Der Plan schien perfekt: Präsident Sarkozy wollte seine südlichen Nachbarn für eine Mittelmeerunion gewinnen, um ein Gegengewicht zur deutschen Dominanz in Europa zu etablieren. Angela Merkel wusste das zu verhindern – eine zeitgeschichtliche Fußnote? Für Wolf Lepenies führt Frankreichs Traum von der Macht am Mittelmeer in die unbewussten Regionen der europäischen Geschichte, dorthin, wo die Komplexe und die wechselseitigen Ressentiments schlummern. Die deutsch-französische Rivalität greift den Gegensatz zwischen dem strengen Norden und dem lebenslustigen Süden, zwischen katholischer und protestantischer Welt auf, Ideen und Stereotypen, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen und heute wieder politischen Diskussionsstoff liefern. Man muss sie kennen, wenn man verstehen will, wie sich in Europa Koalitionen und Frontlinien bilden. Wolf Lepenies bringt diese überraschend andere europäische Geschichte ans Tageslicht.

 

Hanser E-Book

 

Wolf Lepenies

 

Die Macht am Mittelmeer

 

Französische Träume

von einem anderen Europa

 

 

Carl Hanser Verlag

 

ISBN 978-3-446-25212-7

Alle Rechte vorbehalten

© Carl Hanser Verlag München 2016

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

Inhalt

Vorwort

 

Gegen Deutschland: Das »Lateinische Reich«

 

Ein europäisches Europa, kein »Lateinisches Reich«: Charles de Gaulle

 

De Gaulle und die Latinität

 

François Mitterrands »Sozialismus des Südens«

 

1989 und die Folgen: Das Scheitern der Union Méditerranéenne

 

1943: Hannah Arendt und die Mittelmeerunion als Lösung des Nahostkonflikts

 

Nicolas Sarkozy als Leser Fernand Braudels

 

Nord und Süd: Der Montesquieu-Effekt

 

Die Saint-Simonisten und das Mittelmeersystem

 

Napoleon III.: Politik im Zeichen der Latinität

 

Der Krieg von 1870–71: Das Ende der lateinischen Welt

 

Vorbereitung der Revanche

 

Lateinamerika

 

Lateinafrika

 

Die Lateiner am Vorabend des Ersten Weltkriegs

 

Im Großen Krieg: Lateinische Zivilisation gegen deutsche Barbarei

 

Der Norden gegen den Süden Frankreichs: Gefahr für die »Union Sacrée«

 

Nach Versailles: Deutschland gegen das Abendland

 

Die Latinität zur Zeit der europäischen Diktaturen

 

Das Mittelmeer zur Zeit der europäischen Diktaturen: Paul Valéry, das Centre Universitaire Méditerranéen und Gottfried Benn

 

Das Mittelmeer zur Zeit der europäischen Diktaturen: Albert Camus: Pensée de midi gegen Deutsche Ideologie

 

Nachwort

 

Dank

Literaturverzeichnis

Namenregister

Vorwort

Mit der Ausweitung der Europäischen Union nach Mittel- und Osteuropa wuchs der Einfluss des wiedervereinigten Deutschlands. Neben der wirtschaftlichen übernahm Berlin auch die politische Führungsrolle auf dem Kontinent, die bis dahin Paris für sich beansprucht hatte. Auf Initiative von Präsident Nicolas Sarkozy versuchte Frankreich, den Machtzuwachs Deutschlands durch die Gründung einer Mittelmeerunion unter französischer Führung zu kompensieren. Dieser Versuch scheiterte am Veto der deutschen Kanzlerin. Die schließlich im Juli 2008 in Paris gegründete »Union pour la Méditerranée« unterschied sich nicht nur dem Namen nach von der ursprünglich geplanten »Union Méditerranéenne«. In der »Union für das Mittelmeer« spielte Frankreich keine führende Rolle mehr, diese »Union« wurde zu einem Teil des Brüsseler Apparats und unterlag damit deutschem Einfluss.

Das deutsch-französische Tandem, über Jahrzehnte Motor des europäischen Einigungsprozesses, hatte zu dieser Zeit bereits weitgehend an Antriebskraft verloren. In der Finanz- und Schuldenkrise waren Deutschland und Frankreich nicht fähig, gemeinsam einen wirtschaftspolitischen Kompromiss auszuarbeiten, der innerhalb der Europäischen Union Wachstumsimpulse mit der notwendigen Haushaltsdisziplin verbunden hätte. Dies wäre umso wichtiger gewesen, als Deutschland und Frankreich die ersten Mitglieder der EU waren, die 2004 gegen die so genannten Maastricht-Kriterien verstießen, nach denen Staaten sich in ihren jährlichen Haushalten um maximal drei Prozent und insgesamt nicht höher als zu 60 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts verschulden dürfen. Das politische Gewicht Deutschlands und Frankreichs wog zu schwer, als dass die Europäische Kommission es hätte wagen können, das vorgesehene, möglicherweise mit hohen finanziellen Strafen verbundene Defizitverfahren einzuleiten.

In den folgenden Jahren wurde Deutschland zum Anwalt einer an strikter Haushaltsdisziplin orientierten Wirtschaftspolitik, die von kritischen Stimmen innerhalb und außerhalb Deutschlands mit dem Etikett »Austerität« versehen wurde. Frankreich, das einer stärker wachstumsorientierten, defizit-toleranten Politik den Vorzug geben wollte, konnte sich damit in den EU‑Institutionen gegen Deutschland nicht durchsetzen. Schon früh stilisierten Politiker und Publizisten die innerhalb der EU sichtbaren Divergenzen zu einer Art »Himmelsrichtungsstreit«: Deutschland repräsentierte dabei den »Norden«, Frankreich galt als Anführer des »Südens«. Mehrfach wurde die französische Regierung aufgefordert, im Zusammenschluss mit Ländern wie Italien und Spanien Deutschland in eine Minoritätenrolle zu drängen, um die Wirtschaftspolitik der Europäischen Union grundlegend zu ändern. Auf dem Höhepunkt der griechischen Schuldenkrise machte sich François Hollande für die Errichtung einer Wirtschaftsregierung innerhalb der Eurozone stark, in der Frankreich hoffte, in Zukunft zusammen mit Italien und Spanien eine Neuorientierung der EU‑Wirtschafts- und Finanzpolitik durchsetzen zu können. Geistespolitisch musste es dabei als paradox erscheinen, dass das »lateinische« Frankreich als Anwalt Griechenlands gegenüber Deutschland auftrat, dessen Klassiker einst das Land der Griechen »mit der Seele« gesucht und die »Tyrannei Griechenlands« nur zu gerne ertragen hatten.1 Die Erinnerung an einen 1945 von dem Philosophen und Beamten im Pariser Wirtschaftsministerium Alexandre Kojève gemachten Vorschlag wurde lebendig, Frankreich solle sich an die Spitze eines neu zu gründenden »Empire Latin« setzen, um damit seine Führungsrolle gegenüber einem trotz der Niederlage im Zweiten Weltkrieg unweigerlich wieder erstarkenden Deutschland zu behaupten.

Das Scheitern der ursprünglich geplanten Mittelmeerunion mit seinen Folgen habe ich mehrfach publizistisch kommentiert. Daraus ist die Idee zu diesem Buch entstanden. Ich zeichne Versuche nach, im Süden Europas als Gegengewicht zu Deutschland politische Koalitionen zu bilden, die in der Regel unter Führung Frankreichs stehen sollten. Angestrebt wurde eine Union der »lateinischen« Nationen, zu denen neben Frankreich vor allem Italien und Spanien zählten. Am Anfang des Buches steht die Diskussion von Kojèves Aide-Mémoire aus dem Jahre 1945, dem der Verfasser die Überschrift »Esquisse d’une doctrine de la politique française« gab. Eine ausführliche Darstellung der »Esquisse« ist umso angebrachter, als der bis dahin unpubliziert gebliebene, im Nachlass von Kojève aufgefundene Text mit der neuen Überschrift »L’Empire Latin« im Augenblick der deutschen Wiedervereinigung zum ersten Mal in Paris veröffentlicht wurde – als Zeichen des Protests gegen die Dominanz Deutschlands in einer sich nach Mittel- und Osteuropa ausdehnenden Europäischen Union.

In diesem Buch spielt der Terminus »Latinität« eine zentrale Rolle. Die Autoren der Einführung in die Romanische Sprachwissenschaft haben seine Bedeutung und seine Wirkung beschrieben.2 Die »Latinität« ist zunächst ein »sprachliches Faktum«, sie bezieht sich auf die Sprachen und Dialekte der Menschen, die sich aus der Sprache des alten Roms herleiten. Es gibt, so das Motto der Revue de Linguistique Romane, keine lateinischen »Rassen«, aber es gibt die »Latinität«. Ob es eine Räume und Epochen übergreifende »romanische« oder »lateinische« Mentalität gibt, ist eine offene Frage, entscheidend ist, »dass die Romanen selbst, natürlich mit wechselnder Intensität, ihre Welt als Einheit erleben«. Und schließlich wird die »Latinität« ideologisch überhöht, sie gilt »als Trägerin der Kultur gegenüber der lateinlosen Barbarei der übrigen Welt«. Die Autoren der Einführung verweisen in diesem Zusammenhang auf den von Freud so genannten »Realwert der Phantasie«, Soziologen denken dabei an das sogenannte »Thomas Theorem«: »If men define situations as real, they are real in their consequences.«

Mit dem Begriff »Latinität« verband sich die Überzeugung, aufgrund einer gemeinsamen Geschichte, miteinander geteilter politischer Interessen und verwandter Mentalitäten ließe sich eine Koalition von Ländern des südlichen Europas bilden, für die das politische Erbe des Römischen Reichs und der Katholizismus prägend gewesen waren: Frankreich, Italien, Spanien. Emotional verstärkt wurden die Versuche zur Bildung »lateinischer« Koalitionen, die wechselnd als Reich, Union oder Pakt bezeichnet wurden, durch die Beschwörung eines gemeinsamen »Heimatgefühls«, die Anhänglichkeit an ein und dieselbe Herkunftsregion, das »Mare nostrum«, das Mittelmeer. Kein Projekt eines »Lateinischen Reichs« oder einer »Lateinischen Union« kommt ohne eine Apotheose des Mittelmeers aus, wobei seit dem Erscheinen seines Mittelmeerbuchs im Jahre 1949 die entsprechenden Texte sich in der Regel des Vokabulars von Fernand Braudel bedienen.

Zugleich durchzieht diese Texte die für innereuropäische Konflikte häufige Nord-Süd-Spannung, die bereits Autoren der Antike faszinierte und die Montesquieu in seinem Buch De l’Esprit des lois so eindrücklich beschrieben hatte, dass Pierre Bourdieu von einem Montesquieu-Effekt sprechen konnte, der bis heute wirksam geblieben ist. Im Streit um die Schuldenpolitik der EU wurde die Nord-Süd-Spannung in der Konfrontation von Deutschland und Griechenland deutlich sichtbar. Sie spiegelte die Konstellation in der bekannten Fabel La Fontaines wider, in der die sich im Genuss des Augenblicks verlierende Grille beim Herannahen des Nordwinds (»la bise«) die sparsame, sorgfältig für die Zukunft vorsorgende Ameise um Kredit bittet, um den Winter zu überstehen – »Hör, sagt sie, auf Grillenehre / vor der Ernte noch bezahl’ / Zins ich dir und Kapital« – was die Ameise spöttisch und entschieden ablehnt. Und so, wie Jean-Henri Fabre in seinen Souvenirs entomologiques die »seltsamen Fehler« La Fontaines in der Charakteristik von Grille und Ameise benannt hat, lässt sich durch einen Blick in die Statistik zeigen, wie fern die Stereotype vom »fleißigen« Norden und »faulen« Süden von der Realität entfernt liegen.3 Die Griechen arbeiten länger als die Deutschen, die Spanier machen weniger Ferien, sowohl in Frankreich als auch in Italien und Spanien – den »lateinischen« Kernländern – liegt die Arbeitsproduktivität höher als in Deutschland. Auto- und Heterostereotype überschneiden sich dabei: Das »leichte Leben«, die »vie facile« wird nicht nur dem »Süden« vom »Norden« vorgeworfen, der Süden selbst bekennt sich dazu, ebenso wie zu Farniente und Siesta, und nimmt damit in Anspruch, Formen des Lebensgenusses und der Daseinsbewältigung bewahrt zu haben, die dem Norden längst verloren gegangen sind. Vor dem Versuch, Nationen anhand der Nord-Süd-Trennung voneinander unterscheiden zu wollen, schützt dabei auch die Tatsache, dass in der Regel der Nord-Süd-Gegensatz in jedem Land wirksam ist. Die hier geschilderte Episode des »XV. Korps«, die beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum Streit zwischen dem »Norden« und dem »Süden« Frankreichs führte und damit die »Union Sacrée« der Nation bedrohte, ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel.

Angeblich hatte Alexandre Kojève sein Aide-Mémoire für General de Gaulle verfasst – doch de Gaulle verfolgte nicht die Absicht, ein »Lateinisches Reich« zu errichten, weil er Europa mit und nicht gegen Deutschland aufbauen wollte. Den Versuch, eine lateinische Koalition zu bilden, unternahm François Mitterrand – doch tat er dies nicht in seiner Amtszeit als französischer Staatspräsident, sondern davor, als Parteichef der französischen Sozialisten, der mit seinem »Sozialismus des Südens« den Einfluss der deutschen Sozialdemokratie in Europa beschneiden wollte. Ohne sich auf ihn zu beziehen, nahm Nicolas Sarkozy mit seinem Plan zur Gründung einer Mittelmeerunion die Kernidee Alexandre Kojèves wieder auf. Und wie eine Vorahnung dieses Projekts wirkt der aus dem Jahre 1943 stammende Vorschlag Hannah Arendts, den israelisch-arabischen Konflikt durch die Bildung einer Mittelmeerföderation zu lösen.

In den daran anschließenden Kapiteln erzähle ich keine fortlaufende Geschichte der Versuche zur Gründung einer gegen Deutschland, manches Mal auch gegen England und die USA gerichteten lateinischen Union oder eines lateinischen Blocks, gehe aber in der Schilderung der einzelnen Episoden chronologisch vor. Am Anfang steht das von den Saint-Simonisten entworfene »Mittelmeersystem«, das utopische Zielsetzungen mit konkreten Planungsschritten zur Erreichung dieser Ziele verband. Das Mittelmeersystem war nicht gegen Deutschland gerichtet – es war vielmehr ein Versuch, in das vom europäischen Süden ausgehende Projekt zur Einigung des Kontinents Deutschland mit einzubeziehen, indem man ihm zu staatlicher Einheit verhalf. Der Einfluss saint-simonistischen Gedankenguts wurde in der Politik Napoleons III. sichtbar, der auf drei Ebenen versuchte, eine Politik im Zeichen der »Latinität« zu betreiben: in der Kolonialpolitik gehörte dazu der Plan zur Errichtung eines arabischen Königreichs, in der Überseepolitik der Versuch, im Zeichen des Panlatinismus aus Mexiko einen Stützpunkt zur Machteindämmung der USA zu machen. Und schließlich gehörte dazu die Gründung einer »Lateinischen Münzunion«, deren Zielsetzung, mit Hilfe der Währungspolitik ein französisches Übergewicht in Europa zu bilden, an der Weigerung Preußens scheiterte, der Münzunion beizutreten.

Die »Träume von einer Lateinischen Föderation im Zweiten Kaiserreich« zerplatzten im Krieg von 1870–71, dessen Ausgang nicht nur von Autoren wie Gustave Flaubert und George Sand als das Ende der lateinischen Welt beklagt wurde. Zugleich löste das von Zola so genannte »Debakel« eine innerfranzösische Debatte aus, in der auf der einen Seite die Revanche im Zeichen einer verstärkten »Latinität« angemahnt wurde, während auf der anderen Seite Stimmen lauter wurden – Ernest Renan ist dafür das herausragende Beispiel –, welche die Lebensweise und das Lebensgefühl des »Südens« für die Niederlage Frankreichs verantwortlich machten und für eine stärkere Orientierung des Landes nach »Norden« plädierten. Dazu gehörte die Aufforderung, von Preußen zu lernen und sich um eine stärkere Anbindung an England zu bemühen. Die Bedeutung des »politischen Romanismus« im 19. Jahrhundert ist umfassend dargestellt worden – mit Blick auf die Zeit um die Wende zum 20. Jahrhundert, und das heißt am Vorabend des Ersten Weltkriegs, konzentriere ich mich auf exemplarische Beiträge aus zwei Zeitschriften, der Revue du monde latin und der Renaissance latine.4 Das Selbstvertrauen des »Südens«, sich in einer künftigen Auseinandersetzung mit dem »Norden« behaupten zu können, beruhte dabei nicht zuletzt auf der Verankerung »lateinischer« Wertvorstellungen und Lebensauffassungen in zwei großen Regionen der außereuropäischen Welt: in Lateinamerika und Lateinafrika.

In Vorahnung des Ersten Weltkriegs nahmen die Aufforderungen an die lateinischen Nationen Europas, sich gegen den gemeinsamen Gegner – Deutschland – zusammenzuschließen, einen beschwörenden Ton an. Umso dramatischer wirken Episoden, in denen die Einheit der Latinität durch interne Nord-Süd-Konflikte bedroht wurde. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg schien es, als ob die militärische Niederlage und der als Schmach empfundene Vertrag von Versailles Deutschland nicht nur in eine verschärfte Gegnerschaft gegen die siegreichen lateinischen Nationen trieb, sondern auch zu seiner weitgehenden Orientierung nach Osten und zur Distanzierung vom »Abendland« führte. Hinzu kam, dass in einer Art von Trotzreaktion deutsche Stimmen sich häuften, die der lateinischen Welt den unmittelbar bevorstehenden Machtverlust und die Unfähigkeit, sich in der Zukunft zu behaupten, prophezeiten.

Nie, so konnte es scheinen, waren die Chancen zur Bildung einer Koalition der lateinischen Kulturen in Europa größer als zu der Zeit, als in Frankreich mit Pétain, in Italien mit Mussolini, in Spanien mit Franco und in Portugal mit Salazar Diktatoren oder autoritäre Regime an der Macht waren, deren ideologische Überzeugungen sich ähnelten, auch wenn sie nicht miteinander identisch waren. Umso mehr überrascht, dass mit Blick auf die Zeit der europäischen Diktaturen Historiker von der »unmöglichen Lateinischen Union« sprechen. In dieser Zeit machten Paul Valéry wie Albert Camus das Mittelmeer anstelle der »Latinität« zum Bezugsrahmen ihrer persönlichen Überzeugungen und ihrer institutionellen Aktivitäten. In bewusst apolitischer Manier war dies bei Valéry mit dem Versuch verbunden, in Nizza eine Institution zu gründen, in der die Mittelmeerstudien über den Süden hinaus für ganz Europa attraktiv werden sollten. Albert Camus dagegen formulierte eine bewusste Mittelmeerpolitik, die sich gegen jeden imperialen Anspruch richtete, der sich mit dem Stichwort »Latinität« verband. Als Reaktion auf Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg wurde die pensée de midi zur Antwort auf die »Deutsche Ideologie«.

Dies ist kein Mittelmeerbuch. Ich konzentriere mich auf die Versuche »lateinischer« Koalitionsbildungen in der Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Deutschland. Diese Auseinandersetzung ist bis heute aktuell. Sie zeigt sich nicht immer so offen und unverhohlen aggressiv wie im Projekt von Nicolas Sarkozys Mittelmeerunion. Dahinter werden Verletzungen nationalen Stolzes und Projektionen wechselseitiger Vorurteile und Stereotypisierungen sichtbar. Das Nord-Süd-Stereotyp bleibt weiter wirksam, es zeigt, dass der von Nietzsche vorausgeahnte »Prozess einer Anähnlichung der Europäer, ihre wachsende Loslösung von den Bedingungen, unter denen klimatisch und ständisch gebundene Rassen entstehen«, noch nicht an sein Ende gekommen ist.5 Der »Norden« steht dabei für die Moderne, in der sich die an Zweckrationalität orientierte Industriegesellschaft formte, der »Süden« pflegt eine berechtigte Modernitätsskepsis und versucht, Lebensformen und Lebensansprüche zu bewahren, die sich neoliberalen Nutzenrechnungen entziehen. Der »Süden« sieht sich als Verlierer der Moderne, aber er bewahrt in der Verlusterfahrung seinen Stolz, umso mehr, als er in sich die Erinnerung trägt, dass die Kernelemente der europäischen Zivilisation ihren Ursprung im Süden haben, während im »Norden« traditionell die Barbaren beheimatet sind – ein umgekehrter Montesquieu-Effekt. Empirisch lassen sich solche Gegenüberstellungen schnell als haltlos entlarven, was nicht verhindert, dass sie die Überzeugungen und Handlungen der Akteure prägen. In den jüngsten europäischen Konflikten wurde die Nord-Süd-Spannung erneut sichtbar.

Gegen Deutschland:
Das »Lateinische Reich«

Am 15. März 2013 veröffentlichte die italienische Tageszeitung La Repubblica einen Kommentar des Philosophen Giorgio Agamben unter der Überschrift »Se un impero latino prendesse forma nel cuore d’Europa« – »Wenn ein Lateinisches Imperium sich im Herzen Europas formen würde«. Darin zitierte Agamben eine Denkschrift des Philosophen Alexandre Kojève aus dem Jahre 1945. Wenige Tage später, am 24. März, wurde aus der Arabeske Agambens, der für seine Lust an der Provokation bekannt ist, ein Politikum. Die französische Zeitung Libération, wie La Repubblica ein linksliberales Blatt, publizierte den Kommentar Agambens in einer Übersetzung mit der zugespitzten Überschrift »Que l’Empire latin contre-attaque!«. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Streit der französischen und der deutschen Regierung über die notwendigen Maßnahmen zur Beilegung der Finanz- und Schuldenkrise in der EU einen Höhepunkt erreicht. Die Zeit der diplomatischen Floskeln war vorbei; es wurde Klartext gesprochen. Ein Positionspapier der Regierungspartei Parti socialiste (PS) warf Angela Merkel, der »Kanzlerin der Austerität«, ihre »egoistische Unnachgiebigkeit« vor. Mit der Erinnerung an das Projekt zur Gründung eines gegen Deutschland gerichteten Lateinischen Reichs wurde aus dem Konflikt zweier Regierungen eine neue Etappe des europäischen Nord-Süd-Konflikts, in dem sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts Frankreich und Deutschland als Hauptkontrahenten gegenüberstanden. An diesen Konflikt erinnerte zwei Jahre später auch Thomas Piketty mit seiner Idee zur Gründung eines Eurozonen-Parlaments: »Wenn es ein europäisches Parlament in der Form gäbe, die ich vorschlage, in dem jedes Land proportional zu seiner Einwohnerzahl vertreten wäre, würden die deutschen Abgeordneten schlussendlich gegenüber ihren Kollegen aus Italien, Frankreich und Spanien in die Minderheit geraten, und das Ausmaß des Defizits würde größer sein, als die Deutschen es wollten. Schließlich würden wir eine fortschrittlichere Politik haben, als die heutige es ist. Wenn Frankreich und Italien ein Eurozonen-Parlament vorschlügen, würde Deutschland natürlich versuchen, es zu verhindern, auf Dauer aber würde dies schwierig sein.«6

Die Denkschrift Kojèves, die Agamben zitierte, trug den Titel »Esquisse d’une doctrine de la politique française«. Der Text dürfte den meisten Lesern in Italien und Frankreich unbekannt gewesen sein, mit dem Namen Kojève aber werden zumindest an Philosophie Interessierte eine Vorstellung verbunden haben. Alexander Wladimirowitsch Koschewnikow wurde 1902 in Moskau als Sohn wohlhabender Eltern geboren; sein Onkel war Wassily Kandinsky. Seit 1920 studierte er Sanskrit und Chinesisch, danach Philosophie in Heidelberg und Berlin. 1924 promovierte er bei Karl Jaspers mit einer Arbeit über Wladimir Solowjew. 1928 ging Koschewnikow nach Frankreich, nannte sich Alexandre Kojève und nahm 1937 die französische Staatsbürgerschaft an. An der Pariser École pratique des hautes études hielt Kojève – ursprünglich in Vertretung des ebenfalls aus Russland stammenden Alexandre Koyré, der in Deutschland sein Kommilitone gewesen war – ein Seminar zu Hegels Phänomenologie des Geistes ab, das sechs Jahre lang, von 1933 bis 1939, zum Treffpunkt der Pariser Intelligenz wurde. Zu den Hörern zählten Georges Bataille, Raymond Queneau, Jacques Lacan, Maurice Merleau-Ponty und André Breton; Hannah Arendt und ihrem Ehemann Günther Stern hatte Raymond Aron den Zugang zum Seminar vermittelt. Nach Kriegsende wechselte Kojève, für viele seiner Anhänger überraschend, in die Politik und wurde wirtschaftspolitischer Berater der französischen Regierung. In dieser Eigenschaft verfasste er die »Esquisse«. Die Lektüre des Memorandums, von dem die Leser weder in La Repubblica noch in Libération in Agambens Darstellung eine angemessene Vorstellung gewinnen konnten, zeigt, welche Brisanz darin lag, auf dem Höhepunkt des deutsch-französischen Konflikts an diesen fast siebzig Jahre zuvor geschriebenen Text zu erinnern.

An den Beginn seines Memorandums stellte Kojève die Schilderung der Gefahren, die Frankreich in der Nachkriegszeit drohten. Die erste Gefahr war unmittelbar: Sie lag im wirtschaftlichen und politischen Potenzial, über welches das besiegte Deutschland immer noch verfügte. Selbst ohne seine Ostprovinzen, so Kojève, sei Deutschlands wirtschaftliche Macht immer noch so groß, dass eine Eingliederung des Landes in das »Europäische System« unvermeidlich zur Herabstufung Frankreichs auf eine Nation zweiten Ranges führen musste – wenn nicht, wie von ihm vorgeschlagen, energische Gegenmaßnahmen ergriffen würden. Kojève war davon überzeugt, dass die westlichen Alliierten planten, nach Kriegsende ein »demokratisches« und »friedfertiges« Deutschland zu ihrem Bundesgenossen zu machen – und gab seine Skepsis gegenüber diesem Versuch dadurch zu erkennen, dass er beide Adjektive in Anführungszeichen setzte. In Frankreich wurde diese Skepsis von vielen geteilt; die Vision, die Winston Churchill in seiner Züricher Rede vom 19. September 1946 entwickeln sollte: eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland als erstem Schritt zur Bildung der Vereinigten Staaten von Europa, wurde als gefährliche Illusion angesehen.7

Die zweite Gefahr, so Kojève, war weniger unmittelbar, konnte für Frankreich aber tödlich werden: der Ausbruch eines Dritten Weltkriegs. Würde in diesem Krieg Frankreich zum Schlachtfeld, werde das Land die erlittenen Schäden nie mehr reparieren können. Aus diesen Gefahren ergaben sich für die französische Politik zwei Aufgaben von vitaler Bedeutung: Bei einem möglichen Krieg zwischen »den Russen und den Angelsachsen« musste eine wirksame Neutralität Frankreichs gewahrt werden. In Friedenszeiten wiederum galt es, alles zu tun, um Frankreich, nicht zuletzt im Vergleich mit Deutschland, den wirtschaftlichen und politischen Spitzenplatz in einem demokratischen Kontinentaleuropa zu sichern. So weit die »Präambel« des Memorandums.

Kojève skizzierte dann die »historische Situation«, die ihn zu seinen Überlegungen geführt hatte. Sie war mit dem Ende des Mittelalters vergleichbar, als in Europa die feudalen Strukturen sich auflösten und den entstehenden Nationalstaaten Platz machten. Jetzt war das Ende der Nationalstaaten gekommen. An ihre Stelle würden politische Formationen treten, die an nationalen Grenzen nicht haltmachten: Imperien. Der moderne Staat, so Kojève, sei nur noch in Form einer imperialen Union miteinander verwandter Nationen handlungs- und überlebensfähig. Der historische Irrtum Hitlers bestand darin, dass er sein »Drittes Reich« auf eine nationale Basis gründen wollte. Das Genie Stalins dagegen war es, mit der UdSSR ein slawisch-sowjetisches Imperium zu formen; Churchill stand ihm nicht nach, weil er verstanden hatte, dass die imperialen Strukturen des britischen Commonwealth zu einem angloamerikanischen Block erweitert werden mussten. Es war unausweichlich, dass der Nationalsozialismus dem imperialen Sozialismus der Sowjets und dem imperialen Kapitalismus der Angelsachsen unterliegen musste. Deutschland verlor den Krieg, weil es ihn als Nation führte und als Nation gewinnen wollte.

Nachkriegsdeutschland, so Kojève, werde sich entweder dem angloamerikanischen oder dem slawisch-sowjetischen Imperium anschließen. Eine wirkliche Alternative aber sei dies nicht: Mit hoher Wahrscheinlichkeit werde es spätestens in zehn oder fünfzehn Jahren ein germanisch-angelsächsisches Reich geben. Denn eine tief sitzende, von Verachtung geprägte Feindschaft trenne die Germanen von den Slawen, während sie mit England eine aufrichtige, wenn auch nicht immer erwiderte Freundschaft verbinde. Hinzu komme die protestantische Ausrichtung sowohl des preußisch-deutschen Staates als auch der ebenfalls aus der Reformation hervorgegangenen angelsächsischen Nationen – im Gegensatz zur orthodoxen Tradition der Slawen. Der Westen müsse in Europa ein Gegengewicht zum wachsenden Einfluss der UdSSR schaffen. Und nur Deutschland werde dieses Gegengewicht bilden können. Seine Wiederbewaffnung sei daher unausweichlich, stellte Kojève fest – vier Monate nach der Kapitulation des Deutschen Reichs! Aber auch wenn Deutschland nicht wieder aufgerüstet und politisch und wirtschaftlich machtlos bleiben würde, könnte Frankreich davon nicht profitieren. Mit seinen knapp 40 Millionen Einwohnern werde Frankreich nicht in der Lage sein, eine Schaukelpolitik zwischen den beiden großen Imperien zu betreiben, sondern unweigerlich zum Appendix eines der beiden Imperien schrumpfen – wie jeder europäische Staat, der versuchen sollte, in nationaler politischer Isolation zu überleben.

Damit drohte der Niedergang der lateinisch-katholischen Zivilisation, die Frankreich – so die Auffassung Kojèves – stärker geprägt hatte als jede andere Nation. Wer das Überleben dieser Zivilisation nach Kriegsende sichern wollte, musste ihr eine den Zeitumständen angemessene politische Form geben. Damit würde nicht nur den unmittelbar betroffenen Ländern, sondern der ganzen Menschheit ein unschätzbarer Dienst geleistet: »Denn die Angelsachsen, die Deutschen und die Slawen sind nicht im Besitz dessen, was die Lateiner, mit den Franzosen an der Spitze, der zivilisierten Welt gegeben haben und weiter geben.«8 Kojève war davon überzeugt: Um lateinische und katholische Werte zu bewahren und ihren Einfluss in der Welt zu sichern, musste den untereinander verfeindeten Kräften der slawisch-sowjetischen und angelsächsischen Imperien ein drittes Imperium entgegengestellt werden, das wie ein Puffer wirkte: das Lateinische Reich. Nur wenn es sich an die Spitze dieses Reichs setzte, würde Frankreich seine politische und damit auch kulturelle Besonderheit bewahren können. Das Lateinische Reich werde nicht stark genug sein, um die beiden anderen globalen Imperien anzugreifen – aber stark genug, um sie ihrerseits von einem Angriff abzuschrecken. Es werde keine imperialistischen Ziele verfolgen und durch seine bloße Existenz Europa den Frieden sichern, denn in einem mörderischen Krieg gegeneinander würden die Sowjets und die Angelsachsen dazu gezwungen sein, ihre Kriegsschauplätze auf Asien und den Pazifik zu beschränken. Ein lateinisch geprägtes Europa werde vor den Folgen dieses neuen Krieges bewahrt werden.

Die Zeit der Nationalstaaten war vorüber, die Zeit der Menschheitsunion aber, einer »allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft«, wie Kant formuliert hatte, war für Kojève noch nicht gekommen. Eine politische Zwischenphase begann, die Epoche der Imperien: »Bevor er sich in der Menschheit verkörpert, wohnt der Hegelsche Weltgeist, nachdem er die Nationen verlassen hat, in den Imperien.«9 Zusammengehalten werden die Imperien durch die enge »Verwandtschaft« der sie miteinander bildenden Nationen, durch eine Verwandtschaft der Sprachen, der Zivilisationen und der Mentalitäten, die wirksamer ist als jeder Zusammenschluss auf der Basis vager Rassenideen. Zu dieser Verwandtschaft gehört nicht zuletzt eine gemeinsame religiöse Orientierung. Die lateinischen Nationen, zu denen in erster Linie Frankreich, Italien und Spanien zählen, sind ausgeprägt »katholische« Nationen. Ein in allen drei Ländern verbreiteter Antiklerikalismus ist mit dieser Charakteristik keineswegs unvereinbar, darüber hinaus findet sich in Frankreich sogar bei Protestanten und Juden eine katholische Mentalität. Dennoch wird die Unterstützung des Lateinischen Reichs durch die Katholische Kirche – »einer immensen, aber schwierig zu berechnenden und noch schwerer zu kooptierenden Macht«10 – nicht leicht zu gewinnen sein. Voraussetzung der Koalition mit dem Katholizismus ist nicht nur eine Radikalreform der lateinischen Regierungen, sondern auch eine grundlegende Transformation der Katholischen Kirche, vor allem in Italien und Spanien. Es gilt, den Vatikan zu ent-italienisieren – ohne ihn damit amerikanischen Interessen auszuliefern. Schließlich würden sich die Protestantische Kirche mit dem angloamerikanischen, die Orthodoxe Kirche mit dem slawisch-sowjetischen und die Katholische Kirche mit dem Lateinischen Imperium verbünden. Damit würde die Katholische Kirche ihren universalen Anspruch, Kirche der ganzen Menschheit zu sein, nicht aufgeben – vielmehr würde sie in der Allianz mit dem Lateinischen Reich einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Verwirklichung dieses Anspruchs zurücklegen.

Eine »lateinische Mentalität« überdeckte Differenzen der einzelnen Nationalcharaktere. Sie fiel dem Fremden umso mehr auf, als sie den Einheimischen selbst oft unbewusst blieb: »Es scheint so, dass diese Mentalität insbesondere durch eine Kunst der Muße geprägt wird, welche die Quelle der Kunst im allgemeinen darstellt, durch die Fähigkeit, jene ›douceur de vivre‹ hervorzubringen, die nichts mit materiellem Komfort zu tun hat, jenes ›dolce far niente‹, das nur dann zu reiner Faulheit entartet, wenn es nicht die Folge produktiver und fruchtbarer Arbeit ist …«11 Die anderen beiden Imperien würden die »Union latine« – so nannte Kojève jetzt das Lateinische Reich – in ihrem Streben nach wirtschaftlichem Erfolg und in ihrem politischen Ehrgeiz stets übertreffen, auf die Vervollkommnung der Muße aber würden sie sich nie so verstehen wie der »vereinte lateinische Westen«. Darin lag eine große Herausforderung für die Zukunft, denn wenn nationale und soziale Konflikte einmal beseitigt sein würden, was vielleicht schneller der Fall sein könnte, als wir es ahnen, werde die Menschheit ihre ganze Energie auf die »Humanisierung« der freien Zeit richten. Hatte nicht bereits Marx als Ziel des Fortschritts, also des Sozialismus, postuliert, dem Menschen ein Maximum an Muße zu verschaffen? In diesen Zusammenhang gehört Kojèves Anmerkung, es sei die Katholische Kirche, die – von der Kunst unterstützt – sich darum bemühe, das kontemplative Leben der Menschen zu gestalten, während der Protestantismus – »den Methoden einer künstlerischen Pädagogik feindlich gesinnt«12 – sich im Wesentlichen mit dem arbeitenden Menschen beschäftige. Stärker als von jeder anderen politischen Formation werde die Zukunft der Menschheit, die sich dem »Ende der Geschichte« näherte, von der lateinisch-katholischen Zivilisation bestimmt werden.

Auch wenn die Zeit der Nationalstaaten vorbei war, musste in allen drei Imperien eine Nation die Rolle des primus inter pares spielen. Im slawisch-sowjetischen Imperium war dies Russland, im angelsächsischen Imperium die USA, im Lateinischen Reich werde es Frankreich sein. Die im Vergleich weitaus geringere Bevölkerungszahl ließ Spanien, der Mangel an Industrie Italien hinter Frankreich zurücktreten. Damit aber die »lateinischen Schwestern« gemeinsam ein wirksames Imperium bilden konnten, mussten sie eine Wirtschaftsunion miteinander bilden – und diese musste wiederum über Kolonialbesitz verfügen: Die afrikanischen Kolonien waren »die Basis und das einigende Band des Lateinischen Reichs«.13 Kojève folgte dabei nicht der Kolonialideologie des 19. Jahrhunderts. Er vertrat vielmehr die Ansicht, dass aus dem »nehmenden« ein »gebender« Kolonialismus werden müsse, um auf der Höhe der Zeit zu sein und zu überleben. In Europa war dies nicht zuletzt geboten, weil die »ökonomischen Bedingungen der wirtschaftlichen Einheit der Mittelmeerregion wieder hergestellt sind«. Es lag im Interesse der europäischen Länder, deren »zu rasches Bereicherungstempo ökonomisch beunruhigend ist«, die »wirklich armen Mitglieder der ökonomischen Mittelmeerregion« zu unterstützen, damit aus ihnen nicht »schlechte Kunden, oder gar ›gefährliche‹« würden. Diese Überlegungen entwickelte Kojève am 16. Januar 1957 in einem durch Carl Schmitt vermittelten Vortrag vor dem Rhein-Ruhr-Club in Düsseldorf zum Thema »Kolonialismus in europäischer Sicht«.14

In der durch die Kolonien »vereinten lateinisch-afrikanischen Welt« werde, so Kojèves Hoffnung, auch das »muslimische Problem« an Bedeutung verlieren. Im Reich ließen sich die Gegensätze zwischen dem arabischen Islam und dem lateinischen Katholizismus lösen, die auf nationaler Ebene immer wieder zu Konflikten und blutigen Auseinandersetzungen geführt hatten. Als Folge einer Entente zwischen der »Latinität« und dem Islam würden die anderen imperialen Mächte im Mittelmeerraum – dem natürlichen, exklusiven Einflussbereich des Lateinischen Reichs – zurückgedrängt werden: »Die Idee des einen Mittelmeers – Mare nostrum – sollte und müsste das wichtigste konkrete, ja einzige Ziel der Außenpolitik der vereinten lateinischen Länder sein.«15 Dieses Ziel hatten sich bereits vorher einzelne lateinische Nationalstaaten auf die Fahne geschrieben – und hatten ihre Fähigkeiten damit in grotesker Weise überschätzt. Kein einzelnes Land, nur ein Lateinisches Reich werde das Mittelmeer einen können. Elemente einer lateinischen Währungs- und Wirtschaftspolitik deutete Kojève nur an; er antizipierte die Bildung eines Franc-Blocks, der sich gegenüber dem Dollar, dem Pfund Sterling und dem Rubel behaupten würde. In der Tradition des französischen Merkantilismus schloss dabei Kojève das Verbot von Auslandsinvestitionen für die Mitglieder des Lateinisches Reichs nicht aus.

Wirtschaftliche Autarkie für das Lateinische Reich anzustreben war ein unrealistisches Ziel. Realistisch war die Annahme, dass ein Zusammengehen Frankreichs, Italiens und Spaniens unter Einschluss ihrer Kolonien die Konkurrenzfähigkeit des Reichs auf dem Weltmarkt sichern würde. Kojève ging noch weiter: Er hielt es für möglich, dass sich der lateinische Wirtschaftsraum ohne die zyklischen Krisen der angloamerikanischen und ohne die oppressive Rigidität der sowjetischen Ökonomie entwickeln könne. Ein großes Problem aber stellte sich der lateinischen Wirtschaftsunion: der Mangel an Kohle. Die Lösung ergab sich aus der deutschen Niederlage, die Frankreich zu seinem maximalen Vorteil nutzen sollte. Im Schlussteil der »Esquisse« führte Kojève detaillierte Maßnahmen auf, die sicherstellen konnten, dass Deutschland die Schaffung eines Lateinischen Reichs nicht nur nicht hemmte, sondern sogar ungewollt unterstützte.

Erstens würde Deutschland untersagt, andere eisenhaltige Mineralien zu verarbeiten als diejenigen, die es auf eigenem Boden fördern konnte. Alle Hochöfen, Stahl- und Walzwerke, die darüber hinaus nicht erforderlich waren, mussten zerstört werden. Das Eisen, das Deutschland nach Schätzung der Alliierten benötigte, werde in Form von Walzstahl ausschließlich von Frankreich geliefert werden. Deutschland dürfe nie mehr in der Lage sein, kriegswichtiges Material zu produzieren. Zum Nutzen des Lateinischen Reichs werde Deutschland gezwungen werden, die »Stahl-Kohle-Konvention« auf unbegrenzte Zeit einzuhalten. Für dieses Arrangement erwartete Kojève Widerstand von englischer Seite, aber Hinnahme und schließlich Zustimmung der Vereinigten Staaten, denn diese hatten ein Interesse daran, dass Großbritannien im Mittelmeerraum nicht zu stark wurde, wo es sich den Zugang zu den Ölreserven des Nahen Ostens sichern konnte. Eine aktive Unterstützung der UdSSR hielt Kojève für möglich. Selbst die Zustimmung der Deutschen für die »Stahl-Kohle-Konvention« könnte vielleicht gewonnen werden, weil das Abkommen günstiger für sie war als die Zahlung von Reparationen.

Zweitens sollte Frankreich sich die Möglichkeit offenhalten, die Saar zu annektieren und die dort lebende deutsche Bevölkerung zu vertreiben. Damit würde die Kohleversorgung Frankreichs und des Lateinischen Reichs weiter verbessert werden.

Drittens schließlich könnte man Deutschland aus Sicherheitsgründen die Produktion der kriegswichtigen Schwefelsäure verbieten; gleichzeitig würde – wiederum im Tausch gegen Kohle – Frankreich die für die deutsche Landwirtschaft nötigen Düngemittel liefern. Fazit aller Maßnahmen: »Deutschland wird dem Lateinischen Empire als Kohlengrube dienen.«16 Auch für de Gaulle spielte die Ruhrkohle eine zentrale Rolle in seinen Überlegungen zur französischen und europäischen Sicherheitspolitik nach Ende des Krieges. Am 10. September erklärte er gegenüber dem Pariser Korrespondenten der Londoner Times: »Die wirtschaftliche Sicherheit ganz Europas hängt von der Zukunft der Ruhr ab. Wenn Deutschland die Kontrolle über eine jährliche Kohleförderung von 140 Millionen Tonnen und über die Industrieanlagen der Ruhr behielte, würde es seine Wirtschaftskraft wiedergewinnen und sich zur gleichen Zeit die Mittel beschaffen, um wieder zu einer Bedrohung zu werden. Deutschland braucht Kohle, um existieren zu können, aber es benötigt nicht die ganze Kohleproduktion der Ruhr, vor allem nicht beim gegenwärtigen Zustand seiner Industrie.«17

In seinen Vorlesungen an der École pratique des hautes études hatte Kojève aus Hegels Phänomenologie des Geistes die Vision vom »Ende der Geschichte« entwickelt, die weltweite Durchsetzung einer den Prinzipien der Französischen Revolution verpflichteten Zivilgesellschaft gleichberechtigter Citoyens.18 Dort würde es keine Herren und Knechte mehr geben. Das politische Szenario aber, das Kojève unmittelbar nach Kriegsende in seinem Memorandum entwarf, funktionierte nach dem Herr-Knecht-Prinzip: Politische und ökonomische Weichenstellungen sicherten auf unbegrenzte Zeit Frankreich, dem Herrn, den Respekt und die Dienstleistungen seines Knechtes Deutschland. Zur Tradition des europäischen Nord-Süd-Vergleichs gehörte es, die Rolle des Herrn dem Norden, die des Sklaven oder Knechtes dem Süden zuzuschreiben. Im Lateinischen Reich tauschten Nord und Süd die ihnen herkömmlich zugewiesenen Rollen.19

Obwohl Kojèves Lust an der Provokation und sein Sarkasmus Raymond Aron irritierten, nannte er ihn den klügsten Mann seiner Generation. Als Text eines extravaganten, bohèmehafter Lebensweise zugeneigten Philosophen, der zeit seines Lebens Stalin bewunderte, sich selbst als Marxisten von rechts bezeichnete und aller Wahrscheinlichkeit nach für den KGB spionierte, könnte die »Esquisse« heute nur noch eine marginale Aufmerksamkeit beanspruchen.20 Ihre immer noch spürbare politische Brisanz gewinnt die Denkschrift Kojèves dadurch, dass ihr Verfasser zum Zeitpunkt der Niederschrift eine Karriere in der französischen Ministerialbürokratie begann, die ihn zum gefragten Berater in wirtschaftspolitischen Fragen werden ließ und es ihm ermöglichte, wichtige Etappen auf dem Weg zur Europäischen Gemeinschaft handelnd und gestaltend mitzuerleben. Auch als Bürokrat blieb Kojève Philosoph, bezeichnend, dass viele seiner Briefe an den hochgeschätzten Gegenspieler Leo Strauss auf Briefbogen des französischen Finanz- und Wirtschaftsministeriums geschrieben wurden.21

Kojève sah eine dramatische Koinzidenz darin, dass sein Seminar zur Phänomenologie des Geistes, in dem er das Ende der Geschichte postuliert hatte, zur gleichen Zeit endete, als der Zweite Weltkrieg begann.22 Ende 1939 oder Anfang 1940 erhielt Kojève seinen Stellungsbefehl und wurde Soldat. »Der lateinischen Lebensweise verbunden, die er Ende der zwanziger Jahre im Midi in Beaulieu und am Anfang der dreißiger Jahre bei Reisen in Italien kennengelernt hatte«, war er bereit, gegen den Nazismus zu kämpfen: »Dessen Erfolg, selbst wenn er nur vorübergehend gewesen wäre, hätte, in den Augen Kojèves, für immer die unvergleichliche Strahlkraft des lateinischen Geistes im Frankreich der Gegenwart und in der Welt geschwächt.«23 In der »drôle de guerre« wurde der Soldat Kojève demobilisiert, bevor er noch die Front erreichen konnte. Er schwankte einen Augenblick zwischen Kollaboration und Widerstand, bevor er sich der Résistance in Marseille anschloss. Nützlich wurde er dem Widerstand nicht zuletzt durch seine vielfachen Sprachkenntnisse. Die Philosophie gab er nicht auf. Im Städtchen Gramat im Département Lot verfasste Kojève im Sommer 1943 ein sechshundert Seiten langes Manuskript, das nach seinem Tod als Esquisse d’une phénoménologie du droit publiziert wurde.

Am 11. Mai 1940, einen Tag nachdem die Wehrmacht in die Ardennen vorgedrungen war, erreichte Kojève der Anruf eines Teilnehmers seines Hegel-Seminars, der sich im Elsass aufhielt. Robert Marjolin teilte Kojève mit, er befinde sich auf dem Weg nach London, um sich der »France Libre« de Gaulles anzuschließen und im Comité de coordination franco-anglais, das von Jean Monnet geleitet wurde, eine Stelle anzutreten. In London arbeitete er an der Zeitschrift La France libre mit, zu deren Redaktion Raymond Aron gehörte. Nach der Befreiung Frankreichs wurde Marjolin Stellvertreter Monnets im Commissariat au Plan, das den Auftrag hatte, den Wiederaufbau und die Modernisierung der französischen Wirtschaft zu koordinieren.24

Das Dossier, in dem das Memorandum im Nachlass Kojèves gefunden wurde, enthielt verschiedene Ausschnitte aus der Zeitung , die dokumentieren, wie sehr Kojève unmittelbar nach Kriegsende die Frage nach der Zukunft Europas bewegte. Dazu gehören eine »Les données d’un accord occidental« überschriebene Meldung vom 7. Juni1945 ein Artikel vom 17. Juli (»L’Union occidentale vue de Londres«), in dem von einem Treffen zwischen Abgesandten Großbritanniens, Frankreichs, Hollands, Belgiens und Luxemburgs die Rede ist, sowie eine Depesche aus London, die vom Projekt einer »gemeinsamen skandinavischen Staatsbürgerschaft« berichtet. Durch diese Berichte musste sich Kojève in seiner Überzeugung bekräftigt fühlen, dass die Nationalstaaten des Kontinents gezwungen waren, eine Union miteinander zu bilden, wenn Europa sich in Zukunft in der Welt behaupten wollte. Von Gewicht ist die Tatsache, dass sich im Nachlass Kojèves auch die Kopie einer Notiz des Schriftstellers und Kunsthistorikers Jean Cassou fand, die sich auf ein »Projet d’union latine« bezog. Die Notiz wurde zwei Monate vor der Befreiung Frankreichs geschrieben; Jean Cassou gehörte zu den »Poeten der Résistance«, in Paris hatte er sich der Widerstandsgruppe im Musée de l’Homme angeschlossen, in Marseille wurde er Mitglied der Gruppe Combat, für die auch Kojève arbeitete. Wenn man aus der Autorschaft Cassous, wie es die Herausgeber der oben genannten Hommage an Kojève tun, schließen darf, dass Kojève mit seiner »Esquisse« und dem Plan zur Gründung eines Lateinischen Reichs ein Projekt aus dem Umkreis der Résistance aufnahm und weiterentwickelte, gewinnt sein Aide-Mémoire ein erhebliches moralisches Gewicht.27 ,

CidErnani

Ähnlich hat General de Gaulle den Immobilismus der französischen Eliten kritisiert, der zur militärischen und moralischen Katastrophe der »drôle de guerre« führte – und hat mit Beginn des Kampfes gegen Nazideutschland seine eigene Bestimmung darin gesehen, Frankreich seine Handlungsfähigkeit und damit seine Größe wiederzugeben.