Die Unmächtigen
Schriftsteller und
Intellektuelle seit 1945
WALLSTEIN VERLAG
Vorwort
Einführung
Erstes Kapitel
Die Jahre nach der Katastrophe
Kultur in Trümmern! Kultur in Trümmern?
Die Schuldfrage und die deutschen Intellektuellen
Innere Emigration oder Exil?
Frieden oder Freiheit – Die Schriftsteller im Sog der Weltpolitik
Zweites Kapitel
Die Teilung
Bundesrepublik Deutschland
Vom Antiparteienaffekt zum Restaurationsvorwurf
Der Restaurationsvorwurf und die heimatlose Linke
Die Gruppe 47 und die Ära Adenauer
Das Bonner Treibhaus
Der Aufstand des Gewissens
Antikommunismus und der Mangel an Differenzierung
Deutsche Demokratische Republik
Die Gründungslegende
Formalismus und Stalinismus
1953 – Das Jahr der Bekenntnisse
Vom Tauwetter zu neuer Eiszeit
Drittes Kapitel
Die Nachkriegsgesellschaft im Übergang
Der »Unionsstaat«
Die »Spiegel-Affäre«
Ankunft im Alltag des Sozialismus
Eiszeit ohne Stalin
Die gescheiterte Versöhnung
Von der »miesen Ehe« zur Erfüllung der Wünsche
Viertes Kapitel
Die Machtwechsel:
Achterbahn der Erwartungen und Gefühle
Nach der Wahl: Willy Brandt und die Intellektuellen
Vom Visionär zum Krisenmanager
Die Terrorismusdebatte
Die Friedensbewegung
Erich Honecker und die Tabus
Das Zerwürfnis
Die Sanktionen
Fünftes Kapitel
Die Kontroverse um die Macht
Versuche der Verständigung
Provinzfürst oder Genie der Geschichte
Die geistig-moralische Wende
Nationale Frage und Geschichtspolitik
Honeckers geschichtspolitische Wende
Die Bedenkenträger der Wiedervereinigung
Die Intellektuellen und das Ende der DDR
Sechstes Kapitel
Auf den Gipfeln herrscht Ruh
Beredtes Schweigen
Die neue Rolle der Intellektuellen
Die Intellektuellen und die europäische Krise
Anmerkungen
Literaturauswahl
Personenregister
Kultur und Politik also sind aufeinander angewiesen, und sie haben gemeinsam, daß sie Phänomene der öffentlichen Welt sind.
Hannah Arendt
Für Kordula
und unsere Kinder
Markus, Christina und Frederik
Die Unmächtigen stehen in einer besonderen Beziehung zur Macht. Sie setzen sich mit ihr auseinander, sie kritisieren sie, sie prangern sie an. Sie suchen ihre Nähe. Führen sie ein Leben in Unfreiheit, fürchten sie die Macht, weil sie ihre Worte verbieten und ihr Leben zerstören kann. Die Unmächtigen sind Intellektuelle, die der Macht kritisch und auf Augenhöhe begegnen. Der Philosoph Moses Mendelssohn schrieb zur Zeit Friedrich des Großen: »Solange ein jeder politischer Körper noch seine besonderen Interessen hat, solange alles bei ihnen noch nach dem Gesetz des Stärkeren geht und die Gesetze des Völkerrechts weder Ansehen noch Nachdruck haben, so lange leben die Staaten gegeneinander noch in einem Stand der Natur. Daher reißen die vielfältigen Usurpationen (rechtswidrige Aneignungen), Gewalttätigkeiten und Unterdrückungen von allen Seiten herein, und man sucht ihnen umsonst die Dämme der Gerechtigkeit entgegenzusetzen.«
Der Macht die Dämme der Gerechtigkeit entgegenzusetzen, Gewalt und Unterdrückung zu bekämpfen, das war und bleibt die große Herausforderung der Unmächtigen. Mendelssohn stellte sich ihr. Aber er musste Vorsicht walten lassen. Er wollte den Großen König nicht durch eine leichtfertige Formulierung erzürnen. Deshalb hatte er abzuwägen, ohne die Wahrheit zu verschweigen. Die Unmächtigen handelten wie er meistens aus innerer Überzeugung, aber doch mit der gebotenen Klugheit. »Das ist ja der Poeten Amt«, schrieb Hans Joachim Schädlich, »daß sie das Üble mit Bitterkeit verfolgen«. Gewiss, aber die Wahrheit hat viele Gesichter. Die Mächtigen deuteten sie häufig anders als die Unmächtigen. Hier liegt der Urgrund des Konflikts zwischen Geist und Macht. Beide Seiten streiten um die Deutungshoheit der Wahrheit. Die Politik möchte sie nicht verlieren, deshalb fürchtet sie das offene, ungeschminkte Wort der Dichter und Denker. Sie umgarnt sie, um sie für sich zu gewinnen. Sie fördert sie, um sie zu besänftigen. Sie stört sie, um sie zu abzulenken. Sie missachtet sie, um sie auszugrenzen. In Diktaturen droht sie ihnen, wenn ihre Worte und Erzählungen ihre Macht gefährden. Doch die Geschichte hat gezeigt, dass ihr dies nur in unzureichendem Maße gelingt. Die Unmächtigen verfügen in der Regel über den längeren Atem.
Dieses Buch handelt von der spannungsgeladenen Geschichte von Geist und Macht in beiden Teilen Deutschlands vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Gegenwart. Es versucht den Einfluss der Unmächtigen und die Reaktionen der Mächtigen aufzuzeigen. Dabei rücken die unterschiedlichen Entwicklungen, Kontroversen, aber auch Konvergenzen in beiden deutschen Staaten und Gesellschaften in das Blickfeld. Es geht um die Freiheit des Wortes, um unterschiedliche Gesellschaftsmodelle, um Mehrheiten und Polemiken, um Einfluss und Macht, um Sorgen, Bedenken oder Ängste und manchmal auch um ganz persönliches Empfinden, um Sympathie und Antipathie, um Nähe und Distanz auf beiden Seiten. Und es geht um Missverständnisse, manchmal auch Zugeständnisse. Es menschelt in der Auseinandersetzung von Geist und Macht. Es wird gestritten, was das Zeug hält, und mit harten Bandagen gekämpft. Aber es gibt auch unerwartete Gesten der Versöhnung.
Es liegt in der Natur der Sache, dass bei dieser Darstellung die Schriftsteller in den Mittelpunkt rücken. Sie sind die Meister der öffentlichen Diskurse. Einige von ihnen haben sie nicht nur gesucht, sondern sich auch trefflich in Szene gesetzt und dies über Jahrzehnte. Sie treten deshalb im Buch häufiger auf als andere. Jedes Zeitalter hat sein Thema, jedes Thema bringt seine Wortführer hervor. Was wäre diese Studie ohne Günter Grass, Jürgen Habermas, Robert Havemann, Christa Wolf oder Stefan Heym, diese großen Streiter für die res publica? Wer Überzeugungen hat und den Mut zu urteilen, geht zwangsläufig das Risiko ein, sich zu täuschen. Für die Demokratie ist jedoch alles drei unentbehrlich: Überzeugung, Urteilskraft und Irrtum gehören zu ihren Elementarteilchen. Um die Wahrheit muss auf der Bühne der Öffentlichkeit gerungen werden. Dort entfaltet sie ihre Wirkung durch die besseren Argumente. Doch die politische Kultur hat sich im wiedervereinigten Deutschland verändert. Die großen Gemüter erregenden Debatten sind seltener geworden. Gibt es keinen Anlass mehr für mitreißende öffentliche Kontroversen? Was spricht für einen Wandel und welche Ursachen könnten ihm zugrunde liegen?
Ist der Intellektuelle der Postmoderne weniger kritisch oder wahrheitssuchend als in den Jahren der Teilung der Welt und der großen Ideologien? Haben für ihn die viele Generationen prägenden religiösen abendländischen Erzählungen in der säkularen Welt ausgedient? Leiten sich aus ihnen keine Überzeugungen mehr ab, die unser Leben prägen? Lohnt es sich nicht mehr, dafür zu streiten? Oder fehlt der Glaube, etwas verändern zu können? Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Politik?
Das Verhältnis von Geist und Macht hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Es hat sich entspannt. Es fehlt ihm an Leidenschaft. Doch die Welt bleibt voller Themen und es mangelt weder an Problemen noch an Konflikten von großer Bedeutung. Deshalb stellt sich die Frage: Woran liegt es? Ist die postmoderne Gesellschaft so mit sich selbst beschäftigt, dass sie stumpf geworden ist? Oder haben sich die Meinungen der Mächtigen und Unmächtigen so angenähert, dass Unterschiede hier wie dort kaum noch öffentlich wahrnehmbar sind? Brauchen die westlichen Demokratien eine neue große Kontroverse? Kündigt sie sich gerade an? Könnte das Thema Europa sein? Ist die einsetzende Migrations- und Flüchtlingsdebatte Anstoß dafür? Und wie werden die Fronten verlaufen? Zwischen Geist und Macht oder zwischen den beiden und dem Volk?
Mein herzlicher Dank gilt Dr. Hans Joachim Schädlich, der zuerst in diesem Kontext von den »Unmächtigen« sprach. Er erhob keine Einwände dagegen, dass ich diesen Begriff als Überschrift meines Buches wählte. Ferner danke ich dem universal gebildeten ersten Leser Dr. Franz Rudolf Helmke für seine kritische Durchsicht des Manuskripts und insbesondere der Konrad Adenauer Stiftung für ihre freundliche unterstützung. Dies gilt auch für die Bibliothek, wo Frau Annett-Kerstin Oberhoff mir bei Recherchen behilflich war.
Euskirchen, im Juni 2015
Der Unterscheidung von Geist und Macht wohnt etwas Willkürliches inne. Denn natürlich kennen wir alle geistreiche Politiker und machtbewusste Intellektuelle. Und doch überwiegen die Unterschiede. Worauf ist das zurückzuführen?
Es liegt daran, dass die politisch Handelnden nach der Macht streben. Es bleibt zu hoffen, dass sie es tun, um einer besseren Gesellschaft Gestalt zu geben. Natürlich geht alle Staatsgewalt vom Volke aus, wie es in unserer Verfassung heißt. Aber es kann sie nicht wahrnehmen, es delegiert sie. In der Regel bündelt sich die Macht in der politischen Klasse. In ihr gibt es natürlich auch Intellektuelle. Winston Churchill war dafür als Politiker und Schriftsteller ein herausragendes Beispiel. 1953 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Ausgezeichnet wurde sein monumentales Werk zum Zweiten Weltkrieg.
Vita activa und contemplativa
Der eigentliche Raum des Politikers ist und bleibt jedoch die »Vita activa«, der Raum des tätigen Lebens, wie ihn Hannah Arendt bezeichnete, und nicht die »Vita contemplativa«, der Raum des freien Denkens. Hier ist vor allem der Intellektuelle zu Hause. Beide Räume schließen einander nicht grundsätzlich aus. Doch die in ihnen geltenden Rahmenbedingungen sind unterschiedlich. Bei näherem Hinsehen zeigt sich dies vor allem bei der Wahrnehmung von Verantwortung. Der Politiker ist vor allem anderen gegenüber verantwortlich, der Intellektuelle vor allem sich selbst. Der verantwortlich handelnde Politiker ist deshalb in starkem Maße auf Kompromisse angewiesen. Um die Macht zu erwerben und zu behaupten, sucht er nach einem Ausgleich divergierender Interessen, die in jeder Gesellschaft vorhanden sind. Dies gilt für die Demokratie mehr als für die Diktatur.
Dem Intellektuellen bleibt der Raum des Handels von Ausnahmesituationen abgesehen verschlossen. Kompromisse sind ihm suspekt, weil sie der Radikalität und Rationalität seines Denkens entgegenstehen. Darin unterscheidet sich der Intellektuelle von der immer einflussreicher werdenden Gruppe der Intelligenz. Sie kennzeichnet spezifische Fähigkeiten, die sie in Berufen anwenden als Ärzte in den großen Kliniken, als Ingenieure in den modernen Entwicklungszentren, als Juristen in den Bürokratien oder als Wissenschaftler in den großen Forschungslaboren. Hier geht es vor allem um drei Dinge: Kompetenz, Effizienz und Ertrag. Darum geht es den Intellektuellen nicht. Ihnen geht es um Werte und Standpunkte, um den Menschen als kulturelles, soziales und politisches Wesen. Sie richten sich nicht an eine kleine Gruppe von Experten, sondern an alle. Ihr Deutungsraum ist das alltägliche Leben des Menschen. Sie wollen es verbessern, zumindest aber erträglicher gestalten.
Mit diesem Ziel treten sie in Konkurrenz zur politischen Klasse, vor allem aber der politischen Elite, die in der Öffentlichkeit agiert. In der Demokratie will auch sie das gute Leben gestalten. Selbst wenn die Vorstellungen darüber nicht auseinandergehen, unterscheiden sich die Wege dorthin. Die Intellektuellen suchen den direkten Weg, die Politiker den gangbaren. In den Augen der Intellektuellen handelt es sich dabei nicht selten um einen vermeidbaren Umweg, wenn nicht um einen Irrweg. Er wurde nach ihrer Meinung in Deutschland im 20. Jahrhundert häufig beschritten, in den Diktaturen wie in den Demokratien.
Intellektuelle und politische Elite
Im Gegensatz zur politischen Elite handeln die Intellektuellen nicht organisiert. Sie treten in der Regel als Einzelne auf und sprechen zunächst nur für sich. Darin liegt eine Stärke. Sie sollen und dürfen die Dinge so darlegen, wie sie es für richtig halten. Doch dürfen sie in der Wahrnehmung dieser Freiheit bestimmte Grenzen nicht überschreiten. Ihre Meinungsfreiheit endet dort, wo sie die Persönlichkeitsrechte anderer verletzen. In ihrer Stärke liegt auch ihre Schwäche. Im Gegensatz zur politischen Elite, die ja zuvörderst für andere sprechen soll, haben sie es schwer, in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Gelingt es ihnen als Einzelne oder im Verbund mit anderen, sich Gehör zu verschaffen, sind die Intellektuellen gegenüber der politischen Elite nicht ohnmächtig. Sie können sie herausfordern. Dies gilt insbesondere für die wortmächtigste Gruppe unter ihnen: die Schriftsteller. Gemeinsam oder mit anderen Wissenschaftlern, Künstlern und Repräsentanten gesellschaftlicher Kräfte verfügen sie über Einfluss. Sie können das Denken und Handeln anderer beeinflussen. Sie können verbreiteten Ansichten widersprechen, ja im äußersten Fall auch gegen politische Entscheidungen Widerstand leisten. Dies kennzeichnet das besondere Verhältnis der Unmächtigen zu den Mächtigen. [1] Ihre Bühne ist, wie die der Macht, die Öffentlichkeit.
Öffentliches Bewusstsein
Gelingt es im Zusammenspiel mit den Medien, Einfluss auf die öffentliche Meinung zu gewinnen, dann können sie kurz-, aber auch langfristig das öffentliche Bewusstsein erreichen, beeinflussen und verändern. Deshalb sind die Intellektuellen nicht ohnmächtig, sondern allenfalls unmächtig, weil ihnen die klassischen Instrumente staatlicher Gewaltausübung nicht zur Verfügung stehen. In welchem Maße es den Unmächtigen gelungen ist, die Macht herauszufordern, ihr die Stirn zu bieten oder mit ihr im Bunde zu stehen und sie zu stützen, darüber vermag ein Blick in die deutsche Geistesgeschichte der Neuzeit vom Absolutismus bis zur Gegenwart reichhaltig Auskunft zu geben.
Zu den prominenten Beispielen, die der Macht aus den unterschiedlichsten Gründen trotzten, zählten u. a. Martin Luther, Friedrich Schiller, Georg Büchner, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Georg Herwegh, Heinrich Heine oder auch Karl Marx. Die hier Genannten stellen nur eine kleine Auswahl aus dem großen, kaum überschaubaren Kreis der politisch verfolgten Schriftsteller, Dichter und Denker, Künstler und Wissenschaftler in Deutschland dar. Auch handelt es sich dabei keineswegs um ein nur in deutschen Landen anzutreffendes Phänomen. Die Politik wurde der Kultur und Wissenschaft immer dann zum Verhängnis, wenn in Ausübung intellektueller Freiheit bis dahin gültige Dogmen, manches Mal auch nur Konventionen, in Frage gestellt wurden. Dabei ging es meistens um moralische oder politische Ansichten, die dem Staat oder der Kirche ein Dorn im Auge waren. Sie glaubten mit Hilfe der Zensur oder Verboten gängige Lehrmeinungen schützen zu müssen. Damit stellten sie nicht selten die Existenz der Betroffenen in Frage. Doch so schlimm und bedrohlich diese Sanktionen auch für den Einzelnen gewesen sein mögen, sie boten vor der Gründung des deutschen Reiches 1871 immer noch die Möglichkeit, in einen anderen deutschen Staat zu fliehen und dort unterzutauchen.
Weg ins Exil
Das 20. Jahrhundert eröffnete diese Möglichkeiten kaum mehr. Dafür ausschlaggebend war nicht nur die Überwindung der Kleinstaaterei, sondern die seitdem stetig gewachsenen Mittel der politischen Verfolgung, sei es innerhalb oder auch auf diplomatischem Wege außerhalb nationalstaatlicher Grenzen. Das Ausmaß der Brutalität und die Intensität der Repressionen nahmen zu. Verfolgungen endeten häufig nicht mehr an der Landesgrenze. Das galt insbesondere für das »Dritte Reich«, aber auch für die SED-Diktatur. Die Flucht ins Exil bedeutete in der Regel für den Schriftsteller nicht nur den Verlust der Heimat, sondern auch den Übertritt in einen anderen Kultur- oder Sprachraum. Anna Seghers, Thomas und Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Franz Werfel, Hilde Domin und mit ihnen vor allem viele jüdische Künstler und Wissenschaftler mussten das nationalsozialistische Deutschland verlassen, um Repression, Verfolgung und Zuchthaus, ggf. sogar dem KZ zu entgehen. Viele flohen zunächst nach Österreich, um im deutschen Sprach- und Kulturraum zu bleiben. Mit dem Einmarsch Hitlers 1938 wurden sie jedoch gezwungen, weiterzuziehen. Die nächste Station im Exil stellte für viele Frankreich und nach seiner Besatzung durch die deutsche Wehrmacht und einer oft überstürzten Flucht über die Pyrenäen die Vereinigten Staaten von Amerika dar. Nur wenigen eröffnete sich auf Grund ihres internationalen Ansehens die Möglichkeit, Europa mit Hilfe Dritter organisiert zu verlassen. Zu ihnen zählten Thomas und Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger oder auch Franz Werfel.
Den verfolgten Schriftstellern in der DDR blieb im Gegensatz dazu der Schritt in einen anderen Kultur- und Sprachraum erspart. Sie konnten, wenn auch nach dem Bau der Berliner Mauer nur mit behördlicher Genehmigung, von einem deutschen Staat in den anderen wechseln. Allein über hundert Schriftsteller verließen zwischen 1949 und 1989 die DDR. Hinzu kamen viele Wissenschaftler, Maler, Bildhauer, Schauspieler etc. Auch ihnen fiel diese Entscheidung keineswegs leicht. Sie verloren damit die ihnen vertraute Umgebung. Deshalb zögerten viele, diesen Schritt ins Ungewisse zu tun. Er kam in vielerlei Hinsicht einem Neuanfang gleich. Mit dem Wechsel von Ost nach West ging ihnen die unmittelbare Nähe zu den Menschen, den ihnen bekannten sozialen Räumen und damit auch ihr Thema verloren, das sie in ihren Arbeiten künstlerisch gestalteten. Und doch kam der Ausreise aus der DDR und der Ankunft in der Bundesrepublik eine andere Dimension zu als dem Gang in das Exil. Denn die Sprache und der vertraute Kulturraum blieben erhalten.
Schriftsteller und Staat
Die Mehrzahl der Schriftsteller diente vor dem 20. Jahrhundert dem Staat. Sie waren ihm beruflich verbunden. Sie taten es vor allem um des Broterwerbs willen. Nur wenige Schriftsteller konnten von ihren verkauften Büchern leben. Zu den Ausnahmen zählte Goethe. Dennoch gilt er in Deutschland wohl als prominentestes Beispiel für einen Dichter im Staatsdienst. Er brachte es am Hofe zu Weimar zum Staatsminister und bekleidete eng bemessen mindestens zehn Jahre dieses Amt. Letztlich galt dies auch für einen so unabhängigen Geist wie Gotthold Ephraim Lessing, der als Leiter der Herzog August Bibliothek seinem Landesherrn in Wolfenbüttel diente. Zu erwähnen wäre aber auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Er stieg nach einer revolutionären Phase des politischen Überschwanges später zum Rektor der Berliner Universität auf. Dieses hohe Amt konnte er nur erreichen, weil er zu einem treuen Diener der konstitutionellen Monarchie Preußens nach dem Scheitern Napoleons geworden war. Erinnern ließe sich aber auch an Heinrich von Kleist, der in verschiedenen Positionen dem preußischen Staat diente, bis er als Herausgeber der »Berliner Abendblätter« an der Zensur scheiterte.
Natürlich waren auch noch im 20. Jahrhundert viele Schriftsteller und Künstler dem Staat beruflich verbunden. Hans Friedrich Blunck und Hanns Johst nahmen im nationalsozialistischen Deutschland als Präsidenten der Reichsschrifttumskammer höchste Positionen ein. Gottfried Benn zog es als Stabsarzt in die deutsche Wehrmacht, nachdem seine Gedichte von den Nazis angefeindet wurden. Er suchte dort Schutz, obwohl er zunächst die nationalsozialistische Bewegung begrüßt hatte. Johannes R. Becher diente der SED-Diktatur in den fünfziger Jahren als Kulturminister und Friedrich Wolf als Botschafter in Polen. Einige von ihnen wurden zu Komplizen der Macht in der Diktatur und sind von denen zu unterscheiden, die im Lande blieben, aber keine staatlichen oder vergleichbare Ämter innehatten. Aber am Beispiel Benn wird deutlich, wie sehr hier im Einzelnen zu differenzieren ist. Viele Schriftsteller stützten auch ohne staatliches Amt die Diktatur. Sie taten es aus politischer Überzeugung oder um der vielfältigen Privilegien willen, mit denen der Staat durch Preise oder hohe Auflagen, durch Auslandsreisen und Ehrungen anderer Art lockte.
Diese Studie beschäftigt sich mit der Zeit nach der deutschen Katastrophe 1945, der Teilung Deutschlands über die Wiedervereinigung bis zur Gegenwart. Auch in dieser auf siebzig Jahre zusammengefassten Zeitspanne wird es nicht möglich sein, den vielfältigen Verästelungen des Themas nachzugehen. Die Darstellung konzentriert sich deshalb auf die zentralen Entwicklungslinien und zeitgeschichtlich interessanten Phasen und Persönlichkeiten, insbesondere, aber nicht nur, auf das Verhältnis von Politik und Literatur.
Grundsatzfragen
Bedeutung erlangen in diesem Kontext auch kulturpolitische Grundsatzfragen, wie: Dürfen Intellektuelle politische Systeme unterstützen, wenn diese im Namen einer politischen Utopie, einer besseren Gesellschaft, die Freiheitsrechte missachten und politisch Andersdenkende verfolgen? Welchen Beitrag leisteten Intellektuelle in der DDR zur Stabilisierung der Macht? Wurden sie zu Komplizen der Diktatur, wenn sie kulturpolitisch und künstlerisch Kompromisse eingingen, oder leisteten sie mit ihrer sanften Kritik einen unschätzbaren Beitrag zu ihrer Überwindung. Trugen sie damit zur Ermutigung der Bürger, ja schließlich zur friedlichen Revolution bei? Wie mächtig sind die Unmächtigen in der Diktatur bzw. im geschützten Raum einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung? Haben sie das Recht, gegen demokratisch legitimierte Regierungen öffentlich Stellung zu beziehen, wenn diese Entscheidungen von langfristiger Bedeutung, wie es etwa bei der Diskussion um die Wiederbewaffnung Deutschlands der Fall gewesen ist, treffen. Wo liegt die Grenze intellektueller Einflussnahme auf den politischen Meinungsbildungsprozess? Gibt es eine solche Grenze überhaupt? Wie sind Meinungsäußerungen von Schriftstellern, Wissenschaftlern und Künstlern zu bewerten, wenn diese unmittelbar in den Wahlkampf eingreifen? Hat die Politik das Recht, auf Polemiken in der politischen Auseinandersetzung ebenso deutlich zu reagieren, wie es in der Konkurrenzdemokratie unter den Repräsentanten der politischen Parteien üblich bist? Oder leben und argumentieren die Unmächtigen hier in einem gewissen Schutzraum, weil sie nicht in gleicher Weise über Mittel der Macht verfügen? Und haben die Intellektuellen mit dem Untergang der großen Ideologien, insbesondere dem Zusammenbruch der kommunistischen Staatenwelt und der Demokratisierung der Gesellschaften, überhaupt noch die Möglichkeit, in der Öffentlichkeit durchzudringen, weil ihnen ein universeller Bezugsrahmen fehlt?
Der Krieg zeigte seine Schrecken in Deutschland erst nach und nach. Auch der Frieden kam nicht über Nacht. Er zog in Aachen und Königsberg ein, bevor er einige Monate später die Hauptstadt des »Dritten Reiches«, Berlin, erreichte. Die Mehrzahl der Menschen nahmen das Kriegsende und die Besatzung nicht als Befreiung wahr. Sie empfanden den Untergang des »Dritten Reiches« als nationale Katastrophe. Zu sehr waren sie mit der nationalsozialistischen Diktatur eine Beziehung eingegangen, zu sehr galt ihnen Hitler als genialer Stratege und großer Führer. Daran änderten auch die Bombennächte in Hamburg, Köln oder Dresden nichts. In der Katastrophe formte sich das deutsche Volk zu einer Schicksalsgemeinschaft. Es bildete sich eine Solidarität aus, die bis tief in die fünfziger Jahre fortlebte. Daran vermochten selbst die bitteren Berichte über Kriegsverbrechen und die Vernichtung des jüdischen Volkes in den Konzentrationslagern zunächst wenig zu ändern. Am stärksten zeigte sich dieser innere Zusammenhalt daran, dass aus der Bevölkerung heraus den Besatzungsmächten kaum Naziverbrecher, einflussreiche Funktionäre oder schöngeistige Konjunkturritter der NSDAP angezeigt wurden. Im Gegenteil, vielen von ihnen wurde ein »Persilschein« ausgestellt. Sie wurden wie selbstverständlich in die Nachkriegsgesellschaft integriert.
Stunde Null
Die sogenannte Stunde Null ist maßgeblich eine Erfindung der Intellektuellen, eine Kopfgeburt. Sie hat es nie gegeben. Nach ihnen sollte Altes binnen kurzem abgestreift, vergessen werden und dem Neuen Platz machen. Aber so funktioniert das Leben nicht. Die Stunde Null erwies sich als Chimäre. Stattdessen gab es einen zwar frühen, aber sich nur langsam entwickelnden politischen Neuanfang, das dem alten Denken lange verhaftet blieb. Die Mentalität der Deutschen änderte sich nur allmählich. Menschen speichern Erinnerungen. Erfahrungen, Überzeugungen, Urteile und Einsichten, die sich langsam aufgebaut und festgesetzt haben, leben lange fort. Sie durchmischen sich erst nach und nach mit neuen Strukturen, die neue Verhaltensmuster und Denkweisen eröffnen. Auch in der Kultur gab es keine Stunde Null. Mit den Autoren lebten Traditionen fort. Kontinuität und Wandel bestimmten die ersten Jahre nach der Katastrophe.
Nur wenige Tage nachdem die Waffen ruhten, setzte das kulturelle Leben in Deutschland wieder ein. Dies war nicht ohne die Schriftsteller und Künstler möglich, die noch vor wenigen Wochen im »Dritten Reich« gearbeitet und ihm zum größten Teil auch gedient hatten. Am augenfälligsten wurde dies in Berlin. Berlin, die Hauptstadt der Deutschen, zwölf Jahre das Zentrum nationalsozialistischer Macht, der Kriegsplanung und des Völkermordes, der Organisation und Durchführung des Holocausts. Aber nach der totalen Niederlage auch die Stadt der Besatzungsmächte. Zuerst hisste die Sowjetarmee ihre Fahne am 2. Mai 1945 auf dem zerstörten Reichstag. Wenige Tage danach endete der Zweite Weltkrieg. Die Amerikaner trafen gemeinsam mit den beiden anderen westlichen Alliierten erst Anfang Juli in Berlin ein. Am 5. Juni, vier Wochen nach der bedingungslosen Kapitulation, übernahmen die Siegermächte die Regierungsgewalt in ganz Deutschland. [2] Sie teilten das »Dritte Reich« und die Hauptstadt in vier Besatzungszonen auf. Da hatte das kulturelle Leben allen voran in Berlin schon wieder begonnen.
Kultur in Trümmern
Die Kultur fand sprichwörtlich in Trümmern statt. Steine, Schutt und Asche lagen auf den Straßen. Vielerorts war das öffentliche Verkehrsnetz zusammengebrochen. Autos konnten die mit Kriegsmüll übersäten Straßen häufig nicht passieren. Energie wie Strom und Benzin standen kaum zur Verfügung. Theater, Museen, Opern- und Konzerthäuser waren ausgebombt. Nur wenige Kulturstätten befanden sich in einem Zustand, der eine eingeschränkte, provisorische Nutzung zuließ. Ein kulturelles Leben konnte nur in Trümmern stattfinden. Aber lag nicht die deutsche Kultur selbst nach dem Vernichtungskrieg der Deutschen, nach dem Holocaust und dem Spiel vieler Intellektueller, Künstler und Schriftsteller, Maler und Bildhauer, Musiker und Theaterintendanten, Schauspieler und Regisseure mit der Nazimacht in Trümmern?
Zerstört waren nicht nur die Häuser, öffentlichen Gebäude, Straßen und Infrastruktur, zerstört war auch das Ansehen der Deutschen in der Welt. Sie standen nun da als »Abscheu der Menschheit und Beispiel des Bösen«. [3] Es sah so aus, als hätten die Deutschen alles, was sie sich über Jahrhunderte erworben, an technischen Errungenschaften entwickelt und was sie an großartigen kulturellen Leistungen erbracht hatten, nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Barbarei verloren.
Die Deutschen jammerten über ihr Schicksal. [4] Der Alltag wurde für sie mehr und mehr zu einem alltäglichen Kampf ums Überleben. Der amerikanische Kriegsminister Henry L. Stimson sprach von der aussichtslosesten Lage, die die Welt bis dahin gesehen hatte und John Mc Cloy vom US-State Departement von dem umfassendsten Kollaps einer Gesellschaft seit Menschengedenken. [5] Niemand wusste, wie es weitergehen sollte. Umso mehr wurden die Menschen davon überrascht, dass das kulturelle Leben, allen Widrigkeiten zum Trotz, schon bald wieder einsetzte. Das ermutigte sie. Handelte es sich dabei vonseiten der Alliierten um einen Fingerzeig der Versöhnung? Wollten sie die Deutschen auf ihre Stärken aufmerksam machen? Wollten sie sie auf diese Weise befrieden? Oder handelte es sich um taktisch bestimmte Sympathiewerbung der Sieger? War die amerikanische Direktive JCS 1067 vom 26. April 1945 schon im Sommer überholt? Danach sollte Deutschland nicht nur mit dem Ziel besetzt werden, es von den Nazis zu befreien, sondern es wurde als »besiegte feindliche Nation, für die Chaos und Leiden unvermeidlich seien«, betrachtet.
Geistig-moralische Lage
Wenige Tage vor der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai hielt der spätere Vorsitzende der SPD, Kurt Schumacher, eine bemerkenswerte Rede in Hannover, in der er auf die neue politische und geistig-moralische Lage Deutschlands und der Deutschen einging.
»Die Mitschuld großer Volksteile an der Blutherrschaft der Nazis liegt in ihrem Diktatur- und Gewaltglauben! Getilgt kann diese Schuld nicht werden, gemindert muß sie werden […]. Weil die Deutschen sich die Kontrolle über ihre Regierung haben entziehen lassen, deswegen kontrollieren uns heute andere. Diese politische Einsicht ist die Voraussetzung der geistigen und moralischen Umkehr.« [6]
Doch zu dieser Umkehr brachen die Deutschen nur zögerlich und langsam auf. Darin unterschied sich die Mehrzahl der Intellektuellen nicht von der Bevölkerung.
Die ersten Nachkriegsjahre wurden zu einer Zeit des Übergangs in der »Umbruchgesellschaft«. In ihr lebte altes Denken fort, aber auch neues kündigte sich an. Vieles, was gestern noch richtig gewesen zu sein schien, galt nun als falsch, ja es durfte zum Teil nicht einmal mehr ausgesprochen werden. Helden standen mit einem Mal als Mörder dar. Aus SS-Schergen wurden Biedermänner. Aber die von den Nazis hingerichteten Widerstandskämpfer galten weiter als Verräter. Die dem Tode geweihten Überlebenden erfuhren, als sie aus den Zuchthäusern entlassen wurden, nur zögerlich Anerkennung, obwohl sie Zeugen für ein moralisches Gewissen unter den Deutschen waren. In vielen Bereichen des öffentlichen Lebens wirkten Personen fort, die bereits in der Kriegszeit Verantwortung trugen. Dennoch veränderte sich die Gesellschaft. Politisch, wirtschaftlich, sozial, vor allem geistig und kulturell nahm sie Schritt für Schritt neue Gestalt an. Es kam zu einem langsam »gleitenden, nahezu bruchlos anmutenden Übergang« von der alten in die neue Zeit.
Gleitender Übergang
Die Berliner Philharmoniker boten dafür ein Beispiel. Sie hatten am 11. April 1945 ihr letztes offizielles Konzert im »Dritten Reich« gegeben. Es war ein Konzert zu Ehren von Albert Speer, seit 1942 Hitlers Stararchitekt und späterer Reichsminister für die Kriegsproduktion. Zu den Programmpunkten zählte u. a. Richard Wagners Schlussszene aus der »Götterdämmerung« sowie Anton Bruckners »Vierte Symphonie«. Beide Stücke wurden als finale Akkorde des »Dritten Reiches« gedeutet. Nach diesem vermeintlich letzten kam es am 15. und 16. April noch zu einem allerletzten Konzert der Philharmoniker. Sie spielten nunmehr für die Berliner Bevölkerung. Es dirigierte wiederum der Kapellmeister der Oper Unter den Linden Robert Heger. Der Chefdirigent Wilhelm Furtwängler hatte sich bereits im Januar in die Schweiz abgesetzt, um dem Schlussakkord des »Dritten Reiches« und dem Bombenhagel auf Berlin zu entgehen. Doch die Berliner Philharmoniker gingen nicht unter. Bereits vier Tage nach dem Ende des Krieges versammelten sie sich wieder. Die sowjetische Besatzungsarmee förderte das Ensemble und sorgte für seine Bewegungsfreiheit in der besetzten Stadt. So wurde bereits wenige Tage nach der Waffenruhe das nächste Konzert vorbereitet. Es fand nach Proben im Rathaus Wilmersdorf bereits am 26. Mai im Titaniapalast statt. Es dirigierte aber nicht Robert Heger, der den Nazis nahestand, sondern Leo Borchard, der viele Jahre von der Reichsmusikkammer mit einem Berufsverbot belegt worden war. Gespielt wurde u. a. Felix Mendelssohn Bartholdys »Sommernachtstraum«. [7] Seine Werke durften wegen seiner jüdischen Herkunft während der Nazidiktatur nicht gespielt werden. Doch Leo Borchard übernahm nur für einige Monate das Amt des neuen Chefdirigenten. Das Schicksal war ihm nicht günstig. Er wurde von einem amerikanischen Soldaten bei der Einfahrt in den US-Sektor am 23. August erschossen, weil der Fahrer seines Wagens sich beim Passieren der Sektorengrenze nicht den Anordnungen gemäß verhielt.
Hitlers Maestro
Wilhelm Furtwängler galt als Hitlers berühmtester Maestro. Er brachte es im »Dritten Reich« zum Vizepräsidenten der Reichsmusikkammer. Später rechtfertigte er sich damit, er sei ein unpolitischer Mensch und habe dieses hohe Amt nur eingenommen, um Schlimmeres zu verhindern. Er folgte damit dem Schema vieler Rechtfertigungen nicht nur von bekannten Künstlern und Schriftstellern. [8] So kam es, dass er bereits am 25. Mai 1947 wieder die Berliner Symphoniker dirigierte und fünf Jahre später 1952 zu ihrem Chefdirigenten auf Lebenszeit ernannt wurde. [9] Robert Heger übernahm 1945 die Leitung der Städtischen Oper Berlin und wurde 1950 Erster Staatskapellmeister in München. Dort leitete er auch die Hochschule für Musik.
»Gottbegnadeten-Liste«
Beide, Furtwängler und Heger, standen auf der »Gottbegnadeten-Liste«, die etwa 1000 von 140.000 Mitgliedern der Reichskulturkammer – Schriftsteller, Schauspieler, Musiker, Maler etc. – umfasste. Sie wurden auf Grund ihrer besonderen kulturellen Bedeutung für das »Dritte Reich« und ihrer Nähe zum Regime vom Fronteinsatz freigestellt, damit sie zu Hause der Propaganda des Naziregimes dienen konnten. Sie galten als unersetzlich. Neben der »Führer-Liste«, die knapp 200 Kulturschaffende umfasste, gab es eine »Goebbels-Liste«. Sie schützte ca. 600 Schauspieler und Filmemacher, die nach dem Kriege wieder eine herausgehobene Rolle im Kultur- und Geistesleben spielten. Zu den NS-Privilegierten zählten u. a. die Schauspieler Gustaf Gründgens, Werner Krauß, Heinz Rühmann, die Schriftsteller Hans Carossa, Agnes Miegel, Ina Seidel, die Hitler zu den sechs bedeutendsten deutschen Schriftstellern zählte, und nicht zuletzt der Bildhauer Arno Breker. Er erhielt nach dem Krieg hochdotierte Aufträge, vor allem aus der Wirtschaft. Ferner zu nennen sind der Maler Hermann Gradl und der Architekt und Hochschullehrer Ernst Neufert, die Musiker Richard Strauss, Karl Böhm, Elly Ney sowie Carl Orff, der für die Olympischen Spiele 1936 in Berlin den »Einzug und Reigen der Kinder« und 1982 in München den »Gruß der Jugend« komponierte hatte. Viele von ihnen knüpften nach ihren Erfolgen im »Dritten Reich« im Nachkriegsdeutschland daran an und wurden für ihre Verdienste geehrt. Gewiss ist die Nähe jeder einzelnen der hier genannten Persönlichkeiten differenziert zu betrachten. Eines hatten sie aber alle gemeinsam: Das »Dritte Reich« hatte ihre Karriere gefördert. Hitler und Goebbels hielten viel von ihnen und betrachteten sie auch politisch als zuverlässig.
Harlan und Gründgens
Ein weiteres Beispiel für den nahezu gleitenden Übergang vom Nazideutschland zum Nachkriegsdeutschland stellt Veit Harlan dar. Er zählte zu den preisgekrönten Regisseuren der NS-Diktatur und durfte seine Filme in Agfacolor drehen, was eine besondere Auszeichnung darstellte. Nach einem Schwurgerichtsverfahren 1949 in Hamburg wurde Harlan nach seinem Freispruch von seinen Anhängern umjubelt auf den Schultern aus dem Gerichtssaal getragen. Dies entsprach durchaus der Stimmungslage weiter Teile der Zivilbevölkerung. Carlo Schmid erklärte später im Deutschen Bundestag, dass Harlan mit diesem Film dazu beigetragen habe, die massenpsychologischen Voraussetzungen für die Vergasung der Juden in den Vernichtungslagern befördert zu haben und es eine Schande sei, dass Harlans Filme im Nachkriegsdeutschland gezeigt würden. [10] Dies änderte an seiner Nachkriegskarriere nichts. Bis in die fünfziger Jahre hinein dominierten Filmproduktionen aus der Nazizeit die Kinos in der Bundesrepublik. Als Massenmedium erzeugten sie eine antiaufklärerische Stimmungslage, die vielen Kulturschaffenden zugutekam. Auch Gustaf Gründgens, den Carl Zuckmayer als »Götterliebling der Nazis« bezeichnet hatte, [11] profitierte davon. Er erhielt im »Dritten Reich« viele Ehrungen und avancierte zum Preußischen Staatsrat und Präsidialrat der Reichstheaterkammer. Nach der sowjetischen Internierung wurde er 1947 zum Generalintendanten in Düsseldorf berufen. 1953 erhielt er aus den Händen von Bundespräsident Theodor Heuss das Große Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. [12]
George und Dikreiter
Weniger gnädig verlief das Schicksal mit Heinrich George, der eng mit Veit Harlan zusammengearbeitet hatte. Er hatte in Nazipropagandafilmen wie »Hitlerjunge Quex«, »Jud Süß«, »Kolberg« und »Das Leben geht weiter« Hauptrollen gespielt, die ihn in unmittelbare Nähe des NS-Regimes rückten und gerechtfertigt erscheinen lassen, ihn als »Staatsschauspieler des Dritten Reiches« zu bezeichnen. Er stand unter besonderem Schutz Adolf Hitlers und Joseph Goebbels. Schon 1937 übertrugen ihm die Nazis die Leitung des renommierten Schillertheaters in Berlin. Doch anders als Veit Harlan konnte er an seine Karriere im »Dritten Reich« nicht anknüpfen. Die sowjetische Besatzungsmacht inhaftierte ihn, weil er nicht kollaborieren wollte. Er verschwand in einem der fünf berüchtigten Internierungslager in Sachsenhausen. Dort verstarb er 1946 an den Folgen der Haft. Der sowjetische Geheimdienst statuierte an ihm ein Exempel, das anderen, die in ähnlicher Weise dem NS-Regime gedient hatten, erspart geblieben war.
Auch in der bildenden Kunst kam es mit dem Ende der Naziherrschaft nicht zu einem radikalen Kontinuitätsbruch. Beispielhaft zu nennen ist dafür der Direktor der städtischen Galerie in Würzburg Heiner Dikreiter, der sich schon bald nach der Machtergreifung der NSDAP anschloss. Von 1938 an kaufte die Stadt Würzburg auf den jährlich stattfindenden großen Verkaufsausstellungen in München so viele Nazi-Kunstwerke wie keine andere Kommune. Dies geschah von 1941 an in Verantwortung des Galerieleiters und Malers Heiner Dikreiter, der aber schon zuvor die Ankaufpolitik wesentlich mitprägt hatte. Er tat dies als Vorsitzender der »Vereinigung unterfränkischer Künstler und Kunsthandwerker«. Die Vereinigung wurde von einflussreichen Nationalsozialisten wie dem Gauleiter Otto Hellmuth und Oberbürgermeister Theodor Memmel unterstützt. Dikreiter blieb bis 1966 aufgrund diverser »Persilscheine« im Amt und förderte weiterhin Künstler wie Hermann Gradl, der auf der Liste der »Gottbegnadeten« stand und zu Hitlers Lieblingsmalern zählte. [13] Demgegenüber wurden bereits im Sommer 1945 Kunstausstellungen mit Arbeiten von Künstlern eröffnet, deren Werke im Nationalsozialismus als entartet diffamiert worden waren. Doch dabei handelte es sich zu einem großen Teil um »Schaufensterveranstaltungen«, die wichtig waren, aber das öffentliche Bewusstsein kaum erreichten.
Neuanfänge
Die Alliierten verbannten nationalsozialistisches Gedankengut aus dem kulturellen Alltag, so gut sie es konnten. Rückblickend betrachtet, ist es faszinierend zu sehen, wie schnell sich binnen Monaten das kulturelle Programm der neuen Zeit anpasste. Allein in Berlin fanden von Juni bis Dezember 1945 weit über hundert Premieren statt und 400 Anträge auf Eröffnung von Theatern und 1000 Kabaretts wurden den Behörden zur Genehmigung vorgelegt. [14] Die Deutschen befanden sich in einem wahren Kulturrausch. Doch die Kultur diente in den ersten Nachkriegsjahren vor allem dem Verdrängen.
Aber es gab Ausnahmen. Dazu zählte Wolfgang Borcherts Drama »Draußen vor der Tür« aus dem Jahr 1947. Es thematisierte Schuld und Abgrund der aus dem Krieg heimkehrenden Soldaten, die auf Menschen trafen, die ihnen jetzt fremd gegenüberstanden. Dies galt auch für den der »Roten Kapelle« verbundenen Schriftsteller Günther Weisenborn und sein Drama »Die Illegalen«, in dem er auch sein eigenes Schicksal als antifaschistischer Widerstandskämpfer schilderte. Er stieß damit jedoch weder in der SBZ noch in den Westzonen auf Interesse. Sein Stück wurde kaum aufgeführt. Den einen galt es zu wenig klassenkämpferisch, die anderen zögerten, einen sozialistischen Autor zu fördern, der sich einer antifaschistischen Widerstandsgruppe angeschlossen hatte.
Mit Einschränkungen ist hier auch Carl Zuckmayers Theaterstück »Des Teufels General« zu nennen, der widerständisches Verhalten in der Wehrmacht am Beispiel des Luftwaffengenerals Harras aufzeigte. Dieses Stück konnte aber auch, da Harras sich zu Tode stürzte, um einer Verurteilung zu entgehen, so verstanden werden, dass Widerstand in der nationalsozialistischen Diktatur illoyal und deshalb zum Scheitern verurteilt war. Nicht zuletzt deshalb stieß es wohl beim westdeutschen Publikum auf großes Interesse und wurde in den fünfziger Jahren mit Curd Jürgens in der Hauptrolle erfolgreich verfilmt. In der SBZ und DDR blieb es verboten, obwohl es sich bei dem Autor um einen Exilschriftsteller handelte. Zuckmayer zeigte sich von der Wirkung seines Soldatendramas ebenso wie von dem außergewöhnlichen Erfolg beim Publikum erstaunt. Später erkannte er, dass viele Deutsche darin eine Rechtfertigung für ihr angepasstes Verhalten als Soldat der Wehrmacht sahen. Anfang der sechziger Jahre entschloss er sich deshalb, »Des Teufels General« nicht mehr aufführen zu lassen. [15]
Die Alliierten standen in beiden Teilen Deutschlands dem Thema Widerstand distanziert gegenüber. Die Motive dafür mögen unterschiedlich gewesen sein. Seine Würdigung durch entsprechende aufklärende Literatur erschien ihnen ebenso wenig angemessen wie notwendig. Darin stimmten sie mit der breiten Mehrheit der Deutschen überein. So konnten zu diesem Thema nur wenige Bücher erscheinen.
Frischluftzufuhr
Viele Bühnen im zerstörten Deutschland griffen in den ersten Nachkriegsjahren auf Bewährtes zurück. Besonders häufig spielten sie Dramen der Aufklärung und Weimarer Klassik, vor allem Stücke, die zuvor verboten waren. Wo sollten auch die neuen Stücke herkommen, die sich mit der nationalsozialistischen Schuld beschäftigten? Eine Frischluftzufuhr erfuhr das Theater durch internationale Dramen wie Thornton Wilders »Wir sind noch einmal davon gekommen« und »Unsere kleine Stadt« oder Jean-Paul Sartres Widerstands- und Ermutigungsdrama »Die Fliegen«, das er während der Zeit der deutschen Besatzung in Frankreich geschrieben hatte. Doch dieses Stück durfte, sieht man einmal von der Berliner Sondersituation als Stadt unter der Vier-Mächte-Verantwortung ab, nur auf westlichen Bühnen gespielt werden. In der sowjetischen Besatzungszone prägte schon bald das »psychologisch realistische Menschentheater« des stalinistischen Dramatikers Konstantin Stanislawski die Bühnen. Mit Hilfe seiner Dramaturgie sollte der faschistische Ungeist in der Bevölkerung ausgetrieben werden. Die bereits im Moskauer Exil erarbeiteten Richtlinien prägten die Theater der DDR bis in die siebziger Jahre hinein. [16] Bertolt Brechts episches Theater stellte demgegenüber ganz andere Anforderungen an die Zuschauer. Es versuchte sie zum selbständigen Denken und Handeln anzuregen. In den fünfziger Jahren kam es darüber zu heftigen Auseinandersetzungen mit den Kulturbürokraten der SED.
Für Aufklärung sorgte Ernst Wiecherts dokumentarische Erzählung »Der Totenwald« über das Konzentrationslager in Buchwald. Er griff dabei auf Eindrücke während seiner mehrwöchigen Haft zurück. Das Manuskript schrieb er bereits 1939, als die Erinnerung noch frisch war. Das Buch erschien 1946. Ein weiteres Beispiel für die kritische Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur bot zwei Jahre später Elisabeth Langgässers Prosasammlung »Der Torso«, in der sie sich u. a. mit dem Phänomen der Judenfeindlichkeit im NS-Alltag und der Verdrängung auseinandersetzte. Zu den wachrüttelnden, der wachsenden Selbstgefälligkeit entgegenwirkenden Ausnahmen zählte auch der DEFA-Streifen mit seinem programmatischen, provozierenden Titel »Die Mörder sind unter uns«. Der Regisseur und Drehbuchautor Wolfgang Staudte problematisierte hier bereits 1946 das Abtauchen der Täter in die Nachkriegsgesellschaft. Vor allem galt es aber für die Wochenschauen der Alliierten, die ein breiteres Publikum unmittelbar nach dem Krieg erreichten und sie über die Gräueltaten der Nazis aufklärten.
Blicke nach vorn
Der Neuanfang kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass damit nur sehr vorsichtig der Blick zurück, vor allem aber der Blick nach vorne gerichtet wurde. Die Kultur in Trümmern zog vielfach einen neuen Vorhang auf, als hätte es davor keinen Nationalsozialismus gegeben. Sichtbar wurde dies auch in den Programmen der Verlage mit vielen neuen Titeln, die deutsche und international bekannte Autoren in großen Auflagen publizierten. Die alliierte Kulturpolitik entsprach dem Bedürfnis der Deutschen nach Unterhaltung, Ablenkung, Aufbruch und Vielfalt. Sie versuchte gleichermaßen der Umerziehung der Deutschen wie der Sympathiewerbung für die jeweiligen Siegermächte zu dienen. Vor allem aber beugte sie der Gefahr des Zusammenbruchs der »Übergangsgesellschaft« vor. Vielleicht wollten die Siegermächte anderen Ankündigungen zum Trotz auch den Deutschen ein Stück ihrer Identität wiedergeben. Schon vor dem Ende des Krieges entwickelten sie die Vorstellung, dass die Mentalität der Deutschen nur dann zum Guten gewandt werden könne, wenn ihnen die Möglichkeit gegeben würde, mit sich im Reinen, in Frieden und Wohlstand zu leben. [17] Die Politik konnte nach dem dreifachen Scheitern: des wilhelminischen Obrigkeitsstaates, der Weimarer Republik und des »Dritten Reiches«, auf absehbare Zeit nichts Stärkendes beitragen. Dann schon eher die Kultur. Sie stabilisierte die fragile politische Lage und schmeichelte der deutschen Seele.
Die Schuldfrage wurde schon vor dem Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft gestellt. Dies geschah vor allem von den im Exil lebenden Schriftstellern, Wissenschaftlern und Künstlern. In Deutschland selbst konnte sie während des »Dritten Reiches« nicht theamtisiert werden. Dazu bestand auch keine Bereitschaft. Schuldgefühle waren kaum vorhanden. Für den Einzelnen wäre es zudem lebensgefährlich gewesen, eine Diskussion darüber anzustoßen. So erreichte die Debatte aus dem Exil die Bevölkerung, wenn überhaupt, nur in geringem Maße, etwa über Thomas Manns Rundfunkansprachen der BBC, die von 1940 bis 1945 für die deutschen Hörer übertragen wurden. Deshalb traf die bereits wenige Tage nach der totalen Niederlage einsetzende öffentliche Debatte über das kollektive Versagen der Deutschen die vom Krieg gezeichnete, sich auf der Flucht befindende und zum großen Teil ausgebombte innerlich und äußerlich zerrissene Gesellschaft völlig unvorbereitet.
Kollektivschuld
Wenige Tage vor dem Ende des Weltkrieges äußerte sich Thomas Mann in einem Beitrag über die begangenen Verbrechen in den Konzentrationslagern. Er wurde zuerst über den Rundfunk ausgestrahlt und erreichte am 12. Mai auch die deutschen Leser. Er warf darin die Frage nach der Kollektivschuld auf und schilderte die Schandtaten, die in deutschem Namen begangen worden waren.
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