Verlag C.H.Beck
Die politischen Systeme der Welt lassen sich im Wesentlichen drei größeren Gruppen zuordnen: der Gruppe der westlichen Demokratien, der Gruppe der postkommunistischen Systeme und der Gruppe der verschiedenartigen Entwicklungsgesellschaften. Dieses Buch veranschaulicht in Überblickskapiteln Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweiligen politischen Systeme und erläutert sodann an ausgewählten Länderbeispielen die Verfassungsentwicklung und die Verfassungsprinzipien, die Machtpositionen von Regierung und Parlament sowie die Wahl- und Rechtssysteme.
Wilfried Röhrich ist Professor em. für Politikwissenschaft und war langjähriger Direktor des Instituts für Politische Wissenschaft der Universität Kiel. Er ist Autor zahlreicher Buchpublikationen. 2006 erschien von ihm in der Beck’schen Reihe die 2., völlig überarbeitete Auflage seines Buches „Die Macht der Religionen. Im Spannungsfeld der Weltpolitik“ (bsr 1585).
1. Auflage. 1999
2., aktualisierte und überarbeitete Auflage. 2001
3., aktualisierte und überarbeitete Auflage. 2003
4., aktualisierte und überarbeitete Auflage. 2006
5., aktualisierte und überarbeitete Auflage. 2010
eBook 2015
Diese Ausgabe entspricht der 5., aktualisierten und überarbeiteten Auflage von 2010
© Verlag C.H.Beck oHG, München 1999
Umschlagentwurf: Uwe Göbel, München
ISBN Buch 978 3 406 44795 2
ISBN eBook 978 3 406 61626 6
Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie versandkostenfrei auf unserer Website www.chbeck.de.
Dort finden Sie auch unser gesamtes Programm und viele weitere Informationen.
I. Einleitung
II. Gruppen von politischen Systemen
III. Die westlichen Industriegesellschaften
Die politischen Systeme in Westeuropa
Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland
Die Bundesrepublik Deutschland
Die Französische Republik
Die Vereinigten Staaten von Amerika
Exkurs: Japan
IV. Die postkommunistischen Gesellschaften
Die politischen Systeme in Mittel- und Südosteuropa
Die Republiken Ungarn und Polen, die Tschechische und die Slowakische Republik
Rumänien und die Republik Bulgarien
Die Russische Föderation
Die GUS-Republiken Georgien und Kasachstan
Exkurs: Die Volksrepublik China
V. Die postautoritären Entwicklungsgesellschaften
Die politischen Systeme in Südamerika
Die Anden-Republiken Chile, Bolivien und Peru
Die Schwellenländer: die Argentinische Republik und die Föderative Republik Brasilien
Die politischen Systeme in Ost- und Südostasien
Die Schwellenländer: die Republik Korea, das Königreich Thailand und die Republik der Philippinen
Exkurs: Die südasiatische Republik Indien
VI. Die islamischen Entwicklungsgesellschaften des Nahen Ostens und des Maghreb
Die Islamische Republik Iran, das Königreich Saudi-Arabien und die Türkische Republik
Die Maghreb-Staaten: das Königreich Marokko und die Tunesische Republik
Exkurs: Israel
VII. Die Entwicklungsgesellschaften Schwarzafrikas
Die politischen Systeme der Länder südlich der Sahara
Die ostafrikanischen Republiken Kenia und Tansania
Die südafrikanischen Republiken Namibia und Südafrika
VIII. Schlusswort
Anmerkungen
Literaturhinweise
Personen- und Sachregister
Dieses Buch beabsichtigt nicht, Wege der Forschung einzuschlagen; es will vielmehr wissenschaftlich bereits gesicherte Erkenntnisse über die Kernbereiche der politischen Systeme einem breiten Leserkreis vermitteln. Denn es fehlt bisher eine handliche Übersicht über möglichst viele politische Systeme der Gegenwart.
Bereits der Titel des Buches lässt vermuten, dass ein komplexer Gegenstandsbereich vorgestellt wird. Ob es sich um die Grundsätze der Gewaltenteilung und – kontrolle in den westlichen Demokratien handelt, um die Herausbildung demokratischer Rechtsstaaten in Mittel- und Südosteuropa oder um die Chancen der Demokratisierung in den Entwicklungsgesellschaften: Überall bestehen komplexe Zusammenhänge, die schwierig zu durchschauen sind. Hier ist so etwas wie ein Wegweiser geboten, leben wir doch in einer internationalen Gesellschaft mit weitreichender Vernetzung: Kommunikationssatelliten kennen keine nationalen Grenzen, die Massenmedien dringen in die entlegensten Regionen ein; und das über räumliche und zeitliche Schranken wachsende Weltbewusstsein stellt die begrenzten Ordnungen der Geschichte in Frage.
Bei dem Bestreben, die komplexe Wirklichkeit dem an politischen Ereignissen interessierten Leser durchsichtig zu machen, kommt ein Umstand zu Hilfe: Das politische System jedes Landes ist immer ein wissenschaftliches Konstrukt. Als ein solches Konstrukt vermittelt es nur einen ausgewählten Ausschnitt aus der Realität, der auf inhaltlichen und methodischen Überlegungen beruht, aber auch Bewertungen des Autors erkennen lässt. Durch wissenschaftliche Konstrukte wird Wirklichkeit gedanklich fassbar: indem sie um zahlreiche Einzelheiten reduziert wird[1]. Kurz, es handelt sich bei der Darstellung der politischen Systeme der Welt jeweils nur um einen ausgewählten Teil der Realität. Unter diesem Gesichtspunkt lässt es sich dann auch rechtfertigen, deren komplexe Strukturen und Prozesse in knappen Kapiteln darzustellen.
Die politischen Systeme der Welt lassen sich in einer Grobgliederung drei größeren Gruppen zuordnen:
– Die erste Gruppe stellen die westlichen Demokratien der Industriegesellschaften dar. Dies sind die politischen Systeme in Westeuropa, in den USA und in jenen Ländern, die wie Kanada, Australien und Neuseeland mit Großbritannien und seiner politischen Tradition verbunden sind, hier aber nicht behandelt werden. In die Betrachtung wird statt dessen in einem Exkurs das politische System des ostasiatischen Industriestaates Japan einbezogen, dessen Verfassung nach westlichen Rechtsnormen gestaltet wurde (und dessen Verfassungswirklichkeit japanischen Wertvorstellungen folgt). Diese politischen Systeme lassen sich zumeist den parlamentarischen Systemen (wie in Großbritannien), aber auch den präsidentiellen und parlamentarisch-präsidentiellen Systemen (wie in den USA und in Frankreich) zuordnen.
– Die zweite Gruppe von politischen Systemen bilden die postkommunistischen Systeme Mittel- und Südosteuropas (wie in Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien) sowie die der Nachfolgestaaten der vormaligen Sowjetunion. Hier haben sich zum Teil noch ungefestigte Demokratien herausgebildet, die vor autoritären Rückschlägen nicht sicher sind. Einbezogen wird auch das politische System der VR China. Dies deshalb, weil sich bei den bemerkenswerten ökonomischen Erfolgen der Modernisierungspolitik des Landes die Frage stellt, inwieweit der dortige evolutionäre Systemwechsel allmählich zu einer Liberalisierung des politischen Sektors führen kann.
– Die dritte Gruppe von politischen Systemen stellen die Entwicklungsgesellschaften dar. Hier lassen sich zunächst zwei Untergruppen benennen: die weit entwickelten Schwellenländer (Newly Industrializing Countries/NICs) wie Brasilien, Argentinien, Südkorea, Thailand und die Philippinen sowie die weniger entwickelte Dritte und die am wenigsten entwickelte Vierte Welt (Less Developed Countries/LDCs und Least Developed Countries/LLDCs) wie zahlreiche Länder Schwarzafrikas, aber auch u.a. Bangladesch, Myanmar und Laos. Bei dieser gesamten dritten Gruppe von politischen Systemen erweist sich mithin eine Unterteilung als notwendig:
Die erste Untergruppe bilden jene Schwellenländer, die wie die ehemaligen Militärregime Südamerikas und die einstigen ostasiatischen Autokratien einen Systemwechsel zu Demokratien vollzogen haben. Mehrere von ihnen weisen (noch) unzureichend konsolidierte bzw. strukturschwache Demokratien auf, bei denen (mit Ausnahmen) die Frage gestellt werden muss, inwieweit das Militär noch in den politischen Entscheidungsprozess unmittelbar oder mittelbar einbezogen ist.
Während die Darstellung der politischen Systeme der postautoritären (Schwellen-)Länder in Südamerika und Ostasien unter der o.a. Themenstellung des Systemwechsels überregional erfolgt, werden die politischen Systeme der weniger entwickelten Länder (LDCs) sowie das politische System des Schwellenlandes Südafrika nach geographischen Regionen behandelt. Die Darstellung lässt sich hier von der Erkenntnis leiten, dass sich diese Untergruppe politischer Systeme vorrangig von den Entwicklungsproblemen her verstehen und bewerten lässt.
Die nachfolgende Darstellung zeigt in den Überblickskapiteln Gemeinsamkeiten und Unterschiede der betreffenden Systeme vergleichend auf und behandelt in den einzelnen Länderbeiträgen u.a. Fragen zur Verfassungsentwicklung und zu den Verfassungsprinzipien, zu den Machtpositionen von Regierung und Parlament im jeweiligen Institutionengefüge sowie (bei entsprechender Bedeutung) Fragen zum Wahl- und zum Rechtssystem. In den Kapiteln über die postkommunistischen und die postautoritären Systeme wird der jeweilige demokratische Systemwechsel in die Liberalisierungs-, die Demokratisierungs- und die Konsolidierungsphase unterteilt. Die Kapitel über die islamische Welt und die Entwicklungsgesellschaften Schwarzafrikas zeigen besonders deutlich ein allgemeines Phänomen: den durch die autochthone Tradition mitbestimmten Entwicklungs- bzw. Transformationsprozess.
Bei der so gestalteten Konzentration auf die institutionellen Grundlagen und auf die substantiellen und aktuellen Probleme der politischen Systeme konnten – über den Iran, über Saudi-Arabien und die Türkei hinaus – die religiösen und kulturellen Faktoren in ihrer Bedeutung für die politischen Systeme nicht berücksichtigt werden – vor allem die jeweiligen Religionen (der Islam, der Hinduismus, der Buddhismus etc.), die als kulturelle Systeme sowohl von den Prozessen des sozialen Wandels beeinflusst werden als auch selbst diese prägen. Gleichermaßen musste die seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 verschärfte Politisierung der Religionen ausgeblendet werden, die sich im Spannungsfeld der Weltpolitik manifestiert. Schließlich war es nicht möglich, dem durch den Megatrend der Globalisierung bewirkten Prozess der Entstaatlichung nachzugehen, der die Frage aufwirft, wie und inwieweit die Globalisierung eingegrenzt werden kann, um einen überhandnehmenden Kompetenzverlust der politischen Systeme zu vermeiden. – Die Einbeziehung dieser Phänomene hätte den konzeptionellen Rahmen des vorliegenden Bandes schlechthin gesprengt.
Im Vergleich zu den politischen Systemen anderer Weltregionen bilden die westeuropäischen Staaten eine politisch homogene Ländergruppe; sie sind alle rechtsstaatlich-pluralistische Demokratien. Die große Mehrheit der Staaten lässt sich den parlamentarischen Systemen zuordnen, in denen zwischen Parlament und Regierung keine Gewaltenteilung, sondern lediglich eine Arbeitsteilung besteht und in denen die Regierung – im Unterschied zu den präsidentiellen Systemen (in denen Legislative und Exekutive über eine eigenständige und gleichrangige Legitimation verfügen) – aus dem Parlament hervorgeht und von dessen Vertrauen abhängig ist. Nachdem die Machtbefugnisse des portugiesischen und des griechischen Staatspräsidenten stark begrenzt wurden, weist nur noch Finnland präsidentielle Bestandteile auf. Frankreich kann als ein parlamentarisch-präsidentielles System mit einer doppelköpfigen Exekutive bezeichnet werden, in welchem dem direkt vom Volk gewählten Staatspräsidenten die dominierende Machtstellung zukommt – außer in Zeiten der Cohabitation (in denen sich der Präsident in der Nationalversammlung auf keine ihm nahestehende Mehrheit stützen kann und der Staatschef und der Premierminister verschiedenen Parteien angehören). Einmalig ist die Demokratie der Schweiz mit ihrer durch das Parlament gewählten, jedoch unabsetzbaren Kollegialregierung.
Die Wahl der westeuropäischen Parlamente[2] erfolgt nach dem Verhältniswahlsystem (verschiedener Ausprägung) – mit Ausnahme dreier Länder, in denen das relative bzw. absolute Mehrheitswahlsystem besteht. Neben Großbritannien mit seinem traditionellen relativen Mehrheitswahlsystem wählt Italien drei Viertel der Mandate der Abgeordnetenkammer und des Senats nach dem relativen Mehrheitswahlsystem (nach dem der Kandidat in einem Wahlkreis mehr Stimmen als jeder andere Bewerber benötigt, um ein Mandat zu erhalten). Hinzu kommt das absolute (konkret: das romanische) Mehrheitswahlsystem Frankreichs, nach dem – wenn im ersten Wahlgang kein Kandidat die erforderliche absolute Mehrheit der Stimmen (mindestens 50 Prozent plus eine Stimme) erreicht – ein zweiter Wahlgang stattfindet, in dem die einfache (relative) Mehrheit genügt. Im Unterschied zum Mehrheitswahlsystem, das zugunsten einer Konzentrationswirkung im Parteiensystem eine Disproportion von Wählerstimmen und Mandaten in Kauf nimmt, zielt das Verhältniswahlsystem auf eine parlamentarische Vertretung der Parteien entsprechend ihrem Anteil an den Wählerstimmen. Was die von den jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen (und erst unter deren Berücksichtigung auch von den Wahlsystemen) abhängigen Parteiensysteme anbelangt, so bestehen in den skandinavischen Staaten, in Belgien und den Niederlanden Vielparteiensysteme. Als Zweiparteiensysteme lassen sich die Systeme Maltas und (eingeschränkt) Großbritanniens bezeichnen. Neben diesen beiden Demokratien stellten und stellen Griechenland, Irland, Österreich, Portugal und Spanien Systeme mit zwei vorherrschenden Parteien dar, die sich (zum Teil mit Koalitionspartnern) in der Regierung abwechseln.
Interessante Unterscheidungskriterien der politischen Systeme Westeuropas zeigen sich in den Regeln der Regierungsbildung und des Regierungsrücktritts. Bei der Regierungsbildung bestehen die stärksten Unterschiede zwischen Irland, das für die Ernennung des Regierungschefs die relative Mehrheit vorsieht, sowie Spanien einerseits, dessen Verfassung die absolute Mehrheit nur für einen ersten Wahlgang fordert, und Deutschland andererseits, dessen Grundgesetz die absolute Mehrheit auch bei einem notwendigen zweiten Wahlgang verlangt. Einen gewissen Mittelweg beschreiten die Demokratien Belgiens, Griechenlands und Italiens, in denen der neuen Regierung nach ihrer Regierungserklärung mit einfacher Mehrheit das Vertrauen ausgesprochen werden muss. In Frankreich (außer in Zeiten der Cohabitation), aber auch in Finnland und Portugal kommt dem Präsidenten in mehr oder weniger starkem Maße Einfluss auf die Nominierung des Premierministers zu. Was den Regierungsrücktritt anbelangt, so genügt in den meisten westeuropäischen Systemen ein Parlamentsbeschluss mit einfacher Mehrheit, um die Regierung zum Rücktritt zu zwingen, während in Frankreich, Griechenland, Portugal und Schweden im Bestreben, die Regierungsstabilität zu erhöhen, ein Misstrauensvotum von einer absoluten Mehrheit der Parlamentarier ausgehen muss. Darüber hinaus kennen Deutschland, Belgien und Spanien ein konstruktives Misstrauensvotum, wonach das Parlament dem Regierungschef das Misstrauen nur dadurch aussprechen kann, dass es mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt.
Mit Ausnahme der Schweiz steht in allen politischen Systemen Westeuropas an der Spitze der Regierung ein Ministerpräsident bzw. Premierminister oder Kanzler, dessen konkrete Machtposition sich in seiner Stellung im Kabinett und im Parlament sowie in seiner Kompetenz zeigt, die Richtlinien der Politik zu bestimmen. Eine relativ starke Stellung haben die Regierungschefs Großbritanniens, Griechenlands, Irlands, Maltas sowie der deutsche Bundeskanzler und der spanische Regierungschef, der zudem das Recht besitzt, jederzeit das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben. Mit der Machtposition des Regierungschefs verbindet sich, wie angedeutet, die tatsächliche Bedeutung des Kabinetts im Entscheidungsprozess der Regierung. Während in den skandinavischen Ländern sowie in Belgien, Irland und den Niederlanden dem Kabinett eine relativ bedeutende Rolle zukommt, hat sich dieses in zahlreichen westeuropäischen Systemen wie in Finnland, Italien, Luxemburg, Österreich und weitgehend auch in Deutschland zu einem Beschlussorgan gewandelt, dessen Entscheidungen von informellen Gremien im Einzelnen vorbereitet werden.
In den meisten westeuropäischen Systemen kommt dem Parlament insbesondere die Kompetenz der Letztentscheidung bei der Gesetzgebung zu. Stark eingeschränkt ist diese Befugnis in Frankreich, wo alle der Nationalversammlung nicht vorbehaltenen Bereiche durch die Exekutive auf dem Verordnungsweg regelbar sind. Aber auch Regierungen in anderen politischen Systemen Westeuropas können per Ermächtigung des parlamentarischen Gesetzgebers durch umfangreiche Verordnungen rechtsetzend wirken. Dieses Verfassungsrecht verbindet sich mit der Verfassungspraxis: Die zahlreichen Gesetzgebungsaufgaben des demokratischen Rechts- und Interventionsstaates haben dazu geführt, dass in allen westeuropäischen Systemen die Gesetzesinitiative weitgehend von der Regierung ausgeht, die über eine umfangreiche und sachverständige Ministerialbürokratie verfügt (auf die auch die Interessenverbände einwirken). Bei den Parlamenten hat sich in den meisten westeuropäischen Systemen die Arbeit auf parlamentarische Ausschüsse verlagert. Und bei den Fraktionen zeigt sich (am Beispiel des Deutschen Bundestages), dass eine wirksame parlamentarische Regierungsweise nicht zuletzt der Funktionsgliederung der (großen) Fraktionen verpflichtet ist, die eine differenzierte Organisation aufweisen. So hat sich das Fraktionsplenum zu einem Beschlussorgan gewandelt, in dem zwar mannigfache Gegensätze ausgetragen, dessen Entscheidungen jedoch von anderen Gremien, vor allem von den Arbeitskreisen und dem Fraktionsvorstand, im Detail vorbereitet werden. Man würde den einzelnen Parlamentarier überfordern, wollte man von ihm verlangen, alle zur Debatte stehenden Anträge und Vorlagen selbständig zu beurteilen oder bei zweitrangigen Entscheidungen die Materie eigens zu ergründen. Er wird sich vielmehr weitgehend dem sach- und aktenkundigen Wissen der jeweiligen Experten seiner Fraktion anschließen und deren Vorschläge unter allgemeinem politischen Aspekt überprüfen.
Betrachtungen zum britischen Parlament – einem Zweikammerparlament, das aus dem direkt gewählten Unterhaus (House of Commons) und dem Oberhaus (House of Lords) mit erblicher Mitgliedschaft und ernannten Mitgliedern (namentlich den Law Lords) besteht – stellen zumeist die lange Tradition des Parlamentarismus heraus. In den Blickpunkt rückt dabei die historische Entwicklung der Parlamentssouveränität und der Parlamentsherrschaft, die sich heute zur Dominanz des Premierministersystems (Prime-Ministerial Government) verschoben hat. Ein stichwortartiger Rückblick auf die Entfaltung des britischen Parlamentarismus kann deshalb genügen.
Mit der „Glorreichen Revolution“ von 1688 begann ein Prozess, in dessen Verlauf sich die Souveränität von der Krone auf das Parlament verlagerte. Die Bill of Rights von 1689 und der Act of Settlement von 1701 stellten das Gesetz über den Willen des Königs. Die Krone wurde zu einem Staatsorgan; und durch das parlamentarische Steuerbewilligungsrecht war eine Regierung ohne oder gegen das Parlament handlungsunfähig. Die Vorrechte der Monarchie, die königlichen Prärogativen, entwickelten sich zu einem Bereich des Common Law (eines Systems unkodifizierter, aus den gerichtlichen Entscheidungen zu konkreten Fällen entstandener Gesetzesregeln), dessen Bewahrung dem Parlament und den Gerichtshöfen oblag. Die Zeit zwischen 1832 und 1867, d.h. zwischen der ersten und der zweiten Wahlrechtsreform, gilt als die Blütezeit des britischen Parlamentarismus und seiner Parlamentsoligarchie. Nach dieser Zwischenepoche, in der die Abgeordneten nicht mehr der Macht der Patrone und noch nicht den Parteimaschinen unterstanden, kam es 1884 zur dritten Wahlrechtsreform und zur Herausbildung von zentral gelenkten Parteiorganisationen.
Mit der weiteren Ausdehnung des Wahlrechts (1918) und schließlich mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts (1928) wurde die soziale Homogenität des Unterhauses aufgehoben. Es kam zu einer Veränderung der Rolle der ursprünglich ungebundenen Abgeordneten (Members of Parliament) und zur Machtballung bei den Parteifraktionen im House of Commons, das ein Forum für Parlamentsdebatten und damit ein Redeparlament darstellt. In ihm sitzen in traditioneller Raumordnung der Premierminister, sein Kabinett und zahlreiche andere Mitglieder der Regierung dem Vorsitzenden der größten Oppositionspartei (die über einen besonderen Status verfügt und sich als Regierung auf Abruf versteht) und seinem Schattenkabinett gegenüber. Das Unterhaus ist keiner Kontrolle durch ein anderes Verfassungsorgan unterstellt und kaum durch Verfassungskonventionen eingeschränkt. Das House of Lords nimmt nicht gleichberechtigt mit dem House of Commons am legislativen Prozess teil; es verfügt bei der Gesetzgebung nur über ein suspensives Veto. Im Bereich der Rechtsprechung allerdings bilden die ihm angehörenden Law Lords (Hohe Richter) als Judicial House of Lords die letzte Berufungsinstanz für prinzipielle Entscheidungen von öffentlicher Bedeutung.
Im Laufe der institutionellen Entwicklung Großbritanniens (Nordirland mit seinem Sonderstatus bleibt hier ausgegrenzt) hat sich – ähnlich wie in den anderen westeuropäischen Demokratien – die Funktion des parlamentarischen Systems, insbesondere die Gesetzgebungs- und die Kontrollfunktion des Unterhauses, stark verändert. Heute formen drei Faktoren die Bedingungen, unter denen das House of Commons existieren muss. Der erste besteht in einer außerordentlichen Machterweiterung der Exekutive durch die angewachsene gesetzgeberische Tätigkeit. Die englische Regierung wurde durch ihre Ministerialbürokratie, den Civil Service, mit den jeweiligen Experten (für die Gesetzesvorlagen) zum wichtigsten Gesetzesinitiator. Als zweiter Faktor kann der mangelnde Zugang der Parlamentarier zu Informationen genannt werden, für den die vom Civil Service geübte Geheimhaltung des Regierungsgeschehens gegenüber dem Parlament verantwortlich ist. Und der dritte Faktor betrifft die Bedeutung der Interessenverbände; auf einer Verständigung mit ihnen beruht weitgehend die Regierungsarbeit. An der damit verbundenen schwachen Stellung des Unterhauses, vornehmlich an seinen nur gering ausgebildeten Kontrollinstrumenten, hat auch die Einrichtung von Select Committees, von Ausschüssen, die als Kontrollorgane von Regierungsentscheidungen gedacht waren, nichts geändert, weil ihre Kontrolle durch die Geheimhaltungsmöglichkeiten der Regierungsstellen bei Informationswünschen behindert wird.
Mit Blick auf die Macht der britischen Exekutive müssen drei Prinzipien erwähnt werden[3], die die Arbeit der Regierung bestimmen. Das erste Prinzip umfasst die Ministerverantwortlichkeit, wonach jeder Minister für die Tätigkeit seines Ministeriums verantwortlich ist. Das zweite Prinzip: das der kollektiven Verantwortung des Kabinetts für alle Regierungsbeschlüsse, zielt auf die Kabinettsdisziplin, die strikt einzuhalten ist. Und das dritte Prinzip umfasst die weitreichenden Machtbefugnisse des Premierministers, die die des deutschen Bundeskanzlers übertreffen. Darüber hinaus spielt die Patronagepraxis (eine Art Günstlingswirtschaft) eine bedeutende Rolle, da der Premierminister in hohem Maße ihm genehme Parteimitglieder in Regierungsämter berufen kann. Jedenfalls ist er mit seinen verfassungsrechtlichen Kompetenzen und seinen faktischen Möglichkeiten längst nicht mehr nur Primus inter pares in „seinem“ Kabinett – einem vom Prime Minister nach seinem Belieben ausgewählten Kreis der wichtigsten Minister, zu dem zahlreiche Minister ohne Kabinettsrang kommen. Der Premierminister bestimmt nicht nur die Richtlinien der Politik, sondern die Politik schlechthin. Seine Person steht – wie die des Regierungschefs in den meisten westeuropäischen Systemen – im Mittelpunkt der zu Plebisziten (Volksabstimmungen) gewordenen Parlamentswahlen.
Eine prägende Kraft hinter den Kulissen der britischen Politik stellt der bereits angesprochene Civil Service dar: die Ministerialbürokratie und vor allem deren Spitzen. Wenngleich Margaret Thatcher durch zwei Verwaltungsreformen einen Tätigkeitswandel von der traditionellen, verantwortlichen Politikberatung des Civil Service zur reinen Kosten-Nutzen-Erwägung politischer Ziele herbeiführte und insofern eine Art Privatisierung in die Wege leitete, als Funktionsbereiche von Ministerien teilautonomen Einheiten übertragen wurden, blieb (trotz abnehmender Attraktivität) der Kerngehalt der britischen Ministerialbürokratie weitgehend erhalten. Kennzeichnend ist neben den erwähnten Geheimhaltungsregeln die soziale Homogenität des Civil Service. Absolventen der Universitäten Oxford und Cambridge stellen noch immer einen Großteil des Nachwuchses der Spitzenbeamten. Auch hier zeigt sich das englische Establishment – ein soziales und politisches System, dessen Verhaltenskodex allgemein verbindlich ist. Von seinen Mitgliedern sagt man, dass für sie das Fair play, aber auch der Grundsatz gelte, bei Verfehlungen nicht so genau nachzuforschen.
Nicht nur im Unterschied zu Großbritannien, sondern auch zu den anderen westlichen Industriegesellschaften verfügt das politische System der Bundesrepublik neben Bundestag und Bundesregierung über ein Verfassungsorgan eigener Art in der föderativen Staatsstruktur: den Bundesrat, der sich aus weisungsgebundenen Mitgliedern der Landesregierungen zusammensetzt. Durch ihn wirken die Länder bei der Verwaltung und der Gesetzgebung des Bundes mit – vor allem bei jenen Gesetzen, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Diese Zustimmungsbedürftigkeit (bei inzwischen mehr als 60 Prozent aller Gesetze) ergibt sich in den meisten Fällen dann, wenn die Länder Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten ausführen und insoweit die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren regeln. Zwei kaum vergleichbare Partner sind somit an der Bundesgesetzgebung beteiligt: der Bundestag und die mit seiner Mehrheit verbundene Bundesregierung (s. unten) sowie ein einflussreicher Bundesrat, der weniger als zweite Kammer, eher als zweite Regierung fungiert und in dem Landesminister eine beträchtliche politische Macht ausüben, ohne sich parlamentarisch verantworten zu müssen. Die Machtkonzentration auf der Bundesebene zusammen mit dem wachsenden Gewicht des Bundesrates, das von diesem zielstrebig erstritten wurde, hat im Zusammenhang mit dem noch zu erwähnenden Parteienstaat dazu geführt, dass in den Parteien die Bundesorientierung dominiert und bei den Landtagswahlen bundespolitische Themen eine zentrale Rolle spielen. Auch gab es immer wieder Versuche, die Argumente der im Bundestag unterlegenen Opposition im Bundesrat erneut vorzutragen und dieses Gremium zum Gegenparlament zu instrumentalisieren.
Der im Unterschied zum Bundesrat unmittelbar vom Volk gewählte Bundestag stellt entgegen dem britischen Unterhaus, nicht jedoch entgegen anderen Parlamenten (wie dem US-amerikanischen Repräsentantenhaus) ein Arbeitsparlament