Ela van de Maan
Erbe der Vergangenheit
Das Buch:
Nach dem Angriff ihres ärgsten Feindes und dessen Vernichtung glaubt Melanie, die Vergangenheit endlich besiegt zu haben. Doch immer heftiger werdende Albträume treiben sie an den Rand der Verzweiflung. Sie sieht als einzige Möglichkeit, den Träumen mittels einer Reise auf den Grund zu gehen. Gemeinsam mit Alexandre besucht sie die Plätze in Europa, an denen sie als seine Frau Elaine vor Jahrhunderten mit ihm gelebt haben soll. Ihre Hoffnung, dort auf schöne Erinnerungen zu stoßen, die die Albträume vertreiben, erweist sich jedoch als Trugschluss. Immer bedrückendere Bilder tauchen vor ihren Augen auf und lassen sogar ihre Beziehung zu Alexandre in einem anderen Licht erscheinen.
Als sie sich nicht mehr sicher sein kann, was Realität und was Vision ist, entschließt sie sich, den Kampf aufzunehmen – gegen die Macht, die offensichtlich versucht, ihr alles zu nehmen, was ihr etwas bedeutet.
Die Autorin:
Ela van de Maan wurde 1969 in einer Kleinstadt in Süddeutschland geboren. Seit sie lesen kann, wollte sie auch schreiben. Ihre frühe Leidenschaft waren Groschenromane in Heftform. Leider konnte sie sich nie kurz genug fassen, um die Geschichte auf den vorgegebenen sechzig Seiten unterzubringen. Nun schreibt sie halt ihre Geschichten so lang oder so kurz wie sie möchte; aber immer mit Happy End, denn tragisch ist das Leben selbst genug. Im »reellen« Leben ist sie beruflich in allen möglichen Bereichen unterwegs, um ihrer Vorliebe für Abwechslung gerecht zu werden. Die meisten Tätigkeiten sind aber durchaus kreativer Natur.
www.elavandemaan.de
Weiterhin erschienen:
»Schwur der Vergangenheit« (08/2014)
»Klang der Finsternis« (01/2015)
»Glut des Vergessens« (05/2015)
»Fluch der Unendlichkeit« (09/2015)
Ela van de Maan
Roman
Erbe der Vergangenheit – Into the dusk 5
Ela van de Maan
Copyright © 2016 at Bookshouse Ltd.,
Villa Niki, 8722 Pano Akourdaleia, Cyprus
Umschlaggestaltung: © at Bookshouse Ltd.
Coverfotos: www.shutterstock.com
Satz: at Bookshouse Ltd.
ISBNs: 978-9963-53-258-2 (E-Book .pdf)
978-9963-53-259-9 (E-Book .epub)
978-9963-53-260-5 (E-Book .prc)
www.bookshouse.de
Urheberrechtlich geschütztes Material
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
»Erbe der Vergangenheit« ist die Fortsetzung von »Schwur der Vergangenheit«.
Für alle Fans gibt es unter www.bookshouse.de/buecher/Weihnachten_in_New_York.pdf noch eine kurze kostenlose Bonusgeschichte, die zwischen »Schwur der Vergangenheit« und »Erbe der Vergangenheit« spielt.
Völlig unvermittelt traf mich der Schmerz und zwang mich in die Knie. Ich krümmte mich und versuchte, auf dem abschüssigen Boden Halt zu finden. Sie lachte nur höhnisch; immer lauter und lauter. Es schien in das Krächzen Hunderter Krähen überzugehen, die sich von allen Seiten näherten. Das Schlagen ihrer Flügel erzeugte ein Sirren in der Luft, dem ein eisiger Sog folgte. Ich zitterte am ganzen Körper. Selbst der warme Umhang brachte keinen Schutz mehr gegen die Kälte, die die Luft einzufrieren schien.
Ihr Lachen hallte in meinen Ohren, in meinem Kopf und versuchte, meinen Verstand zu lähmen. Ich wehrte mich mit allen Kräften dagegen.
Der Himmel verdunkelte sich. Die Krähen formierten sich zu einer riesigen schwarzen Wolke, die sich über mir drehte. Wie aus einem Tornado stießen einzelne Tiere herab und hackten mit ihren spitzen Schnäbeln in meinen Arm, den ich zum Schutz über meinen Kopf hob. Ihre Flügel schlugen auf mich ein, während sie wie wild flatterten und weiter in meine Haut pickten. Sie bohrten ihre scharfen Krallen in das Fleisch und versuchten meinen Arm wegzuziehen, um mein Gesicht zu erreichen.
Ich wühlte in der Tasche meines Kleides nach dem Stein. Wo war er nur? »Hekate, so hilf mir doch!« Blut lief über meinen Arm und tropfte vor mir auf den Boden. Die Schmerzen raubten mir fast den Verstand. »Bitte, nur dieses eine Mal!« Da fühlte ich seine kalte, glatte Oberfläche. Ich zog ihn hervor und schleuderte ihn mit letzter Kraft von mir weg.
Ihr gellender Schrei fuhr mir durch Mark und Bein. Ein Blitz schoss in meine Richtung. Ich rollte mich zur Seite und stürzte tief in einen Abgrund.
Hart schlug ich auf dem Boden auf. Ich blinzelte und sah mich um. Meine Decke hing halb von meinem Bett herab und mein Kissen lag neben mir auf dem Teppich. Ich zog es unter meinen Kopf und atmete erst einmal tief durch.
Was für ein Albtraum.
Kapitel 1
»Wolltest du nicht längst in Urlaub sein, Melanie?«
Ich schreckte auf. Rachel stand in der Tür des Büros und sah mich besorgt an.
»Du bist total überarbeitet. Kein Mensch bürdet sich freiwillig dieses Pensum auf. Willst du dem Verlag zwei Journalisten ersetzen? Such dir doch einfach die schönsten Events raus und lass Larry den Rest machen. Dafür hast du immerhin einen Assistenten. Oder etwa nicht?«
Ich seufzte. Sie hatte ja recht. Larry hatte sich ohnehin schon beschwert, dass er kein Interview allein führen durfte und über kein Event allein eine Reportage liefern konnte. Dabei war er ein fähiger Journalist und wusste, wie er mit den Leuten umzugehen hatte. Aber ich konnte nicht loslassen. Ich wollte wenigstens in meinem Job alles im Griff haben, wenn mir schon mein Privatleben immer mehr entglitt.
»Käffchen?«, fragte sie aufmunternd.
»Käffchen. Ich bring hier sowieso nichts mehr zustande.« Ich tastete mit den Zehen nach meinen Pumps, die ich unter dem Schreibtisch ausgezogen hatte. Selbst meine Füße waren müde. Ich hätte Sneakers anziehen sollen.
Rachel hakte sich bei mir ein und zog mich in die Cafeteria unseres Verlagsgebäudes, wo sich wie jeden Vormittag ein paar Redakteure zum Frühstücksplausch trafen.
Ich konnte dem Small Talk der Kollegen nicht wirklich folgen. Immer wieder schweifte mein Blick aus der bodentiefen Fensterfront, die einen grandiosen Blick über die Häuserschluchten New Yorks bot. Die Morgensonne spiegelte sich in den Fassaden der unzähligen Gebäude, die sich wie ein Meer aus Stahl und Glas bis zum Horizont ausdehnten. Nur rechts von mir wurde das Häusermeer durch den Hudson River unterbrochen, der sich wie ein großes, schimmerndes Reptil zwischen Manhattan und New Jersey schob. Ich konnte mich glücklich schätzen, hier in New York leben und arbeiten zu können. Ich brauchte die Atmosphäre einer Großstadt und ihre Betriebsamkeit. Hier war jeden Tag etwas Außergewöhnliches geboten. Ausstellungseröffnungen, Filmpremieren, Konzerte, Charitys - und ich war mittendrin. Ich hatte Zugang zu allen wichtigen Events und konnte durch meinen Job den Stars und Sternchen, den Größen der Gesellschaft oder auch manchem Politiker auf den Zahn fühlen.
Nach außen hatte sich nicht viel verändert, seit ich auf der Flucht vor meinem Exfreund Carlos nach New York gekommen war. Rachel war nach wie vor eine meiner Lieblingskolleginnen, auch wenn wir privat wenig miteinander zu tun hatten. Aber insgeheim war ich ihr sehr dankbar dafür, dass sie mich mit ihren Geschichten um den sagenumwobenen Marquis und seinen geheimnisvollen Partys auf die Spur von Alexandre gebracht hatte. Sie würde es sicher nicht glauben, wenn ich ihr erzählte, dass ich mein Leben lang von ihm geträumt hatte, bis ich zufällig in eine seiner heißen Feiern platzte. Jetzt konnte ich über das befremdliche Gefühl lachen, das ich damals beim Anblick des Treibens in dieser unterirdischen Lokalität empfand. Es hatte jedoch lange gedauert, bis ich hinter sein Geheimnis kam. Er war der undurchschaubarste Mann, dem ich jemals begegnet war. Und das war er heute für mich noch sehr oft, obwohl wir seit dem Sieg über den dunklen Fürsten tatsächlich zusammenlebten.
Wobei Zusammenleben in letzter Zeit der falsche Begriff für den Zustand unserer Beziehung geworden war. Entweder arbeiteten wir, er noch mehr als ich, oder wir trafen uns, wenn wir Glück hatten, in unserem Penthouse, in das er allerdings seit einiger Zeit auch nur noch auf Bitten meinerseits kam. Wenn er schlafen wollte, verzog er sich meist in sein düsteres schwarzes Schlafzimmer in den Katakomben des Bürokomplexes. Er konnte es nicht mehr ertragen, mich schreiend aus meinen Albträumen erwachen zu sehen, dessen war ich mir sicher. Auch wenn er es nicht zugab.
Die Träume der letzten Nächte wanderten wieder und wieder durch meine Gehirnwindungen. Weshalb hörte dieser Wahnsinn nicht auf? Es schien geradezu, als würde es immer schlimmer werden. Wo noch vor ein paar Monaten die Albträume höchstens einmal pro Woche erschienen, kamen sie jetzt alle paar Tage. Manchmal wiederholten sie sich, bis ich tatsächlich alle Details im Gedächtnis behielt, manchmal tauchten sie nur flüchtig auf, schlugen sich durch meine Erinnerung und hinterließen ein mieses Gefühl. Ich wollte überhaupt nicht näher darüber nachdenken, aber sie ließen sich nicht davon abhalten, sich immer wieder Zutritt in mein Gedächtnis zu verschaffen. Als würden sie darauf pochen, wichtig zu sein, und dort bleiben zu müssen.
»Melanie, dein Handy brummt.« Rachel stupste mich am Arm. »Vielleicht solltest du rangehen.«
Ich sah auf das Display. Es war Alexandre. »Hi«, meldete ich mich kurz angebunden.
»Hi, mon amour, tut mir leid, dass ich so lange nicht zurückgerufen habe. Hier ist der Teufel los. Was wolltest du mir sagen?«
»Ich wollte mich nur vergewissern, dass wir morgen unsere Reise nach Europa antreten.«
Er schwieg, doch ich hörte sein leises Seufzen.
»Alexandre?«
»Es tut mir leid, aber ich fürchte, wir werden es verschieben müssen. Wir haben Probleme mit einer Amethyst-Mine in Brasilien. Ich weiß noch nicht, wie wir sie lösen können. Vielleicht muss ich für ein paar Tage selbst dorthin.«
Ich beendete das Gespräch, ohne zu antworten. Seit fast einem halben Jahr verschoben wir unsere Reise immer und immer wieder, weil mal hier geschäftliche Probleme auftauchten und mal da. Alexandre sah nie eine andere Möglichkeit, als diese selbst zu lösen. Dabei wäre es für mich wichtig gewesen, endlich nach der Ursache meiner Albträume forschen zu können. Oder sie zumindest mit schönen Erinnerungen zu überlagern, wenn ich nur endlich einmal die Orte sehen würde, in denen ich angeblich vor fast vierhundert Jahren mit Alexandre als seine Frau Elaine gelebt hatte. Wenn sie mir denn schöne Erinnerungen bescheren konnten.
Rachel zog die Augenbrauen hoch und sah mich skeptisch an.
»Wird wohl wieder nichts mit Urlaub«, erklärte ich und versuchte, die aufsteigende Frustration zu ignorieren. »Zum Glück habe ich mir von Larry für heute Abend einen zweiten Pressezugang zu der Filmpremiere besorgt. Sonst säße ich auf dem Trockenen.«
»Ein paar Tage auf der Couch wären auch hin und wieder erholsam«, ermahnte mich Rachel.
Ich konnte ihr schlecht sagen, dass mir meine Couch keinerlei Erholung bringen würde, weil ich dort sicherlich einschlief und mich wieder diese vermaledeiten Träume heimsuchten. Noch einmal sah ich auf mein Handy, aber Alexandre hatte keinen weiteren Versuch unternommen, mich zu erreichen, obwohl ich ihn so kommentarlos abgewürgt hatte. Was sollte er auch sagen? Es war sinnlos.
Ich verbrachte den Rest des Tages damit, mich durch diverse Artikel zu quälen, die mir die Arbeiten zu dem neuen Blockbuster, der am Abend anlief, nahebringen sollten. Aber es blieb nicht viel hängen. Und eigentlich war es auch nicht meine Aufgabe. Diesmal war Larry am Zug, ich wollte nur Gast sein und den Film nur genießen, sofern ich es schaffte, mich zu entspannen. Genervt fuhr ich meinen Rechner herunter und packte meine Tasche. Was tat ich überhaupt noch hier? Ich hatte schließlich seit zwei Tagen Urlaub, und Alexandre hatte mir hoch und heilig versprochen, ihn diesmal mit mir zu verbringen. Ich rief mir ein Taxi und machte mich auf den Weg in meine Wohnung.
Schon beim Öffnen der Tür empfing mich der Duft von frischen Blumen. Auf der Kommode stand ein großer Strauß Rosen in allen Rotschattierungen. Ich hielt kurz meine Nase in das Bouquet und las, was auf der Karte stand.
Je t’aime.
Wie immer. Ich konnte es schon nicht mehr sehen. Wenn er mich wirklich lieben würde, dann würde er endlich etwas dagegen unternehmen, dass mich diese Träume immer mehr zermürbten, anstatt mir nur Rosen zu schicken, weil er wieder eine Chance verstreichen ließ.
Ich wählte seine Nummer.
»Hi, mon amour, bist du schon zu Hause?«, fragte er sofort und versuchte, versöhnlich zu klingen.
»Ich gehe heute Abend zu einer Filmpremiere. Kommst du mit?«
»Tut mir leid, ich kann hier nicht weg. Die Verbindung in diesen vermaledeiten Urwald ist so schlecht, dass wir immer noch nicht genau herausgefunden haben, was dort in der Mine passiert ist.«
Ich schwieg für einen Moment.
»Melanie?«
»Ich bin hier.«
»Sei mir bitte nicht böse, aber es ist immens wichtig.«
»Alexandre, wir müssen reden. Jetzt. Auch für mich ist es immens wichtig.«
Er knirschte mit den Zähnen. »Gut, treffen wir uns unten. In fünf Minuten.«
»Ich werde da sein.« In fünf Minuten, fügte ich noch in Gedanken hinzu. Und dann würde er kaum fünf Minuten Zeit für mich haben. Warum konnte er nicht einfach nach oben kommen, sich zu mir auf die Couch setzen und in Ruhe darüber sprechen, was in unserer Beziehung gerade schieflief?
Ich hängte meine Weste über den Stuhl und nahm den Aufzug in die tiefsten Etagen des Wolkenkratzers.
Die ächzenden Laute nicht menschlicher Kreaturen tönten mir entgegen, als ich auf der Galerie aus dem Fahrstuhl trat. Über die Kinoleinwand unten in der Wohnhalle liefen ein paar eingewickelte, halb verfaulte Gestalten, von denen einer nach dem anderen seinen Kopf verlor. Ich verdrehte die Augen. Das fehlte mir gerade noch. »Was schaut ihr denn da?«, rief ich zu Pearl und Jewels hinunter, die halb dahindösend auf der Couch hingen und sich offensichtlich langweilten.
»Zombieirgendwas, die Was-weiß-ich-Wievielte«, antwortete Pearl und drehte den Ton ab. »Du siehst aber auch nicht gerade frisch aus«, kommentierte sie ungeschönt meinen Anblick.
»Vielen Dank auch. Ich hatte heute Nacht einmal wieder eine neue Version meines eigenen Gruselfilms vor Augen.«
»Los, erzähl«, ereiferte sich Jewels sofort und verfolgte erwartungsvoll meinen Weg die Treppe hinunter.
Ich hatte eigentlich keine Lust, den Traum noch einmal en détail rekapitulieren zu müssen, aber Jewels würde keine Minute mehr ruhen, bis sie es ganz genau wusste.
»Ich weiß gar nicht, was du hast«, rief sie, als ich geendet hatte. »Ist doch cool, wenn man seinen eigenen Film im Kopf hat, dann muss man sich wenigstens nicht das langweilige Zeug im Fernsehen ansehen.«
»Mir wäre aber ehrlich gesagt ein Liebesfilm lieber«, entgegnete ich.
Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern.
Pearl deutete hinter mich. Ich drehte mich um.
Alexandre stand an der Tür seiner Räume und sah mich nachdenklich an. »Tut mir leid, dass dich schon wieder ein derartiger Traum heimsucht. Ich verspreche dir, sobald ich die Probleme hier gelöst habe, versuchen wir unser Glück in Europa, um endlich diese Albträume abstellen zu können.«
»Mach dir nichts vor, Alexandre. Du wirst nie die Zeit finden, mit mir wegzufahren. Es werden immer Probleme auftauchen, die nur du allein lösen kannst, selbst wenn du ein weiteres Heer an fähigen Angestellten um dich scharrst.«
»Melanie, du verstehst nicht, es ist wichtig.«
»Ich verstehe absolut. Deine Firmen sind dir wichtiger als ich. Wichtiger als unsere Beziehung.«
Er machte einen Schritt auf mich zu und streckte seine Hand nach der meinen aus. Doch er streifte nur flüchtig meine Finger. »Das ist nicht wahr. Ich kann auch nichts dafür, dass immer wieder etwas dazwischenkommt.«
»Hast du mir nicht erklärt, Megan könnte deine Aufgaben verteilen?«
»Schon, aber nicht alle. Manches muss ich selbst machen.«
»Nur manches? Du bist Tag für Tag in deiner Arbeit derart eingespannt, dass du es nicht einmal mehr schaffst, nach mir zu sehen, bevor ich einschlafe. Geschweige denn in der Nacht anwesend zu sein, wenn ich dich wirklich einmal brauche, weil ich Angst habe, weil ich nicht mehr weiß, was Wirklichkeit oder Traum ist. Ich kann nicht mehr. Ich brauche eine Auszeit. Entweder du kommst mit und wir machen unseren Rundtrip wie geplant, um irgendwie eine Lösung für das Übel zu finden, oder ich fliege zu meinen Eltern und hoffe, zumindest dort für ein paar Tage von den Albträumen verschont zu bleiben.«
Er starrte mich an und sagte kein Wort.
Ich sehnte mich danach, dass er mich in den Arm nahm, dass er seinen Entschluss, sich wieder für seine Geschäfte anstatt für mich entschieden zu haben, zurücknahm. Die Distanz zwischen uns war unübersehbar. Es war, als stünde ich vor einer Mauer aus Glas, durch die ich ihn zwar sah, jedoch nicht mehr fühlen konnte.
Ich musste gehen, mein Leben in den Griff bekommen und darüber nachdenken, ob es nicht besser war, aufzugeben. Wir führten völlig unterschiedliche Leben. Wie hatte ich mich je der Illusion hingeben können, wir könnten sie vereinen? »Ich möchte morgen wie geplant abreisen. Steht auch für mich allein eines der Firmenflugzeuge zur Verfügung oder muss ich mich um einen Linienflug kümmern?«, fragte ich ihn schließlich und sah in seine Augen, in der Hoffnung, irgendeine Regung, ein Bedauern erkennen zu können. Er senkte den Blick.
»Nein, selbstverständlich bringt dich eine unserer Maschinen nach Berlin.«
»Gut, ich mache mich jetzt fertig für die Filmpremiere. Möchte jemand von euch mitkommen? Ich könnte noch eine Karte beschaffen«, wandte ich mich an Pearl und Jewels.
»Sorry, hab ein Date«, rief Jewels und sprang auf, um sich sofort in dem riesigen Spiegel zu bewundern, der statt ihres eigenen Bildes zwischen den alten lebensgroßen Gemälden ihrer Schwestern angebracht war.
»Irgendwann schaut dir der mit den Hörnern entgegen und streckt dir die Zunge heraus, wenn du ständig in den Spiegel guckst«, kommentierte Pearl.
»Dann zeig ich ihm den hier«, entgegnete Jewels und streckte ihrem Spiegelbild den Mittelfinger entgegen.
Pearl schüttelte den Kopf und sah mich an. »Bei der Erziehung ist eindeutig was schiefgelaufen. Zu deiner Frage: Auf mich musst du leider auch verzichten, ich habe mir eine Nacht Schlaf verordnet. Ist etwas wenig gewesen in den letzten Wochen. Beim nächsten Mal wieder gern.«
Ich drehte mich noch einmal zu Alexandre um, der immer noch an der gleichen Stelle stand und mich nachdenklich betrachtete. »Falls wir uns vor meinem Abflug nicht mehr sehen, wünsche ich dir viel Erfolg bei der Lösung deiner Probleme.«
Er nickte wortlos und ging.
Ich hätte mir denken können, dass ein actiongeladener Fantasyfilm nicht gerade die beste Möglichkeit war, mir Ablenkung von meinen Träumen zu verschaffen. Ich fragte mich, ob ich mir damit nicht auch noch Futter für meine Albträume verschaffte. Wer wusste schon, ob nicht einiges davon meiner eigenen Fantasie entsprang, statt, wie wir immer annahmen, reale Geschehnisse von vor einigen Jahrhunderten zu sein.
Ich nippte an meinem dritten Glas Prosecco und winkte Larry zu, der auf der Suche nach einem neuen Interviewpartner war. »Und wie hat dir der Film gefallen?«, fragte er und gesellte sich zu mir. »Soweit ich mitbekommen habe, stehst du ja auf Fantasy.«
Ich verzog das Gesicht. Tatsächlich stünde ich auf Fantasy, wenn sie nicht zunehmend zu meiner eigenen Realität würde. »Im Prinzip war der Film nicht schlecht. Die Schauspieler waren ausgezeichnet, nur die Action wirkte stellenweise etwas gewollt. Da hätten ein paar ruhigere Szenen nicht geschadet.«
Larry lachte. »War das die Kurzfassung der Meinung, die ich in meinem Artikel zu vertreten habe?«
»Du kannst vertreten, welche Meinung auch immer du hast. Es steht ja schließlich dein Name darunter und nicht meiner.«
Er sah mich verwundert an. »Was ist mit dir? Bist du krank? Keine Anleitung, was ich zu schreiben habe, um einen erfolgreichen Beitrag zu landen?«
»Tut mir leid, wenn es bisher so rüberkam, dass ich es dir nicht zutraue. Mach, was du meinst. Du bist schließlich lange genug in diesem Geschäft und weißt, was du tust. Ich bin für eine Weile weg. Da musst du ohnehin allein zurechtkommen.«
»Sag bloß, du machst tatsächlich Urlaub? Daran hat schon keiner mehr geglaubt.« Er legte freundschaftlich die Hand auf meinen Arm. »Und wo soll es hingehen?«
»Erst einmal zu meinen Eltern, in die Nähe von Berlin.«
»Und dann machen wir eine Rundreise durch Europa«, fügte Alexandre hinzu, der unerwartet hinter uns aufgetaucht war.
»Wir?«, fragte ich erstaunt.
Er legte seinen Arm um meine Taille und zog mich näher zu sich. Seine Lippen berührten sanft mein Haar. »Wir«, flüsterte er. »Die Maschine ist morgen ab Mittag abflugbereit.«
*
Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte sie die Szene, die sich in dem klaren Brunnenwasser spiegelte. Wut stieg in ihr hoch und brannte, dass es ihr fast die Tränen in die Augen trieb. Sie schürte erneut das Feuer, das seit Jahrhunderten in ihr loderte wie unzählige Scheiterhaufen. Es würde reichen, um ganze Städte niederzubrennen. »Sieh dir das an!« Sie zerrte den zottligen schwarzen Gesellen heran, der stoisch neben ihr ausgeharrt hatte, und tauchte ihn fast unter. »Sieh dir das an. Nun reist diese verdammte Wiedergeburt der Kräuterhexe auch noch mit Mirecourt an die Stätten ihrer Vergangenheit, an die Plätze ihrer alten Liebe, um ihre Albträume loszuwerden. Dass ich nicht lache! Wie sentimental.«
Sie stieß den Eimer ins Wasser und schleifte ihn über den Grund des Brunnens, bis er mit Steinen gefüllt war. Die Winde ächzte unter der schweren Last, als sie ihn herauszog. Sie besah jeden einzelnen Stein genau, bevor sie ihn auf den Haufen warf, der sich bereits mannshoch neben ihr erhob. Aufgebracht spuckte sie in das immer noch klare Wasser, das wieder das Bild erscheinen ließ, das sie so sehr in Rage gebracht hatte.
»Niemals wird sie die Träume loswerden«, kreischte sie. »Niemals! Ich werde ihr Träume schicken, die sie vor Angst nicht mehr schlafen lassen, die sie am Tag verfolgen und ihr die Luft zum Atmen rauben. Ich werde sie vernichten. Langsam und schmerzvoll. Alle beide.«
Sie nahm dem rußigen schwarzen Scheusal die schwere Kette ab. »Du bist an der Reihe. Du wirst dich endlich dafür erkenntlich zeigen, dass ich dich am Leben gelassen habe, obwohl du daran schuld bist, dass sie hergekommen ist und mir alles genommen hat. Alles. Mein ganzes Leben. Meine ganze Zukunft. Meine Schönheit.« Sie versuchte das verbitterte Antlitz zu ignorieren, das in den auslaufenden Wellen des Wassers auftauchte. »Zieh los, schüre ihre Zweifel, versetze sie in Angst und Schrecken, treibe sie und Mirecourt auseinander. Sie sollen sich ihrer verfluchten ewigen Liebe nicht mehr sicher sein. Sie sollen leiden, sollen sich hassen. Ich will, dass ihr beider Herz ein einziger Pfuhl aus Zweifeln, Wut und Angst wird. Und wenn ich diesen verteufelten Stein gefunden habe, werde ich den Untergang über sie herbeirufen. Über beide und über alle, die mein Leben zerstört haben und wenn ich diejenigen bis in die Hölle verfolgen muss.«
Sie riss die Arme hoch und kreischte den Krähen über ihr zu. Sofort sammelten sie sich in einer großen schwarzen Wolke, die sich immer schneller über ihrem Kopf drehte. Mit einem Handstreich ließ sie einen Blitz in die Bilder auf den Wellen fahren. Das Wasser leuchtete hell auf. Dampf stob in alle Richtungen und das rußige Scheusal nahm reißaus.
Kapitel 2
»Willkommen in der Stadt der Liebe«, raunte Alexandre an meinem Ohr, als wir in Paris aus dem Flugzeug stiegen. Die Sonne war gerade dabei, sich am Horizont zu verabschieden, doch die sommerliche Hitze wurde noch vom Asphalt zurückgeworfen und ich war froh, mich trotz des Nieselwetters in Berlin für ein leichtes Wickelkleid entschieden zu haben.