Koos Meinderts
geboren 1953 in Den Haag, schreibt Romane, Gedichte und
Liedtexte – sowohl für Kinder als auch für Erwachsene und ist mit
vielen Preisen ausgezeichnet worden. Er lebt in Utrecht.
Wir danken dem Nederlands letterenfonds dutch foundation for literature für die Förderung der Übersetzung. |
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „Lang zal ze leven. Als het
leven niet langer een feest is“ bei Uitgeverij De Fontein, Utrecht 2014
ISBN 978-3-7026-5878-6
eISBN 978-3-7026-5899-1
1. Auflage 2016
Einbandgestaltung: b3k
© Copyright 2016 by Verlag Jungbrunnen Wien
Alle Rechte vorbehalten
Jungbrunnen
Ich weiß, ich werde nicht sehr lange leben. Aber ist das denn
traurig? Ist ein Fest schöner, weil es länger ist?
Paula Modersohn-Becker
Den Tod in Gedanken
finde ich keinen Schlaf
„Eva, du stehst in der Zeitung.“
Ich hebe den Kopf vom Kopfkissen. Meine Eltern stehen in der Zimmertür und mein Vater wedelt mit der Zeitung in der Hand.
„Könnt ihr nicht anklopfen? Ich habe noch geschlafen.“
In Wirklichkeit bin ich schon seit über einer Stunde wach. Ich musste an gestern denken und sah mich wieder auf dem Boden liegen, auf dem Asphalt, neben der alten Frau. Mein Fahrrad ein paar Meter neben mir, ebenfalls auf dem Boden. Das Vorderrad zeigt in die Höhe und dreht langsam seine Runden. Wie in einer Filmszene.
„Guck mal, hier steht’s.“
Die Stimme meines Vaters klingt ein bisschen überrascht, als könne er erst jetzt, wo er es schwarz auf weiß in der Zeitung gelesen hat, glauben, was gestern auf meinem Schulweg passiert ist: MÄDCHEN RETTET SENIORIN.
Der Zug war mit über zehn Minuten Verspätung abgefahren. Nicht der Zug war zu spät; der stand bereits auf Gleis 2B bereit, um pünktlich nach Fahrplan um 9.07 Uhr abzufahren. Aber der Zugführer ließ auf sich warten, denn der hatte auf seinem Weg zur Arbeit im Stau gestanden.
Er parkte seinen Wagen im Personalparkhaus, meldete sich an und eilte zum Gleis, wo der Schaffner neben dem vollen Zug auf ihn wartete und vorwurfsvoll auf seine Uhr sah. Der Zugführer rief ihm zu: „Entschuldigung, Stau!“, öffnete die Tür zum Führerhaus und stieg ein. Kurz darauf erklang die schrille Pfeife des Schaffners und der Zug setzte sich in Gang. Der große Zeiger der Bahnhofsuhr sprang einen Strich weiter. Es war Montagmorgen, der 8. April, 9.19 Uhr.
Sie wollte heute nicht zum Kaffeestündchen gehen. Sie hatte keine Lust – eigentlich hatte sie noch nie Lust dazu gehabt. Die Gespräche unten in der Kaffeestube des Gemeinschaftsgebäudes interessierten sie nicht, und außerdem war sie müde.
Letzte Nacht hatte sie lange wach gelegen. Eine Gedichtzeile war ihr nicht aus dem Kopf gegangen und hatte ihre Runden gedreht wie ein Kreisel: Den Tod in Gedanken finde ich keinen Schlaf und keinen Schlaf findend, denke ich an den Tod.
Es hatte sie wahnsinnig gemacht, dass sie sich nicht daran erinnern konnte, wie das Gedicht weiterging, denn dann wäre sie vielleicht von der Anfangszeile erlöst worden. Bei Liedtexten schien das jedenfalls zu funktionieren.
Insomnia, so hieß das Gedicht, das sie vom Schlafen abhielt. Ein Gedicht von Bloem. J. C. Bloem, daran konnte sie sich dann wieder mühelos erinnern. Schließlich war sie aufgestanden, hatte das Gedicht herausgesucht und es sich murmelnd vorgelesen. Das hatte geholfen, von der ersten Zeile war sie erlöst, aber inzwischen war sie so wach gewesen, dass es noch eine ganze Weile gedauert hatte, bis sie endlich eingeschlafen war.
Sie zog ihre Jacke an. Wenn sie in ihrer Wohnung bleiben würde, dann würde bestimmt die Nachbarin von Nummer 37 an ihre Tür klopfen, um zu fragen, wo sie bliebe.
Sie öffnete die Tür und schaute um die Ecke in den Flur. Niemand zu sehen. Als sie die Tür zuzog, fiel ihr ein, dass sie die Wohnungsschlüssel auf dem Tisch liegen lassen hatte.
Sie blieb einen Moment unschlüssig stehen, zuckte dann mit den Schultern und ging den Gang entlang, an dessen Wänden, zwischen den Türen, selbst gemalte Bilder und eingerahmte Stickereien der Bewohner hingen. Blumen und Vögel waren augenscheinlich die beliebtesten Motive.
Bei ihr hing nichts an der Wand. Das sei doch schade, hatte die Nachbarin von der 37 gemeint, so kahl. Sie habe noch ein hübsches Bild von einem Rotkehlchen, das sie haben könne, oder möge sie die nicht?
Anstatt den Aufzug zu benutzen, nahm sie die Treppe. Kurz darauf stand sie draußen. Es war ein grauer Tag. Die Kirchturmuhr schlug halb zehn. In einer Stunde würde das Kaffeestündchen anfangen – ohne sie.
Zehn nach halb zehn. Sie musste sich beeilen, in einer Viertelstunde musste sie in der Schule sein. Sie zog ihre Jacke an, schob sich den Rucksack über die Schulter und fischte auf dem Weg zur Haustür die Schlüssel aus dem Schälchen in der Küche.
Ihre Eltern waren schon zur Arbeit unterwegs. Die Mutter mit dem Auto, der Vater mit dem Fahrrad. Ihre Eltern hätten es gerne, wenn sie gleichzeitig mit ihnen aufstehen würde, aber dazu hatte sie keine Lust. Einmal die Woche, sonntags, zu dritt frühstücken, mit Frühe Vögel, der Lieblingsradiosendung ihrer Eltern, im Hintergrund, war, so fand sie, mehr als genug.
Unter der Woche bestimmte sie ihr eigenes Tempo und lauschte jeden Morgen den gleichen Geräuschen: dem Rauschen der Klospülung, dem Anstellen der Dusche, dem leisen Summen ihres Vaters beim Rasieren vorm Spiegel, dem Abklopfen des Rasiermessers gegen den Waschbeckenrand.
„Du kannst!“ – ihr Vater, der mitteilt, dass das Badezimmer frei sei.
„Weißt du, wo ich den Autoschlüssel gelassen habe?“ – ihre Mutter, die immer alles verbummelte.
„Wir sind weg!“ – beide im Chor.
Ihr Vater hatte wie immer schon ihr Fahrrad aus dem Schuppen geholt. Das störte sie, aber es würde sie noch mehr stören, wenn er es nicht tun würde. Sie steckte sich die Ohrstöpsel des iPhones in die Ohren und machte sich auf den Schulweg. Niederländisch, Biologie, Mathe, eine Zwischenstunde, Geschichte – so würde ihr Tag heute aussehen.
Der Zug verlangsamte das Tempo, der Schaffner rief über den Lautsprecher den nächsten Bahnhof aus.
Sollten Sie über ihre Bahn-Chip-Karte eingecheckt haben, vergessen Sie bitte nicht auszuchecken. Haben Sie auch wirklich nichts vergessen?
Der Zugführer stellte sich vor, wie die Fahrgäste im Abteil kontrollierten, ob sie alles bei sich hatten – er sah Sprechblasen über ihren Köpfen in Form von Gedankenwolken wie bei einem Comic: iPad, Laptop, Briefmarkensammlung, Auto, Lottoschein, Goldfisch, Aktienpaket, Hund …
Die Stühle des Cafés Spoorzicht standen kopfüber auf den Tischen. Montags geschlossen. Vor dem Zebrastreifen hielt sie an, ließ ein Auto vorbei und überquerte dann die Straße. Sie ging an dem Möbelgeschäft Jongerius entlang und blieb dann einen Moment stehen, um sich die Möbel im Schaufenster anzusehen. Sie sah ihr Spiegelbild in der Scheibe zwischen einem schwarzen Dreipersonensofa aus Leder, Geschirrvitrinen und Beistelltischchen. Alles im Ausverkauf. Alles gleich hässlich.
Hinten im Laden konnte sie Herrn Jongerius sehen, wie er staubsaugte. Sie spürte einen Regentropfen. Sie sah hinauf zum Himmel und ging dann weiter.
Sie stieg in die Pedale und fuhr noch schneller; gleich würde es zu regnen anfangen, und zu spät in die Schule kommen wollte sie auch nicht. Es war nicht viel los auf der Straße: ab und zu ein Auto, eine Mutter auf dem Fahrrad, auf dem ein Kindersitz befestigt war und ein Lieferwagen des Klempners Hartman & Söhne, UNTERWEGS ZU EINEM ZUFRIEDENEN KUNDEN. Ein Stückchen weiter ging gerade eine alte Frau über den Bahnübergang, im selben Moment fingen die Blinklichter an zu blinken und schlossen sich die Schranken.
„Neeeeeeein!“, rief sie.
„Verdammt!“, fluchte der Zugführer.
Von unserem Reporter. Gestern Morgen, gegen 10 Uhr, konnte ein 15-jähriges Mädchen durch schnelles und couragiertes Eingreifen das Leben einer 83-jährigen Frau retten und dadurch ein Zugunglück verhindern. Die Rentnerin befand sich zur besagten Zeit aus noch unerfindlichen Gründen mitten auf dem verschlossenen Bahnübergang, dem sich bereits die verspätete Regionalbahn aus Amersfoort näherte. Die Schülerin zögerte keinen Augenblick und riss die Frau unter Gefährdung des eigenen Lebens im letzten Moment von den Schienen und weg von dem vorbeifahrenden Zug.
„Schade, dass dein Name nicht genannt wird“, sagt mein Vater. „Aber wir heben den Artikel trotzdem auf.“
„Wir?“
„Vielleicht erscheint es dir im Moment nicht so wichtig, aber später wirst du froh darüber sein.“
„Wir sind sehr stolz auf dich“, sagt meine Mutter.
Mein Vater legt die Zeitung auf die Bettdecke und streicht mir mit der Hand über den Kopf. „Hab einen schönen Tag, Schatz.“
Ich murmle etwas Unverständliches zurück und ziehe mir die Bettdecke über den Kopf. Ich hasse das Wort Schatz – es klingt hässlich, sperrig. Beinah so schrecklich wie Mädels – noch so ein Wort, das ich nicht leiden kann, das aber ein Lieblingswort unserer neuen Sportlehrerin ist: „Kommt, Mädels, ein bisschen Tempo, bitte.“ Grässlich! Wenn ich das Wort bloß höre, sehe ich sofort ein quadratisch-praktisch-gut-Mädchen vor mir, die Haare streng zurückgekämmt zu einem Pferdeschwanz – so ein Fußballspielerinnentyp eben.
Ich warte, bis meine Eltern aus dem Haus sind – „Wir sind weg!“ – und setze mich dann im Bett auf, um den Zeitungsartikel zu lesen.
Was da steht, stimmt überhaupt nicht. Ich bin keine fünfzehn, ich bin sechzehn. Bin ich froh, dass mein Name nicht dabeisteht. Leider ein Foto. Aber darauf kann selbst ich mich kaum erkennen, so unscharf ist es.
Glück im verhinderten Zug-unglück.
Ihr Unterarmknochen hatte einen kleinen Riss. Als sie aus dem Gipszimmer kam, wollte sie sofort nach Hause, aber die Krankenhausärzte hatten sie noch eine Nacht zur Beobachtung dabehalten.
Sie hatte wunderbar geschlafen. Merkwürdig eigentlich, denn in letzter Zeit konnte sie oft nicht einschlafen und lag lange wach. Jetzt hatte sie sich angezogen und, auf dem Bettrand sitzend, ein Butterbrot gegessen, so ein weiches Krankenhausbrot mit einer Scheibe künstlichem Schmelzkäse.
„Sie haben Glück gehabt, Frau de Graaf“, sagte Judith, die Stationsschwester, die ihr den Krankenbericht für den Hausarzt überreichte. „Wenn Sie das Mädchen nicht rechtzeitig von den Schienen gezogen hätte, dann …“ Sie beendete ihren Satz nicht.
„Dann wäre ich tot gewesen“, dachte Frau de Graaf.
Sie bedankte sich für die gute Pflege und nahm den Fahrstuhl nach unten. An der Rezeption bat sie darum, ihr ein Taxi zu bestellen.
„Werden Sie denn nicht abgeholt?“, erkundigte sich die Rezeptionistin, während sie die Nummer der Taxizentrale eingab.
„Nein“, sagte Frau de Graaf kurz angebunden.
Natürlich hätte sie jemanden von Overstaete anrufen können, dem Seniorenheim in dem sie wohnte. Zum Beispiel Herrn van Zeijl aus der Wohnung unter ihr, ein netter Mann. Er hätte sie bestimmt abgeholt, aber sie wollte lieber alleine nach Hause fahren. Sie hatte dort auch niemandem Bescheid gesagt, dass sie im Krankenhaus lag. Die eine Nacht. Außerdem konnte sie so lästigen Fragen entgehen. Aber die würden natürlich doch kommen, bei dem Gipsarm!
„Haben Sie keine Kinder?“
„Ein Taxi ist doch am einfachsten.“
Es ging diese Person überhaupt nichts an, ob sie Kinder hatte oder nicht. Sie hatte keine. Auch keinen Mann. Nie gehabt, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne des Wortes. Zum Heiraten oder Zusammenwohnen hatte sie kein Talent. Sie setzte sich auf einen Stuhl im Wartebereich der Eingangshalle und blätterte gedankenverloren in einer Zeitschrift. Danach betrachtete sie ausgiebig ihren linken Schuh, dessen Leder an der Innenseite abgeschabt war. Sie hatte ihn gestern verloren, als das Mädchen sie von den Schienen gezogen hatte. Wie es dem Mädchen jetzt wohl ging? Es war plötzlich verschwunden gewesen.
„Taxi für Frau de Graaf!“
Der Taxifahrer, ein hübscher, junger, dunkelhäutiger Mann im Anzug, reichte ihr den Arm, führte sie nach draußen zum wartenden Auto und öffnete für sie die Tür. Aus dem Wageninneren klang ihr marokkanische Musik entgegen. Sie stieg ein und nannte dem Fahrer ihre Adresse. Im Taxi roch es nach Eau de Cologne – sie bemerkte ein Duftfläschchen, das am Armaturenbrett befestigt war.
Der Fahrer stellte sein Navigationsgerät ein, der Wagen fuhr davon und ließ das Krankenhaus hinter sich.
„Stört Sie die Musik?“
„Nein, gar nicht“, sagte sie, aber der Taxifahrer stellte sie trotzdem leiser.
„Schmerzen?“, fragte er und nickte zu ihrem Gipsarm hinüber.
„Es geht.“
„Zum Glück ist es der linke Arm – zumindest wenn Sie Rechtshänderin sind.“
Sie nickte.
„Glück“, dachte sie. Sie hatte Glück gehabt – so konnte man es auch sehen.
Nach einer Weile kamen sie an dem Bahnübergang vorbei, den sie gestern Morgen im Krankenwagen verlassen hatte. Sie musste wieder an das Mädchen denken. Ob sie es wohl wiedererkennen würde? Es hatte schöne, lange, blonde Haare gehabt, daran konnte sie sich noch gut erinnern. „Ich muss in die Schule!“, hatte es gesagt und weg war es.
Frau de Graaf schämte sich. Wie hatte sie einem jungen Menschen so etwas antun können? Das Taxi hielt vor dem Eingang von Overstaete an. Sie bezahlte, der Fahrer bedankte sich für das Trinkgeld und half ihr beim Aussteigen.
„Soll ich Sie noch hineinbringen?“
„Das ist sehr nett von Ihnen“, sagte sie, „aber ich schaffe das prima alleine.“
„Gute Besserung. Wegen dem Arm, meine ich.“
Sie ging durch die Eingangshalle und als sie schon vor dem Aufzug stand, fiel ihr ein, dass sie gestern den Wohnungsschlüssel drinnen auf dem Tisch vergessen hatte. Aber das war kein Problem, denn die Leiterin des Seniorenheims hatte im Erdgeschoß ihr Büro und dort bewahrte sie von jeder Wohnung einen Ersatzschlüssel auf.
Sie schaute durch die Büroglasscheibe und sah die Leiterin vor einem Computerbildschirm sitzen. Sie hieß van Tongeren und war eine kräftige Frau, Anfang fünfzig, mit feuerrot gefärbten Haaren. Am liebsten mochte sie es, wenn man sie bei ihrem Vornamen nannte: Tessa.
Frau de Graaf ging dieser Vorname nicht leicht über die Lippen – wieso, wusste sie nicht. Vielleicht weil Tessa mit dem gleichen Buchstaben anfing wie Tongeren und es deswegen so gewollt klang. Und das musste ausgerechnet sie stören, dachte sie.
„Was hast du dir zum Geburtstag gewünscht?“, fragt Guusje.
„Jetzt bleib doch mal still sitzen“, sagt Christa. „So kann ich dich unmöglich zeichnen!“
„Man wird doch wohl noch reden dürfen.“
„Hauptsache, du hältst den Kopf still.“
„Ich weiß es schon“, sagt Guusje, die am selben Tag wie Christa Geburtstag hat und gleich alt ist. „Aber ob ich es bekomme, ist natürlich eine andere Frage.“
„Guusje, stillhalten!“
„Jetzt mal im Ernst, Chris. Ich habe bei van der Merel eine Brosche gesehen, einen Vogel aus Djokja Silber. Einfach wunderschön!“
Christa antwortet nicht sofort. Sie ist schon eine Weile mit Guusjes Nase beschäftigt, aber sie bekommt sie nicht gut aufs Papier.
„Chris! Hörst du mir überhaupt zu?“
„Ida“, sagt Christa.
„Ida? Wer ist denn Ida?“
„Ich bin das“, sagt Christa. „Ich möchte ab jetzt Ida heißen.“
„Willst du dir das wirklich zum Geburtstag wünschen?“
„Wenn ich mich traue, dann schon.“
„Warum solltest du dich das nicht trauen?“
„Bei dir traue ich mich das, dich könnte ich darum bitten. Aber bei meinen Eltern … ich weiß nicht. Ich meine, sie haben mich schließlich Christa genannt, nach Tante Christien, einer Tante meiner Mutter. Ich habe sie nie kennengelernt; sie ist schon wer weiß wie lange tot.“
„Bist du nach einer Toten benannt?“
„Das ist mir egal, aber Christa ist ein blöder Vorname, der hat mir noch nie gefallen. Ida klingt doch viel besser. Ida de Graaf.“
„Ida“, wiederholt Guusje. „Ida … Ich werde mich bestimmt noch vertun zu Anfang, aber ich werds versuchen.“
„Ida ist auch ein Berg in Griechenland“, sagt Christa. „Auf Kreta. Zeus ist dort geboren.“
„Darf ich jetzt endlich mal sehen?“, fragt Guusje. „Bitte!“
„Gleich“, sagt Christa. „Mensch, was hast du für eine schwierige Nase, aber so langsam kriege ich sie hin.“
„Dreizehn Jahre …“, sagt Guusje. „Findest du es schön, dreizehn zu werden?“
„Ja, schon“, sagt Christa. „Umso schneller bin ich achtzehn.“
„Ob dann immer noch Krieg ist?“
„Na, hoffentlich nicht“, sagt Christa.
„Achtzehn, wie alt das klingt.“
„Aber nein, dann fängt alles doch erst richtig an. Im Moment habe ich das Gefühl, ich würde in einem Wartezimmer sitzen, dessen Tür verschlossen ist. Man kann daran rütteln, wie man will, aber sie öffnet sich nicht. Sie muss sich aber öffnen, ich will raus, ich will in die Welt. Endlich frei sein.“
„Nein, so erlebe ich das nicht“, sagt Guusje. „Bei mir ist das anders. Ich frage mich eher, wie alt wir wohl überhaupt mal werden. Was meinst du? Ob wir es bis achtzig schaffen?“
„Iiieh, hör auf.“
„Und ob wir dann immer noch befreundet sind?“
„Da kannst du Gift drauf nehmen.“