Rachel van Kooij
wurde 1968 in Wageningen in den Niederlanden geboren. Im Alter von zehn Jahren übersiedelte sie nach Österreich. Nach der Matura studierte sie Pädagogik und Heil- und Sonderpädagogik an der Universität Wien. Rachel van Kooij lebt in Klosterneuburg und arbeitet als Behindertenbetreuerin und Autorin.
Folgende Bücher von Rachel van Kooij sind bei Jungbrunnen lieferbar: Kein Hundeleben für Bartolomé (2003), Der Kajütenjunge des Apothekers (2005), Nora aus dem Baumhaus (2007), Klaras Kiste (2008), Eine Handvoll Karten (2010), Menschenfresser George (2012), Die andere Anna (2014).
ISBN 978-3-7026-5897-7
eISBN 978-3-7026-5898-4
1. Auflage 2016
Einbandgestaltung: Susanne Wechdorn
© Copyright 2016 by Verlag Jungbrunnen Wien
Alle Rechte vorbehalten
Jungbrunnen
„Lars! Lars!“
Emil machte sich Sorgen. Er hätte Lars nicht von der Leine lassen sollen. Das war grundfalsch gewesen. Oma Manus hatte ihm das sicherlich ein halbes Dutzend Mal eingebläut, nachdem sie nur äußerst widerwillig zugestimmt hatte, dass Emil statt ihrer Enkelin Mia in den Osterferien das abendliche Gassigehen übernahm.
Und er hatte die Aufgabe nur deshalb bekommen, weil Mia hoch und heilig geschworen hatte, dass man sich auf ihn verlassen könne. Hundertundeinprozentig, jawohl!
„Du wirst sehen, Oma. Emil wird das besser erledigen als ich selbst“, hatte seine Freundin großzügig zugegeben. „Du wirst dich ärgern, wenn ich aus dem Urlaub komme und meine Aufgabe zurückhaben möchte.“
Oma Manus hatte ungläubig den Mund verzogen und „nie und nimmer wird das so sein“ gebrummelt.
Frau Strömberg, Mias Mama, schlug stattdessen vor, Kiyomi, das neue Au-pair-Mädchen aus Japan, nicht in den Urlaub mitzunehmen, damit es Oma Manus mit Lars und anderen Dingen zur Hand gehen konnte. Das hatte Oma Manus entrüstet abgelehnt.
Es gäbe überhaupt keine anderen Dinge, bei denen sie Hilfe bräuchte, und wie käme Lars dazu, Japanisch lernen zu müssen! Letzteres sei nicht ganz logisch, meinte Mia, denn Kiyomi hätte sicher mit Hilfe ihres Übersetzungscomputers die wichtigsten Befehle lernen können.
Doch dieser Vorschlag bewirkte immerhin, dass Oma Manus schließlich murmelte, dass sie wohl das kleinere Übel wählen müsse, und Emil widerwillig als Hundesitterersatz akzeptierte.
Jeden Abend um Punkt halb sieben Uhr hatte Emil deshalb diese Woche Lars abzuholen, um mit dem Terrier eine Dreiviertelstunde spazieren zu gehen.
Abends schmerzten Oma Manus’ blau geäderte Beine immer fürchterlich. Schaufensterkrankheit nannte sie das.
Es passte aber überhaupt nicht zu ihr. Sie fuhr nur in die Stadt, wenn es unbedingt sein musste, und dann hatte sie Tage zuvor schon schlechte Laune, weil sie sich in ihre Ausgehkleider zwängen musste, einen braunen Rock und eine blassgelbe Bluse, die, wie sie behauptete, bei jeder Wäsche eine halbe Größe schrumpften.
„Irgendwann platzt mir diese Bluse auf, oder, noch schlimmer, der Rock, wenn ich mich setze, und ich mache mich unglaublich lächerlich“, verkündete sie jedes Mal düster, bevor sie mit viel Geseufze den Hügel hinunter zur Bushaltestelle stiefelte. Wenn Mias Mama ihr allerdings anbot, sie mit dem Auto zu fahren, damit ihre Mutter keine Angst haben müsste, plötzlich halbnackt im Bus zu sitzen, wischte Oma Manus das mit einem Schnauben vom Tisch.
„So alt bin ich nun auch wieder nicht, dass ich meinen Weg nach Hause nicht mehr finde, wenn ich mich in die Großstadt begebe. Außerdem solltest du deine freien Tage für Mia aufheben. Soll das arme Kind etwa den ganzen Sommer zu Hause hocken? Das kommt noch früh genug, wenn ich als Pflegefall gezwungen bin, bei euch einzuziehen. Dann gibt es kein Extrazimmer mehr für ein Au-pair-Mädchen!“
Emil hatte an einem Karabiner in seiner Schultasche den Hausschlüssel, und Mia hatte jedes halbe Jahr ein anderes Au-pair-Mädchen, das ihr nach der Schule zu Hause die Tür öffnete und ein Mittagessen auf den Tisch stellte.
Manchmal beneidete Emil Mia deswegen, aber öfter Mia Emil, vor allem wenn eines dieser Mädchen sich bemühte, Mia ihre landestypischen Speisen aufzutischen und, wie Mia Emil berichtete, sie die seltsamsten Mischungen auf ihrem Teller vorfand: Zwiebelfleisch, das in Apfelkompott schwamm, zum Beispiel, oder Bohnenmus unter einer dichten Schicht Zucker.
Mia würde deshalb viel lieber bei Oma Manus zu Mittag essen, aber die gehörte nicht zu der Sorte Großmütter, die sich zu Enkeldiensten berufen fühlten.
Dabei schmerzten ihre Beine ganz offensichtlich nur abends. Und das hatte gewiss auch nichts mit Schaufenstern zu tun, eher mit einer „Ich habe den halben Garten umgegraben“-Armmuskelzerrung oder einer „Ich kann nie wieder aufrecht stehen“-Unkrautjäten-Rückensteifheit oder einem „Ich habe einen armdicken Baumstamm für den Kachelofen heimlich aus dem Wald nach Hause geschleppt“-Erschöpfungszustand.
Auf jeden Fall brauchte Oma Manus für Lars einen Hundesitter, der mit ihm, bevor er in sein Körbchen abtauchte, noch eine letzte Pipirunde machte.
„Ein gut erzogener Hund pinkelt nicht in seinen eigenen Garten. Das wäre, als ob du es in deinem Wohnzimmer auf dem Sofa tätest“, hatte sie Mia und Emil erklärt.
„Oder unter den Küchentisch kacke“, hatte Mia Emil zugeflüstert und einen bösen Blick von Oma Manus geerntet, die trotz ihres Alters ein scharfes Gehör besaß und unanständiges Gerede nicht leiden konnte.
„Es genügt, wenn wir über das Pinkeln reden. Das andere kann sich jeder vernünftige Mensch denken, ohne es laut auszusprechen“, hatte sie Mia belehrt.
Sieh auf Seite 176 nach, wenn dir ein Wort nicht vertraut ist.
Und jetzt?
Jetzt spähte Emil verzweifelt durch einen fremden Zaun, aber hinter dem Maschendraht wuchs eine Thujenhecke. Keine Chance zu sehen, was sich dahinter verbarg. Er fädelte beide Arme durch die Maschen. Die Zweige kratzten ihn, der harzige Geruch stieg unangenehm in seine Nase und die Hecke war viel zu breit, als dass er ein Guckloch durchbohren konnte. Außerdem wurde es mit jeder Minute dämmriger.
Er zog seine Arme zurück und nieste mehrmals.
„Lars, Lars!“, rief er.
Warum kam dieser Hund nicht? Dabei hatte es an all den vorherigen Abenden wunderbar funktioniert. Er hatte alles richtig gemacht, genauso wie es im Hundebuch beschrieben stand, das er in der Bibliothek ausgeborgt hatte. Zuerst die Übungen an der Leine: Bei Fuß gehen, sitzen, liegen und aufstehen. Lars war ein Musterschüler gewesen. Kein Wunder, er hatte ja alles schon bei Oma Manus gelernt. Aber die täuschte sich, wenn sie dachte, dass Lars nur ihr gehorchte. Nein, Emil würde ihr das beweisen. Wenigstens hatte er das bis vor fünf Minuten noch felsenfest geglaubt. Da hatte er nämlich Lars das erste Mal von der Leine gelassen, und Lars hatte die Übungen mustergültig gemacht. Das hatte sich richtig gut angefühlt. Emil war stolz auf sich gewesen.
Aber dann hatte Lars alles kaputt gemacht. Er hatte sich flach auf den Bauch gelegt und war einfach so unter diesem Maschendrahtzaun und zwischen den Baumstämmchen der Hecke durchgekrochen.
Kein „Lars, bei Fuß“-Befehl und auch nicht das verführerische Rascheln mit dem Säckchen Hundebonbons, das Emil auf Anraten seines Buches bei sich trug, um jeden Lernschritt zu belohnen, ließen Lars zurückkommen.
„Es muss eine attraktive Hündin sein“, dachte Emil, „die irgendwo hinter der Hecke wohnt und Lars’ kleines Hirn völlig durcheinanderbringt.“
In seinem Buch war ein ganzes Kapitel dem Thema gewidmet, wie eine Begegnung zwischen Hundemann und Hundefrau ablief. Leider wurde aber nicht davor gewarnt, dass es dabei solche Komplikationen geben konnte.
Emil überlegte, ob er über den Zaun klettern und dann mit brachialer Gewalt durch die Hecke dringen sollte, um auf diesem Grundstück am Waldrand nach Lars zu suchen. Aber er verwarf die Idee. Er konnte kaum mehr etwas sehen und wer weiß, vielleicht entpuppte sich die niedliche Hundedame ja als übergroße temperamentvolle Dalmatinerin, die nicht beim gegenseitigen Beschnüffeln gestört werden wollte.
„Lars!“, brüllte Emil deshalb und legte so viel Autorität wie möglich in seine hohe Kinderstimme. „Du kommst jetzt auf der Stelle her, sonst gehe ich nie wieder mit dir am Abend raus!“ Er hätte genauso gut Japanisch reden können.
„Nie wieder, hörst du? Aus und vorbei!“, drohte Emil und das stimmte leider wohl auch. Denn wenn er ohne Lars bei Oma Manus anläutete, würde es sein allerletzter Hundespaziergang gewesen sein. Wahrscheinlich durfte er dann nie wieder auch nur in die Nähe von Lars kommen. Oma Manus glich nämlich in keiner Weise Emils eigener Großmutter, die ihn mit Schokolade fütterte und immer Nachsicht mit ihm hatte, auch wenn er etwas angestellt hatte.
Oma Manus war eine Person, bei der man keine zweite Chance bekam, weil sie auch den ersten Fehler nicht verzieh.
Emil starrte auf die Hundeleine, die lose von seinem Handgelenk hinunter auf den Boden hing. Vielleicht sollte er sie wegwerfen? Ohne Leine konnte er erzählen, dass Lars unerwartet so heftig gezogen hatte, dass Emil überrumpelt losgelassen hatte. Mit Leine allerdings würde Oma Manus sofort wissen, dass ihr hundertundeinprozentig verlässlicher Hundesitter gegen ihre ausdrückliche Anweisung gehandelt hatte, Lars niemals frei herumlaufen zu lassen.
Aber Lügen war nicht Emils Stärke. Dabei wurde er jedes Mal rot und zappelig.
„Du bist halt durch und durch ehrlich“, lobte ihn seine Mutter, aber manchmal wäre das Leben leichter, wenn er hie und da die Wahrheit ein wenig zu seinen Gunsten verbessern könnte und dabei nicht als lebendig gewordenes schlechtes Gewissen in Erscheinung träte.
Emil ging unschlüssig langsam am Zaun entlang zur Auffahrt des Hauses. Neben einer Doppelgarage war ein Tor. Als er die Auffahrt betrat, leuchteten zwei Laternen wie Scheinwerfer hellgelb auf. Emil drückte auf die Klingel neben dem Gartentor. Sofort gingen im Garten dahinter weitere Lampen an.
„Entschuldigen Sie, mein Hund ist leider versehentlich in Ihren Garten eingedrungen“, legte er sich zurecht.
Höflichkeit war nie falsch. Er hatte keine Ahnung, wer in diesem Haus wohnte.
Reiche Leute, vermutete er. Solche, die es sich leisten konnten, am Waldrand Bauland zu kaufen und ein großes, neues Haus mit einer Doppelgarage daraufzustellen.
Ein bisschen so wie Mias Eltern, die genau unterhalb von diesem Grundstück wohnten.
Aber Mia war in Ordnung. Es störte sie nicht, dass Emil mit seinen Eltern in einem Haus an der Hauptstraße lebte, wo die Farbe von der Fassade bröckelte und die Betonmauer bei den Mülltonnen mit Graffiti beschmiert war.
Sie fand es sogar außergewöhnlich, dass Emils Kinderzimmer so winzig war, dass er, wenn er im Bett lag, mit seiner Hand die gegenüberliegende Wand berühren konnte. Eigentlich war sein Zimmer ja auch ein begehbarer Schrank neben dem Schlafzimmer der Eltern. Aber das hatte er Mia nicht auf die Nase gebunden. Wer gibt schon freiwillig zu, dass er in einem Schrank schläft?
„Wie eine Schiffskoje“, sagte sie bei ihrem ersten Besuch anerkennend und legte sich mit geschlossenen Augen auf das Bett.
„Ich kann die Wellen spüren, das Salzwasser riechen, und irgendwo hinter dem Horizont liegt die geheimnisumwitterte Schatzinsel im Nebel. Wir müssen sie nur noch entdecken, Emil, und dabei nicht den Piraten in die Hände fallen.“
Mia hatte immer solche Ideen von Inseln und Piraten, von wagemutigen Forschern und endlosen Höhlenlabyrinthen, von staubtrockenen Wüsten und darin elend verdurstenden Kamelkarawanen.
Emil hörte ihr gerne zu, aber noch lieber mochte er es, wenn sie draußen spielten. Der Garten hinter Mias Haus verwandelte sich durch ihre Worte mühelos in einen dichten Urwald oder in eine endlose Graslandschaft. Während Emil sich mit einer einzigen Rolle begnügte und genau Mias Anweisungen befolgte, um die Geschichte nicht zu stören, schlüpfte Mia selbst in ein halbes Dutzend Personen, und alles im Garten konnte sich ebenso blitzschnell verändern, wie ihre Rolle. Der Gartentisch wurde eine Steinzeithöhle, die Schaukel eine Kutsche. Die fünf Hühner, die am untersten Ende des Gartens einen Stall mit Gehege hatten, mussten alle Tierrollen übernehmen, eine Elefantenherde, eine Schule von Delfinen, ein Rudel Wölfe. Manchmal, wenn Mia besonders übermütig war, ließ sie die Hühner frei und dann rannten Emil und Mia als Indianer kreischend durch den Garten, um eine Herde wilder Mustangs einzufangen. Ein spannendes Unternehmen, da Dödi, der Hahn, keineswegs bereit war, seine Freiheit kampflos aufzugeben. Statt davonzulaufen wie ein anständig verängstigtes Wildpferd, attackierte er die Indianer, sodass Emil und Mia auf die Bäume klettern mussten, um vor seinen Krallen und seinem Schnabel sicher zu sein.
Emil schüttelte den Kopf. Jetzt war er mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen. Im Garten hinter dem Tor waren die Lichter bereits wieder ausgegangen. Niemand hatte auf sein Klingeln geöffnet. Zu Ostern fuhren reiche Leute auf Urlaub. Er lauschte. Von weit weg drang ein wütendes Kläffen an sein Ohr, gleich darauf übertönt von einem langen Güterzug, der dumpf donnernd unten neben dem Fluss in Richtung Stadt fuhr, sodass Emil sich nicht sicher war, ob er wirklich Lars gehört hatte. Dessen Bellen klang normalerweise wie ein hohes, aufgeregtes Fiepen. Wenn es nun ein fremder Hund gewesen war, so ein Kampfhund mit einem Stachelhalsband und einem tätowierten Besitzer, dem es Spaß machte, seine Bestie auf andere Hunde zu hetzen?
„Oh Lars“, dachte Emil bedrückt.
Und „oh Emil“, dachte er auch, denn was würde Oma Manus sagen, wenn er ohne Lars vor ihrer Tür stand und ihr beichten musste, dass sehr wahrscheinlich am nächsten Tag jemand die traurigen Reste eines Terriers in seinem Garten entdecken würde. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich dem zu stellen.
Langsam, aber immer noch hoffend, dass Lars auf magische Weise von irgendwoher auftauchen könnte, ging er die Straße entlang.
Oma Manus’ Haus, eigentlich nur ein winterfestes Sommerhäuschen aus Holz, stand zwei Quergassen weiter. Dort, wo es früher einmal eine ganze Schrebergartensiedlung gegeben hatte. Das Häuschen war das letzte seiner Art. Mit seinem kleinen Garten und dem wackligen Lattenzaun klammerte es sich wie ein Relikt an den Wald. Alle anderen Grundstücke der Siedlung waren längst zusammengelegt und mit großen, modernen Villen neu bebaut worden.
„Wenn ich mal nicht mehr da bin“, prophezeite Oma Manus hin und wieder pessimistisch, „verschwindet es auch unter einem Bagger, um Platz zu machen für den Swimmingpool des Nachbarn.“
Herr Stroppe hieß dieser Nachbar, und tatsächlich hätte er sich nur zu gerne Oma Manus’ Grundstück einverleibt.
Oma Manus und Herr Stroppe lebten auf Kriegsfuß miteinander. Schuld daran war allein Herr Stroppe. Da waren sich Mia und Emil mit Oma einig. Der Nachbar fand den Lattenzaun zu schäbig und er verdächtigte Oma Manus, dass diese ganz bewusst das Unkraut an der Grundstücksgrenze hochwuchern ließ, damit der Wind die Samen hinüber auf seinen gepflegten Rollrasen trug. Und Lars konnte er schon überhaupt nicht leiden. Denn wegen dieses Köters, wie Herr Stroppe den Terrier schimpfte, konnte seine Frau die Perserkatze nicht im Garten ein Sonnenbad nehmen lassen. Kleopatra hatte ein hochsensibles Nervenkostüm – ein Rassenmerkmal – betonte Herr Stroppe stolz, und allein schon der Hundegeruch aus dem Nachbargarten würde der Katze schaden.
Dabei hatte Oma Manus Emil und Mia verraten, dass Kleopatra ein Doppelleben führte.
„Tagsüber“, wusste Oma Manus, „liegt sie vor dem Fenster auf ihrem Katzenpolster und gibt die überzüchtete Edle von und zu, lässt sich Katzenmenüs in Porzellangeschirr servieren und schleckt Schlagobers aus Silberschalen. Aber in der Nacht, wenn die Stroppes schlafen, findet sie immer wieder einen Weg ins Freie. Und dann müsstet ihr sie mal erleben.“
Oma Manus lachte auf. „Wenn sie reden könnte, würde sie sich Madame Kleo nennen. Sie verdreht den Katern der Umgebung den Kopf und ich wette, dass sie nicht davor zurückschreckt, mit ihnen gemeinsam Mülltonnenüberfälle zu begehen.“
Als Emil nun an Herrn Stroppes makelloser Buchshecke vorbeiging, hörte er plötzlich einige Meter hinter sich ein verräterisches Rascheln zwischen den Sträuchern und gleich darauf spürte er, wie der Terrier aufgeregt an ihm hochsprang.
„Ja, ja!“, rief Emil, überglücklich, Lars wieder bei sich zu haben. Er griff nach dem Nacken des Hundes, um ihm die Hundeleine anzulegen. Lars drückte seine Schnauze in Emils freie Hand, als erwarte er für sein Benehmen auch noch ein Leckerli.
„Igitt!“
Der Hund musste an irgendetwas feucht-klebrig Ekligem geschnüffelt haben. Das war leider eine seiner unfeinen Angewohnheiten. Nichts war vor seiner Schnauze sicher: aufgeplatzte Restmüllsäcke, Komposthaufen, Pferdeäpfel, Pfützen aller Art …
Bei einer Wanderung, hatte Mia Emil erzählt, hatte Lars einmal begeistert mit seiner Schnauze in jede Kuhflade hineingestochert, als wäre er ein Gourmet beim Verkosten eines Büfetts. Zum Glück war es jetzt schon so finster, dass Emil nichts Genaueres erkennen konnte. Um auch nichts zu riechen, streckte er die schmutzige Hand weit weg, während er mit der sauberen die Leine rasch in das Halsband einhakte. Dann zog er seine dünne Fleecehaube vom Kopf und wischte sich zuerst gründlich die schmutzige Hand daran ab, bevor er damit auch noch Lars’ Schnauze bearbeitete.
„Du schlimmer Hund“, schimpfte er dabei halbherzig. „Läufst davon, um im Dreck zu wühlen wie ein dahergelaufener Gassenköter. Pfui Teufel!“
Als Emil mit dem Putzen und Schimpfen fertig war, drehte er das Innere der Haube nach außen und stopfte sie in die Jackentasche.
Lars bellte.
Es war eindeutig das ungeduldige „Wo ist nun mein Leckerli?“-Bellen.
„Auf keinen Fall. Das hast du dir nicht verdient“, wies ihn Emil streng zurecht und zog an der Leine. „Ab nach Hause und ins Körbchen. Nein, keine Widerrede. Sei still!“
Und weil Lars tatsächlich diesem Kommando sofort Folge leistete, sah sich Emil gezwungen, ihn doch, wie das Buch es vorschrieb, mit einem Leckerli zu belohnen.
„Eine Viertelstunde zu spät“, rügte Oma Manus ihn, als sie die Tür öffnete und Emil sah, der mit Lars auf dem Kiesweg stand. Lars hechelte mitleidheischend, als hätte Emil ihn über Stock und Stein gehetzt, und drückte sich an ihr vorbei und lief schnurstracks zu seinem Korb, der im Gang auf ihn wartete.
„Na ja, ab morgen ist Mia wieder da“, bemerkte Oma Manus, ohne Emil auch nur eine Sekunde Zeit zu lassen, eine Entschuldigung vorzubringen. Er hatte sich auch keine zurechtgelegt.
„Nur fünfzehn Minuten“, dachte er. Es war ihm wie eine Stunde vorgekommen. Aber für Oma Manus schienen diese fünfzehn Minuten genauso schlimm zu sein wie eine Stunde.
„Tschuldigung“, murmelte er. „Es wird nicht wieder vorkommen.“ Er zuckte ein wenig hilflos mit den Schultern.
Ein überflüssiger Satz, denn Oma Manus hatte ihm schon klar gemacht, dass seine Dienste als Hundesitter nicht länger erwünscht waren.
„Dann gehe ich jetzt mal“, sagte er deshalb.
Andere Erwachsene würden darauf sagen: „Natürlich, lauf nur. Deine Eltern machen sich bestimmt auch schon Sorgen.“ Aber Oma Manus bedachte ihn bloß mit einem kurzen Nicken, drehte sich um und ließ die Tür ins Schloss fallen.
Zu Hause angekommen, ging Emil zuerst in den Keller hinunter. Den Schlüssel für das Abteil trug er an einer Schnur um seinen Hals. Er öffnete das Holzgitter, zog seine Jacke, die Turnschuhe und die Jeans aus, stopfte alles, außer den Schuhen, in einen Plastiksack, der an einem Haken hing. Erst dann schlüpfte er in die Jogginghose und die Hausschuhe, die auf einem Hocker darunter bereitlagen.
Sein Vater war allergisch gegen Tierhaare und seine Mutter gegen Straßen-, Wald- und Wiesendreck in der Wohnung. Für Emil bedeutete das: keine Haustiere mit Fell. Und Haustiere ohne Fell waren langweilig. Das hatte er schon herausgefunden. Er hatte einmal kurze Zeit einen Goldfisch besessen. Der Fisch war in seiner Glasschüssel immer nur im Kreis geschwommen, Runde um Runde.
„Fische haben kein Gedächtnis. Für sie ist jede Umdrehung neu und aufregend“, hatte seine Mutter ihm erklärt.
Emil hatte deshalb seine Nase gegen das Glas gedrückt und den Goldfisch immer wieder begrüßt.
„Hallo, ich bin Emil, dein Besitzer.“
Aber er hatte nicht erkennen können, ob sein Haustier jedes Mal auch freudig überrascht war, wieder an einem Paar graubrauner Augen und einer platten, sommersprossigen Nase vorbeizuschwimmen.
Schließlich war er zu dem Schluss gekommen, dass ein Fisch nicht nur kein Gedächtnis hat, sondern wahrscheinlich gar nicht denken kann, und er war nicht unglücklich gewesen, als der Goldfisch nach wenigen Wochen eines Morgens leblos auf dem Rücken im Wasser trieb.
Nur beim Begräbnis hatte er schlucken müssen, als er die Klospülung drückte, obwohl Mia es als das passende Seebegräbnis für Pelle den Schrecklichen bezeichnet hatte. Einem Piraten, der jahrelang für ehrbare Seeleute, wie sie es waren, die sieben Weltmeere unsicher gemacht hatte, gebührte es, mit einer Tsunamiwelle ins Jenseits geschwemmt zu werden.
Seit Pelle dem Schrecklichen mit dem kurzen Leben wollte Emil keine haarlosen Haustiere mehr besitzen.
Es war schon nach acht Uhr, als er die Wohnung betrat.
„So spät?“, bemerkte seine Mutter lediglich.
Emil nickte.
„Es kam etwas dazwischen. Lars …“
Aber seine Mutter unterbrach ihn.
„Na, Hauptsache du bist da. Geh unter die Dusche, putz dir die Zähne und ab ins Bett. Morgen ist wieder Schule.“
Der Dienstagabend gehörte seinen Eltern. Krimiabend im Fernsehen. Da machten sie es sich auf dem Sofa gemütlich mit einem Bier und einer Packung Chips. Und Mama sagte nichts, wenn Papa seine Füße auf den Couchtisch legte und die Chipskrümel beim Knabbern auf den Teppich fielen. Beim Sportschauen war ihm das absolut verboten.
Eigentlich hätte Emil gerne von seinem Erlebnis erzählt. Denn jetzt, wo Lars gemütlich in seinem Körbchen lag, war es ein spannendes Abenteuer und keine Katastrophe.
„Hopp, hopp, Emil“, rief sein Vater vom Sofa herüber.
Am nächsten Morgen beeilte sich Emil, zur Bushaltestelle zu kommen. Er freute sich darauf, Mia wiederzusehen. Bestimmt würde sie die „Wie ich Lars beinahe für immer verloren hatte“-Geschichte gerne hören, aber vorher würde er sie schwören lassen, sie nicht Oma Manus weiterzuerzählen.
Als jedoch zehn Minuten später der Bus vor ihm stehen blieb, war Mia noch nicht erschienen. Normalerweise ließ ihr Vater oder ihre Mutter sie an der Haltestelle aus dem Auto heraushüpfen.
„Einen Augenblick“, bat Emil den Busfahrer. „Mia muss gleich da sein.“
Er schaute die Querstraße hinauf. Kein Auto näherte sich.
„Steigst du jetzt ein oder nicht?“, brummte der Fahrer durch die offene Tür. „Ein Bus ist kein Taxi!“
Emil zögerte.
„Na?“ Der Busfahrer ließ den Motor laut brummen.
Emil sprang in den Bus und rannte durch den Gang zur hinteren Tür. Ein letzter Blick die Straße hinauf. Wenn er jetzt das Auto sah, würde er laut „Halt!“ rufen, aber die Straße war noch genauso leer wie vor einer Minute. Er setzte sich auf einen freien Platz.
Wo war Mia? Hatte sie verschlafen? War sie krank? Hatte sie sich im Urlaub etwas gebrochen?
Andere Kinder hatten ein Handy, konnten einander anrufen und nachfragen. Mia hatte ein Handy, aber Emil nicht.
„Für so etwas verschwende ich mein hart verdientes Geld nicht“, sagte sein Vater jedes Mal, wenn Emil das Thema vorbrachte, und es war ihm ganz egal, ob Emil das einzige Kind in der Klasse, nein, bestimmt auch das einzige Kind in der ganzen Schule war, das immer noch kein Handy besaß.
Vor ihm im Bus saß Felix. Emil mochte Felix nicht. Der war um zwei Köpfe größer als er selbst und fing gerne Raufereien an. Aber Felix hatte ein Handy. Wenn er ihn nun bitten würde, ob er kurz einmal bei Mia anrufen durfte? Die Nummer kannte er auswendig. Emil fiel ein, dass er zwei Euro dabei hatte. Damit konnte er Felix sogar bezahlen, was die Sache erleichterte.
Denn Felix tat niemals jemandem einen Gefallen, wenn er nicht selbst dabei einen Vorteil hatte.
Felix schien Emils Augen im Rücken zu fühlen. Er drehte sich halb um.
„Stört dich was?“, fragte er misstrauisch.
Emil schüttelte rasch den Kopf.
„Und was starrst du dann so?“ In Felix‘ Sprache bedeutete das:
„Willst du einen Streit mit mir?“
„Ich habe nur nachgedacht.“ Das war die falsche Antwort. Emil wusste es, noch bevor er den Satz beendet hatte.
„Nach-ge-dacht?!“ Felix zerlegte das Wort in einzelne Silben und betonte jede extra. „Meinst du damit, dass ich nicht nachdenke? Dass ich gar nicht nachdenken kann?!“
„Nein, Felix, nein, so habe ich das nicht gemeint!“
Emil wünschte, er hätte sich ganz nahe beim Busfahrer hingesetzt.
„Und was hast du dann gemeint?“, fragte Felix noch unfreundlicher.
Emil bemerkte, wie nun alle Schulkinder im Bus ihnen zuhörten. Beinahe jeder hatte schon einmal Schwierigkeiten mit Felix gehabt. Nicht, dass Felix im Bus bereits die Dinge auf seine Art regelte, aber man musste nach dem Aussteigen sehr schnell laufen können, wenn es einem nicht gelang, noch während der Fahrt Felix zu besänftigen.
„Ich“, sagte Emil, „habe nachgedacht, ob …“ Und er wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte, die Sache mit dem Handy anzusprechen.
„Ja?“, sagte Felix mit Nachdruck und knackte mit seinen Fingergelenken, als ob er sich darauf vorbereiten würde zuzuschlagen. „Das weiß ich schon, du hast nachgedacht.“
„Ob, ob …“
Es war Emils letzter Ausweg. Einige Kinder hatten damit in der Vergangenheit durchaus Erfolg gehabt. „Ob du vielleicht gestern eine Zweieuromünze verloren hast.“
„Zwei Euro?“ Felix‘ Stimme klang zweifelnd.
„Ja, ich ging spazieren und da lag die Münze plötzlich vor mir, ganz bei dir in der Nähe und da habe ich gedacht, dass du sie vielleicht verloren haben könntest.“
Emil hielt die Luft an. Er konnte sehen, dass Felix zwei Euro gegen eine Rauferei abwog, bei der er gewinnen würde.
„Nur zwei Euro?“, fragte Felix nach und ließ die Gelenke nochmals knacken.