Erich Fromm
(1935a)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk[1]
Erstveröffentlichung unter dem Titel Die gesellschaftliche Bedingtheit der psychoanalytischen Therapie; zuerst erschienen in: Zeitschrift für Sozialforschung, Paris 4 (1935) S. 365-397. Wiederabgedruckt in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1980, GA I, S. 115-138.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA I, S. 115-138.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1935 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2016 by Rainer Funk.
Die psychoanalytische Therapie beruht auf der Aufdeckung der zur Symptombildung oder zur Bildung neurotischer Charaktereigenschaften führenden unbewussten Strebungen. Die Symptome sind Ausdruck des Konflikts zwischen solchen unbewussten verdrängten und den sie verdrängenden Tendenzen. Die wichtigste Ursache der Verdrängung ist die Angst. Ursprünglich und zunächst einmal die Angst vor äußerer Gewalt, die aber, soll eine wirksame Verdrängung zustande kommen, ergänzt wird durch die Angst, Sympathie und Liebe derjenigen zu verlieren, die man respektiert und bewundert, und endlich durch die Angst vor dem Verlust des Respekts vor sich selbst (vgl. Studien über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil, 1936a, GA I, S. 139-187). Allerdings ist auch die Angst vor dem Verlust der Liebe einer bewunderten Person gewöhnlich noch nicht ausreichend, um die Verdrängung derjenigen Impulse und Phantasien zu bewirken, die den Verlust dieser Liebe verursachen können. Verdrängungen pflegen erst einzutreten, wenn der Impuls nicht nur von einer einzelnen Person, oder auch von mehreren Individuen verurteilt wird, sondern wenn er in der gesellschaftlichen Gruppe, der der Betreffende angehört, verpönt ist.
In diesem Fall gesellt sich zur Androhung äußerer Strafen, zum Verlust der Liebe seitens der für den Betreffenden wichtigsten Person, noch die Gefahr der Isolierung und des Verlustes des gesellschaftlichen Rückhalts. Es scheint, dass diese Gefahr bei den meisten Menschen mehr Angst auslöst als die vorher erwähnte und dass diese gesellschaftliche Isolierung die wichtigste Quelle für die Verdrängung ist.[2] [I-116]
Ist ein Impuls verdrängt, so ist er damit noch nicht vernichtet. Er ist nur aus dem Bewusstsein entfernt, hat aber nichts von seiner ihm ursprünglich innewohnende Energie verloren. Er hat vielmehr die Tendenz, ins Bewusstsein zurückzukehren, und es bedarf einer Kraft, die ihn ständig daran verhindert. Freud gebraucht, um dies zu demonstrieren, ein sehr anschauliches Bild. Er vergleicht die verdrängten Regungen mit einem unerwünschten Gast, den man zu Hause herausgeworfen hat, der aber immer wieder versucht zurückzukehren. Man muss einen Diener an der Türe aufstellen, der ihn am erneuten Eindringen hindert. Wenn in einer Analyse versucht wird, die verdrängten Regungen ins Bewusstsein zurückzubringen, so macht sich diese, das Verdrängte am Zurückkehren hindernde Kraft sehr deutlich bemerkbar; Freud hat ihr den Namen „Widerstand“ gegeben. Dieser Widerstand kann sich in vielen Formen äußern. Seine einfachste ist die, dass, sobald der Analysand gleichsam in die Nähe des verdrängten Materials gerät, ihm überhaupt nichts einfällt, oder dass ihm sehr viele Dinge einfallen, die vom verdrängten Gegenstand abführen, oder dass er wütend auf den Analytiker ist und beginnt, die ganze Methode als unsinnig abzulehnen, oder dass er körperliche Symptome entwickelt, die ihn hindern, in die Analyse zu kommen, und ihn davor schützen, das verdrängte Material zu berühren. Der Widerstand ist so ein im Laufe der Analyse mit Notwendigkeit auftretendes Problem. Wollte man ihn vermeiden, so wäre dies gleichbedeutend mit dem Verzicht auf die Bewusstmachung des verdrängten Materials überhaupt. Dies wird tatsächlich von den meisten nicht-psychoanalytischen psychotherapeutischen Methoden versucht. Es ist zunächst der kürzere Weg, aber der Preis, der dafür bezahlt wird, ist der Verzicht auf die tiefgreifende Änderung in der seelischen Struktur. Der Widerstand ist geradezu das zuverlässigste Signal dafür, dass man verdrängtes Material berührt und sich nicht nur an der seelischen Oberfläche bewegt.
Die Feststellung der Notwendigkeit des Widerstandes besagt aber nicht, dass es für die Analyse umso besser sei, je stärker der Widerstand ist. Im Gegenteil. Wenn der Widerstand, aus welchen Gründen auch immer, ein bestimmtes Maß überschreitet, wird die Analyse der von ihm beschützten unbewussten Regungen überhaupt unmöglich, während umgekehrt die Analyse umso rascher fortschreitet und umso rascher erfolgreich beendet ist, je schneller es gelingt, durch den Widerstand hindurch zum unbewussten Material vorzustoßen. Erfolg und Dauer der Analyse sind davon abhängig, ob und wie rasch diese Durchstoßung der Widerstände gelingt, und die Frage, welches die Faktoren sind, von denen die Stärke des Widerstandes abhängt, ist deshalb gleichbedeutend mit der Frage nach den Erfolgschancen der analytischen Therapie. Um Missverständnisse zu vermeiden, muss hier bemerkt werden, dass es sich bei dem Widerstand, von dem wir hier sprechen, nicht um die Hemmungen handelt, die einen Patienten davon zurückhalten, einen bestimmten Einfall, den er hat, zu sagen. Auch solche Ängste spielen natürlich in der Analyse eine große Rolle, aber es ist im Prinzip eine Sache des Willens, sie zu überwinden. Wovon hier gesprochen wird, sind [I-117] die Tendenzen, die einen Menschen daran hindern, dass die verdrängten Gedanken, d.h. solche Gedanken, die zunächst einmal gar nicht in seinem Bewusstsein sind, ins Bewusstsein kommen.
Wovon hängt die Stärke des Widerstandes ab? Die Antwort auf diese Frage im Sinne Freuds wäre, etwas vereinfacht ausgedrückt: Die Stärke des Widerstandes ist proportional zur Stärke der Verdrängung, und die Stärke der Verdrängung wiederum hängt von der Stärke der Angst ab, die ursprünglich die Ursache der Verdrängung gewesen ist. Ob diese Ängste sich im Verlauf des Lebens verstärken oder abschwächen, hängt von den Lebensschicksalen ab, die der Kindheit folgen. Wie dem auch immer sei, wenn der Erwachsene eine Analyse beginnt, bringt er ein bestimmtes Maß an Angst, Verdrängungsenergie und Widerstand mit, und die Dauer wie überhaupt die Chancen des Erfolges der Analyse hängen von der Stärke des mitgebrachten Widerstandes ab. Er überträgt die mitgebrachte Angst auf die Person des Analytikers, und man kann deshalb in gewissem Sinne mit Recht sagen, die Stärke des Widerstandes hängt von der in der Übertragung entwickelten Angst vor dem Analytiker ab.
Hier taucht allerdings die Frage auf, wie es denn überhaupt möglich sein soll, dass der Patient in Gegenwart eines anderen ihm fremden Menschen Ängste überwindet, die bisher mit Bezug auf alle andern Menschen so stark waren, dass sie die Verdrängung aufrechterhielten. Die besonderen Gefühle, die dies in der Analyse möglich machen, sind leicht einzusehen. Zunächst findet nur eine allmähliche Annäherung an das verdrängte Material statt, man stößt nicht unmittelbar auf den Kern der Verdrängungen, sondern analysiert Schritt für Schritt die die zentrale Verdrängungsposition schützenden psychischen Schichten. Weiterhin hat ein Teil der Gründe für die Angst, die zur Verdrängung geführt hat, nur in einer bestimmten vergangenen Situation bestanden, sie sind in der Gegenwart gleichsam anachronistisch, und die Ängste, wenn sie nur bewusst gemacht werden, erscheinen spukhaft und verschwinden. Weiterhin kann der Analytiker anhand des ihm gebotenen Materials, speziell der Träume und Fehlleistungen und Zusammenhänge der Einfälle, das Vorhandensein bestimmter unbewusster Regungen dem Analysanden so wahrscheinlich machen, dass er sich dessen Vernunft als aktiven wirksamen Bundesgenossen bei der Aufdeckung des Verdrängten erwirbt. Hierzu kommt ferner das Leiden des Patienten, das sich oft als ein genügend starker Motor erweist, um den Widerstand zu überwinden. Ein anderer Faktor, an den man in diesem Zusammenhang häufig denkt, nämlich die in der Analyse auftretende Verliebtheit des Patienten in den Analytiker, ist von recht zweifelhaftem Wert für die Überwindung des Widerstandes. Sie wirkt zwar in der Richtung, dass der Patient sich dem Analytiker ganz eröffnen, gleichsam ganz hingeben will, und damit im Sinne der Überwindung des Widerstandes. Gleichzeitig aber wirkt sie auch in der entgegengesetzten Richtung, indem sie den Wunsch verursacht, in den Augen des Analytikers möglichst liebenswert und fehlerfrei dazustehen. Wenn die Verliebtheit die Form annimmt, dass der Analytiker zum Ideal, zum „Über-Ich“ des Analysanden wird, kann sie eine besonders schwere Hinderung in der Analyse darstellen.
Zu allen oben genannten Bedingungen für die Möglichkeiten der Überwindung des Widerstandes kommt noch die, dass der Analytiker eine freundliche, objektive und nicht verurteilende Haltung einnimmt. Vorausgesetzt, der Analytiker erfüllt diese [I-118]