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In memoriam Marc Dachy
5. November 1952 – 8. Oktober 2015
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2016
ISBN 9-783-8270-7888-9
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München / Berlin 2016
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In den ersten Tagen nach den Attentaten vom 13. November 2015 in Paris tat ich nichts anderes, als mich zu informieren. Ich las Zeitung, hörte Radio, sah die zahllosen Fernsehberichte, durchstöberte das Netz nach Meldungen und Bildern, die unter diversen Hashtags verbreitet wurden, und diskutierte mit Freunden die jeweils neuen Ermittlungsergebnisse, die Liveticker der Nachrichtenagenturen hinaus in die Welt schickten. Ihre Informationen erreichten mich im Minutentakt, und ich gab mich ihnen hin von frühmorgens bis spät in die Nacht.
Ich tat es aus Erschütterung. Weil ich verstehen wollte, was eigentlich geschehen war, was uns da überrollte und was es zu bezwingen galt. »Denn Wissen selbst ist Macht«, zitierte ich bei jeder Gelegenheit den englischen Philosophen Francis Bacon, wenn meine Familie mich fragte, was zum Teufel mit mir los sei, und verlangte, auch einmal ohne die Stimme der Radiojournalisten von France Culture und France Inter aufzuwachen. Keiner wusste besser als ich, wie falsch es war, sich von dieser Informationsflut mitreißen zu lassen, schließlich hatte ich in Israel gelebt, einem Land, in dem Attentate zum Alltag gehörten. Dort erklärten Psychologen, dass solche Informationen nie der Kommunikation dienten, kein Wissen vertieften, keine Erkenntnis lieferten, ja, dass eine Überfülle an Meldungen die Angst nicht mindere, ganz im Gegenteil, sie schüre sie nur und ließe die Menschen in Passivität versinken. Mehr als eine Stunde pro Tag solle man sich nicht informieren, es sei denn, das Leben hinge davon ab. Stattdessen solle man sich auf seinen Alltag konzentrieren.
Hätte ich den Rat beherzigt, so hätte ich meine Familie und meine Freunde wohl besser täglich bekocht, und selbst endlich einmal mein Büro aufzuräumen, wäre vernünftiger gewesen, als auf die Push-Meldungen meines Smartphones zu warten. Seit den Attentaten steckte das Mobiltelefon immer in meiner Hosentasche, lag vor mir auf dem Tisch oder nachts neben meinem Bett. Und zwar immer laut gestellt. Selbst zum Joggen im Jardin du Luxembourg nahm ich es mit, denn man wusste ja nie. Ich war informationssüchtig geworden, und mein Suchtmittel war im digitalen Zeitalter sofort verfügbar. Ich musste nicht einmal wie José, der Clochard in unserer Straße, zum Supermarkt gehen, um den billigen Fusel zu erstehen. Ich setzte mich einfach an den Schreibtisch und öffnete den Browser. Mit nur wenigen Mausklicks bekam ich meinen Stoff.
»Ein Kriegsakt«
Die meisten Meldungen kamen im Konjunktiv daher. »Nach Informationen unserer Fernsehkollegen …«, hieß es, oder: »Wie die Zeitung Libération meldete, könnte …«, oder: »Unter Berufung auf Augenzeugen hätte …«, oder: »Laut einem Bericht der Washington Post sei …«. Schon am zweiten Tag hatten die Nachrichten den Weg einmal rund um die Welt gemacht. Hatte einer der vielen sich in der Stadt aufhaltenden Journalisten, eine Information, ein Bild, eine Anekdote aufgeschnappt, hatte er gar einen neuen Augenzeugen aufgetan, eine neue Auskunft unter der Hand ergattern können, so wurde er von seinen Kollegen sofort zitiert. CNN berichtete, was AFP bekanntgegeben hatte, wo man sich wiederum auf Mediapart berief – die Spirale endete nirgendwo, denn die polizeilichen Ermittlungen benötigten nun mal die Zeit, die polizeiliche Ermittlungen benötigen, die ganze Welt jedoch lechzte nach Handlung und Ergebnissen. Und vor allen Dingen ersehnte sie, über effiziente Maßnahmen benachrichtigt zu werden. Maßnahmen, die sie vor dem schützen sollten, was Präsident Hollande per Twitter-Account des Élysée-Palasts einen »Akt absoluter Barbarei« und einen »Kriegsakt« genannt hatte. »Was sich gestern ereignet hat, ist ein Kriegsakt«, hatte er schreiben lassen, »und dem gegenüber muss das Land die angemessenen Entscheidungen treffen«.
Was aber waren »angemessene Entscheidungen«? Auch darüber wurde sofort und weltweit diskutiert, fortan las ich Analysen und Gastbeiträge von Terrorexperten, Psychologen, Soziologen, Philosophen, Sozialarbeitern, Müttern von Dschihadisten, Vätern von Opfern, Islamwissenschaftlern, Nahostspezialisten und Politikern, die herangezogen wurden, um uns zu erklären, was geschah und was noch geschehen könnte.
»Ein Haifisch und ein Elefant«
Dass Dschihadisten Journalisten, Karikaturisten und Juden hassen, damit hat sich die Zivilgesellschaft schlechten Gewissens abgefunden. Mit den Attentaten vom 13. November geriet jedoch unsere gesamte Gesellschaft ins Visier. Paris sei »die Hauptstadt der Abscheulichkeit und der Perversion«, hieß es im Bekennerschreiben des sogenannten Islamischen Staates, und dass »diese Attacke nur der Anfang des Sturms (sei) und eine Warnung für alle, die daraus Lehren ziehen wollen«.
Die linke Regierung zog ihre Lehren schnell. Bereits am nächsten Tag verhängte Präsident François Hollande den Ausnahmezustand. Grenzkontrollen wurden eingeführt, Reservisten einberufen, Soldaten mobilisiert, Hausdurchsuchungen durchgeführt. Am dritten Tag nach den Anschlägen verkündete Hollande in einer Rede vor den versammelten französischen Abgeordneten und Senatoren im Schloss von Versailles ein ganzes Bündel weiterer Maßnahmen, darunter die Verlängerung des Ausnahmezustands, ein Treffen mit den Präsidenten Obama und Putin, um eine Koalition gegen den IS zu schmieden, die Intensivierung von Luftangriffen gegen Stellungen der Terrormiliz im Irak und in Syrien, eine Zurücknahme des geplanten Personalabbaus bei der Armee, die Verlegung des Flugzeugträgers Charles de Gaulle nach Syrien und eine Gesetzesreform, aufgrund derer gebürtigen Franzosen mit doppelter Staatsbürgerschaft nach einer Terrorismus-Verurteilung der französische Pass entzogen werden könne.
Ich kann mich sehr gut an einen kurzen Wortwechsel zwischen einem Freund und mir erinnern. Wir standen in einem Bistro, in dem man Lotto-Wetten abschließt, an der Theke, tranken Limonade und lauschten jener Rede im Fernseher über dem Kopf des Wirtes.
»Frankreich ist im Krieg«, begann Hollande, »die am Freitag begangenen Attentate sind Kriegsakte. Wir werden den Ausnahmezustand auf drei Monate verlängern … Aber dieser andersartige Krieg gegen einen neuen Gegner erfordert ein verfassungsmäßiges Dispositv, das ein Krisenmanagement ermöglicht …«
»Was wird denn das, bitte schön?«, flüsterte ich meinem Freund entsetzt zu.
Und er antwortete: »Jetzt ist aber gut, Gila. Ich will nichts mehr hören. Genug ist genug!«
Ich sagte kein Wort mehr. Und als das gesamte Bistro, inklusive der Gewohnheitstrinker, im Anschluss an die Rede gemeinsam mit den französischen Abgeordneten und Senatoren die Marseillaise anstimmte, blickte ich verlegen auf meine Turnschuhspitzen. Volksempfinden flößt mir Angst ein. Doch zwei Tage später flennte auch ich, als ich während der Liveübertragung aus dem Londoner Wembley-Stadion mitverfolgte, wie nahezu 70 000 Menschen beider Nationen vor dem Fußball-Länderspiel die französische Nationalhymne anstimmten.
»Ein Haifisch und ein Elefant können sich nicht begegnen und keinen Krieg führen. Aber schon was im selben Wasser lebt, hat – ob es will oder nicht – eine Einheit, in der Krieg oder Verstehen möglich ist«, erklärt Ernst Bloch in Abschied von der Utopie. Lebten der IS und wir nun im selben Gewässer? Und wer hatte das beschlossen, der IS oder Frankreich? Ja, musste Präsident Hollande unbedingt das gleiche Vokabular benutzen wie diese Terroristen, die doch nichts anderes wollten, als einen Bürgerkrieg in Europa heraufzubeschwören? Wir waren also im Krieg. Na wunderbar, dachte ich. Und wer, bitte schön, hatte uns, das Volk, gefragt?
Der sechste Song
In einem Artikel las ich, dass die Terroristen das Feuer während des sechsten Songs der Eagles of Death Metal eröffnet hatten. Ich wusste, welche Quelle der französische Journalist angezapft hatte. Auch ich war in meiner medialen Besessenheit auf das Interview gestoßen, das der Bruder des Schlagzeugers dem Fernsehsender WSB-TV gegeben hatte und in dem jener die Journalisten beruhigte. Sein Bruder sei wohlauf, hatte er gesagt, er befände sich im Polizeikommissariat. Wie verrückt, dass sich ein französischer Journalist für seinen Bericht auf ein Telefoninterview stützte, das der Bruder eines amerikanischen Schlagzeugers einem kleinen Fernsehsender in Atlanta gegeben hatte, dachte ich, und dann machte ich mich daran, den Titel eines bestimmten Songs herauszufinden. Ich durchstöberte einen ganzen Vormittag alle nur erdenklichen Quellen. Ergebnislos. Und fing an herumzutelefonieren.
»Weißt du vielleicht, welchen Song die Band im Bataclan kurz vor den Attentaten gespielt hat?«, fragte ich einen Freund, mit dem ich mehrmals am Tag sprach.
»Wieso willst du das wissen?«, wunderte er sich.
Es sei zwar nicht groß von Bedeutung, erwiderte ich, aber ich hätte gelesen, dass die Terroristen das Feuer zu Beginn des sechsten Liedes eröffnet hatten.
»Ja und?«
Die Schriftstellerin in mir denke eben, dass solch eine nebensächliche Information ein klein wenig weiter ausgeleuchtet werden müsse, um einen Sinn zu ergeben.
»Du und deine verrückten Fragen«, meinte er nur.
Auch mein zweites Telefonat brachte mir nichts ein.
»Keine Ahnung«, bekam ich zu hören. Und: »Was spielt das jetzt für eine Rolle?«
Erst bei meinem vierten Anruf erhielt ich die Antwort, um die ich nicht gebeten hatte: »Ich kenne dich doch«, sagte eine Freundin, die mich wirklich kannte, »du willst dich nur wieder ablenken.«
Natürlich hatte sie recht. Und ich nehme an, dass auch der Journalist der eigenen Erschütterung mit präzisen Fakten Herr zu werden beabsichtigte. Der sechste Song, das war etwas ganz Konkretes, etwas, das man genau abstecken konnte. Das hatte klare Konturen. Nicht beim vierten, nicht beim fünften, nein, beim sechsten Song war etwas passiert, das wir alle nicht verstanden und zu dem wir seit der Nacht des 13. November immer wieder zurückkehren mussten. Was war in den Köpfen dieser Männer vorgegangen?, fragte auch ich mich immer wieder. An was denkt einer, der es geht los, wir fangen an in sein Handy tippt, danach aus seinem Wagen steigt, das Telefon in den nächsten Mülleimer wirft und einen Konzertsaal betritt, um auf eine Menschenmenge zu schießen? In welcher seelischen Verfassung ist er? Was verbirgt sich hinter dieser brutalen Zielstrebigkeit? Bloß Verachtung und Hass? Und wie bringt man jemanden dazu, so zu hassen, dass er bereit ist, ein Werkzeug des Todes aus sich zu machen?
Ich wagte mich gedanklich bis an seinen Rausch heran. Bis zu jenem Gefühl der lustvollen Überlegenheit. Wie grandios muss er sich gefühlt haben, als er sich mit der Gewissheit des Todes im Gepäck aufmachte. Und welche Verachtung muss er für all diejenigen empfunden haben, die nicht zu sterben, sondern sich zu amüsieren gekommen waren. Laut Aussage eines Davongekommenen hatte er sehr ruhig und gefasst ganze zehn Minuten lang getötet, um dann, nachdem er seine gesamte Munition abgefeuert hatte, den eigenen Körper als letzte, radikalste Tötungsmaschine zu benutzen und sich selber in die Luft zu sprengen.
»Das kalte Feuer des Fanatikers«
Doch nicht nur sein blinder Eifer erschütterte uns, nicht nur die Radikalität seiner Handlung, nicht nur die Einsicht, dass es möglich war, alle mitmenschlichen Gefühle in sich abzutöten. Was uns sprachlos zurückließ, was wir nicht akzeptieren konnten, war, dass dieses »kalte Feuer des Fanatikers« – die Bezeichnung stammt von Erich Fromm, und keine trifft es besser –, dass jene Leidenschaftlichkeit ohne Wärme bei uns allen – Opfern, Hinterbliebenen, Zeugen – ein quälendes Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins ausgelöst hatte.
In den Tagen nach den Attentaten suchten wir alle Worte für unsere Erschütterung, und jener Vater, der zwei Tage nach den blutigen Attacken immer noch nicht wusste, ob seine Tochter überlebt hatte, sprach sie für uns aus. Seine Tochter war aus Marcq-en-Ba-rœul, einer mittelgroßen Stadt mit 40 000 Einwohnern im Norden von Lille, nach Paris gezogen, um als Beleuchterin im Bataclan zu arbeiten. Sie war einunddreißig, hieß Nathalie, und auf dem Foto, das von ihr im Netz unter dem Hashtag #rechercheParis zirkulierte, mit dem Menschen nach Angehörigen und ihren Liebsten suchten, lächelte sie ins Objektiv und machte den Gruß der Heavy-Metal-Szene, den man »Teufelshorn« oder »Pommesgabel« nannte, je nach Sichtweise. Nicht alle Leichen hatten identifiziert werden können, die Menschen hatten ihre Dokumente in den Handtaschen und Mänteln an der Garderobe gelassen und die großkalibrigen Kugeln der Kalaschnikows hatten ein wahres Massaker angerichtet.
Wir alle hatten mitverfolgt, wie Nathalies Vater den Premierminister angesprochen hatte. Er war vorher schon in der Militärschule in Paris gewesen, in der eine Anlaufstelle für Angehörige eingerichtet worden war, hatte die Namenslisten durchstöbert, sämtliche Spitäler und Notaufnahmen abgeklappert, zwei Tage war er durch die Stadt geirrt, hatte jedoch weder seine Tochter gefunden noch einen Hinweis auf ihr Schicksal an diesem Abend erhalten, und nun hatte er beschlossen, seinen letzten Trumpf auszuspielen und vor laufenden Kameras Manuel Valls abzufangen. Er hatte ihn an der Gare du Nord erwischt.
»Ich habe keine Nachricht von meiner Tochter, die im Bataclan war«, hatte er begonnen, und Valls hatte dem Sicherheitsbeamten ein Zeichen gegeben, den Mann bis zu ihm durchzulassen. »Niemand ist fähig, mir zu sagen, wo sie ist. Warum sagt mir keiner was?«, hatte er gefragt. »Das ist unzumutbar, unzumutbar in diesem Land.«
Wir alle hatten diesen kurzen Wortwechsel von knapp dreißig Sekunden mitverfolgt, weil er auf sämtlichen Sendern gezeigt worden war. Und wir alle hatten die Erschrockenheit in den Augen dieses Vaters gesehen und geahnt, was er noch nicht wahrzuhaben imstande gewesen war, und jeder Einzelne von uns hätte mit ihm ausrufen können: »Das ist unzumutbar, unzumutbar in diesem Land.«
Das Chaos
chronologisch gliedern
Die Berichterstattung der letzten Wochen geizte nicht mit akribisch recherchierten Details, die uns, so scheint es mir, vor allem dazu dienten, ein Gefühl von Wirklichkeit zurückzugeben. Denn was genau erfahren wir aus der Mitteilung, dass der Attentäter, der in der Bar La Belle Équipe neunzehn Menschen tötete und neun verletzte, hundert Schüsse abfeuerte? Dass er für das Zielen zu aufgeregt war? Dass er ein schlechter Schütze war? Oder – im Gegenteil – hochmotiviert? Welcher Wert steckt in der Information, dass die RAID, die Spezialeinheit der Polizei, in einem siebenstündigen Gefecht mit den in einer Wohnung in Seine-Saint-Denis verschanzten Terroristen fünftausend Salven verschoss? Und welche tieferen Einsichten gewinnen wir, wenn wir lesen, der erste Attentäter am Stade de France habe seinen Sprengstoffgürtel vor dem Eingangstor D in der sechzehnten Spielminute gezündet, der zweite vor dem Tor H zehn Minuten später?
Der Meister, die Realität in knappen, präzisen Sätzen zusammenzufassen, war unbestritten Staatsanwalt François Molins. Ein Journalist der linksliberalen Libération hatte ihm sogar in einem Artikel eine Lobeshymne gesungen: »Monsieur le procureur François Molins, je vous aime« hatte er seine Kolumne betitelt und gestanden: »Ich bin nicht der Einzige, der auf Ihre Pressekonferenz wartet. Wenn Sie auf dem Bildschirm erscheinen, halten alle inne. ›Ruhe, Molins, es fängt an.‹ Wir stellen den Ton lauter und hören Ihnen einmütig zu. Stellen Sie sich vor, François, eine linke Redaktion, die an den Lippen eines Staatsanwaltes hängt!«
In einer Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint, erklärte der Journalist, würde Molins den Gerüchten Fakten entgegensetzen, der Überfülle der Spekulationen Einhalt gebieten und das Chaos chronologisch gliedern.
Seit die Redaktionen aus aller Welt an den Lippen dieses Staatsanwaltes hingen, wissen wir, dass der erste Attentäter seinen Sprengstoffgürtel am Eingangstor D des Stade de France um 21:20 Uhr zündete. Dass sich der zweite Selbstmordattentäter zehn Minuten später, um 21:30 Uhr, am Eingangstor H, und der dritte vor einer McDonald’s-Filiale um 21:53 Uhr in die Luft sprengte. Dass parallel dazu, um 21:25 Uhr, ein bewaffneter Attentäter im zehnten Arrondissement auf Gäste der Bar Le Carillon und des Restaurants Le Petit Cambodge schoss und fünfzehn Menschen tötete und zehn schwer verletzte. Und um 21:32 Uhr in der Rue du Faubourg-du-Temple und der Rue de la Fontaine-au-Roi elf Menschen starben und weitere acht verletzt wurden. Dass die Attentäter um 21:36 Uhr im Restaurant La Belle Équipe weitere neunzehn Menschen töteten. Dass sich ein Selbstmordattentäter um 21:40 Uhr am Café Voltaire in die Luft sprengte und mehrere Menschen verletzte. Und dass um 21:40 Uhr drei Terroristen im Konzertsaal Bataclan in die Menge schossen und hiernach zwei der Attentäter, nachdem sie ihre gesamte Munition verbraucht hatten, ihre Sprengstoffwesten zündeten.
Livestreams
»Was soll das werden?«, fragte mich kürzlich mein Sohn, als wir zusammen in der Küche die Reste des Vortags im Stehen vor dem Kühlschrank aßen, und deutete mit seiner Gabel auf eine neue Liste an der Kühlschranktür. Ich liebe Listen, sie verschaffen mir das Gefühl von Sicherheit. Sie helfen mir, den Überblick zu behalten, meine Tage zu gliedern, Tätigkeiten zu erledigen. Ich pinne häufig Listen an meine Kühlschranktür: Einkaufsnotizen, Merkzettel, Geburtstagserinnerungen, Terminkalender, Stundenpläne – und auch diese Liste hatte Inventurcharakter.
»Ich habe beschlossen, mir aus den Berichterstattungen über die Attentate die Informationen zu notieren, die ich für nebensächlich erachte«, gab ich zur Antwort und versuchte, ihm meine Beweggründe zu erklären. Ich redete von dem Hyperrealismus der Berichterstattung, von der Übersteigerung der Wirklichkeit im Detail, von einer überscharfen Realität, davon, dass man uns mit Auskünften zuschüttete. »Es lenkt unseren Blick ab«, sagte ich, »es lenkt uns aufs Detail, wo doch jetzt gerade der Überblick …«
»Du willst doch nicht etwa eine Erzählung über die Attentate schreiben?«, unterbrach er mich. Er schaute mich entsetzt an.
»Nein, natürlich nicht«, beeilte ich mich zu erwidern, »eine Erzählung wird das ganz bestimmt nicht.«
»Und was dann?«
»Ich sammle einfach wieder.«
Wie ich es von meinem Vater kannte, schnitt ich Zeitungsartikel aus, las Nachrichten und Bücher. Am Nachmittag hatte ich mir Jean Baudrillard aus dem Bücherregal gezogen, Erich Fromm, George L. Mosse, Voltaire, Richard Sennett, Avishai Margalit. Und es würden noch weitere Bücher folgen.
»Die Eingangstore gehören nicht mit drauf«, sagte mein Sohn, nachdem er sich die Liste ganz genau durchgelesen und mich zu jedem einzelnen Eintrag ausgefragt hatte.
»Du meinst, weil sie nicht durchgekommen sind?«
Wir nannten die Attentäter »sie«. Wir hatten uns die Namen nicht gemerkt. Ein neutrales »sie«, ein anonymes »sie«, mehr wurde ihnen nicht zugedacht, wenn wir über den 13. November sprachen, denn unser Augenmerk war auf die Opfer gerichtet.
»Und weil das zwei ganz konkrete geografische Verortungen sind.«
Er hatte natürlich recht, wer Eingangstor D und Eingangstor H schrieb, äußerte keine Meinung, vertrat keine Ansicht, erklärte kein Weltbild. Er stellte bloß einen Sachverhalt dar. Eingangstor D und Eingangstor H war keine unnötige Information. Vor allen Dingen war es kein: Was wäre geschehen, wenn …
Auch der Attentäter, der sich vor einer McDonald’s-Filiale in die Luft gejagt hatte, hatte wie seine zwei Kumpane versucht, in das Stadion zu kommen, in dem 80 000 Fußballfans das Freundschaftsspiel gegen Deutschland verfolgten.
Ich hatte beim Bäcker in der Schlange aufgeschnappt, dass das Länderspiel über Livestreams, Fernsehsender und diverse Internetportale in fünfzig Länder ausgestrahlt worden war.
»Sie wollten vor den Augen der gesamten Welt ein Blutbad anrichten«, hatte eine Dame, die um ein ganz besonders gut durchgebackenes Baguette gebeten hatte, bemerkt. Und während ein Mann, der vor dem Kuchensortiment stand, verkündete, dass der Vater und der Bruder eines Terroristen in Untersuchungshaft genommen worden waren, und ein anderer Kunde meinte, die Sicherheitsmänner, die an den Toren Dienst gehabt hatten, verdienten die Légion d’honneur