„Vor allem aber verliert nicht den Wunsch zu laufen. Jeden Tag laufe ich mich selbst in einen Zustand des Wohlbefindens hinein und laufe jeder Krankheit davon. Ich habe mich selbst in meine besten Gedanken hineingelaufen und kenne keinen Gedanken, der so schwer ist, dass ich ihm nicht davonlaufen könnte.“
Søren Aabye Kierkegaard
Dänischer Philosoph
(1813–1855)
Inhalt
Vorwort Richard Rogers
Vorwort des Autors
1Das menschliche Maß
Das menschliche Maß
Zuerst gestalten wir die Stadt – dann prägt sie uns
Die Stadt als Ort für Begegnungen
2Sinneswahrnehmungen und Größenordnungen
Sinneswahrnehmungen und Größenordnungen
Sinneswahrnehmungen und Kommunikation
Das zerstörte menschliche Maß
3Die lebendige, sichere, nachhaltige und gesunde Stadt
Die lebendige Stadt
Die sichere Stadt
Die nachhaltige Stadt
Die gesunde Stadt
4Die Stadt auf Augenhöhe
Der Kampf um Qualität findet im Kleinen statt
Gute Städte für Fußgänger
Gute Städte zum Verweilen
Gute Städte als Orte der Begegnung
Selbstdarstellung, Spiel und Sport
Schöne Orte, angemessenes Maß
Gutes Wetter auf Augenhöhe
Schöne Städte, schöne Erlebnisse
Gute Städte für Radfahrer
5Leben, Raum, Bauten – in dieser Reihenfolge
Das Brasília-Syndrom
Leben, Raum, Bauten – in dieser Reihenfolge
6Wachsende Städte
Wie man eine Stadt plant
Das menschliche Maß – der universelle Ausgangspunkt
7Werkzeuge
Anhang
Anmerkungen
Bibliografie
Vorwort Richard Rogers
Städte sind Orte, an denen Menschen sich zum Gedankenaustausch treffen, an denen sie kaufen und verkaufen oder sich entspannen und vergnügen. Der öffentliche Raum einer Stadt – ihre Straßen, Plätze, Parks und Grünanlagen – bildet Bühne und Katalysator für diese Aktivitäten. Jan Gehl, ein Meister der Gestaltung des urbanen öffentlichen Raums, liefert uns hier die Instrumente, die wir benötigen, um stadtplanerische Entwürfe für öffentliche Stadtflächen zu optimieren und dadurch die Lebensqualität in unseren Städten zu verbessern.
Die verdichtete Stadt mit gut vernetzten Verkehrswegen und -mitteln für den motorisierten Verkehr sowie für Radfahrer und Fußgänger ist die einzige umweltschonende, nachhaltig lebensfähige Form von Stadt. Um die Bevölkerungsdichte zu erhöhen und im gesamten Stadtgebiet Rad- und Fußwege zu schaffen, müssen die Stadtplaner allerdings mehr qualitätvolle, ansprechend gestaltete öffentliche Räume und Flächen nach menschlichem Maß und nach umweltfreundlichen, gesundheitsfördernden Aspekten sowie Kriterien der Sicherheit und urbanen Lebensqualität schaffen.
Städte lassen sich – wie Bücher –lesen, und Jan Gehl versteht eindeutig ihre Sprache. Straße, Gehweg, Platz und Park bilden die Grammatik einer Stadt, erwecken sie zum Leben und bieten Raum für verschiedene Aktivitäten – von ruhig und beschaulich bis lärmend und geschäftig. Eine humane Stadt mit sorgfältig gestalteten Straßen, Plätzen und Grünflächen bereitet Besuchern und Passanten ebenso viel Freude und Vergnügen wie denen, die jeden Tag dort leben, arbeiten und spielen.
Alle Stadtbewohner sollten nicht nur Anspruch auf sauberes Trinkwasser haben, sondern auch auf frei zugängliche öffentliche Räume. Allen sollte es möglich sein, aus ihren Fenstern mindestens einen Baum zu sehen, auf einer Bank auf einem Kinderspielplatz in der Nähe ihrer Wohnung zu sitzen oder innerhalb von zehn Minuten einen Park zu Fuß erreichen zu können. Gut geplante Wohnviertel inspirieren ihre Bewohner, während schlecht geplante Städte ihre Einwohner „verwildern“ lassen. Mit den Worten von Jan: „Zuerst gestalten wir die Städte, dann prägen diese uns.“
Kein anderer hat die Morphologie und Nutzung des öffentlichen Raums so eingehend untersucht wie Jan Gehl. Jeder Leser dieses Buches wird wertvolle Einblicke in sein erstaunlich einfühlsames und zugleich scharfsinniges Verständnis der Beziehungen zwischen öffentlichem Raum und Bürgern und deren unauflöslicher Vernetzung gewinnen.
London, Februar 2010 Richard Rogers Baron Rogers of Riverside Companion of Honour (CH), Knight Bachelor (Kt), Mitglied des Royal Institute of British Architects (RIBA), Mitglied der Chartered Society of Designers (CSD) |
Vorwort Jan Gehl
1960 schloss ich mein Architekturstudium ab und verfolge demnach seit 50 Jahren die Entwicklungen im Städtebau. In vielerlei Hinsicht waren diese interessant, zugleich jedoch auch verstörend: Die Art und Weise, in der Städte geplant und gestaltet werden, hat sich in diesem halben Jahrhundert radikal verändert. Bis in die 1960er Jahre hinein wurden Städte weltweit in erster Linie auf Basis jahrhundertelanger Erfahrung geplant. Dass und wie Stadträume nach menschlichem Maß gestaltet werden, war Teil dieser Erfahrung und eine Selbstverständlichkeit.
Im Zuge steigender Einwohnerzahlen wurde der Städtebau dann allerdings zunehmend professionellen Planern übertragen. Damit verbunden ersetzen Theorien und Ideologien nach und nach die Erfahrung als Grundlagen der Stadtentwicklung. Insbesondere die Architekturmoderne mit ihrer Vision der Stadt als Maschine, deren Einzelteile separiert speziellen Funktionen entsprach, gewann an Einfluss. Mit der Zeit kam eine neue Gruppe, die Verkehrsplaner, hinzu und brachte ihre Ideen und Theorien ein, um beste Bedingungen für den Autoverkehr zu schaffen – mit dem Ziel einer „autogerechten“ Stadt.
Weder Stadtplaner noch Verkehrsplaner setzten die Menschen, für die sie die Städte im Grunde bauten, auf ihre Agenda und wussten so jahrelang fast nichts über den Einfluss baulicher Strukturen auf menschliches Verhalten. Die negativen Auswirkungen dieser rein funktionalen Stadtplanung auf die Menschen und darauf, wie diese den Stadtraum nutzen, wurden erst viel später erkannt.
Insgesamt ist die Stadtplanung der letzten 50 Jahre als problematisch zu sehen. Es wurde nicht berücksichtigt, dass sich die Bedeutung des Stadtlebens von reiner Tradition hin zu einer grundlegenden wichtigen Funktion der Stadt wandelte, die den professionellen Stadtentwicklern in allen Aspekten gründlich durchdachte Lösungen abverlangt. Heute – viele Jahre später – wissen wir wesentlich mehr über den Zusammenhang zwischen gebauter Umwelt und menschlichem Verhalten und verfügen über umfangreiche Informationen zu möglichen und notwendigen stadtplanerischen Lösungen. Stadtverwaltungen und Bürger fordern inzwischen nachdrücklich menschenorientierte Stadtentwicklungen. Zahlreiche Städte überall auf der Welt haben sich inzwischen ernsthaft darum bemüht, den Traum der besseren, lebenswerteren Stadt für ihre Einwohner zu realisieren. Nach Jahren der Vernachlässigung zeigen inspirierende Projekte und visionäre Strategien neue Wege zur „menschengerechten“ Stadt auf.
Inzwischen wird allgemein akzeptiert, dass das Stadtleben und die Menschen im Stadtraum bei der Sanierung von Städten und der Planung von Neubauvierteln vorrangig berücksichtigt werden sollten. Man hat erkannt, was jahrelang missachtet wurde: dass die planerische Für- und Vorsorge für die Einwohner ein wichtiger Schritt zu lebendigen, sicheren, nachhaltigen und gesunden Städten ist – im 21.Jahrhundert ein Ziel von entscheidender Bedeutung.
Ich freue mich, dass dieses Buch nun in einer deutschen Ausgabe vorliegt und hoffe, dass es auch im deutschen Sprachraum ein wenig dazu beitragen wird, dem Ziel menschenfreundlicherer Städte näher zu kommen. Die Veröffentlichung wurde durch die enge Zusammenarbeit hoch motivierter Mitarbeiter und Partner ermöglicht und es war für mich eine Freude und Inspiration, mit ihnen zu arbeiten. Mein herzlicher Dank gilt jedem einzelnen Mitglied dieses Teams, deren Einsatz diese Veröffentlichung ermöglicht hat.
Außerdem danke ich Gehl Architects dafür, dass sie Räume und vor allem Grafiken und Illustrationen zur Verfügung stellten, ebenso wie Freunden, Kollegen und Fotografen aus aller Welt, die uns ihre Aufnahmen überließen. Mein Dank gilt Solvejg Reigsted, Jon Pape und Klaus Bech Danielsen für ihre konstruktive Kritik zu Inhalten und für die redaktionelle Betreuung. Ein besonderer Dank geht an Tom Nielsen (Architekturfakultät der Universität Aarhus) für seine guten Ratschläge in allen Phasen der Vorbereitung dieser Publikation.
Lord Richard Rogers, London, danke ich wärmstens für sein Vorwort – eine wertvolle Einführung in mein Buch. Ebenso danke ich der Realdania-Stiftung, die das Buchprojekt anstieß und die Realisierung finanziell unterstützte.
Jan Gehl
Kopenhagen, im November 2014
1
Das menschliche Maß
Das menschliche Maß
Zuerst gestalten wir die Stadt – dann prägt sie uns
Die Stadt als Ort für Begegnungen
Das menschliche Maß
DAS MENSCHLICHE MASS – ÜBERSEHEN, VERNACHLÄSSIGT, ABGESCHAFFT
Jahrzehnte lang war die menschliche Dimension ein zumeist übergangenes oder, wenn überhaupt, nur unzulänglich berücksichtigtes Thema in der Stadtplanung, während andere Fragen, wie die Bewältigung des explosionsartig zunehmenden Autoverkehrs, Priorität hatten. Der öffentliche Raum, Wege für Fußgänger und Radfahrer sowie Stadtplätze als Treffpunkte für Stadtbewohner standen in den Planungsideologien insbesondere der Moderne ganz unten auf der Tagesordnung. Marktkräfte und damit zusammenhängende Architekturtrends verlagerten letztendlich den Fokus von den Wechselwirkungen zwischen gebauter Umwelt und Menschen sowie den gemeinschaftlichen Flächen der Stadt hin zu einzelnen Bauten, die sich dabei zunehmend isoliert, nach innen gekehrt und abweisend zeigten.
Fast allen großen Städten auf der Welt ist – unabhängig von ihrer geografischen und ökonomischen Lage und ihrem Entwicklungsstadium – eines gemeinsam: Sie haben ihre Einwohner, die den Stadtraum immer noch in Massen bevölkern, zunehmend schlecht behandelt. Begrenzter Raum, Hindernisse, Lärm, Luftverschmutzung, Unfallrisiken und generell entwürdigende Lebensbedingungen sind typisch für die meisten Großstädte der Welt.
Diese Entwicklungen haben nicht nur dazu geführt, dass sich die Zahl der Fußgänger im Stadtverkehr verringert hat, sondern wirkten sich auch auf die soziale und kulturelle Funktion des Stadtraums aus. Die traditionelle Bedeutung der Stadt als Raum der Begegnung und als gesellschaftliches Forum für ihre Bürger wurde eingeschränkt, bedroht oder gar „abgeschafft“.
EINE FRAGE VON LEBEN ODER TOD – SEIT 50 JAHREN
Vor über 50 Jahren veröffentlichte die amerikanische Architekturkritikerin Jane Jacobs ihr einflussreiches Buch The Death and Life of Great American Cities (1961, deutsch: Tod und Leben großer amerikanischer Städte 1963). [1] Darin zeigte sie auf, dass der dramatisch zunehmende Autoverkehr und die städtebauliche Ideologie der Moderne mit ihrer Aufteilung der Städte nach Flächennutzungen und ihrer Bevorzugung freistehender Einzelbauten den Stadtraum und das Stadtleben „töten“ und leblose, menschenleere Orte produzieren würden. Überzeugend beschrieb sie die Qualitäten lebendiger, lebens- und liebenswerter Städte, wie sie sie von ihrer Wohnung aus im New Yorker Greenwich Village beobachten konnte.
Jane Jacobs war die erste prominente Fürsprecherin eines radikalen Wandels in der Stadtplanung. Zum ersten Mal in der Siedlungsgeschichte der Menschheit wurden zu dieser Zeit Städte nicht als Zusammenhang von Stadträumen und Gebäuden, sondern als Nebeneinander von Einzelbauten entworfen. Zusätzlich verdrängte der Autoverkehr auch den letzten Rest von Leben aus dem öffentlichen Stadtraum.
MENSCHLICHES MASS VS. PLANUNGSIDEOLOGIEN
Die Modernisten vernachlässigten das Gesamtbild der Stadt und ihrer öffentlichen Räume und konzentrierten sich auf individuelle Bauten. Ihre Ideologie wurde in den 1960er Jahren vorherrschend und ihre Prinzipien bestimmen heute noch die Planung vieler neuer Stadtgebiete. Wenn ein Team von Städteplanern aufgefordert worden wäre, das öffentliche Leben zwischen den Häusern drastisch zu reduzieren, hätten sie keine effektivere Strategie verfolgen können, als die modernistischen Planungsgrundsätze anzuwenden. Täby, Schweden
Melbourne, Australien
Nuuk, Grönland
MENSCHLICHES MASS VS. INVASION DES AUTOMOBILS
Ab den 1960er Jahren eroberte das Automobil überall auf der Welt in Massen die Städte. Die „autogerecht“ geplante Stadt machte es den Bewohnern unmöglich, die öffentlichen Räume frei und in Sicherheit zu nutzen und so die Stadt zu beleben. Die Ein- und Übergriffe des Automobils waren so zahlreich und so gravierend, dass es fast unmöglich zu ermitteln ist, wie sehr die Invasion des Automobils die urbane Lebensqualität geschädigt hat. Straßenszene in Italien
Straßenszene in Irland
Straßenszene in Bangladesh
FORTSCHRITT ALLEN WIDRIGKEITEN ZUM TROTZ
In den fünf Jahrzehnten seit 1961 haben zahlreiche Forscher und Städtebaukritiker zu den Gutachten, Argumenten und Debatten zum Thema Tod oder Leben in Großstädten beigetragen und es wurden neue Erkenntnisse gewonnen. Auch im praktischen Städtebau sind sowohl im Hinblick auf Planungsprinzipien als auch Verkehrsplanungskonzepte wichtige Fortschritte erzielt worden. Vor allem in den letzten Jahrzehnten haben Stadtplaner in zahlreichen Großstädten rund um die Welt hart daran gearbeitet, bessere Bedingungen für Fußgänger und das Stadtleben insgesamt zu schaffen, indem sie dem motorisierten Verkehr eine geringere Priorität einräumten.
Ebenso konnten in jüngerer Zeit eine Reihe interessanter Abweichungen von modernistischen Planungsidealen beobachtet werden, insbesondere bei Planungen neuer Städte oder Stadtviertel. Glücklicherweise rücken statt Ansammlungen freistehender Gebäude wieder dynamische, gemischt genutzte Stadtgebiete ins Zentrum des Interesses.
Auch die Verkehrsplanung der letzten fünf Jahrzehnte hat eine ähnliche Entwicklung genommen. Verkehrsbauten und -anlagen sind inzwischen differenzierter geworden: Straßen sind zunehmend verkehrsberuhigt und es wurden weitere Verkehrssicherheitsvorkehrungen getroffen. Der motorisierte Verkehr hat jedoch explosionsartig zugenommen, und während in einigen Städten der Welt die Probleme angepackt werden, vermehren sie sich andernorts umso schneller.
WEIT GRÖSSERE ANSTRENGUNGEN NÖTIG
Trotz des negativen Trends zum stärkeren Autoverkehr hat es als Reaktion auf die Vernachlässigung der Qualität des Stadtlebens in den 1960er Jahren auch positive Entwicklungen gegeben.
Es ist nicht verwunderlich, dass man Fortschritte und Verbesserungen vor allem in den wirtschaftlich stärksten Weltgegenden beobachten kann. Vielfach haben aber auch „wohlhabende Enklaven“ bei ihren Planungen für neue Stadtgebiete die modernistische Städtebauideologie verfolgt und in deren Zentren nach innen gekehrte, frei stehende Gebäude errichtet. Weder früher noch heute stand und steht das menschliche Maß in diesen „schönen neuen“ Städten auf der Tagesordnung.
In den sogenannten Entwicklungsländern stellt die Vernachlässigung der menschlichen Dimension ein komplexeres und weitaus ernsteres Problem dar. Der Großteil der Bevölkerung nutzt dort die Straßen und öffentlichen Flächen gezwungenermaßen für viele ihrer täglichen Aktivitäten. Traditionell hat dies im Stadtraum ziemlich gut funktioniert; wenn aber der Autoverkehr zu schnell zunimmt, intensiviert sich der Kampf um einen Platz im öffentlichen Raum. Die Situation für das Stadtleben und den Fußgängerverkehr ist daher in den betroffenen Ländern von Jahr zu Jahr immer prekärer geworden.
DAS MENSCHLICHE MASS – EIN ERNEUT NOTWENDIGES PLANUNGSKRITERIUM
Zum ersten Mal in der Geschichte lebten kurz nach der Jahrtausendwende weltweit mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Städte sind rasch gewachsen und werden in Zukunft noch schneller wachsen. Alte wie neue Städte müssen daher die Annahmen, auf deren Basis Projekte geplant und Prioritäten gesetzt werden, neu definieren und dabei die Bedürfnisse der Menschen stärker in den Fokus rücken. Dieser Fokus ist auch das Hauptthema des vorliegenden Buches. Städtische Auftraggeber sollten Stadtplaner und Architekten dazu auffordern, Verkehrswege und Flächen für Fußgänger in einer integrierten Stadtplanungspolitik zu berücksichtigen, um lebendige, sichere, nachhaltige und gesunde Städte zu schaffen. Ebenso dringend nötig ist es, die soziale Funktion des öffentlichen Raums zu fördern – als Treffpunkt, der zum zwischenmenschlichen Zusammenhalt und zu einer offenen, demokratischen Gesellschaft beiträgt.
GESUCHT: LEBENDIGE, SICHERE, NACHHALTIGE UND GESUNDE STÄDTE
Heute – zu Beginn des 21. Jahrhunderts – können wir in Umrissen bereits einige neue globale Herausforderungen erkennen, die uns deutlich machen, wie wichtig es ist, sich weit eingehender als bisher mit dem Menschen als Maß der Dinge – das heißt der Städte – zu befassen. Die Vision der lebendigen, sicheren, nachhaltigen und gesunden Stadt ist zum allgemein angestrebten Ziel geworden. Ihre vier Grundsätze – Lebendigkeit, Sicherheit, Nachhaltigkeit und Gesundheit – lassen sich bereits weitestgehend verwirklichen, wenn bei städtebaulichen Projekten den Bedürfnissen von Fußgängern und Radfahrern sowie allgemein der Qualität des Stadtlebens oberste Priorität eingeräumt werden. Politisch angestoßene und geförderte Maßnahmen für die ganze Stadt sollten die Einwohner dazu bewegen, ihre Besorgungen so weit wie möglich zu Fuß oder per Rad zu erledigen.
DIE LEBENDIGE STADT
Wenn dies geschieht, wird die Lebendigkeit der Stadt gefördert und die Menschen halten sich gerne in ihr auf. Auf die Bedeutung der Belebtheit des öffentlichen Raums und insbesondere auf die sozialen und kulturellen Möglichkeiten sowie die Anziehungskraft der lebendigen Stadt wird in einem späteren Abschnitt eingegangen werden.
DIE SICHERE STADT
Die Sicherheit auf den Straßen wird erhöht, wenn mehr Menschen im öffentlichen Raum unterwegs sind oder sich dort aufhalten. Eine Stadt, die ihre Bürger mit gut ausgebauten Gehwegen dazu einlädt, möglichst viel zu Fuß zu gehen, sollte natürlich eine halbwegs kompakte Struktur mit kurzen Entfernungen, attraktiven öffentlichen Flächen und verschiedenen städtischen Einrichtungen und Versorgungszentren aufweisen. Diese Elemente beleben die Stadt und schaffen ein Klima der Sicherheit. Erst dann werden die Bewohner und Nutzer der anliegenden Gebäude das Geschehen in der Stadt mit mehr Aufmerksamkeit und Anteilnahme verfolgen.
DIE NACHHALTIGE STADT
Die nachhaltige Stadt wird ganz allgemein gefördert, wenn ein Großteil des Nahverkehrs als „grüne Mobilität“ stattfindet, das heißt, wenn ihre Einwohner mehrheitlich zu Fuß, mit dem Rad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind. Diese Verkehrsarten bieten der lokalen Wirtschaft Marktvorteile und wirken umweltfreundlich, da sie Ressourcen sparen, Schadstoffemissionen verringern und den Lärmpegel senken.
Ein weiterer wichtiger nachhaltiger Aspekt besteht darin, dass die Attraktivität der öffentlichen Verkehrsmittel und -wege steigt, wenn sich die Nutzer beim Gang oder bei der Fahrt mit dem Zweirad von und zu Bus- und Straßenbahnhaltestellen sicher fühlen können. Ein gut geplanter öffentlicher Raum und ein gutes Verkehrssystem gehören somit untrennbar zusammen.
DIE GESUNDE STADT
Wir erleben heute eine Zunahme von Gesundheitsproblemen, weil zu viele Menschen in zahlreichen Ländern der Welt ihre Arbeit und Freizeit meistens sitzend verbringen und von Tür zu Tür jeweils mit dem Auto fahren. Die eindringliche Einladung, das Gehen oder Radfahren in den Alltag zu integrieren, sollte zum nicht verhandelbaren Teil einer universellen städtischen Gesundheitspolitik werden.
VIER ZIELE – EINE POLITIK
Die Berücksichtigung des Menschen als Maß des Städtebaus reflektiert eindeutig die starke Nachfrage nach urbaner Lebensqualität. Verbesserungen zugunsten der Städter sind der direkte Weg zur Verwirklichung der Zukunftsvision einer lebendigen, sicheren, nachhaltigen und gesunden Stadt. Verglichen mit anderen sozialen Investitionen – insbesondere in das Gesundheitswesen und in Infrastrukturen für den motorisierten Verkehr – sind die Kosten einer diesbezüglichen Stadtplanung so gering, dass Städte überall auf der Welt sie finanzieren können, ungeachtet des Entwicklungsstandes und der Finanzkraft der jeweiligen Länder. In jedem Fall sind menschenfreundliches Engagement und Sorgfalt die wichtigsten Investitionen – und die Rendite ist enorm!
Eine lebendige, sichere, nachhaltige und gesunde Stadt ist seit 2007 die wichtigste Zielsetzung von New Yorks Stadtentwicklungsprojekt „Plan NYC“. [2] Hier ein neuer Fahrradweg und verbreiterter Bürgersteig am Broadway in Manhattan (2008 eingeweiht) [3]
Zuerst gestalten wir die Stadt – dann prägt sie uns
STADTPLANUNG UND NUTZUNGSMODELLE – EINE FRAGE DER „EINLADUNG“
Ein Blick auf die Geschichte verschiedener Städte zeigt deutlich, dass urbane Strukturen und Stadtplanung das Verhalten der Menschen beeinflussen und die Art bestimmen, wie Städte funktionieren. Das Römische Imperium gründete in seinen Kolonien Städte nach einem festen, geregelten Raster mit Hauptstraßen, Foren, öffentlichen Gebäuden und Kasernen, um deren militärische Funktion zu betonen. Die kompakte Struktur mittelalterlicher Städte mit kurzen Wegen, Plätzen und Marktplätzen belegte deren Funktion als Zentren des Handels und des Handwerks. Baron Haussmanns ab 1852 umgesetzter Stadterneuerungsplan für Paris mit seinen breiten Boulevards unterstützte die militärische Kontrolle der Bevölkerung und bildete die Bühne für die besondere „Boulevardkultur“ mit Promenaden unter Bäumen und Straßencafés.
MEHR STRASSEN – MEHR VERKEHR
Im 20. Jahrhundert fand die Verbindung zwischen „baulicher Einladung“ beziehungsweise „Ausladung“ und menschlichem Verhalten ihre am weitesten verbreitete Ausprägung. Im Bemühen, den zunehmenden Autoverkehr zu bewältigen, wurde jeglicher freie Stadtraum mit rollendem und stehendem Verkehr belegt. Jede Stadt bekam genau das Verkehrsaufkommen, das ihre Straßen und Freiflächen aufnehmen konnten. Versuche, die Verkehrsdichten durch den Bau von noch mehr Straßen und Parkhäusern zu mindern, hatten noch mehr Verkehr und Staus zur Folge. Das Verkehrsaufkommen ist somit je nach vorhandenen Infrastrukturen fast überall beliebig variabel. Da wir Menschen stets neue Gründe finden, das Auto immer öfter zu nutzen, stellt der Bau von weiteren Straßen geradezu eine Aufforderung dar, mehr Autos zu kaufen und zu fahren.
WENIGER STRASSEN – WENIGER VERKEHR?
Wenn mehr Straßen mehr Verkehr bedeuten, was passiert dann, wenn weniger statt mehr Autos „eingeladen“ werden, am Stadtverkehr teilzunehmen? Ein Beispiel: Das Erdbeben von 1989 in San Francisco hinterließ enorme Schäden an dem viel befahrenen Embarcardero Freeway entlang der Bucht, sodass dieser gesperrt werden musste. Damit verschwand auf einen Schlag eine der Hauptverkehrsadern, die ins Stadtzentrum führten. Noch bevor die Pläne für den Wiederaufbau fertiggestellt waren, bemerkten die Verantwortlichen jedoch, dass der Stadtverkehr auch ohne diese Magistrale wunderbar „floss“; die Menschen hatten sich rasch auf die neue Situation eingestellt und andere Verkehrsstrecken gefunden. Heute verläuft hier statt einer zweistöckigen Schnellstraße eine grüne Allee mit Straßenbahn und breiten Bürgersteigen. Seitdem sind in San Francisco weitere Schnellstraßen zu verkehrsberuhigten Straßen umgebaut worden. Ähnliche Beispiele findet man in Portland (Oregon), Milwaukee (Wisconsin) und Seoul (Korea), wo der Rückbau großer Magistralen das Verkehrsaufkommen verringert hat.
Im Jahr 2002 wurde in London eine „Anti-Stau-Gebühr“ für Fahrten in die Innenstadt eingeführt. Unmittelbar darauf hatte sich das Verkehrsaufkommen in der ausgewiesenen, 24 Quadratkilometer großen Zone schon um 18 Prozent reduziert. Einige Jahre später stieg es allerdings wieder an. Als die Gebühr deswegen von fünf auf acht Pfund angehoben wurde, sank das Verkehrsaufkommen erneut. Die Maut hat aus der „uneingeschränkten Einladung“ eine „eingeschränkte“ gemacht. Es sind in der Innenstadt weniger Autos unterwegs, und mit den Gebühren wurden öffentliche Verkehrsmittel saniert und ausgebaut, sodass sie nun mehr Fahrgäste befördern können. So hat sich das Nutzungsmodell verändert. [4]
MEHR STRASSEN – MEHR VERKEHR. WENIGER STRASSEN – WENIGER VERKEHR
Nach 100 Jahren Autoverkehr ist die Tatsache, dass mehr Straßen zu mehr Verkehr und Verkehrsstaus führen, allgemein bekannt. Shanghai, aber auch andere Großstädte, zeigen dies deutlich.
Als der Embarcadero Freeway, die Hauptverkehrsader von San Francisco, nach dem Erdbeben von 1989 für den motorisierten Verkehr gesperrt wurde, fanden die Bewohner der Region sehr schnell Ausweichstrecken. Heute ist der Embarcadero ein einladender, von Bäumen gesäumter Boulevard mit Straßen-bahnlinie und guten Bedingungen für Freizeitaktivitäten, Fußgänger- und Radfahrerverkehr.
Die Stadt London führte 2002 eine Innenstadtmaut ein. Der motorisierte Verkehr reduzierte sich dadurch drastisch. Die Mautzone wurde später nach Westen erweitert und umfasst heute fast 50 km2. [5]
Verkehr stadteinwärts in die Innenstadtbereiche, 7–18 Uhr
BESSERE BEDINGUNGEN FÜR RADFAHRER – MEHR RADFAHRER
Seit etlichen Jahren baut die Stadt Kopenhagen ihr Straßennetz um und reduziert gezielt die Anzahl von Fahrbahnen und Parkplätzen, um Radfahrern bessere Bedingungen und mehr Verkehrssicherheit zu bieten. Jahr für Jahr sind die Kopenhagener somit „eingeladen“ worden, vom Auto aufs Fahrrad umzusteigen. Das ganze Stadtgebiet wird heute von einem effizienten Radwegenetz durchzogen, das durch Bordsteine von Bürgersteigen und Parkstreifen getrennt wird. An Kreuzungen sind die Radfahrbahnen blau gekennzeichnet und die Ampeln für Radfahrer schalten sechs Sekunden vor denen für Autofahrer auf Grün, was das Radfahren in der Stadt erheblich sicherer macht. Kurz, die Stadt hat ihre Bürger ganz offensichtlich dazu „eingeladen“, Rad zu fahren, was sich deutlich im veränderten Verkehrsverhalten der Menschen bemerkbar macht.
Von 1995 bis 2005 verdoppelte sich das Verkehrsaufkommen von Zweirädern und laut Statistiken erfolgte im Jahr 2008 37 Prozent des städtischen Personenverkehrs von Berufstätigen und Schülern per Fahrrad. Eine Steigerung dieses Prozentsatzes in den nächsten Jahren ist angestrebt. [6]
Im Zuge dieser verbesserten Bedingungen für Radfahrer entsteht eine neue „Fahrradkultur“. Kinder und Senioren, Berufstätige, Schüler und Studenten, Eltern mit Kleinkindern, Bürgermeister und Angehörige des Königshauses sind mit Rädern unterwegs. Inzwischen ist Fahrradfahren die angesagte Art der Fortbewegung in der Stadt – es ist billiger und schneller als andere Transportmittel und gut für die Umwelt und Gesundheit.
Der Ausbau von Radfahrwegen an Straßenrändern in New York begann 2007. 9th Avenue in Manhattan im November 2007 (vor Ausbau).
9th Avenue in Manhattan April 2008 mit neuem Radfahrstreifen nach Kopenhagener Vorbild. In nur zwei Jahren verdoppelte sich in New York das Verkehrsaufkommen von Fahrrädern.
EINLADUNG FÜR RADFAHRER: BEISPIEL KOPENHAGEN
Über viele Jahre hat die Stadt Kopenhagen den Fahrradverkehr durch städtebauliche Änderungen gefördert. Ein großes Netz guter Radwege bildet heute ein sicheres und effektives alternatives Verkehrswegesystem. Bereits 2008 fuhren 37 Prozent der Kopenhagener mit dem Rad zur Arbeit oder zur Schule. Angestrebt sind 50 Prozent. [7]
Auf dem Weg von und zur Arbeit oder Schule in Kopenhagen (2008)
Im Jahr 2005 waren während der Stoßzeiten mehr Fahrräder als Autos im Stadtzentrum von Kopenhagen unterwegs.
Die Entwicklung einer regelrechten Radfahrerkultur in Kopenhagen ist das Ergebnis jahrelanger Bemühungen, die Bewohner zum Radfahren in der Stadt zu bewegen. Radfahren ist inzwischen unter allen Bevölkerungsgruppen zur Routine geworden. Über 50 Prozent aller Kopenhagener fahren täglich mit dem Rad. [8]
BESSERE STADTRÄUME, MEHR STADTLEBEN
Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass man auch auf dem Gebiet des fußläufigen Verkehrs und Stadtlebens eine direkte Verbindung zwischen „baulicher Einladung“ und Nutzungsmustern nachweisen kann. Unzählige Straßen und Gassen in historischen Städten wurden beispielsweise vor allem für Fußgänger dimensioniert und sind mancherorts nach wie vor zu eng für Autos oder bestehen weiter, weil die lokale Wirtschaft und soziale Netzwerke auf dem Zufußgehen basieren.
In dieser Hinsicht nimmt Venedig unter den historischen Städten eine Sonderstellung ein, denn sie ist schon immer eine Stadt für Fußgänger gewesen. Selbst heute gehört die Stadt zu den wenigen Großstädten der Welt, in denen enge Gassen und zahlreiche Kanalbrücken Pkws die Zufahrt verwehren. Im Mittelalter war Venedig die größte und reichste Stadt Europas. Zusammen mit der Tatsache, dass sie über Jahrhunderte für den Fußgängerverkehr gebaut und umgebaut wurde, macht der einstige Reichtum Venedig zu einem besonders interessanten Modell für die Planung einer Stadt nach menschlichem Maß.
Venedig hat alles: dichte Bebauung, kurze Wege, wunderschöne Plätze, weitgehend gemischte Nutzungen der Stadtviertel, belebte Erdgeschosse mit Geschäften und Lokalen, herausragende Architektur, sorgfältig gestaltete Details – und all das in menschengerechten Dimensionen. Seit Jahrhunderten bietet die Stadt den reizvollen baulichen Rahmen für ein vielfältiges Stadtleben und lädt seine Bewohner und Besucher dazu ein, zu Fuß zu gehen.
Glücklicherweise können wir heute bereits die Ergebnisse dieser Art von Einladungen in verschiedenen Städten studieren, die früher unter Vernachlässigung der menschlichen Dimension vom motorisierten Verkehr beherrscht wurden und nunmehr seit Jahrzehnten gezielte Maßnahmen durchgeführt haben, um bessere Bedingungen für Fußgänger zu schaffen und die Innenstädte zu beleben.
Seit die New Road in Brighton, England zur Fußgängerzone umgebaut wurde hat sich der Fußgängerverkehr um 62 Prozent erhöht und sechsmal mehr Menschen halten sich dort für längere Zeit auf. Die Abbildungen zeigen die Straße vor …
… und nach dem Umbau im Jahr 2006. [9]
Die zu diesem Zweck durchgeführten Umbauten in Kopenhagen, Dänemark sowie in Melbourne, Australien sind besonders interessant: Diese Städte haben die Bedingungen für Fußgänger und die Belebtheit ihrer Stadtzentren nicht nur systematisch verbessert, sondern diese Entwicklungen auch aufgezeichnet, sodass sie die baulichen Veränderungen und den Umgang der Bevölkerung mit den neu gestalteten Orten dokumentieren können.
KOPENHAGEN: BESSERE STADTRÄUME – MEHR STADTLEBEN
Nach vielen Jahren, in denen Fußgängerflächen immer stärker beschnitten wurden, ergriff Kopenhagen Anfang der 1960er Jahre als erste europäische Stadt die Initiative und begann den Autoverkehr und Parkplätze in der Innenstadt zu reduzieren, um dem Stadtleben mehr Raum zu geben. Die historische Hauptstraße, die Strøget, wurde bereits 1962 zur Fußgängerzone umgestaltet. Es herrschte allgemeine Skepsis: Würde so etwas so weit im Norden Europas Erfolg haben?
Schon nach kurzer Zeit zeigte sich, dass die Bewohner die neue Fußgängerzone schneller und in größerer Zahl akzeptierten und nutzten als zuvor angenommen. Allein im ersten Jahr wurden dort 35 Prozent mehr Fußgänger gezählt als vorher; es war bequemer, dort zu Fuß einzukaufen und es gab mehr Platz. Seitdem sind weitere Straßen in autofreie Zonen umgewandelt worden und einstige Parkplätze zu Orten, an denen sich das öffentliche Leben abspielt. Von 1962 bis 2005 stieg die Quadratmeterzahl autofreier Zonen in Kopenhagen von rund 15.000 auf über 100.000 Quadratmeter. [10]
In der gesamten Zeit begleiteten Forscher der Architekturfakultät der Royal Danish Academy of Fine Arts die Entwicklung des Stadtlebens in den betroffenen Bereichen. Ihre 1968, 1986, 1995 und 2005 durchgeführten, ausführlichen Studien dokumentieren signifikante Veränderungen im Nutzungsverhalten der Bevölkerung. Die zahlreichen „Einladungen“ zum Gehen, Sitzen und Stehen werden von immer mehr Menschen angenommen, die in die Stadt kommen und dort verweilen. [11]
Dieses Innenstadtmodell wird nun auch in Außenbezirken umgesetzt, wo in den letzten Jahren viele einst vom Verkehr dominierte Straßen und Plätze in menschenfreundliche Aufenthaltsorte umgestaltet worden sind. Kopenhagen hat unmissverständlich gezeigt, dass „bauliche Einladungen“ die Präsenz von Fußgängern erhöhen und die Stadt beleben.
MELBOURNE: SCHÖNERE STRASSEN, MEHR PLÄTZE – MEHR STADTLEBEN
1980 bildete Melbournes Innenstadt ein willkürliches Sammelsurium von Bürogebäuden und Hochhäusern: leblos und nutzlos. Der Volksmund taufte sie Doughnut – aufgrund der leeren Mitte. 1985 wurde ein umfassendes Stadterneuerungsprogramm aufgelegt, mit dem Ziel, die Innenstadt zu einem lebendigen Anziehungspunkt für die über drei Millionen Einwohner des Großraums Melbourne zu machen. 1993/1994 wurden die Probleme analysiert, die Personen, die im Stadtzentrum unterwegs waren, gezählt und ein auf zehn Jahre angelegtes ehrgeiziges Erneuerungsprogramm entworfen.
Von 1994 bis 2004 wurde eine eindrucksvolle Zahl an Bauvorhaben realisiert; dabei entstanden zehn Mal mehr Wohneinheiten in der Innenstadt als in den Jahren zuvor, was die Einwohnerzahl des sanierten Gebiets von 1000 (1992) auf fast 10.000 (2002) ansteigen ließ. Es gab 67 Prozent mehr eingeschriebene Studenten in der Innenstadt und unweit davon. Neue Plätze entstanden, darunter der architektonisch bedeutende Federation Square, kleine Arkaden, Gassen und Promenaden am Fluss Yarra wurden für Fußgänger und Freizeitaktivitäten erschlossen. [13]
Am bemerkenswertesten war jedoch die Absicht der Stadtplaner, den Einwohnern die Möglichkeit zu bieten, viele Bereiche der Stadt zu Fuß zu erreichen. Seit ihrer Gründung war Melbourne eine typische englische Kolonialstadt mit breiten Boulevards und regelmäßigen orthogonalen Straßenblöcken. Schon früh beschlossen die Planer der Stadterneuerung gezielt Eingriffe zur Förderung des Fußgängerverkehrs. Bürgersteige wurden verbreitert, neue aus lokalem Naturstein (Bluestone) angelegt und eigens entworfene Straßenmöbel aus guten Materialien installiert. Ebenso wurde eine Strategie zur Begrünung der Stadt entworfen, die vorsah, jährlich 500 neue Bäume zu pflanzen, um den Charakter der Bürgersteige zu unterstreichen und Schatten zu spenden. Die Ergebnisse des Kunst-in-der-Stadt-Programms und das neue Straßenbeleuchtungssystem ergänzen das Bild einer Stadt, die Einwohner und Besucher mit diesen Mitteln gezielt in die Stadt geholt hat – und zwar als Fußgänger, was zwei groß angelegte Untersuchungen (von 1994 und 2004) belegen. Insgesamt kommen heute tagsüber 39 Prozent mehr Menschen zu Fuß in die Innenstadt, spät abends sogar 50 Prozent mehr – interessanterweise nicht nur in die breiten Hauptstraßen, sondern in das gesamte Stadtzentrum. Die Massen strömen dorthin und bleiben dort auch viel länger als früher, denn neue Plätze, breite Bürgersteige und renovierte Passagen umfassen Cafés, Restaurants und andere Einrichtungen, die zum Verweilen einladen. An Werktagen ist die Innenstadt nun fast drei Mal so belebt wie zuvor. [14]
DOKUMENTATION DES STADTLEBENS – WICHTIGES INSTRUMENT DER STADTENTWICKLER
Die Studien aus Melbourne und Kopenhagen sind besonders interessant, da regelmäßig durchgeführte Untersuchungen gezeigt haben, dass bauliche Verbesserungen der Verkehrswege und öffentlichen Flächen tatsächlich neue Nutzungsmuster entstehen lassen und mehr Leben in die Stadt bringen. Der direkte kausale Zusammenhang zwischen baulich-struktureller Qualität und der Lebendigkeit einer Stadt ist somit in Melbourne und Kopenhagen exemplarisch nachgewiesen worden.
BESSERE STADTRÄUME, MEHR STADTLEBEN – STÄDTE, STADTRAUM, DETAILS
Die Art, wie der Stadtraum durch die Menschen genutzt wird, die Qualität dieses Raums und die Berücksichtigung der menschlichen Dimension in der Stadtplanung – all dies hängt zusammen und lässt sich in jedem Maßstab darstellen. Nicht nur eine erneuerte Stadt, auch einzelne renovierte Bauten oder ein neu möblierter Raum können zu ganz neuen Nutzungen einladen.
Der Fluss durch die Stadt Aarhus in Dänemark wurde in den 1930er Jahren eingemauert und mit einer Autostraße überbaut. Von 1996 bis 1998 wurden nach Entfernung der Überbauung beidseits des Wasserlaufs Uferpromenaden als Freizeit- und Erholungsanlagen geschaffen. Seitdem sind diese mehr als alle anderen öffentlichen Flächen in Aarhus bevölkert und belebt. Der Umbau war so populär und wirtschaftlich erfolgreich – der Wert der Immobilien am Fluss hat sich mehr als verdoppelt –, dass ein weiterer großer, neu gestalteter Uferabschnitt 2008 fertiggestellt wurde. Diese „städtebaulichen Einladungen“ haben zu ganz neuen Nutzungen des Stadtraums geführt.
Einfache Maßnahmen wie das Aufstellen neuer Sitzbänke am Osloer Aker-Brygge-Hafen können ebenfalls das Nutzungsverhalten ändern. 1998 wurden die alten Bänke durch neue ersetzt, die mehr als doppelt so viele Sitzplätze bieten (+129 Prozent). Untersuchungen von 1998 vor und 2000 nach dieser Veränderung haben gezeigt, dass sie tatsächlich von entsprechend mehr Menschen genutzt werden (+122 Prozent). [16]
Der durch Dänemarks zweitgrößte Stadt Aarhus fließende Fluss war Jahrzehnte lang durch eine Straße überbaut, bevor er 1998 wieder freigelegt wurde.
Seit dem Umbau der Uferbereiche zu Erholungsflächen bilden diese die beliebtesten Aufenthaltsorte in Aarhus und die Mieten und Immobilienpreise am Fluss gehören zu den höchsten in der Stadt.
Auch bescheidenere Maßnahmen können messbare Ergebnisse zeitigen. Die Verdoppelung der Sitzbankplätze im Bezirk Aker Brygge in Oslo, hat auch zu einer Verdoppelung der Nutzerzahlen geführt. [17]
Aker-Brygge-Viertel, Oslo
Jeden Sommer wird die Schnellstraße entlang der Seine in Paris eine Zeit lang zur autofreien „Paris Plage“, zum „Strand von Paris“, der dann von Tausenden von Fußgängern erobert wird, die jedes Jahr Monate lang auf dieses Ereignis warten.
DIE VON MENSCHEN BELEBTE STADT – EINE FRAGE DER „EINLADUNG“
Wenn die Stadt verschönerte öffentliche Orte anbietet, werden diese auch mehr genutzt. Das gilt offenbar gleichermaßen für große Plätze wie für kleinere Flächen bis hin zu einzelnen Sitzbänken oder Stühlen. Es gilt ebenso in verschiedenen Kulturkreisen und Ländern der Welt, in unterschiedlichen Klimazonen und gesellschaftlichen Situationen. Städtebauliche Planungen können gezielt Flächennutzungsmuster verändern. Ob die Menschen dazu verlockt werden, durch die Stadt zu flanieren und sich auf öffentlichen Plätzen oder in Fußgängerzonen aufzuhalten, hängt davon ab, wie sorgfältig und menschenorientiert die Planer ihre „baulichen Einladungen“ ausgearbeitet haben.
Die Stadt als Ort für Begegnungen
BEIM GEHEN GEHT ES UM MEHR ALS NUR GEHEN
„Leben zwischen Häusern“ ist ein Konzept, das die verschiedensten Aktivitäten der Stadtbewohner umfasst: zielstrebige Gänge von Ort zu Ort, Spaziergänge, kurze oder längere Aufenthalte, Schaufensterbummel, Treffen und Gespräche, Sport, Tanzen, Ausruhen, Straßenhandel, Kinderspiel, Betteln, Straßenkunst und -musik. [18]
Das Gehen ist immer der Anfang. Der Mensch ist zum Gehen und Laufen geboren und alle kleinen und großen Ereignisse unseres Lebens beginnen, wenn wir buchstäblich unter Menschen gehen. Das Leben in all seiner Vielfalt entfaltet sich vor unseren Augen, wenn wir zu Fuß unterwegs sind. In lebendigen, sicheren, nachhaltigen und gesunden Städten muss es entsprechend gute Möglichkeiten geben, wenn dies geschehen soll. Wir sollten aber noch weiter denken, in dem Wissen, dass zahlreiche gesellschaftlich und gesundheitlich wertvolle Angebote auf natürliche Weise entstehen, wenn man „das Leben zu Fuß“ fördert.
In den Jahrzehnten, in denen der Fußgängerverkehr als Domäne der Verkehrsplaner galt, wurde die Fülle vorhandener Nuancen und Möglichkeiten des Stadtlebens weitgehend übersehen oder bewusst ignoriert. Die Schlagworte hießen Fußgängerverkehr, Fußgängerströme, Bürgersteigkapazität und sichere Straßenübergänge.
In Städten geht es jedoch beim Gehen um sehr viel mehr als nur das Gehen an sich! Es bietet die Chance für direkte Begegnungen von Mensch zu Mensch, Aufenthalte im Freien, Erlebnisse und Informationen und viele andere Freuden des Lebens. Ein Gang durch die Stadt ist eine besondere Form der Gemeinschaftspflege unter Menschen, die den öffentlichen Raum als Plattform und Rahmen nutzen.
ES GEHT DABEI VOR ALLEM UM DIE STADT ALS ORT FÜR BEGEGNUNGEN
Bei genauerem Lesen der bereits erwähnten Studien erkennt man, dass in all den Städten, in denen die Bedingungen für den Fußgängerverkehr verbessert wurden, mehr Menschen öfter und länger zu Fuß in der Stadt unterwegs waren und die menschlichen Begegnungen und Freizeitaktivitäten signifikant zunahmen.
Wie bereits erwähnt, bringen mehr Straßen auch mehr Verkehr mit sich. Ein besseres Radwegenetz lädt mehr Menschen zum Radfahren ein. Durch eine Verbesserung der Verkehrssituationen für Fußgänger wird aber noch mehr als das erreicht: Die Stadt wird lebendiger und kommunikativer! Deshalb kann die Debatte über Verkehrsfragen erweitert und über Wohn- und Lebensbedingungen sowie menschenfreundliche Angebote und Anreize zur Belebung der Stadt gesprochen werden.
FACETTENREICHES STADTLEBEN
Das Stadtleben ist facettenreich und findet Ausdruck in vielen verschiedenen Aktivitäten, die nacheinander oder gleichzeitig ablaufen: vom Gang zu Läden und anderen Zielen über Ruhepausen bis hin zu Treffen mit Freunden im Straßencafé. Ungeplantes, spontanes Handeln und unvorhersehbare Erlebnisse machen den Gang und den Aufenthalt in der Stadt so attraktiv. Wir sind unterwegs, beobachten das Geschehen und die Menschen auf der Straße und werden dabei von etwas oder von Jemandem zum Innehalten oder Mitmachen angeregt.
NOTWENDIGE AKTIVITÄTEN – UNTER ALLEN UMSTÄNDEN
Die Fülle der verschiedenen Aktivitäten im öffentlichen Raum weist ein Grundmuster auf. Man entdeckt es, wenn man die wichtigsten Aktivitäten nach dem Grad ihrer Notwendigkeit auflistet. Am Anfang der Liste stehen dann die Tätigkeiten, die für die meisten Stadtbewohner zum Pflichtprogramm gehören: zur Arbeit oder zur Schule gehen, auf den Bus/die Straßenbahn warten, Waren ausliefern, Lebensmittel einkaufen, et cetera – und zwar unter allen Umständen, ungeachtet der Bedingungen.
FREIWILLIGE AKTIVITÄTEN – NUR BEI GUTEN BEDINGUNGEN
Am Ende der Liste stehen dann die selbst gewählten, weitgehend der Erholung und dem Zeitvertreib dienenden Aktivitäten: im Park spazieren gehen; stehen bleiben, um sich in der Stadt umzuschauen; sich hinsetzen, um die Aussicht oder die Sonne zu genießen. Weitaus die meisten der attraktivsten und populärsten Aktivitäten gehören zu diesem Fakultativprogramm, und für sie braucht es entsprechend attraktive Räume und öffentliche Flächen.
Wenn starker Regen, Sturm oder Schneetreiben Spaziergänge oder Erholung im Freien unmöglich machen, wirkt die Stadt beinahe ausgestorben und es passiert kaum etwas. Bei mäßig gutem Wetter ist schon mehr los. Bei Sonnenschein und Wärme aber sind die Menschen in den Stadträumen zu sehen, wo sie entweder ihre notwendigen Tätigkeiten absolvieren oder auch selbst gewählten Aktivitäten nachgehen. Fußgänger setzten sich dann gerne irgendwo hin, um etwas zu essen oder sich auszuruhen, oder die Menschen verlassen ihre Wohnungen, um das Leben im Freien zu genießen. Stühle werden auf die Straße gestellt und Kinder spielen auf den Bürgersteigen.
VIELFÄLTIGES STADTLEBEN HÄNGT WEITGEHEND VOM VORHANDENEN ANGEBOT AB
Aus gutem Grund wird das Klima als wichtiger Faktor für Aktivitäten im Freien genannt. Wenn es zu kalt, zu heiß oder zu nass ist, sind sie nur eingeschränkt oder gar nicht möglich. Ein weiterer Faktor ist die physische Beschaffenheit und Attraktivität der öffentlichen Stadträume unter freiem Himmel. Deren architektonische Struktur, Gestaltung und eventuell Bepflanzung beeinflussen die Art des Stadtlebens, das sich dort abspielt. „Einladungen“ zu anderen Aktivitäten im Freien als reines Herumlaufen sollten geschützten, angenehmen Aufenthalt – mit geeigneter „Möblierung“ – bieten und ansprechend anzuschauen sein.
Die zitierten Studien zum Thema Stadtleben dokumentieren unter anderem die zahlreichen möglichen „Einladungen“ an die Stadtbewohner, nicht nur zu Fuß zu gehen, sondern die Stadt auch auf andere, vielfältige Weise zu beleben.
VIELFÄLTIGES STADTLEBEN ALS LANGE TRADITION UND MODERNE STADTENTWICKLUNGSPOLITIK
Städte und urbane Ballungsgebiete bilden die Kulissen für spezifische Aktivitäten. In den Straßen der Innenstädte von Tokio, London, Sydney und New York sind die Menschen zu Fuß unterwegs, weil dort die Verkehrswege für Autos zu schmal sind. In Urlaubsregionen, wo Vergnügungen, Spiel und Sport, gutes Essen und die Besichtigung von Sehenswürdigkeiten den Besuchern am wichtigsten sind, werden die Menschen zum Flanieren und Bleiben eingeladen. Alte Kulturstädte wie Venedig – aber auch Großstädte wie Kopenhagen, Lyon oder Melbourne – bieten den Genuss eines abwechslungs- und facettenreichen Stadtlebens mit guten Bedingungen für Fußgänger und Ruhepausen an attraktiven Orten. Zahlreiche weitere Städte – kleine und große – haben in den letzten Jahrzehnten die baulichen und verkehrlichen Voraussetzungen für belebte Stadträume geschaffen. Der Fußgängerverkehr hat zugenommen, ebenso wie die Anzahl von Flächen und Einrichtungen zur Freizeitgestaltung.
WECHSELSPIEL ZWISCHEN STADTRAUM UND STADTLEBEN: BEISPIEL NEW YORK
[19]