05
DIE ERSTE MISSION
Jake gähnte beim Frühstück ununterbrochen und aß nicht viel, obwohl sein Dad Buttermilch-Käse-Speck-Brötchen gebacken hatte. Seine Mom war schon längst weg und fuhr gerade durch den Stoßverkehr, mit nichts anderem als Kaffee und VindiqoQo im Magen.
»Heute kommen vielleicht ein paar Freunde vorbei«, sagte Jake.
»Ich dachte, Aaron und Pete sind diese Woche im Zeltlager?« Sein Dad strich mit dem Finger über den Bildschirm seines Tablets, das neben seinem Teller lag, und checkte die neuesten Nachrichten, Twitter oder sonst irgendetwas.
»Sind sie auch. Das sind neue Freunde. Ich hab sie erst gestern kennengelernt, als ich zur Bücherei gegangen bin. Filby und Lizzie.«
»Mmmm. Na, dann freue ich mich, sie kennenzulernen. Macht nur nicht zu viel Lärm im Haus, ich habe heute sehr viel zu tun und muss mich konzentrieren.«
»Wir gehen, glaube ich, sowieso raus.« Jake spielte mit seinem Buttermesser. Er wusste zwar, dass sein Dad nicht richtig zuhörte, beschloss aber, auf Nummer sicher zu gehen und ihm eine Notlüge zu erzählen – auch wenn ihm sein Dad nie im Leben abkaufen würde, dass man ihn als Undercoveragent rekrutiert hatte. Jake war sich nicht sicher, ob er selbst so richtig daran glaubte. »Wahrscheinlich gehen wir in den Park – ich will ihnen den Radweg zeigen.«
»Hm? Klingt doch super«, sagte sein Dad, den Mund voller Brötchen.
Jake seufzte. Seine Eltern schenkten ihm nie viel Beachtung. Was heute mal was Gutes hat, dachte er bei sich.
Jake wartete vorne auf der Veranda, als Filby und Lizzie ankamen. Er hatte mehr oder weniger damit gerechnet, dass sie sich vom Dach seines Hauses abseilen, mit dem Fallschirm auf den Rasen gleiten oder in einem schwarzen Hubschrauber landen würden, doch sie fuhren einfach auf Rädern auf sein Haus zu. Auf sehr extravaganten Rädern – ihres war rot und seins schwarz, aber sonst waren sie völlig gleich, supersportlich und mit Spiegeln und schwarzen Segeltuchsatteltaschen ausgestattet. Unterhalb der Lenkerstange waren sogar richtige Scheinwerfer befestigt.
»Ist das eine Kamera?«, fragte Jake und streckte die Hand nach einem Gerät vorne an Lizzies Fahrrad aus.
»Nicht anfassen«, sagte sie und schob seine Finger beiseite. »Dieses Ding kann gefährlich sein.«
»Du hast doch ein Fahrrad, oder?«, erkundigte sich Filby.
»Mit euren kann es aber nicht mithalten.« Jake schob sein altes Dreigangrad aus der Garage.
Filby musterte es und nickte mit einem vielsagenden Lächeln. »Keine Sorge, du bekommst bessere Ausrüstung, sobald du offiziell im Einsatz bist.«
»Diese Fahrräder sind der Hammer«, sagte Lizzie. »Siehst du die Schalter da?« Sie schnippte an einem der Lenkergriffe ein verborgenes Fach auf und enthüllte eine Reihe von blinkenden Knöpfen. »Ausweichmanöver. Wenn du auf den hier drückst, fallen Nägel aus den Satteltaschen.«
»Die heißen Krähenfüße, Lizzie.«
»Ja, geschenkt. Es sind kleine Nägel, mit denen man Reifen zum Platzen bringen kann. Der hier lässt Schmieröl ab, das jede Straße in eine Rutschbahn verwandelt. Und der hier …« Sie grinste. »Filby, du hast bei seiner Konstruktion geholfen. Erklär du’s ihm.«
»Unter dem Sitz ist ein elektrischer Motor versteckt«, sagte Filby. »Mit dem kommt man schnell voran. Überraschend schnell. Es hält nicht lang an, ist aber ziemlich furchterregend.«
»Das ist noch gar nichts«, meinte Lizzie. »Warte mal, bis du die Welbikes siehst.«
»Welbikes?«
Filby verdrehte die Augen. »Ich glaube kaum, dass Hale demnächst aus einem Flugzeug springen wird.«
»Na ja, in diesem Geschäft weiß man das nie. Steig auf, Greenhorn. Wir haben einen Auftrag zu erledigen.«
Sie radelten los und sausten durch das Viertel. Jake bildete das Schlusslicht und fragte sich, ob er einfach umkehren und sich so weit wie möglich von ihnen fernhalten sollte. Bewirkten die Knöpfe an den Lenkern wirklich irgendetwas oder nahmen ihn die beiden nur auf den Arm? Jake hoffte so sehr, dass sie die Wahrheit sagten, aber es fiel ihm schwer, etwas so Unwahrscheinliches zu glauben. Die leuchtenden Knöpfe waren so oder so ziemlich cool. Außerdem war ihm stinklangweilig. Selbst wenn Lizzie und Filby totale Spinner waren, könnte es spannend werden, Zeit mit ihnen zu verbringen. Schließlich hatte er ja sonst niemanden, mit dem er abhängen konnte.
Nach einer Weile verließen sie die vormittäglichen ruhigen Straßen und fuhren in den Angleton-Park, dessen Grün sich über mehrere Hektar durch die Stadt hindurch erstreckte. Als kleiner Junge war Jake mit seinen Eltern oft hierhergekommen, um Drachen steigen zu lassen und so was, und an sonnigen Wochenenden wimmelte es immer nur so von Leuten, die spazieren gingen, picknickten und Bälle für ihre Hunde warfen. Heute war es aber weder sonnig noch Wochenende und der Park war nahezu menschenleer.
»Okay, jetzt bist du gefragt«, sagte Filby. »Wir haben keine genauen Koordinaten, aber wir sollen zum großen Wal gehen.« Er schnaubte. »Ist ›großer Wal‹ nicht so was wie ’ne Tautologie? Wie wenn man ›kleine Krabbe‹ oder ›nasses Wasser‹ sagen würde? Ich meine, das Typische an Walen ist doch, dass sie groß sind.«
»Es gibt aber zwei Wale«, wandte Jake ein. »Einen großen und einen kleinen.«
»Ha«, entfuhr es Lizzie. »Wo sind sie?«
»Kommt, ich zeig’s euch.«
Jake radelte durch den Park und folgte Asphaltwegen, die sanft bergab zum Bachbett führten. Entlang des Bachs standen hier und da Betonstatuen, verwittert oder von unzähligen darüber kletternden Kindern glatt poliert. Da waren eine küchentischgroße Schildkröte, ein Drachenkopf so breit wie ein Sofa sowie die beiden Wale. Der eine hatte die Größe einer Kuh, mit einem künstlerisch gestalteten Wasserspeier, der aus dem Kopf des Meeressäugers herausragte. Das war der kleine Wal. Der andere hatte eher den Umfang eines Lasters und hob seinen Schwanz in die Höhe.
»Da sind wir«, sagte Jake und lehnte sein Fahrrad gegen einen Baum.
Filby und Lizzie stiegen von ihren Rädern ab. Lizzie kletterte auf den Rücken des großen Wals und schaute sich in alle Richtungen um, als würde sie nach verdächtigen Dingen Ausschau halten. Filby ging langsam um den Wal herum und betrachtete den Boden mit zusammengekniffenen Augen. Jake fragte sich, was sie da trieben.
»Gibt es hier viele wild lebende Tiere, Hale?«, fragte Filby.
Jake brauchte einen Moment, um sich daran zu erinnern, dass »Hale« sein Deckname war. »Wild lebende Tiere? Wie Eichhörnchen und Vögel? Ja, klar. Es gibt auch eine Menge herrenloser Katzen, die im Park herumstreunen.«
»Nicht mehr«, erwiderte Filby und zögerte, bevor er hinzufügte: »Hier wurden vor fünf Tagen ein Dutzend verwilderte Hauskatzen gefunden, entstellt, aufgedunsen und tot.«
»Wir glauben, dass man sie vergiftet hat«, erklärte Lizzie, als sie vom Wal herunterhüpfte und wie eine Katze in der Hocke landete. »Aber warum, wie, von wem?«
Filby ließ den Blick über die Landschaft schweifen. »Manchmal bekommt man einen Auftrag, den man versteht, Hale, und manchmal nicht.« Er stützte sich auf ein Knie und studierte den Boden.
Lizzie beobachtete ihn im Stehen und gähnte dann übertrieben. »Während du nach Hinweisen suchst, Agent Filby, übe ich am Schießstand.« Sie schlenderte hinunter zum Bach und schnappte sich eine Handvoll Kieselsteine. Sie feuerte sie über das Wasser und traf jedes Mal dasselbe herumschwimmende Stück Müll.
»Sie ist eine gute Agentin«, sagte Filby und sah zu ihr hinüber, »aber sie hat keine Geduld für kriminaltechnische Arbeit.« Er holte vorsichtig ein elektronisches Gerät aus seiner Tasche – das aber nicht wie ein Telefon aussah –, tippte auf dessen Display und führte es langsam über die Erde.
»Wonach suchen wir denn?«, fragte Jake. Filby erinnerte ihn auf einmal an einen Detektiv aus einem Science-Fiction-Film.
»Nach allem, was irgendwie ungewöhnlich ist«, antwortete Filby, ohne den Blick vom Boden zu heben.
»Injektionsnadeln«, rief Lizzie vom Bach herüber. »Streichholzbriefchen von Nachtclubs aus Monaco. Seltsame, ausländische Zigarettenkippen. Alles Mögliche.«
»Wir sammeln Hinweise und analysieren sie dann«, fügte Filby hinzu.
Jake zuckte mit den Schultern, schlenderte langsam auf die andere Seite des Wals und musterte dabei aufmerksam die Umgebung. Er hatte die natürliche Gabe, Dinge zu bemerken, und in der Regel fiel ihm alles Ungewöhnliche um ihn herum sofort auf. Als er klein war, war er beim Ostereiersuchen immer sehr gut gewesen. Aber reichte das wirklich, damit irgendeine Geheimorganisation ihn ausfindig machte und rekrutieren wollte?
Nicht dass ihm in dem Moment viel auffiel. Da waren ein paar Münzen – nur dreckige Cents –, ein paar Cracker, die nicht von Vögeln oder Eichhörnchen gefunden worden waren, eine leere Limonadendose, eine verbogene Büroklammer, ein totes Insekt – Moment mal. Es war kein gewöhnliches totes Insekt.
»Hey, Leute«, rief Jake, »hier drüben ist eine Biene. Aber so eine merkwürdige Biene hab ich noch nie gesehen.«
»Wo?« Filby eilte an seine Seite, beugte sich vor und betrachtete das Insekt, ohne es zu berühren. Jake hatte natürlich schon eine Menge Bienen gesehen und die hier war auch gelb mit schwarzen Streifen, aber sie war knallgelb wie ein Postauto. Sie war fast so breit wie eine Centmünze und hatte lange Flügel und Fühler sowie einen gebogenen Stachel, der so groß war, dass man ihn sehen konnte, ohne die Augen zusammenkneifen zu müssen. Jake fragte sich, ob das eine der sterbenden Bienen war, von denen er im Fernsehen gehört hatte, obwohl diese hier irgendwie unecht wirkte. Sie sah eher aus wie ein Fleißiges-Bienchen-Logo auf einer Müsli-Packung oder einem Glas Honig.
Nur dass sie tot war, also gar nicht mehr fleißig.
»Das könnte wichtig sein«, sagte Filby und nickte Jake lächelnd zu.
»Eine gute Beobachtungsgabe«, sagte Lizzie und schlenderte langsam zurück, »ist in unserem Job echt nützlich. Lass mich mal sehen.« Sie blickte nach unten. »Komisch.«
»Schauen wir uns das mal genauer an«, meinte Filby. Er zog ein weiteres Gerät aus seiner Tasche und hielt es ihm hin. »Bitte schön, Hale. Das ist dein HyperOpticon. Alle neuen Agenten bekommen eins an ihrem ersten Tag.«
Jake nahm das kleine, rechteckige Gerät mit blinkenden Knöpfen entgegen und stellte fest, dass es einen Bildschirm hatte und auf den Knöpfen so Dinge standen wie »Zoom«, »Vergrößern« und »Aufnehmen«. Er bestaunte das leichte Gerät. Es sah nicht wie eine schlichte Kamera aus – obwohl er genauso beeindruckt gewesen wäre, wenn sie ihm eine Kamera gegeben hätten –, aber es war ein ziemlich eindeutiger Hinweis darauf, dass Lizzie und Filby ihn nicht auf den Arm nahmen. Vielleicht sind sie doch echte Agenten, dachte Jake. Filby drehte die Biene mit einer kleinen weißen Plastikzange um und bewegte vorsichtig ihren Körper. »Film das bitte«, sagte er. Jake drückte zögerlich auf »Aufnehmen« und richtete das kleine Gerät lächelnd auf die Biene, während Filby die Zange drehte, damit er das Exemplar aus verschiedenen Winkeln filmen konnte.
»Okay«, sagte Filby. »Jetzt versuch heranzuzoomen.«
Jake tat ihm den Gefallen und drückte ein paarmal auf die entsprechenden Knöpfe, woraufhin die Biene so stark vergrößert wurde, dass er die einzelnen Haare an ihrem Körper erkennen konnte. »Was ist das auf ihrem Bauch?«, fragte er. Nahezu verborgen zwischen den winzigen Härchen des Insektenbauchs zeichnete sich ein stilisiertes, scharfkantiges V ab.
»Lass mich mal sehen«, sagte Lizzie, die von hinten an sie herangetreten war und sich über Jakes Schulter beugte. Sie pfiff durch die Zähne. »Erkennst du das, Filby?«
»Vindiqo«, flüsterte Filby.
»Wie VindiqoQo? Die Süßigkeiten-Leute?«
»Sie stellen nicht nur Süßigkeiten her«, erwiderte Filby. »Vindiqo ist ein riesiges Unternehmen.«
»Mit Verbindungen zu kriminellen Banden«, fügte Lizzie hinzu. Filby funkelte sie böse an. »Was? Das ist kein Geheimnis!«
Zwei Jugendliche, die etwas älter waren als sie, liefen an ihnen vorbei, schubsten sich gegenseitig und lachten scheinbar grundlos laut auf. Jake sah hoch, als sie vorbeigingen. Es waren Zwillinge. Sie trugen Khakihosen und Polohemden und hatten kurz geschnittenes blondes Haar und leuchtend blaue Augen. Sie sahen etwa wie fünfzehn oder sechzehn aus. Einer von ihnen trat im Vorbeilaufen gegen Jakes Fahrrad, was den anderen noch lauter zum Lachen brachte.
»Blödmänner«, sagte Filby.
Die Zwillinge blieben stehen und drehten sich gleichzeitig um.
»Was hast du gesagt, Fettwanst?«, schrie einer von ihnen.