalt sei.
70 Jahre nach None Shall Escape gibt es in Dresden, der Hauptstadt des deutschen Opferkults, jedes Jahr offizielle sowie (neo)nationalsozialistische Gedenkveranstaltungen an die Bombardierung der Stadt, deren zentrales Moment darin besteht, den Unterschied zwischen NS-Verbrechen und alliierter Kriegsführung, um diese zu beenden, einzuebnen. Beides sei im gleichen Maße Verbrechen, wird in diesen Formen des Gedenkens statuiert, wenn nicht sogar eine Verkehrung der historischen Verhältnisse im Sinne einer deutschen Selbstdarstellung als Opfer vorgenommen wird. In diesem Sinne gelten die zentralen Maßnahmen staatlicher Repression zu diesem Anlass auch nicht vorrangig den Nazis, sondern den gegen den nationalen Opferkonsens und insbesondere gegen die Nazi-Veranstaltungen gerichteten Demonstrant_innen. Beispielhaft steht dafür die Verurteilung von Tim H. im Januar 2013 in Dresden zu 22 Monaten Haft ohne Bewährung, da er während einer Anti-Nazi-Demonstration am 19. Februar 2011 über Megaphon „Kommt nach vorne“ gerufen habe – wofür dem Gericht allerdings keine eindeutigen Beweise vorlagen – und damit für die Verletzung von Polizisten bei dieser Demonstration „mitverantwortlich“ sei.32 Im Hinblick auf das enge Zusammenspiel von Polizei und Justiz in der Bekämpfung von Anti-Nazi-Demonstrationen und anderen derartigen Aktivitäten in Dresden, lässt sich ein solches Urteil33 nur als Maßnahme zur Delegitimation zivilen politischen Handelns verstehen und sich, was Walter Benjamin über die zugleich rechtserhaltende und rechtssetzende Gewalt der Polizei schreibt, auf die Justiz übertragen:
Das Schmachvolle einer solchen Behörde, das nur deshalb von wenigen gefühlt wird, weil ihre Befugnisse zu den gröblichsten Eingriffen nur selten ausreichen, desto blinder freilich in den verletzbarsten Bezirken und gegen Besonnene, vor denen den Staat nicht die Gesetze schützen, schalten dürfen, liegt darin, daß in ihr die Trennung von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt aufgehoben ist.34
Indem behauptet wird, Recht zu erhalten, wird Recht gesetzt bzw. eine bisher als dem geltenden Recht angemessene politische Handlung der Demonstration gegen Nazis außerhalb des Rechts gesetzt. Die Maßnahme des Prozesses wird hier zugleich zur Maßgabe eines neu bemessenen, ‚angemessenen‘ politischen Handelns bzw. zur Gabe eines Maßes dessen, was im gesellschaftlichen und politischen Diskurs zu artikulieren legitim sei – z. B. das Betrauern in Bombenangriffen getöteter SS-Männer und anderer Nationalsozialisten als ‚Opfer‘ – und was nicht – z. B. Protest gegen positive Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus bzw. gegen implizites politisches Weiterdenken und -handeln desselben im deutschen Nationaldiskurs. Nicht nur in diesen Beispielen erweist sich der NS als den deutschen Herrschaftsverhältnissen und ihrer nationalen Grundlegung weiterhin eingeschrieben, unüberwunden, und die in None Shall Escape projizierte Überwindung desselben durch juristische Maßnahmen und artikulatorische Maßgaben weiter als eine (noch) nicht Realität gewordene Fiktion.
***
Die aktuelle Ausgabe der Nebulosa fragt nach Qualitäten und Quantitäten des Maßnehmens und Maßgebens auf verschiedenen Ebenen. Im Thementeil fokussiert Hannelore Bublitz das Subjekt der Gegenwart und analysiert, wie sich Messdaten und Datenkurven als (mediale) Instrumentarien sozialer Kontrolle in Selbst-Technologien transformieren. Frank Engster zeigt auf, wie bei Hegel bzw. Marx der Geist bzw. die kapitalistische Gesellschaft in ein Selbstverhältnis treten, da sie maßgeblich sind für nichts als sich selbst. Bojana Kunst untersucht die Arbeitsform des Projekts und mit ihr „Projektive Zeitlichkeit“ als Maßeinheit, die eigentlich unmessbare Zukunft zum neuen Maß für (künstlerische) Arbeit zu machen. Im künstlerischen Beitrag stellt Jörg Thums ein bisher unbekanntes Manifest Walter Benjamins zur Apperzeption in der Zerstreuung vor, welches in Benjamins Kunstwerkaufsatz seit Jahrzehnten verborgen lag. Ausgehend von Martin Heidegger und Maurice Blanchot widmet sich Christian Sternad dem Verhältnis von Künstler_in und Kunstwerk und porträtiert letzteres als das menschliche Maß durchbrechend und aufhebend, indem es ein ‚eigenes‘ Maß der Welt schafft. Fanti Baum setzt künstlerische Strategien des Umgangs mit der Live-Darstellung prekär vermessener Körper in einer Arbeit von Tino Sehgal und im Stück (M)IMOSA – Twenty Looks of Paris is Burning at the Judson Church [M] einander entgegen. Mirus Fitzner schließlich untersucht in seinem Beitrag Ethno-Marketing und weist jene Praxis als eine im Kern rassistische aus, wobei sein besonderes Interesse mit unhaltbaren Klischees und Widersprüchen besetzten Texten zum Ethno-Marketing gilt. Das Thema Gespenster regte zum Ausdifferenzieren und zum Weiterdenken an, so dass vier Kommentare auf die letzte Ausgabe reagieren, von Peter J. Bräunlein, Gerald Siegmund, Julian Blunk und Małgorzata Sugiera.
Anmerkungen
1 Hessische Eichdirektion: Geschichtliches. http://www.eichamt.hessen.de/irj/HED_Internet?cid=f36f99a43607852374848e2e9facc6c2 (Zugriff am 04.08.2013).
2 Ebd.
3 Ur-Meter und Ur-Kilogramm: ein Stab bzw. Zylinder aus dieser Legierung.
4 Siehe http://www.bipm.org.
5 BIPM: The International System of Units, 8th edition (2006), S. 112. http://www.bipm.org/utils/common/pdf/si_brochure_8_en.pdf (Zugriff am 04.08.2013).
6 GCPM: On the Possible Future Revision of the SI, S. 1. Zwei vielversprechende Entwicklungen diesbezüglich sind zum einen die sog. Watt-Waage, erforscht vom National Institute of Standards and Technology, die ermöglicht, Masse ‚elektrisch‘ zu bemessen, und zum andern das internationale Kooperationsprojekt Avogadro unter der Leitung der Physikalisch-technischen Bundesanstalt, das die Anzahl von Silizium-Atomen in einer annähernd perfekten Kilo-Kugel ermittelt.
7 BIPM: SI, S. 112.
8 Ebd.
9 Ebd.
10 Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München / Zürich: Piper 2002, S. 200.
11 Vgl. ebd., S. 191.
12 Ebd., S. 200.
13 Platon: Das Gastmahl, aus d. Griech. übers. u. hrsg. v. Thomas Paulsen. Stuttgart: Reclam 2008, S. 9–10.
14 Ebd., S. 71.
15 Arendt: Vita Activa, S. 191.
16 Vgl. Brief des JNF an Heinrich Loewe, 15.12.1910. Zionistisches Zentralarchiv, KKL1/344.
17 Siehe hierzu Michael Berkowitz: Zion’s Cities. Projections of Urbanism and German-Jewish Self-Consciousness, 1900–1933. In: Leo Baeck Institute Year Book 42 (1997), S. 111–121.
18 Michael Berkowitz: Zionist Culture and West European Jewry Before the First World War. Cambridge: Cambridge University Press 1993, S. 144.
19 Ebd.
20 Vivienne Silver-Brody: Documentors of the Dream. Pioneer Jewish Photographers in the Land of Israel, 1890–1933. Jerusalem: Magnes 1998, S. 37.
21 Heinrich Loewe: Jüdische Volksarbeit im Lande Israel. 1911.
22 Brief des JNF an Heinrich Loewe, 31.12.1913. Zionistisches Zentralarchiv, KKL1/344.
23 Vgl. hierzu Avril M. C. Maddrell: Empire, Emigration and School Geography: Changing Discourses of Imperial Citizenship, 1880–1925. In: Journal of Historical Geography 22,4 (1996), S. 373–387.
24 James R. Ryan: On Visual Instruction. In: Vanessa R. Schwartz / Jeannene Przyblyski (Hrsg.): The Nineteenth Century Visual Culture Reader. London: Routledge 2004, S. 145–150, hier S. 146. Vgl. auch ders.: Picturing Empire. Photography and the Visualization of the British Empire. Chicago: University of Chicago Press 1997.
25 Brief des JNF an Heinrich Loewe, 08.01.1911. Zionistisches Zentralarchiv, KKL1/344.
26 Vgl. [Heinrich Loewe]: Instruktionen zu dem Lichtbildvortrag des Jüdischen Nationalfonds, [1911]. Zionistisches Zentralarchiv, KKL1/472.
27 Ebd.
28 Ebd.
29 Die Begriffe der Artikulation und des Diskurses werden hier im Sinne von Ernesto Laclau / Chantal Mouffe: Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics. London / New York: Verso 22001, bes. S. 105–107 verwendet.
30 „Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess gewann seine überragende justizgeschichtliche Bedeutung durch die im Verfahren geleistete Sachaufklärung.“ (Werner Renz: Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965). http://www.wollheim-memorial.de/de/der_1_frankfurter_auschwitzprozess_19631965 (Zugriff am 02.08.2013).)
31 Vgl. ebd.
32 Vgl. Björk Triehagger / Heidi Stein: Der Mann mit dem Megaphon. In: Jungle World, 31.01.2013. http://jungle-world.com/artikel/2013/05/47045.html (Zugriff am 02.08.2013).
33 Ebenso wie der zur Schreibzeit dieses Textes noch laufende Prozess gegen den Jenaer Jugendpfarrer Lothar König.
34 Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, hrsg. v. Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 179–203, hier S. 189.