England zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Die junge Belle wird aus Ihrem gewohnten Leben gerissen und verschleppt. Sie steht vor der brutalen Entscheidung – gibt sie sich ihrem Schicksal hin oder kämpft sie für ihre Träume?
Die Bände der Belle Trilogie handeln von den Lebenswegen der jungen Belle und ihrer Tochter vor dem spannenden Hintergrund der englischen Geschichte.
Doch Du wirst nie vergessen
London 1910. Obwohl Belle in einem Bordell aufwächst, erlebt sie eine behütete Kindheit. Als sie mit fünfzehn Jahren den brutalen Mord an einer Prostituierten beobachtet, gerät sie jedoch selbst in die Fänge von Mädchenhändlern und wird zur Prostitution gezwungen. Für Belle beginnt eine grauenvolle Odyssee – und nur ihr Traum von der Heimat gibt ihr noch Kraft …
Der Zauber eines frühen Morgens
England 1914. Wer an Belles schönem Hutsalon vorbeikommt, ahnt nichts von der düsteren Vergangenheit seiner Besitzerin: Nach qualvollen Jahren endlich aus der Prostitution entkommen, hat sich Belle nun ihren Traum vom Hutladen erfüllt und ist glücklich verheiratet. Doch der Erste Weltkrieg wirft seine Schatten voraus. Belle wird bald als Krankenschwester nach Frankreich geschickt – und trifft dort inmitten der Kriegswirren auf Etienne, ihre unvergessene große Liebe. Zerrissen zwischen verbotener Leidenschaft und aufrichtiger Treue, wird Belle erneut vom Schicksal geprüft …
Am Horizont ein helles Licht
Mariette wird nach einer Liebelei von ihren Eltern zu Freunden nach London geschickt. Die junge Frau fühlt sich wie in eine andere Welt versetzt: Lebte ihre Familie in Neuseeland in einfachen Verhältnissen, ohne elektrischen Strom und fließend warmes Wasser, so ist ihr neues Zuhause im Herzen der Großstadt mit allen Annehmlichkeiten der Zeit ausgestattet. Mariette genießt es außerdem, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Doch als kurz vor ihrer geplanten Rückkehr nach Neuseeland der Zweite Weltkrieg ausbricht und sie auf der Insel festsitzt, weiß Mariette nicht, was sie tun soll – bis ein Agent des Britischen Geheimdienstes sie bittet, bei einer gefährlichen Aktion zu helfen …
Lesley Pearse wurde in Rochester, Kent, geboren und lebt mit ihrer Familie in Bristol. Ihre Romane belegen in England und vielen weiteren Ländern regelmäßig die ersten Plätze der Bestsellerlisten. Neben dem Schreiben engagiert sie sich intensiv für die Bedürfnisse von Frauen und Kindern und ist Präsidentin des Britischen Kinderschutzbundes.
DIE BELLE TRILOGIE
Aus dem Englischen von Britta Evert
BASTEI ENTERTAINMENT
Digitale Originalausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2011 (»Doch Du wirst nie vergessen«), Copyright © 2012 (»Der Zauber eines frühen Morgen«) und Copyright © 2014 (»Am Horizont ein helles Licht«) by Lesley Pearse
Titel der amerikanischen Originalausgaben:
»Belle«, »The Promise« und »Survivor«
Copyright © 2012 (»Doch Du wirst nie vergessen«), Copyright © 2013 (»Der Zauber eines frühen Morgen«) und Copyright © 2015 (»Am Horizont ein helles Licht«) by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat/Projektmanagement: Esther Madaler
Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven © shutterstock/Refat, © shutterstock/tkemot
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-7325-1995-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
DOCH DU WIRST NIE VERGESSEN
Roman
Aus dem Englischen von Britta Evert
FÜR HARLEY MACDONALD, MEINEN BEZAUBERNDEN NEUEN ENKELSOHN, GEBOREN AM 5. MÄRZ 2010.
UND FÜR JO UND OTIS, DIE MICH NOCH EINMAL ZU SOLCH EINER GLÜCKLICHEN UND STOLZEN OMA GEMACHT HABEN.
LONDON, 1910
»Du bist bestimmt eine Hure, du wohnst doch in einem Bordell!«
Die fünfzehnjährige Belle wich einen Schritt vor dem rothaarigen, sommersprossigen Jungen zurück und starrte ihn erzürnt an. Er war ihr auf der Straße nachgelaufen, um ihr das Haarband zurückzugeben, das ihr heruntergefallen war. Das war an und für sich schon ungewöhnlich genug in dem Gedränge auf den Straßen von Seven Dials, wo praktisch jeder alles mitgehen ließ, was nicht niet- und nagelfest war. Dann hatte er sich als Jimmy Reilly vorgestellt, der Neffe von Garth Franklin, dem Wirt des Ram’s Head. Er war erst vor Kurzem nach Seven Dials gekommen. Nachdem sie eine Weile geplaudert hatten, fragte Jimmy sie, ob sie nicht Freunde werden könnten. Belle war hingerissen; ihr gefiel sein Aussehen, und er schien ungefähr in ihrem Alter zu sein. Aber dann hatte er mit seiner Frage, ob es ihr nichts ausmache, eine Hure zu sein, alles verdorben.
»Wenn ich in einem Palast lebte, wäre ich deshalb nicht gleich eine Königin«, gab sie zornig zurück. »Stimmt, ich wohne in Annie’s Place, aber ich bin keine Hure. Annie ist meine Mutter!«
Jimmy sah sie zerknirscht aus seinen samtbraunen Augen an. »Tut mir leid, da hab ich wohl irgendwas nicht richtig mitbekommen. Mein Onkel hat mir erzählt, dass Annies Laden ein Bordell ist, und als ich dich rauskommen sah …« Er brach verlegen ab. »Ich wollte bestimmt nicht deine Gefühle verletzen.«
Jetzt war Belle noch verwirrter. Noch nie war ihr jemand begegnet, der auf ihre Gefühle Rücksicht nahm. Ihre Mutter ganz sicher nicht, und die Mädchen im Haus schon gar nicht. »Schon gut«, erwiderte sie leicht verunsichert. »Du wohnst noch nicht besonders lange hier, woher hättest du es wissen sollen? Behandelt dein Onkel dich gut?«
Jimmy zuckte die Achseln.
»Er ist gemein«, stellte Belle fest, die vermutete, dass Jimmy schon Bekanntschaft mit den Fäusten seines Onkels gemacht hatte. Dass Garth Franklin ein aufbrausendes Temperament hatte, war kein Geheimnis. »Musst du bei ihm bleiben?«
»Meine Mutter hat immer gesagt, dass ich zu ihm gehen soll, wenn ihr irgendwas passiert. Sie ist letzten Monat gestorben, und Onkel hat die Beerdigung bezahlt und gemeint, dass ich zu ihm kommen soll, um sein Gewerbe zu erlernen.«
Belle merkte an seinem bedrückten Tonfall, dass Jimmy sich verpflichtet fühlte, bei seinem Onkel zu bleiben. »Das mit deiner Mutter tut mir leid«, sagte sie. »Wie alt bist du?«
»Fast siebzehn. Mein Onkel sagt, ich soll boxen, um Muskeln aufzubauen«, antwortete Jimmy mit einem veschmitzten Grinsen. »Ma hat immer gesagt, dass es für einen Mann besser ist, Verstand zu haben statt Muskeln, aber vielleicht kann ich ja beides haben.«
»Dann geh lieber nicht davon aus, dass alle Mädchen Huren sind, sonst lebst du nicht lange genug, um Muskeln zu kriegen«, zog Belle ihn auf. Jimmy gefiel ihr immer besser; er hatte ein nettes Lächeln und eine freundliche Art, die ihn von allen anderen Jungen in der Gegend unterschied.
Seven Dials war zwar nicht weit von den schicken Läden der Oxford Street, den Theatern der Shaftesbury Avenue oder der Pracht des Trafalgar Square entfernt, doch Millionen Meilen von Vornehmheit. Innerhalb der letzten zwanzig Jahre mochten unzählige verschachtelte Mietskasernen und Zinsburgen abgerissen worden sein, doch mit dem Obst- und Gemüsemarkt von Covent Garden im Zentrum und all den engen Gassen und Hinterhöfen ringsum waren die neueren Gebäude bald genauso schäbig geworden, wie es die alten gewesen waren. Ihre Bewohner waren zum Großteil der Bodensatz der Gesellschaft – Diebe, Prostituierte, Bettler, Ganoven und Schläger – und lebten Seite an Seite mit den Ärmsten der Armen, die die niedrigsten Arbeiten verrichteten – Straßenkehrer, Lumpensammler und Hilfsarbeiter. An diesem grauen, kalten Januartag, an dem sich die meisten Leute mit kaum mehr als Lumpen gegen die Kälte schützen konnten, bot der Stadtteil einen deprimierenden Anblick.
»Wenn ich das nächste Mal das Haarband eines hübschen Mädchens rette, passe ich gut auf, was ich zu ihr sage«, sagte Jimmy. »Du hast wirklich schönes Haar. So glänzende schwarze Locken habe ich noch nie gesehen, und du hast auch sehr schöne Augen.«
Belle lächelte. Sie wusste, dass ihr langes, lockiges Haar das Beste an ihr war. Die meisten Leute glaubten, dass sie es über Nacht eindrehte und mit Öl bestrich, damit es so glänzte, aber es war von Natur aus so – sie brauchte es nur zu bürsten. Ihre blauen Augen hatte sie von Annie, aber für ihr Haar musste sie wohl ihrem Vater danken, denn die Haare ihrer Mutter waren hellbraun.
»Vielen Dank auch, Jimmy«, sagte sie. »Mach nur weiter den Mädchen Komplimente, dann wirst du hier ganz schnell Erfolg haben.«
»Daheim in Islington, wo ich herkomme, reden die Mädchen nicht mit einem wie mir.«
Belle war kaum jemals aus Seven Dials herausgekommen, aber sie wusste, dass in Islington angesehene Bürger der Mittelschicht lebten. Aufgrund seiner Bemerkung und der Tatsache, dass sein Onkel für die Beerdigung aufgekommen war, nahm sie an, dass Jimmys Mutter dort als Hausangestellte gearbeitet hatte.
»War deine Mutter Köchin oder Haushälterin?«, erkundigte sie sich.
»Nein, sie war Schneiderin und hat ganz gut verdient, bis sie krank wurde«, sagte er.
»Und dein Vater?«
Jimmy zuckte die Achseln. »Ist abgehauen, ungefähr zu der Zeit, als ich geboren wurde. Ma hat gesagt, dass er ein Künstler war. Onkel Garth bezeichnet ihn als Arschloch. Wie auch immer, ich kenne ihn nicht und will ihn auch gar nicht kennenlernen. Ma hat immer gesagt, was für ein Glück es sei, dass sie eine gute Schneiderin ist.«
»Sonst hätte sie vielleicht auch in Annies Laden arbeiten müssen, hm?«, erwiderte Belle verschmitzt.
Jimmy lachte. »Du bist schlagfertig, das gefällt mir«, sagte er. »Na, wie ist es? Können wir Freunde sein?«
Belle sah ihn einen Moment lang nur an. Er war ein paar Zentimeter größer als sie, hatte feine Gesichtszüge und auch eine ziemlich feine Sprache. Nicht vornehm wie bei einem echten Gentleman, aber jedenfalls war es nicht die derbe, mit Londoner Slang durchsetzte Ausdrucksweise, die sich fast alle jungen Burschen in Seven Dials aneigneten. Sie vermutete, dass er seiner Mutter sehr nahegestanden hatte und von den Alkoholexzessen, der Gewalt und den Lastern, die hier an der Tagesordnung waren, ferngehalten worden war. Er gefiel ihr, und sie konnte einen guten Freund genauso dringend brauchen wie er.
»Sehr gern«, sagte sie und streckte ihren kleinen Finger aus, genau wie Millie daheim in Annies Laden es immer tat, wenn sie mit jemandem Freundschaft schloss. »Du musst mir auch deinen kleinen Finger geben«, sagte sie mit einem Lächeln, und als sich sein kleiner Finger um ihren wand, schüttelte sie seine Hand. »Freundschaft für immer! Versprochen ist versprochen und wird nicht gebrochen«, deklamierte sie.
Jimmy reagierte mit einem leicht verklärten Grinsen, das ihr verriet, dass ihm gefiel, was sie gesagt hatte. »Gehen wir doch irgendwohin«, schlug er vor. »Gefällt dir der St. James’s Park?«
»Da bin ich noch nie gewesen«, erwiderte sie. »Aber ich sollte jetzt lieber wieder nach Hause gehen.«
Es war kurz nach neun Uhr morgens, und Belle hatte sich wie so oft heimlich hinausgestohlen, um frische Luft zu schnappen, während alle anderen im Haus noch schliefen.
Vielleicht spürte er, dass sie keine große Lust hatte, nach Hause zu gehen, und einen Spaziergang recht verlockend fand, denn er nahm ihre Hand, legte sie in seine Armbeuge und ging los. »Es ist wirklich noch früh, niemand wird uns vermissen«, sagte er. »Im Park gibt es einen See und Enten, und ein bisschen frische Luft wird uns guttun. Es ist nicht weit.«
Freudige Erregung stieg in Belle auf wie kleine Luftblasen. Alles, was sie zu Hause erwartete, war Nachttöpfe zu leeren und Kohle zu schleppen, um Feuer zu machen. Es bedurfte keiner weiteren Überredung von Jimmy, um sie zum Mitgehen zu bewegen, und das Einzige, was sie bedauerte, war, dass sie nicht ihren schönen königsblauen Umhang mit der pelzgefütterten Kapuze angezogen hatte. In dem alten grauen kam sie sich furchtbar schäbig vor.
Während sie durch die schmalen Gassen Richtung Charing Cross und von dort weiter zum Trafalgar Square liefen, erzählte Jimmy ihr mehr von seiner Mutter und brachte Belle mit seinen kleinen Geschichten über die reichen Kundinnen, für die sie geschneidert hatte, zum Lachen.
»Also, diese Mrs. Colefax hat Ma echt wahnsinnig gemacht. Sie war ungeheuer fett, mit Hüften wie ein Nilpferd, aber sie behauptete ständig, Ma würde ihr zu viel für den Stoff berechnen und aus den Resten etwas für sich selbst anfertigen. Eines Tages platzte Ma der Kragen. ›Mrs. Colefax‹, sagte sie, ›ich muss schon mein ganzes Geschick aufwenden, um aus sechs Ellen Crêpe ein Kleid für Sie zu nähen. Was dabei übrig bleibt, würde nicht einmal reichen, um eine Jacke für einen Grashüpfer zu machen.‹«
Belle kicherte, als sie sich die dicke Frau im Korsett bei der Anprobe vorstellte. »Und was hat sie dazu gesagt?«
»›Ich bin noch nie im Leben so beleidigt worden‹«, äffte Jimmy Mrs. Colefax nach, indem er mit hoher Stimme sprach und tat, als ränge er nach Luft. »›Vergessen Sie gefälligst nicht, wen Sie vor sich haben‹.«
Sie blieben kurz stehen, um den Springbrunnen auf dem Trafalgar Square zu betrachten, bevor sie die Straße zur Mall überquerten.
»Ist der Palast nicht großartig?«, sagte Jimmy, als sie durch den Admiralty Arch gingen und den Buckingham Palace in all seiner strahlenden Pracht am unteren Ende der Mall sahen. »Ich liebe es, mich aus dem Ram’s Head zu stehlen und schöne Orte zu sehen. Das gibt mir das Gefühl, dass ich mehr verdient habe, als nur der Laufbursche meines Onkels zu sein.«
Bis zu diesem Moment hatte Belle noch nie darüber nachgedacht, ob schöne Orte einen Menschen inspirieren könnten, aber als sie den St. James’s Park betraten und ihr auffiel, dass der Raureif kahle Zweige, Sträucher und Gras in glitzernde Wunderwerke verwandelt hatte, verstand sie, was Jimmy meinte. Fahler Sonnenschein brach durch die dicke Wolkendecke, und auf dem See glitten Schwäne, Gänse und Enten scheinbar schwerelos über das Wasser. Es war eine ganz andere Welt als Seven Dials.
»Ich wäre gern Hutmacherin«, gestand sie. »Immer wenn ich ein bisschen Zeit habe, entwerfe ich Hüte. Ich träume von einem kleinen Laden in der Strand, aber das habe ich noch nie jemandem erzählt.«
Jimmy nahm ihre Hände in seine und zog Belle näher zu sich heran. Sein Atem stand wie eine kleine Wolke in der klirrend kalten Luft und streifte warm ihre Wange. »Ma hat immer gesagt, dass man alles bekommen kann, wenn man fest genug daran glaubt«, sagte er. »Man muss nur gut überlegen, wie man sein Ziel erreichen kann.«
Belle sah in sein lächelndes sommersprossiges Gesicht und fragte sich, ob er sie küssen wollte. Sie hatte in solchen Dingen keine Erfahrung; da sie ausschließlich mit Frauen aufgewachsen war, waren Jungen für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Aber sie hatte so ein komisches Gefühl in ihrem Inneren, als würde sie schmelzen, was lächerlich war, weil sie vor Kälte zitterte.
»Machen wir schnell eine Runde durch den Park, dann muss ich aber wirklich nach Hause. Mog wundert sich bestimmt schon, wo ich bin«, sagte sie schnell, weil das seltsame Gefühl sie nervös machte.
Rasch überquerten sie die Brücke, die über den See führte. »Wer ist Mog?«, fragte er.
»Na ja, man könnte sie wohl als Hausmädchen oder Haushälterin bezeichnen, aber für mich ist sie viel mehr als das«, antwortete Belle. »Es ist, als wäre sie Mutter, Tante und ältere Schwester in einem. Sie hat sich schon immer um mich gekümmert.«
Während sie mit schnellen Schritten durch den Park gingen, redete Jimmy darüber, wie schön es im Sommer sein würde, und über Bücher, die er gelesen hatte, und über die Schule, die er in Islington besucht hatte. Er fragte Belle nicht nach ihrem Zuhause; sie nahm an, er hatte Angst, das Falsche zu sagen.
Viel zu früh waren sie wieder im verdreckten Seven Dials, und Jimmy sagte, seine erste Aufgabe daheim wäre, seinen Onkel mit einer Tasse Tee zu wecken und dann im Keller den Boden aufzuwischen.
»Sehen wir uns wieder?«, fragte er und sah sie ängstlich an, als erwartete er, eine Abfuhr zu bekommen.
»Morgens um diese Zeit kann ich fast immer rausgehen«, antwortete Belle. »Und meistens auch so gegen vier Uhr nachmittags.«
»Dann werde ich nach dir Ausschau halten«, sagte er lächelnd. »Es war schön heute. Ich bin wirklich froh, dass dir dein Haarband heruntergefallen ist.«
Belle kam sich fast ein bisschen verlassen vor, als sie Jimmy die Monmouth Street hinunterlaufen sah. In der letzten Stunde hatte sie sich frei und unbeschwert gefühlt, aber sie wusste, sowie sie wieder im Haus war, galt es etliche Hausarbeiten zu erledigen, unter anderem Nachttöpfe zu leeren, Kamine zu säubern und neue Feuer zu entfachen.
Sie hatten mehr gemeinsam, als Jimmy ahnte. Er musste mit seinem reizbaren Onkel auskommen; sie hatte eine reizbare Mutter. Sie beide waren ständig von Menschen umgeben, aber es bestand kein Zweifel, dass Jimmy genauso einsam war wie sie und keine gleichaltrigen Freunde hatte, mit denen er reden konnte.
Die Sonne, die kurz hervorgelugt hatte, als sie im Park spazieren gingen, war wieder hinter düsteren Wolken verschwunden, und als sie an dem Mann vorbeikamen, der an der Ecke Streichhölzer verkaufte, hatte er ihnen nachgerufen, dass es bald zu schneien anfangen würde. So sehr es Belle auch widerstrebte, das Haus zu betreten, es war zu kalt, um noch länger draußen zu bleiben.
Sie wusste sehr wenig über die Welt außerhalb von Seven Dials. Sie war in demselben Haus geboren worden, in dem sie immer noch lebte. Es hieß, ihre Mutter hätte sie im oberen Stockwerk allein zur Welt gebracht, das Baby in eine alte Decke gewickelt, in eine Kommodenschublade gelegt und sich dann wieder zu den anderen Mädchen im Salon gesellt, als wäre nichts geschehen.
Belle hatte schon sehr früh im Leben gelernt, dass sie praktisch unsichtbar sein musste. Nachdem sie zu groß geworden war, um in der Schublade zu schlafen, bekam sie unten im Souterrain ein Zimmer, und sie durfte nie, wirklich niemals, nach fünf Uhr nachmittags die Treppe hinaufgehen oder ihre Mutter fragen, was dort oben vorging.
Sie besuchte von ihrem sechsten bis zum zehnten Lebensjahr eine kleine Schule am Soho Square, wo sie Lesen, Schreiben und Rechnen lernte, aber damit war nach einer Auseinandersetzung zwischen ihrer Mutter und der Lehrerin abrupt Schluss. Danach musste sie auf eine wesentlich größere Schule gehen, die sie hasste, und sie war froh, als sie ihre Schullaufbahn mit vierzehn beenden konnte. Aber seit damals waren ihre Tage lang und langweilig. Doch als sie das einmal laut aussprach, war ihre Mutter sofort auf sie losgegangen und hatte sie gefragt, ob es ihr besser gefallen würde, als Küchenmagd zu arbeiten oder auf der Straße Blumen zu verkaufen, wie es so viele Mädchen in ihrem Alter notgedrungen taten. Belle hätte weder das eine noch das andere gern getan; das Mädchen, das ein Stück die Straße hinunter Blumen verkaufte, war so dünn und zerlumpt, dass man meinte, ein kräftiger Windstoß könne sie umwehen.
Annie schätzte es auch nicht, dass Belle »sich auf der Straße herumtrieb«, wie sie es nannte. Belle war sich nicht sicher, ob ihre Mutter etwas dagegen hatte, weil sie befürchtete, ihre Tochter könnte in Schwierigkeiten geraten, oder weil sie nicht wollte, dass Belle Klatsch über Annie und ihren Laden hörte.
In einem ihrer seltenen sentimentalen und mitteilsamen Momente hatte Annie Belle erzählt, dass sie der Liebling der »Gräfin« gewesen war, die das Haus zu der Zeit geführt hatte, als Belle zur Welt kam. Hätte diese Frau nicht eine Vorliebe für Annie gehabt, wäre diese auf die Straße gesetzt worden und im Armenhaus gelandet. Annie erzählte, dass die Gräfin ihren Spitznamen ihrem vornehmen Auftreten und der Tatsache verdankte, dass sie in ihrer Jugend eine echte Schönheit gewesen war, mit vielen Bewunderern aus der guten Gesellschaft. Einer von ihnen – angeblich ein Mitglied des Königshauses – hatte sie in dem Haus in Jake’s Court untergebracht.
Als Belle noch klein war, wurde die Gräfin sehr krank, und Annie pflegte sie über ein Jahr lang. Bevor die Frau starb, setzte sie ein Testament auf und hinterließ alles, was sie besaß, Annie.
Seit damals führte Annie das Haus. Sie stellte Mädchen ein und feuerte sie wieder, trat als Gastgeberin auf und kümmerte sich um die Finanzen. In Seven Dials hieß es, dass sie zwar stahlhart sei, aber ein gutes Haus führte.
Belle kannte das Wort »Bordell« seit ihrer Kindheit, aber über die genaue Bedeutung war sie sich nicht im Klaren. Sie wusste nur, dass es etwas war, worüber man in der Schule nicht reden durfte. Annies Laden wurde auch »Hurenhaus« genannt. Belle hatte ihre Mutter vor Jahren einmal gefragt, was das bedeutete, und hatte zur Antwort bekommen, dass es ein Ort sei, wo sich Gentlemen amüsierten. Allein die schroffe Art, wie Annie antwortete, hatte Belle klargemacht, dass sie lieber nicht weiter nachfragen sollte.
In Seven Dials und Umgebung wurde praktisch jede Frau, die sich aufreizend kleidete, ein bisschen leichtfertig oder keck auftrat und gern ein Gläschen trank und tanzte, als Hure bezeichnet. Es war natürlich eine abfällige Bezeichnung, aber so gebräuchlich, dass beinahe etwas Liebevolles darin mitschwang, als würde jemand ein Mädchen »Hexe« oder »Luder« nennen. Deshalb hatte Belle bis vor einigen Monaten geglaubt, das Geschäft ihrer Mutter wären einfach nächtliche Partys, auf der Gentlemen kecke, fröhliche Mädchen trafen, um mit ihnen zu trinken und zu tanzen.
Aber in letzter Zeit hatte Belle durch derbe Lieder, Scherze und belauschte Gespräche die Entdeckung gemacht, dass Männer einen bestimmten Drang hatten und Häuser wie das von Annie aufsuchten, um diesen Drang zu befriedigen.
Wie das genau ablief, hatte Belle noch nicht herausgefunden. Weder Annie noch Mog konnten zu diesem Thema befragt werden, und die Mädchen selbst hatten viel zu viel Angst, Annies Zorn auf sich zu ziehen, um Belle in irgendwelche Geheimnisse einzuweihen.
Wenn Belle nachts im Souterrain in ihrem Bett lag, drangen die Laute fröhlicher Geselligkeit zu ihr herunter, die schwungvollen Weisen, die auf dem Klavier gespielt wurden, das Klirren von Gläsern, schallendes Lachen von Männern, das Stampfen tanzender Füße und sogar Gesang – es klang, als ob die Leute dort oben viel Spaß hätten. Manchmal wünschte Belle, sie wäre mutig genug, sich die Treppe hinaufzuschleichen und um die Ecke zu spähen.
Aber so sehr sie sich danach sehnte, die volle Wahrheit über das Geschäft ihrer Mutter zu erfahren, warnte sie eine innere Stimme, dass es auch eine dunkle Seite daran gab. Gelegentlich hörte sie Weinen, Wimmern und manchmal sogar Schreie, und ihr war durchaus bewusst, dass die Mädchen nicht immer glücklich waren. Oft kamen sie abends mit geröteten Augen zum Essen und verzehrten stumm und bedrückt ihr Dinner. Manchmal hatte die eine oder andere ein blaues Auge oder Blutergüsse an den Armen, und selbst an guten Tagen waren die Mädchen blass und matt. Und für Belle schienen sie keine große Sympathie zu empfinden. Mog sagte, der Grund dafür sei Neid und der Verdacht, Belle wäre Annies Spionin. Belle konnte sich nicht vorstellen, worum die Mädchen sie beneideten – sie bekam nicht mehr als sie –, aber sie ließen sie nie an ihren Gesprächen teilhaben und hörten sofort auf, miteinander zu reden, wenn Belle hereinkam.
Nur Millie, die älteste von ihnen, war anders. Sie lächelte Belle an und plauderte gern mit ihr. Aber Millie war ziemlich wirr im Kopf; wie ein Schmetterling flatterte sie von einem Thema zum nächsten und schaffte es nie, ein richtiges Gespräch zu führen.
Tatsächlich war Mog Belles einzige Freundin und weit eher eine Mutter für sie als Annie. Ihr richtiger Name war Mowenna Davis, und sie stammte aus Wales. Als Belle klein war, konnte sie den Namen Mowenna nicht aussprechen und hatte stattdessen Mog zu ihr gesagt, und jetzt nannte sie jeder so. Sie hatte Belle einmal gestanden, dass sie gar nicht mehr reagieren würde, wenn jetzt jemand Mowenna riefe.
Mog war eine unscheinbare, schmächtige Frau Ende dreißig mit mattbraunem Haar und hellblauen Augen. Seit ihrem zwölften Lebensjahr arbeitete sie als Magd im Haus. Vielleicht war ihr unscheinbares Äußeres der Grund, dass sie keine anderen Aufgaben hatte, als die Zimmer zu putzen und Feuer zu machen, und dass sie ein schwarzes Kleid mit weißer Schürze und weißem Häubchen trug, nicht bunten Satin und Bänder in den Haaren wie die Mädchen. Aber sie war als Einzige im Haus verlässlich und ausgeglichen. Sie bekam keine Wutanfälle, schimpfte und schrie nicht. Sie erfüllte ihre Pflichten mit heiterer Gelassenheit und unerschütterlicher Loyalität und Verehrung für Annie und Liebe zu Belle.
Die Vordertür von Annies Laden befand sich in der Monmouth Street, das heißt in einer kleinen Hintergasse dieser Straße, aber nur die männlichen Besucher betraten auf diesem Weg das Haus: vier Stufen hinauf bis zur Eingangstür und von dort in die Diele und den Salon. Der Eingang, der von allen anderen Bewohnern benutzt wurde, befand sich um die Ecke in Jake’s Court, und dort ging es in den kleinen Hinterhof, dann sechs Stufen hinunter zur Hintertür und ins Souterrain.
Mog schnitt gerade auf dem Küchentisch Fleisch klein, als Belle durch die Spülküche hereinkam. Die Küche war ein großer Raum mit niedriger Decke und gekacheltem Boden und wurde von dem riesigen Tisch in der Mitte beherrscht. An einer Wand stand ein Schrank, in dem das Porzellan aufbewahrt wurde, auf der gegenüberliegenden Seite der Herd, über dem an Haken Töpfe und Pfannen hingen. Wegen des Herds war es immer angenehm warm hier drinnen, aber weil die Küche im Untergeschoss lag, auch immer ein bisschen dunkel, und in den Wintermonaten brannte den ganzen Tag die Gasbeleuchtung. Außerdem befanden sich im Souterrain noch ein paar andere Räume, die Waschküche, Belles und Mogs Schlafzimmer und mehrere Vorratskammern sowie der Kohlenkeller.
»Komm, wärm dich ein bisschen am Herd auf«, sagte Mog, als sie Belle sah. »Es ist mir ein Rätsel, was du an den Straßen da draußen findest. Ich kann all den Lärm und das Geschiebe und Gedränge nicht leiden.«
Mog entfernte sich kaum jemals aus der direkten Umgebung, weil sie Angst vor Menschenmengen hatte. Sie sagte, sie sei, als sie vor neun Jahren Königin Victorias Trauerzug anschauen ging, so von Menschen eingezwängt worden, dass sie Herzflattern bekam und dachte, sie würde sterben.
»Hier ist auch viel Lärm, aber das scheint dich nicht zu stören«, bemerkte Belle, während sie Umhang und Schal ablegte. Von oben konnte sie Sally, das neueste Mädchen, zetern und kreischen hören.
»Die wird sich hier nicht lange halten«, meinte Mog weise. »Zu viel Pfeffer im Hintern!«
Es kam so gut wie nie vor, dass Mog sich zu den Mädchen äußerte, und Belle hoffte, dass sie sich vielleicht noch mehr entlocken lassen würde.
»Was meinst du damit?«, fragte sie und wärmte ihre Hände über der Herdplatte.
»Sie bildet sich ein, dass sie im Mittelpunkt stehen muss«, antwortete Mog. »Ist dauernd am Zanken und Vordrängeln. Das mögen die anderen Mädchen nicht, und ihnen gefällt auch nicht, wie sie sich an die Gentlemen ranmacht.«
»Wie denn?«, fragte Belle und hoffte, nicht zu neugierig zu klingen.
Aber Mog, der anscheinend bewusst geworden war, dass sie mit ihrer Schutzbefohlenen über Dinge sprach, von denen sie nichts wissen sollte, versteifte sich sichtlich. »Genug damit, wir haben noch einiges zu tun, Belle. Sowie der Eintopf auf dem Herd steht, will ich mir den Salon mal richtig gründlich vornehmen. Du hilfst mir doch, oder?«
Belle wusste, dass ihr kaum etwas anderes übrig blieb, aber es gefiel ihr, dass Mog ihre Anweisungen immer in der Form von Bitten formulierte.
»Na klar, Mog. Haben wir vorher noch Zeit für eine Tasse Tee?«, fragte sie. »Ich habe vorhin Garth Franklins Neffen kennengelernt. Er ist ein richtig netter Junge!«
Beim Tee erzählte Belle Mog alles über Jimmy und ihren gemeinsamen Spaziergang im Park. Sie hatte Mog schon immer alles anvertraut, weil sie ihr viel näherstand als Annie. In den Augen der meisten Leute war Mog eine alte Jungfer, aber Belle fand, dass sie in vielen Dingen eine sehr moderne Frau war. Sie las regelmäßig Zeitung und verfolgte mit großem Interesse das politische Geschehen. Sie war eine Anhängerin von Keir Hardie, dem sozialistischen Parlamentsmitglied, und der Suffragetten, die sich für das Wahlrecht der Frauen einsetzten. Kaum ein Tag verging, ohne dass Mog sich zu ihrer letzten Versammlung oder einem Aufmarsch vor dem Parlament äußerte oder berichtete, dass sie im Gefängnis zum Essen gezwungen worden waren, als sie in Hungerstreik traten, und sie erwähnte häufig, dass sie sich ihnen gern anschließen würde.
»Freut mich, dass du einen Freund gefunden hast«, sagte Mog liebevoll. »Aber pass auf, dass er sich keine Frechheiten erlaubt, sonst bekommt er es mit jemand Schlimmerem als Garth Franklin zu tun! Aber jetzt machen wir uns lieber an den Salon.«
Annie rühmte sich gern, den feinsten Salon außerhalb Mayfairs zu haben, und tatsächlich hatte sie für die italienischen Spiegel, den Kristalllüster, den Perserteppich und die schönen Samtvorhänge ein kleines Vermögen ausgegeben. Aber bei all dem Kommen und Gehen der Mädchen und den mindestens zwanzig Herren, die pro Abend zu Besuch kamen und Pfeifen und Zigarren rauchten, hatte der Salon oft einen Frühjahrsputz nötig.
Belle dachte bei sich, dass der Salon nachts vielleicht gut aussah, aber tagsüber nicht viel hermachte. Die Vorhänge wurden so gut wie nie zurückgezogen, die Fenster kaum jemals geöffnet, und die goldene Tapete wirkte bei Tageslicht eher schmutzig gelb. In den pflaumenblauen Vorhängen hingen Spinnweben und Staub und der abgestandene Geruch von kaltem Rauch. Aber ein gründlicher Frühjahrsputz machte Belle Spaß. Es war zutiefst befriedigend, den Dreckfilm eines ganzen Monats von den Spiegeln zu wischen und sie wieder funkeln zu sehen oder den Teppich draußen im Hof auszuklopfen, bis seine Farben leuchteten. Und sie arbeitete gern mit Mog zusammen, weil sie ein heiteres Wesen hatte, hart arbeitete und sich über die Hilfe anderer freute.
Wie immer beim Großreinemachen schoben sie zuerst die Sofas und die Tische in die Ecken, rollten dann den Perserteppich zusammen und schleppten ihn zu zweit nach unten.
Der Salon nahm im Erdgeschoss den meisten Raum ein. Es gab noch eine kleine Garderobe für Hüte und Mäntel bei der Eingangstür, die Mog öffnete, wenn jemand klingelte. Hinter der Treppe, die zu den übrigen drei Stockwerken führte, befand sich ein L-förmiger Raum, der als Büro diente und gleichzeitig Annies Zimmer war. Hier war auch die Tür zur Hintertreppe und dem Untergeschoss. Mog hatte schon oft festgestellt, dass der Grundriss des Hauses ideal war. Belle nahm an, dass sie damit meinte, dass Belle nie sehen konnte, wer zu Besuch kam, und dass die Gentlemen nicht sahen, wie sie lebten.
Im Erdgeschoss befand sich auch eine Toilette. Sie war erst vor ein paar Jahren eingebaut worden; vorher hatten alle das Klosett draußen im Hof benutzen müssen. Belle ärgerte sich häufig, dass die Mädchen nicht immer auf die Toilette gingen, sondern stattdessen die Nachttöpfe in ihren Zimmern benutzten. Sie fand, wenn sie in einer kalten, stürmischen Nacht den Weg zum Außenklo schaffte, statt den Nachttopf zu nehmen, konnten die Mädchen wohl die paar Treppen innerhalb des Hauses hinuntergehen.
Aber Mog ergriff niemals ihre Partei, wenn Belle schimpfte, weil sie die Nachttöpfe ausleeren musste, sondern zuckte bloß mit den Achseln und meinte, vielleicht hätten die Mädchen keine Zeit gehabt. Belle fand dieses Argument absurd; wenn sie die Herren im Salon unterhielten, dauerte es schließlich viel länger, in ihre Schlafzimmer zu gehen und in den Nachttopf zu pinkeln, als die Toilette im Erdgeschoss zu benutzen.
Es war bitterkalt, als sie den Teppich über die Wäscheleine im Hinterhof hängten, und ihr Atem bildete in der eisigen Luft kleine Wölkchen. Aber als sie erst einmal anfingen, den Teppich mit den Bambusklopfern zu bearbeiten, wurde ihnen bald warm.
»Wir lassen ihn hier, bis der Boden getrocknet ist«, sagte Mog, als sie fertig und alle beide mit einer grauen Staubschicht überzogen waren.
Erst als sie wieder oben waren, sah Belle ihre Mutter zum ersten Mal an diesem Tag. Annie trug wie jeden Morgen einen Morgenmantel aus dunkelblauem Samt über ihrem Nachthemd und ein Spitzenhäubchen über ihren Lockenwicklern.
Mog und Annie waren in etwa gleichaltrig, Ende dreißig, und hatten, wie Mog es nannte, als junge Mädchen eine Allianz geschlossen, weil sie ungefähr zur selben Zeit in dieses Haus gekommen waren, das damals noch von der Gräfin geführt wurde. Belle wunderte sich manchmal, warum Mog nicht sagte, sie wären Freundinnen geworden, aber schließlich war Annie kein besonders warmherziger Mensch und wollte vielleicht keine Freundin haben.
Geschminkt und elegant gekleidet war Annie immer noch schön. Sie hatte eine schmale Taille, einen straffen, hoch angesetzten Busen und eine königliche Haltung. Aber in ihrem Morgenmantel wirkte ihr Teint fahl, ihre Lippen dünn und blutleer, ihre Augen matt. Ohne das Korsett war auch ihre kurvenreiche Figur verschwunden. Vielleicht ging sie mit den Mädchen deshalb oft so schroff und unfreundlich um, weil es an ihr nagte, dass ihr gutes Aussehen dahinschwand, während die Mädchen noch in ihrer Blütezeit waren.
»Hallo, Ma«, sagte Belle, die gerade auf den Knien kauerte und den Boden schrubbte. »Wir machen Frühjahrsputz. War auch höchste Zeit, der Salon ist völlig verdreckt.«
»Den Teppich lassen wir draußen, bis wir fertig sind«, fügte Mog hinzu.
»Du solltest den Mädchen etwas über das Saubermachen beibringen«, sagte Annie schroff zu Mog. »In ihren Zimmern sieht es aus wie auf einer Müllkippe. Sie machen gerade mal ihre Betten. Das reicht nicht.«
»Ist nicht gut fürs Geschäft«, pflichtete Mog ihr bei. »Hat keinen Sinn, den Salon auf Vordermann zu bringen und dann die Gentlemen in einen Schweinestall mitzunehmen.«
Belle, die immer noch ihre Mutter ansah, während Mog sprach, fiel auf, dass sich Annies Augen bei Mogs Bemerkung vor Schreck weiteten. Auch Mog bemerkte den Blick und wurde blass, und als Belle von einer zur anderen schaute, wurde ihr klar, dass ihre Mutter nicht wollte, dass sie wusste, was in den Zimmern der Mädchen vorging.
Belle hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es am besten war, sich dumm zu stellen, wenn sie bei ihrer Mutter nicht in Ungnade fallen wollte. »Ich kann doch die Zimmer der Mädchen sauber machen«, bot sie an. »Ich könnte mir jeden Tag eins vornehmen und sie bitten, mir zu helfen.«
»Lass sie ruhig machen«, meinte Mog. »Sie hat gern was zu tun.«
Ein paar Sekunden stand Annie regungslos da, starrte Mog und Belle an und sagte kein Wort. Belle hatte den Eindruck, dass sie überlegte, wie sie sich wegen der Information, die Mog unabsichtlich entschlüpft war, verhalten sollte.
»Gute Idee. Sie kann heute bei Millie anfangen, weil es dort am schlimmsten aussieht. Ich befürchte allerdings, dass Millie keine große Hilfe sein wird, weil sie sich nie lange auf etwas konzentrieren kann.«
Um halb zwei, als der Salon in frischem Glanz erstrahlte und angenehm duftete, machte sich Belle daran, Millies Zimmer im Dachgeschoss des Hauses aufzuräumen. Millie war irgendwo mit Sally unterwegs, und die anderen Mädchen saßen in einem der unteren Zimmer. Belle hatte zu Mittag einen großen Teller Eintopf, gefolgt von Sirupkuchen, verdrückt, und der Reiz des Frühjahrsputzes verflog rasch. Aber da es gerade angefangen hatte zu schneien, konnte sie nicht ausgehen, und Millies Zimmer war das wärmste im Haus, weil die Wärme aus sämtlichen Kaminfeuern hier heraufdrang.
Millie nahm innerhalb des Hauses eine einzigartige Stellung ein. Obwohl sie mit achtundzwanzig viel älter war als alle anderen Mädchen, war sie mit ihrem seidigen, langen blonden Haar, den großen blauen Augen und dem weichen, kindlichen Mund immer noch auffallend schön. Im Denken war sie eher langsam, aber jeder mochte sie; vielleicht war gerade ihr kindlich-naiver Charme der Grund, warum alle sie gern hatten.
Millie war außerdem das einzige Mädchen, das noch aus der Zeit stammte, als die Gräfin das Haus geführt hatte. Belle spürte, dass Annie und Mog wegen ihrer gemeinsamen Vergangenheit Millies Trägheit tolerierten. Und öfter als einmal war erwähnt worden, dass sie wegen ihres sanften Wesens bei den Herren sehr beliebt war.
Auch Belle hatte Millie in ihr Herz geschlossen. Sie mochte ihr sonniges, liebenswertes Naturell, ihre Güte und Großzügigkeit. Immer wieder machte sie Belle kleine Geschenke – ein paar Glasperlen, Bänder fürs Haar oder Schokolade – und nahm sie in die Arme, wenn sie traurig oder verletzt war.
Millies Zimmer spiegelte ihr kindliches Wesen wider. Sie hatte aus den Deckeln von Pralinenschachteln Bilder von Kätzchen und kleinen Hunden ausgeschnitten und an die Wand genagelt. An eine Sessellehne hatte sie mit rosa Band ein Sonnenschirmchen aus Spitze gebunden, unter dem mehrere Puppen saßen. Die meisten waren einfache Stoffpuppen in bunten Baumwollkleidern, die so aussahen, als hätte Millie sie selbst gemacht, aber eine war eine hochelegante Puppe mit Porzellankopf, welligem Blondhaar und einem rosa Satinkleid.
Als Belle sich in dem Zimmer umschaute, stellte sie fest, dass Millie zehnmal mehr Dinge besaß als jedes andere Mädchen: Nippes aus Porzellan, Bürsten mit versilbertem Griff, eine Spielzeugeisenbahn aus Holz, eine Kuckucksuhr, die nicht ging, und viele mit Rüschen verzierte Kissen.
Belle machte sich an die Arbeit und nahm sich zuerst das große Messingbett vor, das sie anschließend mit einem großen Tuch abdeckte und so viel wie möglich von Möbeln und Zierat darauf stellte, wie sie konnte.
Auf dem Boden lag eine dicke Staubschicht, und der einzige Teppich war sehr klein und konnte im offenen Fenster ausgeschüttelt werden. Nachdem Belle den Kamin gereinigt und den Boden gekehrt und aufgewischt hatte, machte sie Feuer im Kamin, damit der Fußboden schneller trocknete.
Eine Stunde später war sie fast fertig. Die Möbel waren gesäubert und abgestaubt, Spiegel und Fenster glänzten, und alle Habseligkeiten Millies waren wieder sorgsam an ihren Platz gestellt worden.
Mittlerweile war es dunkel geworden, und draußen fiel dichter Schnee. Als Belle aus dem Fenster sah, fiel ihr auf, dass der Schnee Jake’s Court verwandelt hatte. Seven Dials war berüchtigt dafür, in London die meisten Bordelle, Spielhöllen, Wirtshäuser und sonstigen Spelunken pro Quadratmeile zu haben. Da der Betrieb auf dem Covent Garden Markt mitten in der Nacht begann, wenn die Trinker und Spieler nach Hause gingen, war es in dem Stadtviertel nie ruhig. Ständig hieß es, die Slums von London würden bald der Vergangenheit angehören, und es stimmte, dass viele Elendsviertel geräumt worden waren, aber bei den Behörden schien niemand einen Gedanken daran zu verschwenden, was aus den jeweiligen Bewohnern werden sollte. Zurzeit fanden sie sich hier in Seven Dials ein und suchten mit Hunderten anderer verzweifelter Männer, Frauen und Kinder in den unzähligen Hinterhöfen, schmutzigen Gassen und schmalen, gewundenen Straßen ein Mindestmaß an Schutz. Selbst für Belle, die nie woanders gelebt hatte, war es ein schmutziger, stinkender, lärmender Ort, und sie konnte verstehen, wie erschreckend er auf jemanden wirken musste, der von einer der benachbarten eleganteren Straßen falsch abbog und sich versehentlich hierher verirrte.
Aber jetzt, im gelben Schein der Gaslaterne, sah Jake’s Court unter der dicken Schneeschicht wie verzaubert und wunderschön aus. Außerdem war die Straße menschenleer, was kaum jemals vorkam, und Belle nahm an, dass heute Abend im Haus kaum Betrieb sein würde.
Im Zimmer war es mittlerweile schön warm. Die Vorhänge waren zugezogen, das Gaslicht heruntergedreht, und der Raum, der nur vom Kaminfeuer erhellt wurde, wirkte so anheimelnd, dass Belle der Versuchung, sich kurz aufs Bett zu legen und auszuruhen, nicht widerstehen konnte. Sie erwartete Millie jeden Moment zurück. Sicher würde das Mädchen außer sich vor Freude sein, weil das Zimmer so schön geputzt war.
Belle spürte, dass sie schläfrig wurde, und versuchte sich aufzuraffen, aus dem Bett zu steigen und nach unten zu gehen, aber es war einfach zu warm und gemütlich.
Das Geräusch von Schritten auf der Treppe riss sie abrupt aus dem Schlaf. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber das Feuer war fast erloschen, was nur bedeuten konnte, dass es inzwischen Abend war und sie sehr lang geschlafen hatte. Ihr Magen schnürte sich vor Aufregung zusammen, denn dass sie nach fünf Uhr nachmittags nicht mehr nach oben durfte, war eine von Annies striktesten Regeln. Belle konnte sich immer noch an die Tracht Prügel erinnern, die sie mit sechs Jahren einmal bezogen hatte, weil sie dieses Verbot missachtet hatte.
Blinde Panik ließ sie aufspringen, die Decke glatt streichen und hastig unters Bett schlüpfen. Wenn Millie allein war, könnte sie ihr erklären, warum sie in ihrem Zimmer war, sagte Belle sich. Bestimmt würde Millie ihr helfen, sich unbemerkt in die Küche zurückzustehlen.
Ihr sank der Mut, als die Tür aufging und Millie, gefolgt von einem Mann, hereinkam. Millie drehte das Gaslicht hoch und zündete zusätzlich noch ein paar Kerzen an. Von ihrem Versteck unter dem Bett aus konnte Belle nicht mehr als die untere Hälfte von Millies hellblauem, mit Spitzenrüschen besetzten Kleid und die dunkelbraunen Hosen und seitlich geknöpften Halbstiefel des Mannes erkennen.
»Warum hast du dich letzte Woche, als ich hier war, verleugnen lassen?«, fragte der Mann. Seine Stimme war schroff, und er klang böse.
»Ich war wirklich nicht hier«, erwiderte Millie. »Ich hatte den Abend frei und war meine Tante besuchen.«
»Heute habe ich jedenfalls für die ganze Nacht mit dir bezahlt«, sagte er.
Belles erste Reaktion war der Schock darüber, dass der Mann bezahlt hatte, um bei Millie im Zimmer bleiben zu dürfen. Aber dann machte ihr Herz einen Satz, als ihr klar wurde, was das bedeutete: Sie saß in der Falle! Wie sollte sie hier herauskommen? Sie konnte unmöglich bleiben, aber ebenso wenig konnte sie einfach unter dem Bett hervorkriechen, sich für ihr Eindringen entschuldigen und verschwinden.
»Die ganze Nacht«, wiederholte Millie, und es klang, als wäre sie über diese Aussicht genauso entsetzt wie Belle.
Dann herrschte Schweigen, und Belle nahm an, dass die beiden sich küssten, weil sie eng beieinander standen. Sie konnte schweres Atmen und das Rascheln von Kleidern hören, und auf einmal landete Millies Kleid nur ein paar Zentimeter von Belle entfernt auf dem Boden. Ein Unterrock folgte, dann die Stiefel und Hosen des Mannes, und plötzlich dämmerte Belle, was es genau bedeutete, eine Hure zu sein. Männer bezahlten Huren, um mit ihnen das zu tun, was sie eigentlich nur mit ihren Ehefrauen machen sollten, um Kinder zu bekommen. Sie konnte nicht begreifen, warum ihr das nicht schon früher klar geworden war. Aber nun, da sie es wusste, wurde ihr elend bei dem Gedanken, dass Jimmy und alle anderen, die sie kannte, dachten, sie würde Männern erlauben, dasselbe mit ihr zu tun.
Millie war nur noch mit ihrem Hemd, ihren Strümpfen und ihren spitzenbesetzten weißen Höschen bekleidet. Der Mann hatte zusammen mit Hose und Stiefeln seine Jacke abgelegt, sein Hemd aber angelassen. Es reichte ihm fast bis zu den Knien und gab den Blick auf sehr muskulöse, behaarte Beine frei.
»Ich lege noch ein bisschen Kohle nach, das Feuer ist beinahe aus«, sagte Millie plötzlich. Als sie sich vorbeugte, um die Schaufel in den Kohlenkübel zu stecken, spielte Belle mit dem Gedanken, ihr irgendwie ein Zeichen zu geben, damit sie den Mann unter einem Vorwand aus dem Zimmer schicken könnte, aber bevor sie es auch nur versuchen konnte, trat der Mann einen Schritt vor, packte Millie an der Taille und riss so grob an ihrer Unterhose, dass sie zerriss.
Belle war wie gelähmt vor Schreck. Noch immer konnte sie das Pärchen nur von der Taille abwärts sehen, aber schon das war zu viel. Sie wollte nicht Millies mollige Schenkel und Pobacken sehen, oder wie der Mann sie zwang, sich weiter vorzubeugen, so dass er seinen Schwanz in sie hineinstoßen konnte. Belle hatte erst einmal im Leben männliche Geschlechtsteile gesehen, bei kleinen Jungen, die von ihren Müttern unter einer Straßenpumpe gewaschen worden waren. Aber das Glied dieses Mannes musste achtzehn bis zwanzig Zentimeter lang sein und so hart wie eine Metallstange. Belle sah, dass Millies Knöchel weiß hervortraten, als sie sich mit den Händen auf den Kaminsims stützte, und wusste, dass der Mann ihr wehtat.
»Schon besser, meine Hübsche«, keuchte er, während er unablässig in sie hineinstieß. »So hast du es gern, stimmt’s?«
Belle machte die Augen zu, um nichts mehr zu sehen, hörte aber, wie Millie antwortete, dass sie nichts auf der Welt lieber hätte. Das war eindeutig gelogen, denn als Belle die Augen wieder aufmachte, hatte Millie sich bewegt, so dass sie ihr Gesicht von der Seite sehen konnte, und es war schmerzverzerrt.
Plötzlich begriff Belle, warum die Mädchen oft so düster und niedergeschlagen aussahen. Bisher war ihr das ein Rätsel gewesen, denn die Partys klangen immer nach viel Spaß. Aber offensichtlich galt das nicht für die Mädchen. Sie wurden irgendwann auf ihre Zimmer geschickt, um so etwas über sich ergehen zu lassen.