Das Buch
Ulf ist Geldeintreiber.
Sein Boss ist der Fischer.
Der Fischer ist DER Drogenhändler Oslos.
Als Geldeintreiber wird man nicht unbedingt reich.
Doch jetzt hat Ulf einen Weg gefunden.
Glaubt er. Zwei Probleme stellen sich:
Drogenhändler lassen sich ungern reinlegen.
Schicken sie ihre Killer los, braucht man ein gutes Versteck.
Das Versteck ist der zweite Teil der weltweit erfolgreichen Reihe Blood on Snow. Es gibt ein Wiedersehen mit einigen Figuren, die wir aus dem ersten Band Der Auftrag kennen, doch beide Thriller sind in sich abgeschlossen und eigenständig. Das Versteck erzählt rasant die aberwitzige Geschichte einer Verfolgungsjagd durch halb Norwegen.
Der Autor
Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Die Hollywood-Verfilmung seines Romans Schneemann wird von Martin Scorsese produziert, Blood on Snow. Der Auftrag von Leonardo DiCaprio. In Norwegen war Das Versteck auf der Shortlist des angesehenen Brage-Literaturpreises. In den USA wurde das von Patti Smith eingelesene Hörbuch Der Auftrag für einen Grammy nominiert.
Jo Nesbø lebt in Oslo.
www.jonesbo.com www.nesbo.de
Jo Nesbø
BLOOD
ON SNOW
DAS VERSTECK
Kriminalroman
Aus dem Norwegischen
von Günther Frauenlob
Ullstein
Die Originalausgabe erschien 2015
unter dem Titel Mere blod
bei Aschehoug, Oslo.
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ISBN 978-3-8437-1181-4
© 2015 by Jo Nesbø
© der deutschsprachigen Ausgabe
2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München
Umschlagabbildung: © Stephen Carroll / Trevillion Images
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Wo beginnt diese Geschichte? Ich wünschte, ich könnte sagen, am Anfang. Aber ich weiß nicht, wo sie beginnt. Die eigentlichen Zusammenhänge meines Lebens kenne ich ebenso wenig wie jeder andere.
Beginnt die Geschichte in dem Moment, als mir klarwurde, dass ich nur der viertbeste Kicker der Klasse war? Als Basse, mein Großvater, mir die Zeichnungen der Sagrada Família zeigte – seine Zeichnungen? Als ich zum ersten Mal an einer Zigarette zog oder zum allerersten Mal Grateful Dead hörte? Als ich an der Uni Kant las und glaubte, ihn zu verstehen? Als ich meinen ersten Klumpen Hasch verkaufte? Oder begann die Geschichte, als ich Bobby küsste – Bobby ist ein Mädchen –, oder als ich das kleine, schrumpelige Wesen sah, das sich die Seele aus dem Leib schrie und den Namen Anna bekommen sollte? Oder erst, als ich im stinkigen Hinterzimmer des Fischers hockte und er mir sagte, was ich zu tun hatte. Ich weiß es nicht. Wir bauen uns unsere Geschichten nach unserer eigenen Logik zusammen, um unserem Leben einen Anstrich von Sinn zu geben.
Im Grunde kann ich auch gleich hier anfangen, mittendrin, ohne es zu wissen, in dem Moment, als das Schicksal eine Pause zu machen und den Atem anzuhalten schien. Als ich einen Augenblick dachte, auf dem Weg zu sein, ja vielleicht schon am Ziel.
Ich stieg mitten in der Nacht aus dem Bus und kniff die Augen zusammen. Die Sonne hing über einer Insel im Meer irgendwo im Norden. Rot und matt. Wie ich. Hinter ihr war noch mehr Meer. Und irgendwo dahinter der Nordpol. Vielleicht war dies der Ort, an dem sie mich nicht finden würden.
Ich sah mich um. In allen drei anderen Himmelsrichtungen hügelige Landschaft. Rote und grüne Heide. Steine und hin und wieder ein Birkenstrauch. Im Osten fiel das Land sanft und steinig Richtung Meer ab, im Südwesten sah die Küste aus wie mit dem Messer gekappt. Vielleicht hundert Meter über dem Meeresspiegel begann die Hochebene, die sich bis weit ins Landesinnere erstreckte. Die Finnmarksvidda. Großvater hatte immer gesagt, dass die Linie, wie er es immer nannte, hier endete.
Der festgefahrene Kiesweg führte zu einer Gruppe kleiner Häuser, in deren Mitte der Turm einer Kirche aufragte. Ich hatte im Bus geschlafen und war erst hinter dem Ortsschild mit dem Namen Kåsund aufgewacht, unten am Wasser, an einem hölzernen Kai. Warum nicht?, hatte ich gedacht und an der Schnur über dem Fenster gezogen. Das Schild über dem Busfahrer leuchtete auf.
Ich zog meine Anzugjacke an, nahm die Ledertasche und ging los. Die Pistole in der Jackentasche schlug mir gegen die Hüfte. Direkt gegen den Knochen, ich war immer schon zu dünn gewesen. Ich blieb stehen, schob den Geldgürtel unter dem Hemd etwas tiefer, damit die Scheine die Schläge auffingen.
Nicht eine Wolke war am Himmel und die Luft so klar, dass ich das Gefühl hatte, unendlich weit sehen zu können. So weit das Auge reicht, wie es hieß. Die Finnmarksvidda gilt als schön. Aber was weiß ich schon davon? Sagen die Leute so etwas nicht immer über ungastliche Gegenden? Um zu demonstrieren, wie taff sie sind oder weil sie intellektuell und überlegen wirken wollen, wie Leute, die auf unverständliche Musik stehen oder auf rätselhafte Literatur? Ich war da gar nicht anders. Dachte, damit vielleicht andere, meine weniger guten Seiten kompensieren zu können. Oder wollte man so die wenigen Kreaturen trösten, die verdonnert waren, hier zu leben? »Es ist so wunderschön.« Ehrlich: Was war an dieser flachen, kargen und auch noch eintönigen Landschaft schön? Es war die reinste Marslandschaft. Eine rote Wüste. Unbewohnbar und hässlich. Das perfekte Versteck. Hoffentlich.
Die Zweige einer nahen Baumgruppe bewegten sich. Im nächsten Augenblick sprang ein Mann über den Graben auf die Straße. Meine Hand griff automatisch zur Pistole, aber ich riss mich zusammen, das war keiner von ihnen. Dieser Kerl sah aus wie der Joker aus einem Kartenspiel.
»Guten Abend!«, rief er und kam seltsam schwankend auf mich zu. Ich konnte durch seine ausgeprägten O-Beine die Straße sehen, die zum Dorf führte. Ein paar Schritte später erkannte ich, dass das, was er auf dem Kopf trug, keine Narrenkappe, sondern eine Samenmütze war. Blau, rot und gelb, nur die Glöckchen fehlten. Er trug helle Lederstiefel und eine blaue, mit schwarzem Klebeband geflickte Daunenjacke. An manchen Stellen quoll trotzdem die gelbliche Füllung heraus, die eher nach Isolierwatte als nach Federn aussah.
»Entschuldige die Frage«, sagte er, »aber was bist du denn für einer?«
Der Kerl war mindestens zwei Köpfe kleiner als ich, das Gesicht ebenso breit wie sein Grinsen, die Augen standen schräg wie bei einem Asiaten. Er entsprach allen Klischees, die in Oslo über die Samen kursierten.
»Ich bin mit dem Bus gekommen«, sagte ich.
»Das habe ich gesehen. Ich bin Mattis.«
»Mattis«, wiederholte ich langsam, um ein paar Sekunden Zeit zu schinden, bevor ich auf seine nächste, unausweichliche Frage antworten musste.
»Und wer bist du?«
»Ulf«, sagte ich. Ein Name wie jeder andere.
»Und was willst du in Kåsund?«
»Ich bin nur zu Besuch«, sagte ich und nickte in Richtung der Häuser.
»Und wen willst du besuchen?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Niemand Spezielles.«
»Bist du von der Jagdbehörde oder ein Wanderprediger?«
Ohne zu wissen, wie die Leute von der Jagdbehörde aussehen, schüttelte ich den Kopf und fuhr mir mit der Hand durch meine langen Hippiehaare. Vielleicht sollte ich sie besser schneiden, das wäre weniger auffällig.
»Entschuldige die Frage«, sagte er wieder, »aber was bist du dann?«
»Jäger«, sagte ich. Mag sein, dass ich wegen der Jagdbehörde darauf kam. Aber diese Lüge war auch nicht schlechter als irgendeine andere.
»Ach? Du willst hier jagen, Ulf?«
»Sieht doch nach einem guten Jagdgebiet aus.«
»Schon, aber du kommst eine Woche zu früh, die Jagdsaison beginnt erst am 15. August.«
»Gibt es hier ein Hotel?«
Der Same lachte laut. Räusperte sich und spuckte eine braune Brühe aus, die geräuschvoll auf den Boden klatschte. Hoffentlich Snus oder Kautabak.
»Eine Pension?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf.
»Campinghütte oder ein Privatzimmer?«
An dem Telefonmast direkt hinter ihm klebte das Plakat einer Tanzcombo, die in Alta aufspielte. Die Stadt konnte also nicht so weit entfernt sein. Vielleicht sollte ich mit dem Bus lieber dorthin fahren.
»Was ist mit dir, Mattis?«, fragte ich und schlug eine Mücke platt, die mich in die Stirn stach. »Du hast nicht zufällig ein Bett für eine Nacht?«
»Nee, das habe ich im Mai im Ofen verfeuert. Wir hatten einen kalten Mai.«
»Ein Sofa? Oder eine Matratze?«
»Matratze?« Er deutete auf die Heide, die ringsum wucherte.
»Danke, aber ich habe gerne vier Wände um mich herum und ein Dach über dem Kopf. Dann schaue ich mal, ob ich eine leere Hundehütte finde. Gute Nacht.« Ich ging auf die Häuser zu.
»Die einzige Hundehütte, die du in Kåsund findest, ist die da«, rief er in sinkendem, klagendem Tonfall.
Ich drehte mich um. Er zeigte auf das Gebäude am Rand der Siedlung.
»Die Kirche?«
Er nickte.
»Die ist nachts auf?«
Mattis legte den Kopf schief. »Weißt du, warum in Kåsund niemand was stiehlt? Weil es außer Rentieren nichts zu stehlen gibt.«
Mit einem überraschend eleganten Satz sprang der kleine, gedrungene Mann über den Graben und stapfte durch die Heide nach Westen. Meine Fixpunkte waren die Sonne im Norden und die Kirche, denn bei allen Kirchen, wo auch immer auf der Welt, liegt der Turm im Westen. Das hatte mein Großvater einmal gesagt. Ich legte die Hand über die Augen und ließ den Blick über das Gelände vor dem Mann schweifen. Wo zum Henker wollte er hin?
Vielleicht lag es an der Mitternachtssonne oder auch an der Stille, dass der Ort so verlassen wirkte. Die Häuser schienen alle zur gleichen Zeit errichtet worden zu sein, lieblos und ohne Gefühl fürs Detail. Sie waren solide gebaut, wirkten aber eher wie das nötige Dach über dem Kopf denn wie ein Zuhause. Praktisch. Verkleidet mit wetterfesten, pflegeleichten Platten. In den Gärten, in der Regel eingezäunte Heidefläche mit Birken, standen Autowracks ohne Nummernschilder, Kinderwagen, aber keine Spielsachen. Die wenigsten Häuser hatten Gardinen oder Fensterläden. Die kahlen Fensterflächen reflektierten das Sonnenlicht und verwehrten den Einblick. Wie eine verspiegelte Sonnenbrille zu tiefe Blicke in die Seele verhindert.
Die Kirche war tatsächlich offen, aber die Tür klemmte und ließ sich nicht so einfach öffnen wie die anderer Kirchen, die ich kannte. Das Kirchenschiff war klein und nüchtern, und doch von schlichter Schönheit. Die Mitternachtssonne schien auf die Glasmalereien, und über dem Altar hing wie überall ein gequälter Jesus am Kreuz, dahinter ein Triptychon mit der Jungfrau Maria in der Mitte und David gegen Goliath und dem Jesuskind auf den Seitenflügeln.
Neben dem Altar befand sich die Tür zur Sakristei. Ich durchsuchte die Schränke, fand zwei Talare, einen Putzeimer samt Schrubber, aber keinen Messwein, nur ein paar Schachteln mit Oblaten von der Bäckerei Olsen. Ich versuchte vier oder fünf davon herunterzuwürgen. Sie trockneten meinen Mund jedoch wie Löschpapier aus und quollen derart auf, dass ich sie schließlich auf die Zeitung spucken musste, die auf dem Tisch lag. Wenn es die aktuelle Ausgabe des Finnmark Dagbladet war, hatten wir den 8. August 1977. Die Proteste gegen den Ausbau des Altaelva nahmen zu, las ich, und die Finnmark fühlte sich als einziger Bezirk mit einer Grenze zur Sowjetunion nach dem Tod des Spions Gunvor Galtung Haavik sicherer. Außerdem erfuhr ich, wie der Regierungschef des Bezirks aussah und dass das Wetter im Norden endlich einmal besser werden würde als unten in Oslo.
Der Steinboden der Sakristei war zu hart und die Kirchenbänke zu schmal. Also nahm ich den Talar mit zum Altar, hängte meine Jacke über die kniehohe Umrandung, legte mich auf den Boden und schob mir die Ledertasche unter den Kopf. Etwas Nasses traf mich im Gesicht. Ich wischte es mit der Hand weg und sah auf meine Fingerkuppen. Sie waren rostrot.
Ich sah zu dem Gekreuzigten über mir, aber der Tropfen musste von der Decke kommen. Eine undichte Stelle, Nässe, Farbe von Lehm oder Rost. Ich drehte mich um, auf meine nicht schmerzende Schulter, und zog den Talar über den Kopf, damit es endlich dunkel wurde. Dann schloss ich die Augen.
So. Nicht nachdenken. Einfach alles aussperren.
Eingesperrt.
Ich riss den Talar weg und rang nach Atem.
Verdammt.
Blieb liegen und starrte an die Decke. Als ich nach der Beerdigung nicht schlafen konnte, hatte ich Valium genommen. Ich weiß nicht, ob ich davon abhängig geworden war, aber ohne Valium konnte ich kaum noch einschlafen. Jetzt kam es einfach darauf an, dass ich kaputt genug war.
Ich zog mir den Talar wieder über den Kopf und schloss die Augen. Siebzig Stunden auf der Flucht. Eintausendachthundert Kilometer. Ein paar Stunden Schlaf auf Bus- und Zugsitzen. Ich müsste kaputt genug sein.
Gute Gedanken.
Ich versuchte mir in Erinnerung zu rufen, wie es früher gewesen war. Davor. Aber die Bilder wollten sich nicht einstellen. Stattdessen kam alles andere hoch. Der Mann in Weiß. Der Fischgestank. Das schwarze Mündungsloch einer Pistole. Splitterndes Glas, der Sturz. Ich versuchte, die Bilder zu verjagen, streckte die Hand aus und flüsterte ihren Namen.
Und da kam sie. Endlich.
Ich wachte auf. Lag ganz still da.
Etwas hatte mich berührt. Irgendjemand. Vorsichtig, als wollte er mich nicht wecken, sondern sich nur vergewissern, dass da unter dem Talar wirklich jemand war.
Ich konzentrierte mich darauf, gleichmäßig zu atmen. Vielleicht gab es ja doch noch eine Chance, vielleicht hatten sie noch nicht bemerkt, dass ich wach war.
Ich schob meine Hand zur Seite, bis mir einfiel, dass meine Jacke mit der Pistole über der Umrandung hing.
Anfängerfehler, dachte ich. Und du willst ein Profi sein?