Markus Zusak
When Dogs Cry
Aus dem Englischen
von Alexandra Ernst
DER AUTOR
Markus Zusak, 1975 geboren, lebt und arbeitet in Sydney, spielt Fußball und schreibt Romane, die international für Furore sorgen. Für »Der Joker« wurde er dutzendfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2007. Sein Roman »Die Bücherdiebin« stürmte die internationalen Bestsellerlisten über Nacht und wurde 2009 ebenfalls mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Zusaks Bücher wurden bis jetzt in über zwanzig Sprachen übersetzt.
Einem Menschen wie mir fällt nichts leicht.
Das ist keine Klage.
Nur eine Wahrheit.
Das Problem ist, dass ich Visionen auf dem Boden meiner Gedanken verschüttet habe. Ich habe dort Worte, die ich herauszubekommen versuche. Um sie aufzuschreiben.
Worte, die ich für mich aufschreiben werde.
Eine Geschichte, für die ich kämpfen werde.
Und so beginnt sie …
Es ist Nacht und ich laufe durch die Stadt in meinem Geist. Durch Straßen und Gassen. Zwischen Gebäuden hindurch, die frösteln. Zwischen Häusern, die sich, mit den Händen in den Taschen, niederkauern.
Während ich durch diese Straßen laufe, habe ich manchmal das Gefühl, sie laufen durch mich. Gedanken in mir fühlen sich an wie Blut.
Ich gehe.
Ich begreife.
Wohin gehe ich?, frage ich mich.
Wonach suche ich?
Dennoch gehe ich weiter, dringe tiefer zu einem unbekannten Ort in dieser Stadt vor. Ich werde förmlich davon angezogen.
An verwundeten Autos vorbei.
Spärlich beleuchtete Treppen hinunter.
Bis ich da bin.
Ich fühle es.
Weiß es.
Ich weiß, dass ich mein Herz in einer schattengeprügelten Gasse gefunden habe, in einer Seitenstraße in dem Irgendwo dieses Ortes.
Da unten wartet etwas.
Zwei Augen glühen.
Ich schlucke.
Mein Herz erschlägt mich.
Und jetzt gehe ich weiter, um herauszufinden, was es ist … Schritt.
Herzschlag.
Schritt.
Die Sache mit dem Biereis war die Idee von Rubes Freundin, nicht meine.
Das wollen wir mal klarstellen.
Nur war ich derjenige, der es ausbaden musste.
Wisst ihr, ich hatte immer geglaubt, dass ich irgendwann mal an den Punkt käme, wo ich erwachsen werden würde, aber bisher hatte ich ihn nicht erreicht. Es war immer noch alles beim Alten.
Ganz ehrlich, ich fragte mich, ob je eine Zeit käme, wo Cameron Wolfe (das bin ich) sich zusammenreißen würde. Ab und zu hatte ich schon einen Blick auf mein anderes Ich erhascht. Es war deshalb anders, weil ich in jenen Sekundenbruchteilen, in denen es aufblitzte, tatsächlich glaubte, ich könnte ein Sieger sein und aus mir könnte mal etwas werden.
Die Wahrheit allerdings war niederschmetternd.
Es war eine Wahrheit, die mir mit innerlich ätzender Brutalität klarmachte, dass ich ich war und dass mir das Gewinnen nicht in die Wiege gelegt worden war. Es musste erkämpft werden, in den Echos und den ausgetretenen Spuren meines Geistes. Es war so, als müsste ich dort nach Momenten suchen, in denen ich mit mir im Reinen war.
Ich fasste mich an.
Ein bisschen.
Okay.
Okay.
Ein bisschen viel.
(Es gibt Leute, die mir weismachen wollen, dass man so etwas nicht so unverblümt zugeben sollte, weil man damit andere Menschen vor den Kopf stoßen würde. Dazu kann ich nur sagen: Warum nicht? Warum soll man nicht die Wahrheit sagen? Alles andere macht doch verdammt noch mal keinen Sinn, oder?
Oder?)
Es war nur so, dass ich mir wünschte, eines Tages von einem Mädchen angefasst zu werden. Ich wollte, dass sie in mir nicht den schmutzigen, zerlumpten, halb grinsenden, halb schmollenden Underdog sah, der versuchte, Eindruck auf sie zu machen.
Ihre Finger.
In meiner Vorstellung waren sie immer sanft, fielen von meiner Brust weich herab auf meinen Bauch. Ihre Nägel auf meinen Beinen, nicht zu fest, ließen meine Haut erbeben. Das alles stellte ich mir vor, die ganze Zeit. Trotzdem wollte ich nicht glauben, dass es nur eine Sache von Lust und Sex war. Denn in meinen Tagträumen kamen die Hände des Mädchens immer über meinem Herzen zur Ruhe. Jedes Mal. Ich sagte mir, dass das die Stelle war, wo ich ihre Berührung am meisten spüren wollte.
Natürlich war da auch Sex.
Nacktheit.
Enge. Härte. Rein und raus in meinen Gedanken.
Aber wenn es vorbei war, sehnte ich mich nach ihrer flüsternden Stimme und einem menschlichen Körper, der sich in meine Arme kuschelte. Allerdings bekam ich nicht einmal ein kleines Stück Wirklichkeit davon zu schmecken. Ich schwelgte in Visionen, ergötzte mich an meinen Gedanken, immer mit dem Gefühl, dass mich nichts glücklicher machen würde, als in einer Frau zu ertrinken. Gott, wie sehr ich mir das wünschte.
Ich wollte in einer Frau ertrinken, wollte die Liebe, die ich ihr geben konnte, spüren und schmecken. Ich wollte, dass ihr Puls mich mit seiner Heftigkeit zerquetschte. Das war es, was ich wollte. So wollte ich sein.
Aber.
Ich war es nicht.
Ich bekam nur hin und wieder einen Mundvoll verstohlener Blicke und meine eigene enttäuschte Hoffnung. Und meine Visionen.
Das Biereis.
Na klar.
Ich wusste, da war noch was.
Gemessen an der Tatsache, dass wir Winter hatten, war es ein schöner Tag gewesen, obwohl der Wind noch frisch war. Die Sonne schien warm und irgendwie pulsierend.
Wir saßen im Garten und hörten uns die sonntägliche Footballübertragung im Radio an. Ich gebe offen zu, dass ich mehr an den Beinen, Hüften, dem Gesicht und den Brüsten der neuen Freundin meines Bruders interessiert war.
Besagter Bruder ist Rube (Ruben Wolfe), und in dem Winter, von dem hier die Rede ist, schleppte er alle paar Wochen ein neues Mädchen an. Manchmal konnte ich sie hören, wenn sie es in unserem Zimmer trieben – ein Ausruf, ein Schrei, ein Stöhnen oder sogar ein erregtes Flüstern. Ich weiß noch, dass ich diese neue Freundin auf Anhieb mochte. Ihr Name gefiel mir. Octavia. Sie war eine Straßenkünstlerin und eine nette Person, verglichen mit ein paar von den Schlampen, die Rube vor ihr aufgegabelt hatte.
Wir lernten sie an einem Samstagnachmittag im Spätherbst unten am Hafen kennen. Sie spielte auf ihrer Mundharmonika, und Passanten warfen Geld in eine alte Jacke, die ausgebreitet zu ihren Füßen lag. Es war ziemlich viel Geld in der Jacke. Rube und ich schauten ihr zu, denn sie war ziemlich gut und brachte die Mundharmonika zum Heulen. Manchmal blieben die Leute stehen und klatschten, wenn ein Lied zu Ende war. Sogar Rube und ich warfen Geld in die Jacke, direkt nach einem alten Mann mit einem Gehstock und vor einem japanischen Touristen.
Rube sah sie an.
Sie sah ihn an.
Mehr war meist nicht nötig, denn immerhin ging es hier um Rube. Mein Bruder musste nie etwas sagen oder tun. Es reichte, wenn er irgendwo stand, sich kratzte oder auch nur über die Bordsteinkante stolperte, und sofort flogen die Mädchen auf ihn. So war es immer und so war es auch bei Octavia.
»Kommst du aus der Gegend?«, hatte Rube sie gefragt.
Ich erinnere mich, wie das Ozeangrün ihrer Augen aufgetaucht war. »Unten, im Süden, in Hurstville.« Er hatte schon gewonnen, das kann ich euch sagen. »Und du?«
Rube hatte sich umgedreht und mit dem Finger gedeutet. »Kennst du die beschissene Gegend hinter der Central Station?«
Sie nickte.
»Tja, da wohnen wir.« Bei Rube hörte es sich so an, als sei die »beschissene Gegend« der beste Ort auf Erden – und mit diesen Worten fing die Sache zwischen Rube und Octavia an.
Was mir am besten an ihr gefiel, war die Tatsache, dass sie mich tatsächlich wahrnahm. Sie behandelte mich nicht, als sei ich lediglich das fünfte Rad am Wagen, nichts als ein Störenfried. Sie fragte mich immer: »Wie geht’s denn so, Cam?«
Die Wahrheit ist.
Rube liebte keine von ihnen.
Sie waren ihm alle egal.
Er wollte sie nur, weil jede von ihnen am Anfang neu war, und warum sollte man nicht etwas Neues nehmen, wenn es besser war als das Alte?
Es muss wohl nicht betont werden, dass Rube und ich völlig unterschiedlich über Frauen denken.
Trotzdem.
Diese Octavia gefiel mir.
Es gefiel mir, wie wir an jenem Tag ins Haus gingen und den Kühlschrank öffneten, wo uns der Anblick einer drei Tage alten Suppe, einer Karotte, eines grünen Etwas und einer Bierflasche überrumpelte. Wir alle beugten uns vor und starrten in den Kühlschrank.
»Na klasse.«
Es war Rube, der das sagte. Sarkastisch.
»Was ist denn das?«, wollte Octavia wissen.
»Was?«
»Dieses grüne Ding.«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Eine Avocado?«
»Zu groß«, erklärte ich.
»Was zum Teufel ist das?«, fragte Octavia noch einmal.
»Wen kümmert’s?«, gab Rube zurück. Er hatte ein Auge auf die Bierflasche geworfen. Das einzig Grüne, worauf er starrte, war das Etikett der Flasche.
»Die gehört Dad«, sagte ich zu ihm. Ich schaute immer noch in den Kühlschrank. Keiner von uns rührte sich.
»Na und?«
»Na, er ist doch mit Mum und Sarah zu Steves Footballspiel gegangen. Er will sie vielleicht trinken, wenn er heimkommt.«
»Vielleicht. Vielleicht kauft er sich auch auf dem Heimweg eine neue.«
Eine von Octavias Brüsten streifte meine Schulter, als sie sich wegdrehte. Es fühlte sich so gut an, dass ich eine Gänsehaut bekam.
Rube griff in den Kühlschrank und schnappte sich die Bierflasche. »Einen Versuch ist es wert«, erklärte er. »Der alte Herr ist derzeit immer gut gelaunt.«
Er hatte recht.
Letztes Jahr um diese Zeit war es ihm ziemlich mies gegangen, weil er keine Arbeit hatte. Dieses Jahr hatte er jede Menge Aufträge, und wenn er mich fragte, ob ich ihm samstags helfen würde, tat ich es. Rube ebenfalls. Mein Vater ist Klempner.
Wir setzten uns an den Küchentisch.
Rube.
Octavia.
Ich.
Und das Bier stand auf der Tischplatte und schwitzte.
»Und?«
Das war Rube.
»Und was?«
»Und was zum Henker stellen wir jetzt mit dem Bier an, du dämlicher Bastard?«
»Mach mal halblang, okay?«
Wir alle grinsten schief.
Sogar Octavia lächelte, denn sie hatte sich mittlerweile an die Art gewöhnt, wie Rube und ich miteinander umgingen, besser gesagt, wie Rube mit mir umging.
»Teilen wir es durch drei?«, fuhr Rube fort. »Oder lassen wir die Flasche einfach kreisen?«
In diesem Moment hatte Octavia ihre grandiose Idee.
»Wie wär’s mit Biereis am Stiel?«
»Soll das ein Witz sein?«, fragte Rube.
»Nein.«
»Biereis am Stiel?« Rube zuckte mit den Schultern und dachte darüber nach. »Warum eigentlich nicht? Warm genug ist es ja. Haben wir noch welche von den Plastikdingern? Du weißt doch, die mit dem Stiel, mit denen man Eis macht.«
Octavia hatte schon die Tür des Küchenschranks geöffnet. Dann griff sie hinein und drehte sich zu uns um. »Gefunden!«, frohlockte sie grinsend (und sie hatte einen herrlichen Mund mit geraden weißen, sexy Zähnen.)
»Okay.«
Jetzt wurde es ernst.
Rube öffnete die Flasche und wollte gerade das Bier in die Plastikbehälter füllen, gerecht aufgeteilt natürlich.
Unterbrechung.
Von mir.
»Wollen wir die Dinger nicht vorher auswaschen?«
»Warum?«
»Wahrscheinlich stehen die seit ungefähr zehn Jahren im Schrank.«
»Na und?«
»Na, die sind bestimmt ganz siffig und staubig und …«
»Kann ich jetzt bitte das verdammte Bier eingießen?«
Wieder lachten wir, lachten die Anspannung weg und schließlich goss Rube mit quälender Genauigkeit drei gleiche Bierportionen in die Plastikbehälter. Er befestigte die Stiele, sodass sie alle in der Mitte steckten.
»Okay«, sagte er. »Das wäre geschafft.« Langsam ging er zum Kühlschrank.
»Du musst sie ins Gefrierfach stellen«, erinnerte ich ihn.
Er erstarrte mitten in der Bewegung, drehte sich langsam zu mir um. Dann sagte er: »Glaubst du im Ernst, ich bin so blöd, das Bier, das ich gerade aus dem Kühlschrank geholt habe, um Eis daraus zu machen, einfach wieder in den Kühlschrank zu stellen?«
»Kann man nie wissen.«
Er ging weiter. »Octavia, mach doch mal das Gefrierfach auf.«
Sie tat es.
»Danke, Süße.«
»Gern geschehen.«
Dann hieß es warten.
Wir saßen eine Weile in der Küche herum, bis Octavia etwas sagte, zu Rube.
»Hast du Lust, was anzustellen?«, fragte sie ihn. Bei den meisten Mädchen wäre das mein Stichwort, mich zu verziehen. Bei Octavia allerdings war ich mir nicht so sicher. Ich verzog mich trotzdem.
»Wo gehst du hin?«, fragte Rube.
»Weiß nicht genau.«
Ich verließ die Küche, nahm meine Jacke und ging auf die Veranda. Im Türrahmen sagte ich über die Schulter hinweg: »Vielleicht zur Hunderennbahn. Vielleicht einfach nur spazieren.«
»Alles klar.«
»Bis später, Cam.«
Mit einem letzten Blick zurück konnte ich das Begehren in ihren Augen sehen. Octavia begehrte Rube. Rube begehrte lediglich ein Mädchen. Ziemlich einfach.
»Bis später«, sagte ich und ging hinaus.
Die Fliegengittertür knallte hinter mir zu.
Meine Füße schleppten sich vorwärts.
Ich schob meine Arme durch die Jackenärmel.
Warme Ärmel.
Zerknitterter Kragen.
Hände in den Taschen.
Okay.
Ich ging.
Kurze Zeit später arbeitete sich der Abend in den Himmel vor und die Stadt kauerte sich nieder. Ich wusste genau, wohin ich gehen würde. Ohne zu wissen, ohne zu denken, wusste ich es. Ich ging zum Haus eines Mädchens. Es war ein Mädchen, das ich letztes Jahr auf der Hunderennbahn kennengelernt hatte.
Sie mochte.
Sie mochte.
Nicht mich.
Sie mochte Rube.
Sie hatte mich sogar mal einen Loser genannt, als sie mit ihm redete, und ich hatte gelauscht, wie mein Bruder sie mit Worten niedergeschlagen und beiseitegeschoben hatte.
In letzter Zeit stand ich oft vor ihrem Haus. Auf der anderen Straßenseite. Ich stand und starrte und schaute und hoffte. Und ich ging wieder, nachdem die Vorhänge zugezogen worden waren. Ihr Name war Stephanie.
An diesem Abend, den ich mittlerweile den »Biereis am Stiel«-Abend nenne, stand und starrte ich etwas länger als gewöhnlich. Ich stand da und stellte mir vor, wie ich sie nach Hause begleiten und ihr die Tür aufhalten würde. Ich stellte mir dieses Bild so lange vor, bis der Schmerz mein Innerstes nach außen riss.
Ich stand.
Meine Seele außen.
Das Fleisch innen.
»Ach, was soll’s!«
Es war ein ganz schönes Stück Weg, denn sie wohnte in Glebe und ich in der Nähe der Central Station, in einer kleinen Straße mit löchrigem Asphalt. Die Bahngleise direkt dahinter. Ich war es gewohnt – sowohl die Entfernung als auch die Straße. Auf gewisse Weise bin ich sogar stolz darauf, wo ich herkomme. Das kleine Haus. Die Wolfe-Familie.
Viele Minuten schlurften dahin, während ich heimging. Als ich den Lieferwagen meines Vaters vor unserem Haus stehen sah, lächelte ich sogar.
Die Dinge hatten sich in letzter Zeit für uns alle ganz gut entwickelt.
Für Steve, meinen anderen Bruder.
Für Sarah, meine Schwester.
Für Mrs Wolfe – die unverwüstliche Mrs Wolfe, meine Mutter, die bei Privatleuten und im Krankenhaus putzt, um Geld zu verdienen.
Für Rube.
Für Dad.
Und für mich.
Aus irgendeinem Grund empfand ich, als ich an jenem Abend heimging, einen tiefen Frieden. Ich fühlte mich glücklich, glücklich für jeden in meiner Familie, weil alles für sie gut zu laufen schien. Für jeden einzelnen.
Ein Zug fuhr vorbei, und mir war, als könnte ich in seinem Fahrtwind den Klang der ganzen Stadt hören.
Er kam auf mich zu und glitt wieder von mir weg.
Immer schien alles von mir wegzugleiten.
Etwas kommt zu dir, bleibt eine Weile und geht dann wieder.
Der Zug kam mir an diesem Tag wie ein Freund vor. Als er weitergefahren war, merkte ich, wie etwas in mir stolperte. Ich war allein auf der Straße, und obwohl ich immer noch diesen Frieden verspürte, war das kurze Glücksgefühl verschwunden. Eine Traurigkeit riss mich entzwei, langsam und bedächtig. Stadtlichter schienen, streckten ihre Arme nach mir aus, aber ich wusste, dass sie mich nie erreichen würden.
Ich riss mich zusammen und trat auf die vordere Veranda. Drinnen war ein Gespräch über Eis am Stiel und eine fehlende Bierflasche im Gange. Ich freute mich regelrecht darauf, meinen Teil davon abzubekommen, obwohl ich es nie schaffe, eine Bierflasche ganz auszutrinken. (Irgendwann mittendrin habe ich einfach keinen Durst mehr, worauf Rube einmal meinte: »Das geht mir genauso, Kumpel, aber ich trinke trotzdem weiter.«) Die Idee mit dem Biereis am Stiel war jedoch ganz interessant, und ich beschloss, hineinzugehen und einen Versuch zu wagen.
»Ich wollte dieses Bier heute Abend trinken.«
Ich hörte die Stimme meines Vaters in dem Augenblick, als ich das Haus betrat. Sie bekam einen falschen Unterton, als er fortfuhr: »Und wessen brillante Idee war es eigentlich, Eis am Stiel aus meinem Bier zu machen, sorry – aus meinem letzten Bier?«
Stille.
Eine lange.
Stille.
Dann, schließlich die Antwort: »Meine«, als ich ins Zimmer kam.
Bleibt nur noch die Frage, wer diese Antwort gab.
War es Rube?
Octavia?
Nein.
Ich war es.
Fragt mich nicht, warum, aber ich wollte Octavia die (selbstverständlich rein verbalen) Ohrfeigen von Clifford Wolfe, meinem Vater, ersparen. Wahrscheinlich wäre es gar nicht so weit gekommen. Wahrscheinlich wäre er die Höflichkeit selbst gewesen, aber trotzdem wollte ich das Risiko nicht eingehen.
Es war viel besser, wenn er glaubte, ich sei es gewesen. Dämliche Ideen war er von mir gewohnt.
»Warum überrascht mich das nicht?«, fragte er und wandte sich mir zu. Er hielt die besagten Eisbehälter in der Hand.
Er lächelte.
Ein herrliches Lächeln, das könnt ihr mir glauben.
Dann lachte er und sagte: »Tja, Cameron, du hast wohl nichts dagegen, wenn ich deinen Teil esse, oder?«
»Natürlich nicht.« In so einer Situation sagt man immer »natürlich nicht«, denn man findet ziemlich schnell heraus, dass mein alter Herr in Wirklichkeit fragt: »Werde ich dieses Eis essen oder werde ich dir stattdessen dein Leben auf hundert verschiedene Arten schwer machen?« Da ist es nur normal, wenn man den Kopf einzieht.
Das Biereis am Stiel wurde verteilt und zwischen Octavia und mir huschte ein kleines Lächeln hin und her, dann zwischen mir und Rube.
Rube hielt mir sein Eis hin. »Willst du mal beißen?«, bot er mir an, aber ich lehnte ab.
Ich verließ die Küche und hörte meinen Vater gerade noch sagen: »Gar nicht schlecht, wirklich gar nicht schlecht.«
Mistkerl.
»Wo warst du vorhin?«, wollte Rube später von mir wissen, nachdem Octavia gegangen war. Wir lagen in unserem Zimmer in unseren Betten und unterhielten uns.
»Nur spazieren.«
»Doch nicht zufällig in Glebe, oder?«
Ich schaute zu ihm. »Was soll das heißen?«
»Es soll heißen«, seufzte Rube, »dass Octavia und ich dir einmal gefolgt sind, nur aus Neugier. Wir haben dich vor einem Haus stehen sehen. Du hast durchs Fenster gestarrt. Du bist irgendwie ein armes Schwein, was?«
Die Momente verdrehten und verbogen sich. Weit weg konnte ich den Verkehr hören, der fast lautlos dröhnte. Weit weg von alldem hier. Weit weg von Cameron Wolfe und Ruben Wolfe, die darüber sprachen, was zum Teufel ich vor dem Haus eines Mädchens zu schaffen hatte, dem ich völlig egal war.
Dann schluckte ich, atmete ein und antwortete meinem Bruder.
»Ja«, sagte ich. »Ich denke, das bin ich.«
Es gab nichts, was ich sonst hätte sagen können. Nichts, um die Sache zu vertuschen. Es gab nur einen kurzen Augenblick des Wartens, der Wahrheit und des Fühlens, dann einen Riss, und ich sagte: »Es ist diese Stephanie.«
»Die Schlampe«, spuckte Rube hervor.
»Ich weiß, aber …«
»Ich weiß«, unterbrach Rube mich. »Es ist egal, ob sie sagt, dass sie dich hasst oder dich für einen Verlierer hält. Man fühlt, was man fühlt.«
Man fühlt, was man fühlt.
Es war einer der wahrsten und wahrhaftigsten Sätze, die Rube jemals über die Lippen gekommen waren. Danach erdrückte Stille den Raum.
Von nebenan konnten wir Hundegebell hören. Es war Miffy, der erbärmliche Spitz, den wir mit unserer ganzen Liebe hassten, aber trotzdem ein paarmal in der Woche ausführten.
»Hört sich an, als wäre Miffy aufgeregt«, sagte Rube nach einer Weile.
»Ja«, sagte ich und lachte ein bisschen.
Irgendwie ein armes Schwein. Irgendwie ein armes Schwein …
Rubes Stimme vibrierte in mir, bis sich seine Worte anfühlten wie ein Hammer.
Später, als ich aufstand, mich auf die Veranda setzte und zusah, wie das Licht der Autoscheinwerfer vorbeisickerte, sagte ich mir, dass es in Ordnung sei, so zu sein, solange ich hungrig blieb. Es fühlte sich an, als käme etwas in mir an. Etwas, das ich nicht kannte, das ich weder sehen noch begreifen konnte. Es war einfach da und mischte sich in mein Blut.
Sehr schnell, ganz plötzlich flogen Worte durch meinen Kopf. Sie landeten auf dem Boden meiner Gedanken und dort, dort unten, fing ich an, die Worte aufzuheben. Sie waren Fragmente der Wahrheit, gesammelt in meinem Inneren.
Sogar mitten in der Nacht, im Bett, weckten sie mich auf. Sie malten sich an die Zimmerdecke.
Sie brannten sich in die Laken der Erinnerung, die in meinem Geist ausgebreitet waren.
Als ich am nächsten Tag erwachte, schrieb ich die Worte auf einen Papierfetzen. Und in meinen Augen veränderte die Welt an diesem Morgen ihre Farbe.
Ich schleiche näher, geradewegs auf die glühenden Augen zu, die ich in mir entdeckt habe.
Die Stadt ist kalt und dunkel.
Die Gasse ist erfüllt von Taubheit.
Der Himmel sinkt herab. Dunkler, dunkler Himmel.
Ich bin jetzt da, etwa fünf Meter von dem Tier entfernt, das mich anstarrt. Meine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit, und jetzt kann ich ihn richtig sehen. Er kauert am Boden.
Ich sehe die Augen.
Das dichte, zerzauste rostfarbene Fell.
Sehe ihn atmen.
Keuchender Dampf.
Langsam gehe ich näher.
Zu nahe.
Ich komme ihm zu nahe und der Hund springt auf die Füße, umkreist mich, aufmerksam. Sein gesenkter Kopf will nach oben.
Er geht an mir vorbei, bleibt aber stehen und schaut zu mir zurück.
»Was ist?«, frage ich.
Aber ich weiß es schon. Ich muss ihm folgen.
Allmählich führt er mich durch die Straßen zum Sportplatz.
Er bewegt sich mit einer kühnen Grazie.
Dann.
Ist da eine Stelle auf dem Boden.
Auf dem taubenetzten Boden.
Er bleibt stehen und setzt sich dorthin, und die Stadt um uns herum ist wie tot.
Ich mag seine Augen.
Sie glänzen vor Verlangen.