JENNY VALENTINE

DURCHS
FEUER

Roman

Aus dem Englischen von
Klaus Fritz

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Für meinen Vater

»Die Götter beneiden uns. Sie beneiden uns, weil wir sterblich sind, weil jeder Augenblick unser letzter sein könnte. Alles ist so viel schöner, weil wir irgendwann sterben. Nie wirst du zauberhafter sein als in diesem Moment, nie wieder werden wir hier sein.«

Aus dem Film Troja von Wolfgang Petersen

EINS

Als mein Vater beerdigt war, nahm ich Apfelkisten und kaputte Möbel und Äste eines umgestürzten Baums und entfachte ihm zu Ehren ein gewaltiges Feuer. Es türmte sich hoch über dem struppigen Stück Land, das ich den Feuergarten nenne, und es loderte, schon unbezähmbar, bis tief hinein in den schwindenden Nachmittag. Unter mir, auf dem Rasen, schnappten meine Angehörigen nach Luft wie gestrandete Fische. Sie umklammerten ihre Gesichter wie Edward Munchs Schreiende, wie Meth-Süchtige. Die Trauergäste in ihren Designerklamotten stürzten aus dem Haus, im Flammenlicht kreischend wie Gespenster.

Mein Stiefvater, Lowell Baxter, alternder Pin-up-Boy, ehemaliger Fernsehstar und jetzt hoffnungsloser Fall, stand schwankend da, verstört und mit leerem Blick, ein Mann, der nach einem langen Schlaf am falschen Ort aufgewacht war. Hannah, meine Mutter, in ihrem kreditkartenbefeuerten Fummel, knickte im nassen Gras zusammen wie ein neugeborenes Fohlen, während ihr prachtvolles Gesicht langsam einsank. Schluchzend klaubte sie ihre Sachen zusammen, mühte sich aber gar nicht erst, auf die Beine zu kommen. Wie denn auch, bei all den Schulden, die auf ihr lasteten.

Ich hätte sie filmen können, ihre Qualen bewahren, um sie später wieder anzusehen, aber ich tat es nicht. Ich tat, was mein bester und einziger Freund Thurston mir immer gesagt hatte. Ich genoss den Augenblick, denn der Augenblick war mehr als genug. Ich trat zurück und sah zu, wie sie litten, während ich mit Fäusten voller Papier die Flammen fütterte.

Ich fragte mich, ob sie jemals wieder mit mir sprechen würden. Ich hatte mich immer danach gesehnt, dass Hannah und Lowell endlich den Mund halten würden.

Sie hatten sich ganz anders benommen, als es mein Vater war, der eingeäschert wurde. Keinem von beiden tat es leid, ihn gehen zu sehen. Davor hatte es eine Trauerfeier im Krematorium gegeben. Ernest Toby Jones, einer in der Warteschlange der Toten. Lowell, im schnittigen Anzug, war ganz der Gastgeber, Hannah trug eine große schwarze Sonnenbrille, um ihre fehlenden Tränen zu verbergen, und glänzend schwarze Stöckelschuhe mit roten Sohlen, passend zu ihrem Lippenstift. Übertriebene Accessoires sind das Rezept meiner Mutter für große Ereignisse, anstelle von tatsächlichen Gefühlen.

Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Ernest in dieser Kiste lag, unter dem geschlossenen Deckel, dunkel und allein und vergangen.

Nichts davon ergab einen Sinn für mich. Ich kam da nicht mehr mit. Aber wie Wasser, das ein brennendes Streichholz löscht, schlug der Rest der Welt über seiner Abwesenheit zusammen und machte weiter. Der Leichenwagen mit meinem Vater schob sich durch den alltäglichen Verkehr. Die Autofahrer dahinter übten sich in Geduld angesichts seiner langsamen und würdevollen Fahrt zum Grab. Nur ein alter Mann am Stock blieb stehen und suchte meinen Blick, als der Sarg durch einen Kreisel fuhr, und neigte respektvoll den Kopf vor dem Toten.

Ernests spärliche Trauergemeinde versuchte, den Raum zu füllen, und verteilte sich in den Bankreihen. Gott weiß, wer die alle waren. Sie trugen ihre tristesten Sachen und stellten ihre Stimmen auf die Tonlage von Trauer und Verlust ein. Ich saß allein für mich. Mit denen wollte ich nichts zu tun haben. Die quietschbunten Teppiche im Andachtsraum sahen aus wie Requisiten aus The Shining, Ramschware aus einem geschlossenen Kasino in Las Vegas. Ich hätte am liebsten den gefragt, der das verbrochen hatte, ob es ein Witz sein solle, ob er farbenblind sei oder nur ein Fan von Kubrick-Filmen. Ich hätte es gern Thurston erzählt, denn er hätte es verstanden, und an diesem Tag der Tage hätte ich ihn gut gebrauchen können. Und dann wurde mir klar, dass die Teppiche vorzüglich gewählt waren, weil sie meine Gedanken vom Offensichtlichen ablenkten, diesem ausgerissenen Baum von meinem Vater, von Ernest, der nie zurückkommen würde.

Ich hatte ihn nicht lange genug für mich gehabt. Das ist die nackte Wahrheit. Als ich ihn einmal gefunden hatte, war ich nicht bereit, ihn wieder loszulassen.

»Willst du Musik«, hatte ich ihn noch eine Woche zuvor gefragt. »Wenn sich der Vorhang schließt, wenn dein Sarg verschwindet. Willst du einen Choral oder so was?«

Er dachte einen halb erstickten, morphiumweichen Moment darüber nach.

»Harold Melvin and the Blue Notes«, sagte er, und seine Stimme lag wie Schrot in seinem Mund, klang, als ob Mäuse über einen fernen Dachboden trippelten. Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Wörter an die Luft gelangten: »If you don’t know me by now.«

»You will never, never, never know me«, sang ich weiter, halb lachend, halb weinend.

Thurston hatte mal eine falsche Beerdigung inszeniert. Er mietete einen Leichenwagen, sein Onkel Mac saß am Steuer. Ich saß vorne, und obwohl der Sarg hinter mir leer war, lastete er auf mir wie etwas Launisches und Lebendiges, und ich dachte dauernd, es sei noch jemand im Auto. Thurston ging vor uns auf der Straße, langsam ausschreitend, mit abgewetztem Frack und schwarzem Zylinder, das Gesicht wie ein Gewitter, tränenüberströmt. Es war ein Sonntag in den Vororten, Long Beach Way, draußen bei Rossmoor. Die Leute wuschen ihre Autos und putzten ihre Vorgärten, und Horden von Kindern fuhren mit ihren Fahrrädern um eine überfahrene Katze herum. Onkel Mac fuhr einfach stur dahin, so langsam er konnte, und folgte Thurston mit einem riesengroßen, aufs Gesicht gekleisterten Grinsen. Er wusste nicht, was als Nächstes passieren würde, und das gefiel ihm.

»Ich vertrau dem Jungen«, sagte er, »weil der ist ’n Genie.«

Da wollte ich nicht widersprechen.

Die Kinder hörten auf im Kreis herumzuradeln, die Leute hörten auf mit dem Rasenmähen und Rechen, aus ihren Häusern kamen noch welche dazu, und alle betrachteten diesen Leichenzug, der hier nicht hergehörte. Offensichtlich fragten sie sich, wer denn der Tote war und was zum Teufel er auf ihren Straßen zu suchen hatte, an ihrem Wochenende. Und dann, als wir alle in den Bann gezogen hatten, langte Thurston in seine Fracktasche, während ich genau in diesem Moment die Wagenfenster öffnete und die Musik aufdrehte, It’s Just Begun von The Jimmy Castor Bunch. In einer flüssigen Bewegung, während die Musik an Kraft gewann, holte Thurston vier selbst gemachte Farbbomben heraus und schleuderte sie hoch in die Luft und hinunter auf den Asphalt. Wir folgten ihm unbeirrt durch eine dichte, wabernde Wolke aus Farben, die anschwoll und aufstieg und langsam herabsank und sich auf seiner tränenverschmierten Haut und den schwarzen Klamotten und unserem tristen, mückenverklebten Wagen festsetzte. Als wir aus der Farbwolke auftauchten und der Gesang einsetzte, fing Thurston an zu tanzen. Nicht einfach nur dieses Füßegetrommel und Fingergeschnipse, nicht irgendein überkommenes Ding. Sein ganzer Körper neigte sich und glitt dahin und strömte wie Wasser durch die Musik, die Töne schleuderten ihn in die Luft, ließen ihn tief und weit hinweg über das Land schweben, bis mir das Gesicht schmerzte, so sehr musste ich lächeln, nur vom Zusehen, bis ich zu atmen vergaß. Gott, dieser Kerl konnte sich bewegen.

Alle außer uns waren reglos, als hätten wir sie verzaubert, die Zeit angehalten  – und würden doch weiter durch sie reisen. Die Leute glotzten. Mehr blieb ihnen nicht übrig. Es war die Art von Beerdigung, die du dir wünschst, die du vielleicht gesehen hast und von der du nach zehn Jahren nicht mehr sagen kannst, ob sie Wirklichkeit war oder nur ein Traum.

Es war ein Moment, und was für einer. Thurston hatte ihn erträumt und diesen Menschen von Rossmoor dargeboten, kostenlos. Sie hatten keine Ahnung, was sie da bekamen. Sie wussten nicht, welches Glück sie hatten.

Asche zu Asche, Staub zu Staub.

Als Ernests leere Hülle eine Temperatur von nahezu 1000 Grad erreicht hatte und auf eine Schuhschachtel voll merkwürdig feuchtem Sand eingeschrumpft war, den man auskühlen ließ, bis er abgeholt werden konnte, wünschte ich mir eine Eruption von Klängen und Farben, ein Fest, einen freien Traum. Doch alles war still und normal und verschlossen. Ein Choral war wohl noch zu hören, dann standen die Leute auf und schlurften hinaus, mit zu Boden gesenkten Blicken. Schweigend fuhren wir zurück zu seinem Haus, zu Imbiss und Smalltalk auf dem Rasen, zu ginlastigen Cocktails und winzigen harpunierten Häppchen. Wie unendlich viel besser, wenn Thurston da gewesen wäre, um mir zu helfen. Ich weiß noch, das ging mir durch den Kopf. Wie atemberaubend und spektakulär wäre das gewesen.

Ich lag nicht falsch.

Am Ende war es mein bestes und letztes Feuer. Ich ging hinaus in den Garten, allein. Die Hitze war aus der Sonne gewichen, und das Licht verabschiedete sich. Ich holte tief Luft. Ich entfachte ein Streichholz, hielt es ruhig an die benzingetränkten Lappen am Saum des großen Feuers und wartete.

Und ich wünschte mir von ganzem Herzen, Ernest könnte es miterleben.

ZWEI

Ernest musste die Hoffnung längst aufgegeben haben, mich jemals wiederzusehen, als meine Mutter aus heiterem Himmel bei ihm anrief. Wir waren erst seit fünf Tagen wieder im Land. Es war ein Montagmorgen, und es regnete. Die Uhr an seinem Bett zeigte 11:32. Die Pflegerin übergab ihm das Telefon, während es noch klingelte. Später dann meinte er, wenn er eine Liste von tausend möglichen Anrufern erstellt hätte, dann wären wir nicht mal an deren Ende aufgetaucht. Wir waren über zwölf Jahre fort gewesen. Er glaubte schon lange nicht mehr, mich finden zu können.

Hannah und Lowell hatten am Vorabend darüber gesprochen. Tatsächlich hatten sie seit Tagen, noch ehe wir abgereist waren, über nichts anderes geredet als darüber, wie die Sache anzugehen sei. Lowell meinte, sie solle ganz blasiert so tun, als wäre nichts passiert, und das machte sie dann wohl auch.

»Wir sind wieder da«, sagte sie zu Ernest, als wären wir übers Wochenende einfach mal weg gewesen.

Hätte sich ein Wurmloch an der Wand gegenüber aufgetan, es hätte Ernest weniger überrascht und in Angst versetzt. Er sah sich um, wollte sich vergewissern, dass er wach war und lebte, nicht schon tot, nicht rückwärts in die Zeit gesaugt, nicht träumte.

»Hannah?« Er hauchte ihren Namen in die Sprechmuschel. »Bist du das?«

Ich konnte seine Stimme hören, leise und blechern durch den Hörer, wie die eines Mannes, der in einer Keksdose gefangen war. Ich blieb nah dran und lauschte. Meinen richtigen Vater hatte ich noch nie sprechen hören, ich konnte mich überhaupt nicht an ihn erinnern. Er hatte sich unserer vor langer Zeit entledigt, und das war’s.

»Ja, Ernest«, sagte meine Mutter und kontrollierte ihr Gesicht im Spiegel, straffte mit der freien Hand die Falten um ihren Mund und ließ dann los, Zeitreise mit ihrem Gesicht, immer wieder, vor und zurück. »Ich bin’s.«

Ihr plötzlicher Anruf, dass sie so tat, als wären all die Jahre belanglos vorbeigegangen, musste ihm das kalte Grausen bereitet haben. Damals war es mir nicht bewusst, heute allerdings lässt es mich nicht mehr los.

»Mein Gott, dieses Land ist ein Müllhalde«, sagte sie, während er noch sprachlos war. »So was von grau – und so was von kalt.«

»Ist Iris bei dir?«, fragte Ernest.

Sie antwortete ihm nicht direkt. Das ist eine der wenigen Eigenschaften Hannahs, auf die man sich immer verlassen kann – ihre mangelnde Großzügigkeit, die unbedingte Weigerung, jemandem zu geben, was er möchte. Die Frage perlte an ihr ab, sie machte stur weiter.

»Wir haben ein Projekt bei der BBC

»Das ist mir neu«, murmelte ich, denn soweit ich wusste, waren wir vor einem Schuldenberg und sonstigem Ärger geflohen und nicht auf dem Weg in eine glanzvolle Zukunft. Hannah versetzte mir einen Klaps auf den Arm und gab mir gestikulierend zu verstehen, dass ich die Klappe halten oder verschwinden solle.

»Es war eine sehr gute Entscheidung«, sagte sie, »abgesehen vom Wetter.«

»Warum rufst du an, Hannah?«, hörte ich ihn sagen. »Was willst du?«

Für geschäftliche Dinge hat meine Mutter ihre eigene Stimmlage. Schroff und harsch wie eine Felswand, wie zusammengebissene Zähne. Sie verschließt alles in einem Safe, dann öffnet sie den Mund. »Können wir uns treffen?«

Eine Pause trat ein, es war einfach stumm in der Leitung, als ob er darüber nachdenken würde. Ich hatte den Eindruck, dass er nicht gerade erpicht war auf diese Gelegenheit.

»Weshalb jetzt?«, sagte er.

»Möchtest du nicht?« Hannah legte die Hand auf die Sprechmuschel und zischte »Siehst du?«, als ob dies der Beweis wäre, dass sie, was ihn anging, immer recht gehabt hätte. Ich wappnete mich für den Fall, dass ich erneut zurückgewiesen wurde. Das hatte ich ohnehin erwartet. Es war kein großes Drama.

»Darum geht es nicht«, sagte er.

»Um was dann?«

»Ihr müsstet hierherkommen.«

Das war’s, dachte ich. Am liebsten hätte ich das Zimmer und Ernest für den Rest meines Lebens vergessen. Hannah hatte mir mal gesagt, er lebe allein und sie würde niemals zurückgehen, weil es dort unendlich langweilig sei, ohne Läden und Internet und Bars und Leute und Asphalt und Häuser. An einem solchen Ort war meine Mutter ein Fisch ohne Wasser, ein Paradiesvogel in einer Jauchegrube.

»Nichts als Schafe«, sagte sie immer, »und Wiesen. Und Ernest.« Es schauderte sie bei dieser grauenhaften Vorstellung. »Nie wieder.«

»Wieso das denn?«, fragte sie jetzt, als hätte sie alle Karten in der Hand, als wäre sie der Berg, der nicht zum Propheten kommt, als würde das alles nur über ihre Leiche gehen. »Wieso kommst du nicht nach London? Ich dachte, wir könnten uns in der Royal Academy treffen. Du kannst mich bei Fortnum’s zum Tee einladen, wie früher.«

Eine solche Reise kam für ihn nicht infrage. Schon aus dem Bett zu klettern war eine halbstündige Prozedur, gefolgt von einem dreistündigen Schlaf. Ernest ging nirgendwo mehr hin. Und das sagte er auch.

»Bring Iris mit, wenn irgend möglich«, sagte er. »Ich möchte sie wirklich gerne noch mal sehen, bevor ich den Abgang mache.«

»Noch mal sehen?«, flüsterte ich. »Für was hält er mich? Für eine Vase?«

»Abgang?«, sagte sie und fuchtelte mich beiseite. »Wo gehst du hin?«

»Ich bin krank«, sagte er.

»Was hast du?«

Er stockte. Ich konnte es hören. »Lunge, Leber, Knochen«, sagte er. »Oh, und Hirn. Hirn hab ich vergessen.«

Er hätte lügen können. Er hätte etwas erfinden können, schätze ich, aber er tischte es ihr einfach auf. Er lag im Sterben.

Ich hatte das Gefühl, als drehte sich mir der Magen, nur für eine Sekunde, wie in der Achterbahn, wenn du ganz oben angelangt bist und gleich nach unten kippen wirst und es zu spät ist umzukehren. Thurston jagte diesem Gefühl immer hinterher. Er suchte es, meinte er, weil er nie wissen konnte, ob er sich gerade auf ein Abenteuer einließ oder im nächsten Moment alles bereuen würde. Vielleicht beides, sagte ich, das wäre doch möglich, und er meinte, genau deshalb würde er mich mögen, deshalb seien wir Freunde geworden.

Hannahs Pupillen wurden tief wie Brunnen, und sie umklammerte den Hörer so fest, dass ihre Knöchel weiß wurden. Sie machte die richtigen Geräusche, ohne dass sie zu ihrem Gesichtsausdruck passten.

»Mein Gott«, sagte sie. »Wie lange hast du noch?«

»Schwer zu sagen«, hörte ich Ernest. »Paar Wochen, wenn ich Glück habe.«

»Und wie lange weißt du es schon?«

»Bei Weitem nicht lange genug.«

»Und du bist sicher?«

»Ich bin sicher, Hannah«, sagte er. »Es ist aus. Ich bin am Ende.«

Ich sah, wie Hannah die Lippen mit der Zungenspitze benetzte, als würde sie von etwas Süßem kosten. Sie bemerkte, dass ich sie beobachtete, und wandte sich ab.

»Sie ist sechzehn, musst du wissen«, sagte sie, wickelte Haarsträhnen um die Finger und zog sie an den Zähnen vorbei, um sie auf Spliss zu prüfen. »Iris. Wie die Zeit vergeht, nicht wahr?«

Ernest atmete eine Weile, es klang, als würde jemand auf Blisterfolie gehen, dann sagte er: »Es gibt ein paar Dinge, die ich ihr seit Langem übergeben will. Erbstücke. Es würde mir viel bedeuten, wenn ich es ihr persönlich sagen könnte.«

Mir lag nicht viel daran, ob das klappte oder nicht, damals jedenfalls. Ich war vor allem damit beschäftigt auszutüfteln, wie ich wieder nach Hause kommen könnte, machte mir Gedanken, wie ich Thurston aufspüren könnte. Die Familie stand nicht oben auf meiner Liste. Blut ist nicht dicker als Wasser, nicht wenn du den größten Teil deines Lebens auf der anderen Seite des Atlantiks verbracht hast, nicht wenn der einzige Mensch, der dir was wert ist, immer noch dort drüben ist und nicht mit dir redet und du keine Chance gehabt hast zu sagen, dass es dir leidtut oder dich zu verabschieden. Hannah sah mich an, völlig durch den Wind und mit aufgerissenen Augen, aber ich zuckte nur die Achseln.

»Was für Sachen?«, sagte sie, zu schnell, wenn du mich fragst, zu hungrig.

»Nur ein paar Gemälde.«

»Nur ein paar Gemälde«, wiederholte sie grinsend wie ein Honigkuchenpferd.

»Falls sie überhaupt will.«

»Oh, Iris steht auf Kunst«, schleimte sie. »Sie wird sich bestimmt freuen.«

»Gut, dann bring sie mit«, sagte er. »Kommt mich besuchen.«

Sie legte diese schmollende, zuckergetränkte Stimme auf, um das Bäumchen zu schütteln. »Und was bekomm ich, wenn ich das mache? Hast du auch was für mich, wofür es sich lohnt?«

Ich schämte mich für sie, ehrlich. Ich wusste nicht, wo ich hinsehen sollte. Und zugleich ging mir durch den Kopf, dass es Ernest vielleicht verdiente, ausgespielt zu werden, wie man sich bettet, so liegt man am Ende. Ich weiß noch genau, dass ich so etwas dachte.

»Reden wir drüber, wenn du hier bist«, sagte er.

»Falls ich komme«, sagte Hannah nun frostiger, »nicht wenn. Ich kann es dir nicht versprechen, Ernest. Es ist nicht selbstverständlich. Ich kann nicht alles stehen und liegen lassen.«

Ich fragte mich, was sie denn stehen lassen müsste, was sie denn liegen lassen könnte außer ihren Kreditkarten und Zigaretten und Kaugummis.

Stille trat ein. Ich hörte ihn feucht rasselnd ins Telefon seufzen. Hannah zählte langsam mit den Fingern, vor meinen Augen, um mir zu zeigen, dass sie wusste, wie das enden würde. Sie zwinkerte mir zu, als ob wir zusammen in einem Boot säßen.

»Du wirst deine Belohnung bekommen«, sagte Ernest. »Du weißt, wie großzügig ich sein kann.«

»Allerdings«, sagte sie.

»Kommt bald«, drängte er. »Ich hab nicht mehr lange.«

Sie glühte, als sie den Hörer auflegte. Sie konnte es nicht erwarten, dass Lowell von seinem Vorsprechen zurückkam, damit sie ihm die gute Nachricht mitteilen konnte. Nach diesem Telefonat hatte meine Mutter eine ganz andere Art, sich zu bewegen, leichtfüßiger, als ob sie gerade ein Fass voller Hoffnung angestochen hätte.

Ich fragte sie, weshalb Ernest mich jetzt plötzlich unbedingt sehen wollte, nach so vielen Jahren, in denen nichts war. Ich hatte keine Lust, ihn zu bespaßen. Das Letzte, was ich wollte, war, mich dafür hergeben zu müssen, einen alten Mann von seinen Schuldgefühlen zu entlasten.

»Und wenn schon?«, sagte sie. »Das ist eine gute Nachricht, Iris. Versuch bloß nicht, das zu vermasseln.«

»Wieso denn gute Nachricht?«

»Dein Vater«, erklärte sie, »war ein sehr reicher Mann.«

»Ist«, sagte ich. »Du hast eben noch mit ihm telefoniert. Noch ist er nicht tot.«

»Ja, sicher.« Sie wählte Lowells Nummer, zog eine Grimasse. »Ist. Aber er wird bald tot sein.«

Ich lachte. »Du siehst aus wie ein Mensch«, sagte ich ihr, »aber im Innern musst du was von einem Androiden haben.«

»Lass mich in Ruhe«, sagte sie. »Du weißt, dass er uns mit leeren Händen hat sitzen lassen.«

»Das hast du mir oft genug erzählt.«

»Also verschwende nicht deine Zeit damit, ihm die Stange zu halten. Er ist ein schrecklicher Vater für dich gewesen.«

»Und er wird ein besserer sein, wenn er tot ist? Ist das der Gedanke?«

Hannah klemmte den Hörer ans Ohr und schenkte sich ganz nebenbei einen ordentlichen Schuss Wodka ein. Morgentrunk, wie Thurston es nannte. Frühstück für Helden.

»Hol aus Ernest Toby Jones raus, was du kriegen kannst«, sagte sie. »Das ist mein Rat für dich, kostenlos.«

In der Welt meiner Mutter ist nichts kostenlos. Sie hat noch nie etwas gegeben, ohne irgendwen irgendwo dafür zahlen zu lassen. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass wir hier nicht in einem Boot saßen, nicht eine Sekunde.

»Ist es das, was du vorhast?«, fragte ich. »Rausholen, was du kriegen kannst?«

»Du wirst das genauso machen wollen«, sagte sie, »sobald du die Bilder siehst, die bei ihm an den Wänden hängen.«

»Was für Bilder?«

»Unbezahlbare«, sagte sie.

»Von welchen Künstlern?«

Sie wehrte die Frage mit einer Handbewegung ab und rieb die Fingerspitzen aneinander, wie es Leute tun, wenn sie Geld riechen.

»Du hast mich völlig falsch verstanden«, sagte ich. »Mich interessiert nicht, wie viel sie wert sind.«

»Das wird schon noch kommen.«

»Und woher willst du das wissen?«

Sie lächelte. »Du glaubst, du bist gegen das Geld immun«, sagte sie. »Du denkst, du würdest über alldem stehen, das tust du aber nicht.«

Sie kippte sich den Wodka rein, indem sie den Kopf in den Nacken warf. Ich sah, wie sie schluckte, wie es in ihrer Kehle arbeitete wie in einem Sack voller Steine. Mutters kleiner Helfer.

»Auf Ernest«, sagte sie und justierte ihr Lächeln, während ihr der Alkohol ins Blut schoss. »Du und ich und seine Millionen sind alles, was er hat.«

DREI

Hannah und Lowell blieben an diesem Abend länger auf denn je, ließen es krachen, schlurften mit ihren dreistöckigen Cocktails durchs Wohnzimmer und fingen an zu tanzen. Keiner von beiden musste am nächsten Morgen zur Arbeit. Wahrscheinlich glaubten sie, überhaupt nie mehr arbeiten zu müssen. Ich hörte sie über Kreuzfahrten und Ferienhäuser in Südfrankreich und Filmfinanzierung und Schönheitsoperationen reden. Sie feierten ihren plötzlichen fetten Reichtum, alles nur noch eine Frage der Zeit, teilten bereits das Bärenfell auf, und wie üblich kippte dann auch ihre Stimmung zu früh.

Ich dachte an den Tag, als Thurston und ich einander fragten, was wir mit einem bescheuerten, unverzeihlichen Riesenhaufen an Geld in der Art von Forbes’ Reichenliste anstellen würden.

Die Welt verändern, wie Bill und Melinda Gates.

Auf einem anderen Planeten leben, aber nur an Wochenenden.

Zehn-Dollar-Fahrräder für vier Millionen der Ärmsten der Welt kaufen.

United Technologies (oder Fox oder Walmart oder alle drei) aufkaufen und den Laden dann dichtmachen.

»Alles an Fremde verschenken«, sagte er, »von Angesicht zu Angesicht, als freiwillige, lebensverändernde Gesten des Großmuts.«

»Es verbrennen«, sagte ich, »und den Gesichtsausdruck meiner Mutter genießen.«

Er meinte, sollte ich durch irgendein Wunder jemals so reich werden, müsste ich es ihn auf jeden Fall wissen lassen, er würde mir dann helfen zu entscheiden.

»Du wirst der Erste sein, den ich anrufen werde«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass er kein Handy hatte und nie eins haben würde. Spurenverfolger nannte Thurston sie, und er weigerte sich, seine Spuren verfolgen zu lassen.

Ein hehrer Grundsatz, erwiderte ich, ein interessanter Standpunkt. Völlig kontraproduktiv, wie sich herausstellte, wenn du versuchst, jemanden zu finden, dem du sagen willst, wohin auf der Welt du verschwunden bist, wenn du unbedingt wissen willst, ob es dem anderen wenigstens halbwegs gut geht. Nachdem wir so überstürzt abgereist waren, wurde mir klar, dass ich nicht mal wusste, wo Thurston wohnte. Ich war nie dort gewesen. Er hatte es mir nie gesagt. Es hatte sich einfach nicht ergeben.

Ich drehte mich auf die Seite und drückte mir ein Kissen auf den Kopf, um Hannahs und Lowells Lärm zu ersticken. Ich versuchte über Ernest nachzudenken. Ich hatte nie mehr als ein oder zwei Fotos gesehen von einem gesetzten, fein säuberlich frisierten, eher häuslichen Typen, der etwas von einem kamerascheuen Intellektuellen hatte. Sie waren mit dem Alter vergilbt und verblasst, diese Fotos, wie aus einer anderen Zeit, als hätten sie nichts mit mir zu tun. Ich wollte etwas empfinden angesichts der Tatsache, dass er starb, ich sollte es wohl, aber eigentlich war er nichts mehr als irgendein Lebewesen für mich. Wir hatten nichts miteinander gemein, es sei denn einen völligen Mangel an wechselseitigem Interesse. Dass er sich während meines ganzen Lebens nicht gemeldet hatte, sprach Bände. Mit seinem Schweigen im Ohr, lauter als jemals Hannahs Geschrei, war ich aufgewachsen.

Ich hatte mir ein paar Tabletten aus dem gut bestückten Badezimmerschrank meiner Mutter geholt und lag nun da und wartete, dass der Schlaf die scharfen Kanten des Tages verschwimmen ließ. Das Laken unter mir fühlte sich rau an wie dünne Baumwolle auf Schleifpapier, und meine Pyjamahosen schlangen sich eng um meine Beine wie eine Falle. Ich schloss die Augen und stellte mir irgendwelche Gegenstände im Zimmer vor, die dann bereitwillig in Flammen aufgingen, das hatte Thurston mir beigebracht, eine ideale Methode, sich zu entspannen. Es würde nicht bei allen funktionieren, meinte er, aber bei mir würde es todsicher klappen. Hinter meinen Augenlidern wurde alles angesteckt und brach in Flammen aus. Meine Schuhe schwelten, mein Wecker verbog sich und schmolz, mein Bettzeug fackelte ab. Ich fühlte mich wie eine Superheldin an einem freien Tag, wie eine Rauchfahne, in Wolken gehüllt, in Siebenmeilenstiefeln. Ich konnte mich im Bett nicht rühren, aber im Innern flog ich dahin. Die Haut auf meinen Händen brodelte und warf Bläschen. Ich war eine brennende Kerze, ich war eine Pfütze aus heißem Wachs, und dann war ich nicht mehr.

***

An manchen Tagen habe ich nichts als Feuer im Kopf. Die meisten Nächte schlafe ich tief im Innern dieser gleißenden, züngelnden Blüten. Ich sehne mich an den unmöglichsten Orten danach – in den alten Bädern nahe unserer Wohnung in der Grafton Road, im verlassenen Embassy Hotel an der South Grand, in diesem Lärchen- und Eschenwäldchen hinter Ernests Garten, in dem bunt bemalten Haus in der Innenstadt, wo meine Mutter eine Zeit lang zur Therapie ging und wo ich mir, im Wartezimmer sitzend, die Fische vorstellte, wie sie in ihrem kiesigen, verkrauteten Aquarium gekocht wurden. Andauernd juckt es mich in den Fingern nach dem langen Hals und dem Kopf und dem Aufflammen eines Zündholzes. Mein Herz quillt über beim Anblick einer Rauchsäule am Himmel. Ich verzehre mich nach dem Züngeln der Flamme, dem scharfen Brennen in meiner Lunge wie ein Süchtiger nach einem Schuss. Thurston sagte mal, bei mir sei der süße Moment der Unterwerfung ganz und gar mit Liebe verknotet, und vielleicht hatte er recht, aber das hieß nicht, dass ich auch nur eine Ahnung hatte, wie ich das Knäuel lösen konnte.

Eigentlich wollte ich nur kleine Feuer legen, als wir wieder nach England zurückgekehrt waren, kleine und geheime. Hannah beobachtete mich wie ein Falke, jederzeit bereit, mich in irgendein Erziehungsheim zu stecken, nun, da sie es auf Kosten des guten alten National Health Service tun konnte. Ich durfte nicht zulassen, dass sie mich sah. Da musste ich sie schon austricksen. Ein Papierkorb, ein paar alte Klamotten, trockene Blätter, ein Seil, alles hat seine eigene Flamme. Alles brennt in seiner eigenen Gangart, mit seinem jeweils besonderen Rauch und Geruch. Ich legte jeden Tag