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Anne Bernays und Pamela Painter

WAS WÄRE, WENN?

Schreibübungen für Schriftsteller

Aus dem Amerikanischen von
Klaus-Dieter Schmidt

Alexander Verlag Berlin

Die vorliegende Übersetzung folgt der Ausgabe WHAT IF?

WRITING EXERCISES FOR FICTION WRITERS, erschienen 1990 bei

HarperCollins, New York.

© 1990 by Anne Bernays and Pamela Painter

© für die deutsche Print-Ausgabe Alexander Verlag Berlin 2003

© für die deutsche E-Book-Ausgabe Alexander Verlag Berlin/Köln (November) 2011

Alexander Wewerka, Fredericiastr. 8, 14050 Berlin

www.alexander-verlag.com

info@alexander-verlag.com

Umschlaggestaltung: Wolfgang Scheffler

Alle Rechte, auch der auszugsweisen Vervielfältigung

– gleich welcher Form –, vorbehalten.

ISBN 978-3-89581-238-5

INHALT

Danksagung

Einleitung

I. Anfänge

1. Erste Sätze: In der Mitte anfangen

2. Die Geschichte der Geschichte

3. Paare von Anfangssätzen von Alexandra Marshall

4 Mit einem vorgegebenen Satz beginnen von William Kittredge

5. Wie man eine Geschichte beginnt von Robie Macauley

II. Notizbücher, Tagebücher und Erinnerungen

6. Wer sind Sie? Jemand!

7. Schreiben Sie den Text mit Herzblut

8. Menschen aus der Vergangenheit – Figuren der Zukunft

9. Erinnerungen ausgraben

10. Sein Leben ändern von Joy Nolan

11. Tagebuchschreiben für Schriftsteller von William Melvin Kelley

III. Charakterisierung

12. Er/Sie: Geschlechtertausch

13. Komisch, Sie sehen gar nicht wie fünfundsiebzig aus

14. Den Figuren einen Namen geben

15. Oh! … diese Art Menschen

16. Was wissen Sie über Ihre Figuren?

17. Was wollen Ihre Figuren?

18. Herkunft, Stellung, Schauplatz und Milieu von Figuren von Robie Macauley.

19. Alles leugnen

20. Psychische Hüllen

IV. Perspektive und Standpunkt

21. Die Verlobungsfeier

22. Eine frühe Erinnerung, Teil eins: Das Kind als Erzähler

23. Eine frühe Erinnerung, Teil zwei: Der sich erinnernde Erzähler

24. Der unzuverlässige Erzähler

V. Dialog

25. Die Würze der Rede oder: Echt klingen von Thalia Selz

26. Dialoge sind durch und durch Kunst, nicht Gespräch

27. Die unsichtbare Szene: Dialoge mit Handlung durchsetzen

28. Ein verbaler Tanz

29. Wie erzähle ich ein Gespräch: Dialog oder indirekte Rede

VI. Der Plot

30. Dreierschritt von William Melvin Kelley

31. Das Skelett

32. Von der Situation zum Plot

33. Was wäre, wenn? Wie man Geschichten entwickelt und beendet

34. Den Konflikt vergrößern von David Ray

35. Die Erzählmaschine von Perry Glasser

36. Das Potential des Plots

VII. Die Geschichten liegen auf der Straße

37. Sonntag: Emotionale Auslöser entdecken

38. Fünf verschiedene Versionen – und keine ist eine Lüge

39. Spekulieren: Wie kommen wir hierher?

40. Psycho: Schrecken erzeugen

41. Die Zeitungsmuse: Ann Landers und The National Enquirer

42. Der Brief nach Hause

43. Kaum zu glauben von Rhoda Lerman

44. Ein Erzähl-Stew zusammenrühren von Sharon Sheehe Stark

VIII. Auflösung und letzte Bedeutung

45. Titel und Schlüsselworte

46. Die letzte Bedeutung ergibt sich durch die Überarbeitung

47. Vorbei ist es erst am Ende

IX. Erfindung und Verwandlung

48. Das Innenleben literarischer Figuren

49. Sex ist nicht immer das, wozu er hochgejubelt wird – er ist mehr von Christopher Noël

50. Es spielt sich alles in Ihrem Kopf ab

51. Mein Haustier von Alison Lurie

52. Ferne Orte

53. Sie müssen es erlebt haben

54. Das Leben des Feindes von Lore Segal

55. Risiken eingehen

56. Totale Erinnerung von Alison Lurie

57. Außerhalb der Geschichte schreiben von Elizabeth Libbey

X. Techniken

58. Während der Überarbeitung Szenen erkennen

59. Szenische Dynamik von Thalia Selz

60. Die Probleme von Zeit und Tempo von Robie Macauley

61. Die Macht von »Es schien …« und »Wahrscheinlich

62. Abstrakte Begriffe mit Leben erfüllen

63. Die Übung der fünf Textmarker von David Ray

64. Die Sätze ihrer Bedeutung anpassen von Thalia Selz

65. »Wortpäckchen« sind keine Geschenke

66. Die Würze des variierenden Satzbaus

67. Geschichten über einen kurzen Zeitraum

68. Tabu: schwache Adverbien und Adjektive

69. Transport: Wie jemand wohin kommt, ist langweilig

70. Üben Sie, gute, reine Prosa zu schreiben von Christopher Keane

71. Die Geschichte auffüllen

72. Das Restaurant, die Diät, der Hund: Alles kriegt einen Namen

73. Zusammenstreichen von David Ray

XI. Spiele

74. Lügen lernen

75. Das Wörterbuchspiel

76. Das Bücherspiel, eine Abwandlung des Wörterbuchspiels

XII. Von den Großen lernen

77. Inspiration aus anderen Quellen

78. Orte ohne Menschen

79. Die Grenze ist der Himmel – eine Hommage an Kafka und García Márquez von Christopher Noël

80. Von den Großen lernen

81. Nachahmung: Verehrung und Übung

82. Figuren ausleihen

83. Warum lesen?

Literaturhinweise

Über die Autoren der Beiträge

DANKSAGUNG

Mein Dank gilt meinem Mann Justin Kaplan für seine redaktionelle Hilfe und emotionale Unterstützung; Robie Macauley für sein scharfes redaktionelles Auge; meiner Tochter, Hester Kaplan, für die Bewertung vieler dieser Übungen; meiner Agentin, Gina Maccoby, für ihre Geduld und ihr Urteil; und unserem Lektor, Rick Kot, für seine Ermutigung und seine Begeisterung.

Anne Bernays

Aus den gleichen Gründen danke ich Justin Kaplan und Anne Brashler; meiner Agentin, Roberta Pryor, und unserem Lektor, Rick Kot. Ein besonderer Dank geht an meinen Mann Robie Macaulay für seine großzügigen und lehrreichen Mitteilungen aus der Welt der Literatur, sowie den Freunden, die aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen als Lehrer und Schriftsteller Übungen beigesteuert haben.

Pamela Painter

EINLEITUNG

Anne Bernays: Um ein guter Schriftsteller zu sein, muß man zwei Dinge beherrschen: wie ein Schriftsteller schreiben und wie ein Schriftsteller denken.

Wie ein Schriftsteller zu schreiben bedeutet, absolute Kontrolle über sein Material und sein Werkzeug zu haben. Zum Beispiel bedeutet es, zu wissen, wann ein Dialog oder wann eine zusammengefaßte Rede angebracht ist, wie man Adjektive und Adverbien verwendet und wie man Figuren benennt und in der wirklichen Zeit und im wirklichen Raum verankert.

Wie ein Schriftsteller zu denken ist komplexer, denn hier kommt das Unbewußte ins Spiel. Bis zu einem gewissen Punkt kann man sich auf seine fünf Sinne verlassen; danach muß man aus seiner Neugierde, seiner Vorstellungskraft und der Fähigkeit zur Skepsis etwas schöpfen – wobei letztere nicht mit Zynismus verwechselt werden darf. Skepsis läßt einen hinter das Offensichtliche blicken, um die wahre »Bedeutung«, sagen wir, eines Lächelns, eines Weinkrampfs oder eines Wutausbruchs herauszufinden. Wir haben Übungen aufgenommen, bei denen es darum geht, in das andere Geschlecht zu schlüpfen, nach einem Subtext zu suchen, mehr als einen Grund für bestimmte Ereignisse anzugeben – mit anderen Worten: jene intuitive geistige Fähigkeit zu schulen, über die alle guten Prosaschriftsteller verfügen.

Pamela Painter: Durch die Übungen in Was wäre, wenn? soll etwas in Gang gesetzt werden. Jede Übung soll Ihnen helfen, auf eine neue Art zu denken, Ihr eigenes Material zu entdecken, Textur und Sprache Ihrer Texte zu verbessern und stetig auf ihre eigenste Bedeutung hinzuarbeiten. Und um den Kreis zu schließen: Die Übungen sollen Ihnen helfen, von vorn zu beginnen.

Ganz gleich, wieviel ein Schriftsteller bereits veröffentlicht hat, er muß immer wieder von vorn beginnen. Wir hoffen, mit diesem Buch vielen Autoren eine Hilfe an die Hand zu geben: solchen, die bereits veröffentlicht haben, ebenso wie jenen, die noch nie ein Wort erzählender Prosa geschrieben haben; solchen, die allein arbeiten, ebenso wie jenen, die sich in Schreibgruppen zusammengefunden haben, und auch denen, die Workshops oder Kurse abhalten.

Bernays: »Kann man wirklich lehren, wie man schreibt?« Diese Frage wird mir öfter als jede andere gestellt. Sie geht davon aus, daß die Fähigkeit, gut zu schreiben, eine göttliche Gabe ist – entweder man hat sie, oder man hat sie nicht, und keine Ausbildung wird daran etwas ändern. Offensichtlich bin ich anderer Meinung, oder ich würde nicht schon so lange Workshops für kreatives Schreiben veranstalten. Übrigens sollte die Frage anders formuliert werden: »Kann man den Prozeß der Entstehung und Niederschrift einer Erzählung wirklich entmystifizieren?« Obwohl ich offen zugebe, daß ich keine Ahnung habe, worin die Urquelle der Inspiration besteht, bin ich fest davon überzeugt, daß man, indem man den Schreibprozeß in seine kleinsten – und handhabbarsten – Bestandteile zerlegt, lernen kann, wie man eine einzelne Erzählung und sogar einen Roman schreibt. Das mindeste ist, daß einem durch diesen Prozeß geschriebene Prosa vertrauter sein wird und man das Gefühl genießt, genau das zu sagen, was man sagen will, und zwar so, wie man es sagen will.

Painter: Schreibübungen sind seit langem Bestandteil des Lernprozesses sowohl angehender als auch etablierter Schriftsteller. Ein großer Teil der veröffentlichten Tagebücher von Autoren wie Tschechow, Flaubert, Hemingway, Fitzgerald oder Maugham sind Schreibübungen, ohne daß sie so genannt werden: Übungen auf der Grundlage einer Analyse dessen, was diese Autoren gerade lasen, und des Gesprächs darüber. Und viele Einträge zollen jenen Schriftstellern Tribut, die durch das geschriebene Beispiel gezeigt haben, wie dieses oder jenes in der Prosa funktioniert. Fitzgerald berichtet von einem »Trick«, den Hemingway und er von Conrad gelernt hätten (siehe S. 198/999). John Gardner schreibt in The Art of Fiction über Übungen: »Wenn der angehende Schriftsteller sich mit einem bestimmten kleinen Problem beschäftigt, wie der Beschreibung eines Schauplatzes oder einer Figur oder einem kurzen Dialog, der einen bestimmten Zweck haben soll, nähert sich die Qualität der Arbeit dem Professionellen an.« Und wenn Sie sich nicht beirren lassen, werden die Übungen, die Sie im folgenden durchführen werden, im Lauf der Zeit Ihr Schreiben als Ganzes stärken.

Bernays: Jemand kann ein wunderbarer Geschichtenerzähler sein – solange er nichts aufschreiben muß. Andererseits gibt es jene, die zwar in der Lage sind, halbwegs vernünftige Sätze, Absätze und sogar Seiten zu komponieren, die dabei aber nichts Neues zu sagen haben.

Die Übungen in diesem Buch werden dem ernsthaft Studierenden helfen, seine Fähigkeiten auszubilden – sowohl darin, wie ein Schriftsteller zu denken, als auch darin, wie einer zu schreiben. Der Meister der mündlichen Erzählung wird in der Lage sein, seine Geschichte aufzuschreiben, und dem für die Form Talentierten werden neue, originelle Ideen einfallen.

Painter: Das verlangt Übung und nochmals Übung. So wie jeder Sänger, jeder bildende Künstler, jeder Tänzer oder Komponist muß auch der Schriftsteller üben. Daß wir die Sprache tagtäglich benutzen, wenn wir reden, Briefe schreiben oder eine Notiz machen, daß das Auto aufgetankt werden muß, oder auf der Arbeit vielleicht Memos, Werbetexte oder Zeitungsartikel verfassen, bedeutet nicht, daß wir uns das in anderen Künsten nötige Üben ersparen können. Auch für Schriftsteller sind Übung und Beharrlichkeit von entscheidender Bedeutung. Sie müssen lernen, einen mangelhaften Satz zu verwerfen und eine schwache Figur umzugestalten, ohne dies als Versagen zu empfinden. Sie wachsen durch diese Beurteilung der eigenen Arbeit. Sie üben sich im Handwerk des Schriftstellers.

Bernays: Wenn der Motor des Schriftstellers die Beharrlichkeit ist, dann ist die Einbildungskraft sein Treibstoff, und im Unterschied zu den wirklichen Treibstoffen besitzen wir einen unerschöpflichen Vorrat davon, der noch dazu nichts kostet. Die Einbildungskraft ist in jedem von uns vorhanden und wartet darauf, freigesetzt zu werden.

Painter: Ich wurde zum überzeugten Anhänger von Schreibübungen, als ich mich in einem von Tom Bracken, dem Mitbegründer von Storyquaterly, abgehaltenen Workshop zum ersten Mal an einer solchen Übung versuchte. Bracken gab uns disparate Elemente vor, die wir zu einer Geschichte verknüpfen sollten: Banjomusik, einen Penny und die faszinierende Photographie zweier Augen, die durch die Bretter vor einem Fenster hindurchspähen. Für mich verschmolzen diese Dinge plötzlich zu einer Geschichte über ein einsames Mädchen im Teenageralter, das in einem Geschäft auf dem Land auf einer Orangenkiste sitzt. Sie hat einen Penny unter dem Schuh – und weiß, daß nur der Junge, der sie durch das vernagelte Fenster beobachtet, gesehen hat, wie sie ihn unter den Schuh schob. Trotz der gleichen Elemente stellten wir verblüfft fest, wie unterschiedlich unsere Geschichten waren. Aber natürlich hat jeder seine eigene Einbildungskraft – und seine eigene Stimme und seine eigenen Visionen – und jeder hat diese Elemente auf ganz persönliche Weise verwendet.

Seither habe ich mit allen möglichen Übungen gearbeitet. Manche sind von der Lektüre anderer Autoren inspiriert worden – ich glaube, ich werde immer auf der Suche nach einer besonders wirkungsvollen Art des Anfangs sein: Was ist in Gang gesetzt worden, und wie? Andere Übungen sind einfach durch Spekulation entstanden: »Was wäre, wenn?« Und wieder andere ergaben sich aus Diskussionen in den Kursen, zum Beispiel durch die plötzlich alles andere erhellende Frage meines Schülers Ben Slomoff: »Sie meinen also, es sei so, als hätte jede Geschichte ihre eigene Geschichte?« Ja, ja – das ist es. Und damit war eine Übung entstanden, die allen nachfolgenden Kursen genau dies vermitteln sollte.

Bernays: Die Übungen in diesem Buch stellen die erfolgreichsten Beispiele von über hundert Übungen dar, die wir beide in zusammen mehr als fünfundzwanzig Jahren Unterricht in Harvard, an den Universitäten von Vermont und Massachusetts sowie am Emerson College und am College of the Holy Cross eingesetzt haben. Jede Übung behandelt ein bestimmtes Element des Prosaschreibens: Dialog, Charakterisierung, Subtext und so weiter. In einigen Fällen ist eine Obergrenze von zwei Seiten (ca. 550 Wörter) angegeben Auf diese Weise sind die Kursteilnehmer gezwungen, sich knapp, präzise und direkt auszudrücken und Langatmigkeit und Abschweifungen zu vermeiden. Wird diese Grenze erheblich überschritten, werden die Texte nach meiner Erfahrung verschwommen und langweilig. (Nach unserem Verständnis darf ein Schriftsteller eins niemals sein: langweilig. Es ist besser, ungeschliffene Prosa hervorzubringen, als den Leser in Schlaf zu wiegen.)

Painter: Obwohl das Inhaltsverzeichnis um die Grundelemente des Prosaschreibens herum organisiert ist, gibt es keinen Grund, diesem Aufbau zu folgen. (Wir selbst haben bei der Zusammenstellung des Inhaltsverzeichnisses einige Entdeckungen gemacht. So stellten wir fest, daß wir beide »figurenzentrierte« Erzählungen »plotzentrierten« vorziehen – im ersten Entwurf hatten wir den »Plot« als eigene Kategorie völlig ignoriert.) Außerdem sind die Übungen nicht nach ihrem Schwierigkeitsgrad geordnet; in jeder Kategorie finden sich einfachere und schwierigere Übungen.

Wir hoffen, Sie werden zu verschiedenen Abschnitten von Was wäre, wenn?immer wieder zurückkehren und die Übungen umstellen und neu kombinieren und daß sie Sie so zu Ihrer eigenen unerschöpflichen Materialquelle führen und Ihnen helfen, Methoden für die Entfaltung Ihres schriftstellerischen Potentials zu entdecken. Darüber hinaus hoffen wir, daß Sie die Schriftsteller nutzen werden, deren Werke wir in unseren Beispielen als eine Art immanente Lektüreliste zitiert haben. Kaufen Sie ihre Bücher, und lesen Sie sie; studieren Sie einzelne Passagen, machen Sie sich Notizen, tippen Sie einzelne Sätze ab. Die Werke großer Schriftsteller in sich aufzunehmen ist die beste Ausbildung, die es gibt.

*

Interviewer: Wie würden Sie den vollkommenen Zustand, in dem Sie von morgens bis nachmittags schreiben können, charakterisieren?

Man muß in bezug auf die Frage der »Stimmung« erbarmungslos sein. In gewisser Weise erzeugt das Schreiben die Stimmung. Wenn Kunst, wie ich glaube, eine genuin transzendentale Funktion ist – ein Mittel, durch das wir unseren begrenzten irdischen Geisteszustand übersteigen –, dann sollte es keine große Rolle spielen, in welchem Geistes- oder Gefühlszustand wir uns befinden. Im allgemeinen habe ich folgendes bestätigt gefunden: Ich habe mich gezwungen, mit dem Schreiben zu beginnen, wenn ich völlig erschöpft war, wenn ich das Gefühl hatte, meine Seele sei dünn wie eine Spielkarte, wenn nichts es wert zu sein schien, für weitere fünf Minuten durchzuhalten . und irgendwie hat die Tätigkeit des Schreibens alles verändert.

JOYCE CAROL OATES, Interview in The Paris Review

I. ANFÄNGE

Erste Sätze sind Türen zu Welten.
URSULA K. LE GUIN

Jungen Autoren fällt es oft schwer, einen Anfang zu finden – ganz gleich, ob es sich um eine Erzählung oder einen Roman handelt –, weil sie das Wort »Anfang« zu wörtlich nehmen. Sie suchen nach dem »Anfang« einer Geschichte und vergessen, daß Anfänge selten die für Ärger, Konflikte oder Komplikationen nötigen Zutaten enthalten. Ihre Geschichte kann mit allem möglichen beginnen, mit einem Dialog, einer erzählerischen Zusammenfassung, einer Beschreibung, mit was auch immer, doch sie muß in medias res gehen, mitten ins Geschehen hinein. Sie müssen der Versuchung widerstehen, dem Leser lang und breit zu erklären, wie alles soweit gekommen ist. Denken Sie daran, daß Sie seine Aufmerksamkeit fesseln und ihn in Ihre Geschichte hineinziehen wollen, so daß er nicht auf die Idee kommt, sich zu fragen: Was gibt es heute im Fernsehen?

Ein weiterer Stolperstein für angehende Autoren, die mit einer Erzählung beginnen wollen, ist ihre Vorstellung, den Fortgang und das Ende der Geschichte bereits kennen zu müssen – noch bevor sie angefangen haben. Das ist ein Irrtum. Flannery O’Connor sagte: »Wenn man mit einer wirklichen Person beginnt, einer realen Gestalt, wird unweigerlich etwas passieren, und man braucht nicht zu wissen, was, bevor man beginnt. Tatsächlich ist es vielleicht besser, es nicht zu wissen. Man sollte in der Lage sein, etwas durch seine eigenen Geschichten zu entdecken. Denn wenn man das nicht kann, wird es wahrscheinlich auch kein anderer tun.«

Die folgenden Übungen sollen Sie dazu anregen, über reale Gestalten nachzudenken, die sich in bereits bestehenden Situationen befinden – Situationen, die sich trotz oder wegen der Wünsche und Handlungen der geplagten Figuren weiter entfalten. Machen Sie sich noch keine Gedanken über die Mitte oder das Ende. Beschäftigen Sie sich einfach nur damit, Geschichten in Gang zu setzen – Sie werden bald wissen, welche Geschichten Ihre Einbildungskraft fesseln, sich nicht aufhalten lassen und zu Ende gebracht werden wollen. Bis dahin fangen Sie an, fangen Sie an, fangen Sie an.

1. Erste Sätze: In der Mitte anfangen

In einem Interview mit der Paris Review meinte Angus Wilson: »Theaterstücke und Kurzgeschichten sind sich darin ähnlich, daß beide beginnen, wenn alles bis auf die Handlung fertig ist.« Dies stimmt mit Horaz’ Forderung überein, am Beginn einer Erzählung in medias res zu gehen – mitten ins Geschehen hinein.

Anfänger winden sich jedoch oftmals drei oder vier Seiten lang, bevor die Geschichte sich allmählich herauskristallisiert. Aus Neugier beschlossen wir eines Tages, die ersten Sätze von Erzählungen in großen und kleinen Zeitschriften, Erzählbänden und Anthologien zu untersuchen. Dabei entdeckten wir, daß viele erste Sätze den Leser mitten ins Geschehen hineinführen. Diese Erkenntnis wurde die Grundlage der nachfolgenden ersten Übung.

Die Übung

Führen Sie sich vor Augen, auf welche Weise viele der folgenden Anfangssätze Sie mitten in die Geschichte hineinziehen. Was erfahren Sie aus den Überschriften und den Anfangssätzen über die Geschichte – über Situation, Figuren, Geographie, Schauplatz, Klassenzugehörigkeit, Bildungsstand, potentielle Konflikte und so weiter? Welche Entscheidungen in bezug auf Standpunkt, Distanz, Hintergrund, Tonfall und so weiter hat der Autor bereits getroffen? Beachten Sie, wie viele der folgenden Titel direkt auf den Anfangssatz des Texts bezogen sind.

»Die Dame mit dem Hündchen« ANTON TSCHECHOW

Es hieß, auf der Strandpromenade sei ein neuer Kurgast aufgetaucht – eine Dame mit einem Hündchen.

»Gesturing« JOHN UPDIKE

Sie sagte es ihm mit einer kleinen Geste, die er vorher noch nie bei ihr gesehen hatte.

»Exchange Value« CHARLES JOHNSON

Mein Bruder Loftis und ich kamen durch das Fenster der alten Dame herein.

»The Remission« MAVIS GALLANT

Als klar wurde, daß Alec Webb weit kränker war, als irgendjemand ihm zu sagen gewagt hatte, beendete er sein englisches Leben und entschied sich dafür, an der Riviera zu sterben.

»Das verlorene Sommerhaus« DAVID LEAVITT

Die Dempson-Familie verbrachte die letzten beiden Juniwochen traditionell in der Nähe von Hyannis, in einem gemieteten Ferienhäuschen mit dem Namen »Leicht angeschlagen«.

»Medley« TONI CADE BAMBARA

Schon als ich durch die Tür trat und meine Tasche abstellte, wußte ich, daß ich nicht bleiben würde.

»Der Wintervater« ANDRÉ DUBUS

In der Ehe waren die Jackmans treulos und gewalttätig gewesen, aber während ihrer letzten gemeinsamen Tage wurden die beiden wieder zu einem Paar, wie sie vielleicht auch eines geworden wären, hätte einer von ihnen sterben müssen.

»A School Story« WILLIAM TREVOR

Abends, nachdem das Licht im Schlafsaal ausgeschaltet worden war, wurden immer Geschichten erzählt.

»Kathedrale« RAYMOND CARVER

Dieser Blinde, ein alter Freund meiner Frau, war auf dem Weg, um bei uns zu übernachten.

»Forgiveness in Families« ALICE MUNROE

Ich habe oft gedacht, angenommen, ich müßte zu einem Psychiater gehen, dann würde er sich natürlich nach meinem familiären Hintergrund erkundigen, so daß ich ihm von meinem Bruder erzählen müßte, und er würde nicht einmal abwarten, bis ich fertig wäre, der Psychiater, sondern mich auf der Stelle einweisen.

»Appaloosa« SHARON SHEEHE STARK

Die Freundin meines Vaters hieß Delores, und meine Mutter wurde Dusie genannt, weil sie genau das war: außergewöhnlich wie ein Duesenberg.

»Der schönste Ertrunkene der Welt« GABRIEL GARCÍA MÁRQUEZ

Die ersten Kinder, die das dunkle, schweigsame Vorgebirge auf dem Meer sahen, glaubten, es sei ein feindliches Schiff.

»Nickel a Throw« W. D. WETHERELL

Dies sind die Dinge, die Gooden von seinem Sitz zweieinhalb Meter über dem Taufbecken vom Wohltätigkeitsbasar der Kongregationskirche von Dixford sieht.

»Inventing the Abbotts« SUE MILLER

Lloyd Abbot war nicht der reichste Mann in unserer Stadt, aber er hatte in Gestalt seiner Töchter ein Vehikel, seinen Reichtum auszustellen, das einige reichere Männer nicht hatten.

»Judgement« KATE WHEELER

Wenn Mayland Thompson stirbt, möchte er mit dem Körper eines zwölfjährigen Mädchens begraben werden.

»Covering Home« JOSEPH MAIOLO

Der Coach entdeckte Dannys Arm, als Dannys Eltern sich am Beginn der Saison trennten.

»Die blauen Männer« JOY WILLIAMS

Bomber Boyd, dreizehn Jahre alt, erzählte in jenem Sommer seinen neuen Bekannten, daß sein Vater vom Staate Florida wegen Mordes an einem Hilfssheriff und dessen nach Drogen schnüffelndem deutschen Schäferhund hingerichtet worden war.

Schreiben Sie jetzt fünf eigene Anfangssätze für fünf verschiedene Geschichten auf. Achten Sie bei Ihrer Lektüre auf Anfangssätze, die den Leser in die Geschichte hineinziehen. Und wenn Sie ein Tage- oder Notizbuch führen, sollten Sie vielleicht einen neuen Abschnitt einrichten, in den Sie jeden Tag einen Anfangssatz eintragen – für den Rest Ihres Lebens.

Das Ziel

Sich anzugewöhnen, eine Geschichte mitten im Geschehen zu beginnen. Da Sie nicht verpflichtet sind, diese Geschichten zu beenden, ist der emotionale Einsatz bei dieser Übung relativ gering, während die Phantasie in Schwung kommt.

Studentenbeispiele

Sie versuchte den Witz richtig zu erzählen, aber es war sein Witz, und sie mußte dauernd bei ihm nachfragen.

FRANCES LEFKOWITZ

Ich weiß nicht, wer mich fand oder warum ich in einem Müllcontainer ausgesetzt worden war, aber etwas war über meine Rettung bekannt, was man nicht vergessen hatte und mir ständig unter die Nase rieb: Mit einem dunkelblauen Marker hatte mein ursprünglicher Besitzer das Wort »Gem« auf meine Brust geschrieben, und das ist mein wirklicher und einziger Name.

BRIGID CLARK

Mit zehn Jahren war ich der Meinung, der Tod sei nur eine Art Umzug.

CHRISTY VELADOTA

Am ersten Schultag im Saint Boniface stellte Mrs. Riordan fest, daß ihre vierte Klasse nichts anderes war als Schwester Marys dritte Klasse vom letzten Jahr, bis auf einen stillen Jungen mit Augen von der Farbe des Wassers, der in der ersten Reihe auf dem Fensterplatz saß und ihn ausfüllte, wie ein Vakuum einen Raum ausfüllt.

BRIDGET MAZUR

Bist du Mutters echte Tochter, fragte mich Rona nach Berthas Tod.

LYNDA STURNER

2. Die Geschichte der Geschichte

In der vorangegangenen Übung zeigten wir, daß die meisten Erzählungen und Romane mit einer Situation beginnen – mitten im Geschehen. Aber, fragen Sie vielleicht, was ist mit dem »Beginn« der eigentlichen Geschichte? Vor einigen Jahren sagte ein Kursteilnehmer in einer Diskussion über eine Rückblende: »Sie meinen also, es sei so, als hätte jede Geschichte ihr eigenes Gedächtnis, ihre eigene Geschichte?« Ja, das trifft es genau. Jede Geschichte hat eine Geschichte, jede Figur eine Vergangenheit, und die Plots der meisten Erzählungen und Romane hängen mit Dingen zusammen, die vor dem ersten Satz der ersten Seite passiert sind. Doch diese Geschichte ist geschickt in die Erzählung verwoben, und es fällt uns nicht auf, daß wir eigentlich etwas über die Vergangenheit der Geschichte lesen.

Es mag hilfreich sein, sich die Geschichte als eine Gerade vorzustellen: Der erste Satz erscheint an einem gewissen Punkt nach dem Anfang dieser Gerade – idealerweise ungefähr in der Mitte. An irgendeiner Stelle gehen die meisten Erzählungen und Romane in die Vergangenheit zurück, zum Anfangspunkt jener gedachten Geraden, um den Leser über die Situation aufzuklären – darüber, wie und warum X gegenüber Y in eine derart mißliche Lage geraten ist. Leo Tolstois Roman Anna Karenina beginnt mit der Schilderung eines Haushalts, der sich wegen der Affäre des Hausherrn mit der ehemaligen Gouvernante in heller Aufregung befindet. Und Margaret Atwoods Roman Die Unmöglichkeit der Nähe setzt ein, nachdem sich jemand das Leben genommen hat. Diese Ereignisse kündigen die nachfolgende Geschichte an und beeinflussen sie. Die Vorwärtsbewegung von Flannery O’Connors »A Good Man Is Hard to Find« ist derart zwingend, daß leicht übersehen wird, wie die Vergangenheit der Großmutter die Handlung antreibt. In Amy Hempels »Today Will Be a Quiet Day« ist die Vergangenheit voller ominöser Ereignisse: Streitigkeiten zwischen den Kindern, die den Vater dazu bringen, sich auf seinem Grabstein die Inschrift »Heute wird es ein ruhiger Tag« zu wünschen; die Scheidung der Eltern; der Freund des Sohnes, der dem Jungen rät, er solle niemals mit einem Psychiatriepatienten Pingpong spielen, »weil wir nichts anderes tun und dich fertigmachen würden«, und der später Selbstmord begeht; die Kinder, die einen Guillotine-Witz lernen; der Hund, der eingeschläfert werden muß. All dies ist vor der ersten Seite geschehen. So schreibt man eine Geschichte.

Die Übung

Zuerst suchen Sie sich eine Ihrer Lieblingserzählungen aus und stellen eine Liste der Ereignisse auf, die vor der ersten Seite passiert sind. Fragen Sie: Wie beeinflussen diese Geschehnisse die Geschichte nach der ersten Seite und wie treiben sie die Handlung voran? Wiederholen Sie diese Übung mit mehreren Erzählungen und Romanen.

Dann schauen Sie sich den Entwurf einer Ihrer eigenen Erzählungen an. Machen Sie sich Notizen über die Geschichte Ihrer Geschichte. Hat sie eine Vergangenheit? Eine eigene Geschichte? Wurzelt die gegenwärtige Situation in dieser Geschichte? Möglicherweise entdecken Sie, daß Ihre Geschichte an Amnesie leidet, an einem Mangel an Geschichte, der die gegenwärtige Situation dünn erscheinen läßt und ihr Alternativen und Spannung nimmt.

Das Ziel

Zu begreifen, daß Erzählungen und Romane – und die in ihnen auftretenden Figuren – stets eine eigene Geschichte haben, die ihre Vorwärtsbewegung und den Ausgang beeinflussen.