Zsolnay E-Book

 

Qiu Xiaolong

 

Blut und rote Seide

 

OBERINSPEKTOR CHENS

FÜNFTER FALL

 

Aus dem Englischen von

Susanne Hornfec

 

 

Paul Zsolnay Verlag

 

Die Originalausgabe erschien erstmals 2007 unter dem Titel Red Mandarin Dress bei St. Martin’s Press in New York.

 

ISBN 978-3-552-05786-9

© Qiu Xiaolong 2007

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe:

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2009/2016

Schutzumschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, München-Zürich, unter Verwendung einer Fotografie von © Ralf Nau/Getty Images

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

 

 

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

 

Für meinen älteren Bruder Xiaowei –

nur mit Glück bin ich dem entgangen,

was ihm während der Kulturrevolution zustieß.

 

 

PROLOG

 

Dem verdienten Arbeiter Huang stand der Atem in Wolken vor dem Gesicht, während er unter den verblassenden Sternen die Huaihai Xilu entlangtrabte. Er zählte sich zu Shanghais Frühaufstehern, und für einen Mittsiebziger war sein Schritt von erstaunlicher Elastizität. Gesundheit war schließlich das höchste Gut, dachte er stolz und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Gesundheit konnten sich diese kränklichen Neureichen auch mit ihren Bergen von Geld nicht kaufen.

Es gab wenig, worauf ein pensionierter Arbeiter wie Huang in den materialistisch orientierten neunziger Jahren noch stolz sein konnte.

Er hatte bessere Tage gesehen. In den Sechzigern war er als Modellarbeiter ausgezeichnet worden und während der Kulturrevolution Mitglied der Mao-Zedong-Gedanken-Propagandatrupps gewesen, in den achtziger Jahren hatte er dann dem Nachbarschaftskomitee angehört – kurz gesagt, Huang war ein verdienter Arbeiter aus Chinas glorreichem Proletariat.

Jetzt war er ein Niemand. Als Pensionist eines beinahe bankrotten staatlichen Stahlwerks mußte er mit immer geringeren Rentenzahlungen zurechtkommen. Und selbst in den Parteiorganen klang der Ehrentitel »verdienter Arbeiter« mittlerweile lächerlich veraltet.

»Das sozialistische China geht vor die kapitalistischen Hunde«, dieser Refrain eines populären Spottverses kam ihm gleichsam als Entgegnung auf den steten Rhythmus seiner Schritte in den Sinn. Alles veränderte sich so rasch, daß man nicht mehr hinterherkam.

Auch sein morgendlicher Lauf war nicht mehr der gleiche. Früher waren in dieser sternenbeschienenen Einsamkeit kaum Autos unterwegs gewesen, und er hatte den Pulsschlag der erwachenden Stadt spüren können. Jetzt herrschte selbst zu dieser frühen Stunde Verkehr, Fahrzeuge hupten, und der Kran auf der Baustelle an der nächsten Kreuzung war bereits in Betrieb. Dort sollte ein aufwendiger Apartmentkomplex für die neue Oberschicht entstehen.

Auch sein unweit davon gelegenes Haus im alten shikumen-Stil, das er mit zehn anderen Arbeiterfamilien teilte, würde bald einem Geschäftshochhaus weichen müssen. Die Bewohner wollte man nach Pudong umsiedeln, dem neuen Stadtteil östlich des Huangpu, der früher Bauernland gewesen war. Dann würde er morgens nicht mehr durch die vertrauten Straßen des Stadtzentrums joggen können. Auch auf die spottbillige Miso-Suppe mit frischen Frühlingszwiebeln, getrockneten Krabben, Seetang und Stückchen fritierter Teigstange, mit der er sich früher in der Arbeiter- und Bauernkantine gestärkt hatte, mußte er nun verzichten. Anstelle des preiswerten Lokals, ausgezeichnet für seine »Verdienste um die Arbeiterklasse«, hatte eine Starbucks-Filiale eröffnet.

Vielleicht war er einfach zu alt, um mit diesen Veränderungen Schritt zu halten. Huang seufzte, die Füße wurden ihm schwer, und seine Augenlider begannen zu zucken. Kurz vor der Kreuzung Huaihai und Donghu Lu fiel sein Blick auf eine Verkehrsinsel. Sie hatte früher wie ein frühlingshaftes Blumenbeet gewirkt, nun war sie Brachland, aus dem ein paar dürre Zweige stakten, so trostlos wie sein eigenes Gemüt.

Dann gewahrte er im fahlen Lichtkreis der Straßenlaterne ein fremdartiges Objekt in Weiß und Rot – vermutlich war es von einem der Laster gefallen, die den nahe gelegenen Markt belieferten. Das weiße Stück erinnerte an eine lange Lotoswurzel, die aus einem roten Sack ragte; vermutlich war hier altes Fahnentuch verwendet worden. Bekanntlich wurde auf dem Land alles wiederverwertet, sogar das Banner mit den fünf Sternen. Huang hatte auch gehört, daß in den Nobelrestaurants Lotoswurzel mit Klebreisfüllung jetzt als beliebte Vorspeise galt.

Nach zwei Schritten in Richtung Verkehrsinsel blieb er erschrocken stehen.

Was er für eine Lotoswurzel gehalten hatte, stellte sich als wohlgeformtes menschliches Bein heraus, auf dem Tautropfen glänzten. Auch von einem Sack konnte bei näherem Hinsehen keine Rede sein; es war ein roter qipao, und die Seide des figurbetonten Kleides umschloß den Körper einer Frau, die kaum älter als Anfang Zwanzig sein konnte. Ihr Gesicht wirkte wächsern.

Er kauerte sich hin, um die Leiche genauer zu betrachten. Das Kleid war bis über die Taille hinaufgerutscht und gab Schenkel und Scham dem gespenstischen Licht der Straßenlaterne preis. Die Seitenschlitze waren eingerissen, mehrere der Stoffknöpfe in doppelter Fischform standen offen, so daß ihre Brust hervorblitzte. Barfuß und ohne Strümpfe trug sie offenbar nichts unter dem enganliegenden Kleid.

Er berührte den Knöchel der jungen Frau. Kalt. Kein Puls. Dennoch ließen ihre rosalackierten Zehennägel an Blütenblätter denken. Wie lange sie wohl schon leblos hier lag? Der qipao entsprach keineswegs der neuesten Mode und wirkte irgendwie fehl am Platz. Er hatte noch nie jemanden das Kleid so tragen gesehen – ohne Unterwäsche und Schuhe.

Er spuckte auf den Boden, um das Unheil abzuwehren.

Wer legte eine Leiche in aller Frühe an einen solchen Ort? Das konnte nur ein Sexmörder getan haben.

Er überlegte, daß er die Polizei verständigen sollte, doch dazu war es noch zu früh. Außerdem war kein öffentlicher Fernsprecher in der Nähe. Als er sich umsah, bemerkte er ein Licht auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es kam vom Shanghaier Konservatorium. Laut schreiend rannte er darauf zu:

»Hilfe! Mord! Eine Frau im roten qipao

 

 

1

 

Das Klingeln des Telefons riß Oberinspektor Chen Cao vom Shanghaier Polizeipräsidium früh am Morgen aus seinen Träumen.

Er rieb sich die Augen und warf einen Blick auf den Wecker, während er zum Hörer griff: halb sieben. Der Brief an eine Freundin in Beijing hatte ihn bis spät in der Nacht wach gehalten; er hatte die Zeilen eines Tang-Dichters zitiert, um auszudrücken, was er selbst nur schwer in Worte fassen konnte. Danach hatte ihn ein Traum in die Tang-Zeit entführt: Herzlose Weiden standen im hellgrünen Nebel an verlassenen Ufern.

»Hallo. Hier ist Zhong Baoguo vom Shanghaier Komitee für Rechtsreform. Spreche ich mit Genosse Oberinspektor Chen?«

Chen fuhr hoch. Dieses Komitee war eine dem Shanghaier Volkskongreß unterstellte, neue Institution, die ihm gegenüber keine unmittelbare Weisungsbefugnis besaß. Zhong, von höherem Parteirang als er selbst, hatte ihn nie zuvor kontaktiert, geschweige denn zu Hause angerufen. Die Fragmente seines von Weiden beschatteten Traums lösten sich in nichts auf.

Vermutlich handelte es sich wieder um einen dieser »politisch brisanten« Fälle, die man nicht im Präsidium diskutiert wissen wollte. Chen spürte einen bitteren Geschmack im Mund.

»Haben Sie schon von dem Skandal um das Wohnungsbauprojekt Block Neun West gehört?«

»Block Neun West? Ja. Ein Projekt des Bauunternehmers Peng Liangxin, beste Innenstadtlage. Ich habe davon gelesen.«

In Chinas derzeitiger Reformphase versprachen Immobiliengeschäfte die größten Gewinnspannen. Früher, als Grund und Boden noch dem Staat gehört hatten, waren die Leute auf die Zuteilung von Wohnraum angewiesen gewesen. Auch Chen war seine Wohnung von der Dienststelle zugeteilt worden. Anfang der neunziger Jahre hatte die Regierung dann begonnen, Grundstücke an aufstrebende Unternehmer zu verkaufen. Peng, den man auch den größten Geldsack Shanghais nannte, war einer der ersten und erfolgreichsten gewesen. Da aber die Partei weiterhin für die Grundstückspreise und Zuteilungen verantwortlich war, blühte die Korruption. Dank seiner guten Beziehungen hatte Peng den Zuschlag für das Block-Neun-West-Projekt erhalten. Die alte Bebauung wurde abgerissen, um Platz für Neues zu schaffen, und Peng setzte alle bisherigen Bewohner auf die Straße. Es dauerte jedoch nicht lange, da sprach man von »schwarzen Löchern« in den Geschäftsbüchern, und ein öffentlicher Skandal drohte.

Doch was konnte Chen da tun? In ein Projekt von solchem Ausmaß war sicher eine ganze Reihe von Beamten involviert. Die Sache konnte sich zu einem schwerwiegenden Fall mit fatalen politischen Konsequenzen entwickeln. Vermutlich war man um Schadensbegrenzung bemüht.

»Wir sind der Ansicht, daß Sie sich den Fall einmal ansehen sollten, besonders den Rechtsanwalt, der die ehemaligen Bewohner vertritt, ein gewisser Jia Ming.«

»Jia Ming?« Jetzt war Chen erst recht verwirrt. Er kannte zwar die Einzelheiten dieses Korruptionsfalls nicht, aber Jia war ihm als erfolgreicher Anwalt bekannt. Warum war er plötzlich ins Visier der Ermittlungen geraten? »Handelt es sich um den Rechtsanwalt, der den Dissidentenschriftsteller Hu Ping verteidigt hat?«

»Genau den.«

»Es tut mir leid, Direktor Zhong, aber ich fürchte, Ihnen da nicht helfen zu können.« Statt eines klaren Neins hatte er eine Ausrede parat. »Ich habe mich soeben für ein spezielles Magisterprogramm in klassischer chinesischer Literatur an der Universität Shanghai eingeschrieben. Für die ersten paar Wochen ist eine intensive Studienphase vorgesehen. Da wird mir keine Zeit für anderes bleiben.«

Das war mehr als nur eine improvisierte Ausrede. Er hatte schon geraume Zeit mit dem Gedanken gespielt. Genaugenommen war er zwar noch nicht eingeschrieben, hatte sich aber bereits an der Universität informiert.

»Sie machen wohl Witze, Genosse Oberinspektor Chen. Und was wird aus Ihrer Ermittlungsarbeit? Klassische chinesische Literatur. Das ist doch für Ihren Beruf nicht unbedingt erforderlich. Wollen Sie etwa eine neue Laufbahn einschlagen?«

»Literatur war mein Hauptfach – englische Literatur. Wer in der heutigen Gesellschaft erfolgreiche Polizeiarbeit leisten will, sollte umfassend gebildet sein. Das Magisterprogramm schließt auch Kurse in Psychologie und Soziologie ein.«

»Nun, es ist zweifellos wünschenswert, daß man seinen Horizont erweitert, aber ich fürchte, dazu bleibt jemandem in Ihrer Position keine Zeit.«

»Ich habe eine Sonderregelung mit der Universität getroffen«, erwiderte Chen. »Nur wenige Wochen intensives Studium, danach muß ich lediglich schriftliche Arbeiten einreichen. Das weitere Curriculum läßt sich mit meinem Arbeitspensum vereinbaren.« Das entsprach nur zum Teil der Wahrheit. Die Broschüre, die er vom Lehrstuhl erhalten hatte, sah zwar eine intensive Studienphase vor, diese mußte aber nicht unbedingt gleich am Anfang absolviert werden.

»Ich hatte gehofft, Sie überreden zu können. Ein führender Genosse in der Stadtregierung hat mich an Sie verwiesen.«

»Ich werde ein Auge auf den Fall haben, soweit mir das möglich ist«, versprach Chen, damit Zhong sein Gesicht wahren konnte. Er wollte lieber nicht wissen, wer der »führende Genosse« in der Stadtregierung war.

»Klingt gut. Ich werde Ihnen die Akten zustellen lassen«, entgegnete Zhong rasch und nahm Chens höfliche Bemerkung als Zusage.

Chen bedauerte, sich nicht zu einem klaren Nein durchgerungen zu haben.

 

Nach dem Gespräch mit Zhong war ihm klar, daß er sich in den Fall um das Projekt Block Neun West würde einarbeiten müssen. Er tätigte einige Anrufe, und sein Gefühl wurde bestätigt, daß er besser die Finger von dieser Sache lassen sollte.

Der Bauunternehmer Peng Liangxin hatte mit einer Imbißbude angefangen, sich jedoch mit großem Geschick rasch ein Netzwerk aufgebaut. Bald wußte er genau, wann er rote Geldumschläge in wessen Hände drücken mußte. Im Gegenzug gab die Partei ihm die Chance, innerhalb von nur vier, fünf Jahren zum vielfachen Millionär zu werden. Den Baugrund für Block Neun West hatte er sich mit Bestechungen und einem Bebauungsplan erschlichen, der den Bewohnern eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen versprach. Allein aufgrund der staatlichen Überschreibung hatte er sich dann die nötigen Bankkredite verschafft, ohne für das Projekt einen einzigen Yuan aus eigener Tasche zu investieren. Die Bewohner vertrieb er mit brutalen Mitteln, unzureichend oder gar nicht entschädigt, aus ihren Häusern. Die wenigen Familien, die Widerstand leisteten, wurden als »Nagel-Familien« diffamiert, und er ließ sie, dem Bild entsprechend, gewaltsam aus ihren Wohnungen entfernen, wobei er sich der Hilfe von Triadenschlägern bediente. Einige der Bewohner waren bei dieser sogenannten Abrißkampagne übel zugerichtet worden. Doch damit nicht genug; er ließ die Leute auch nicht, wie im Projektentwurf vorgesehen, später in die neuen Gebäude einziehen, sondern verkaufte die Apartments zu horrenden Preisen an Käufer aus Taiwan und Hongkong. Als die Leute protestierten, versicherte er sich erneut der Hilfe der Triaden, wie auch der zuständigen Regierungsbeamten, woraufhin einige der ehemaligen Bewohner im Gefängnis landeten, und zwar mit der Begründung, sie hätten sich dem Stadtentwicklungsplan widersetzt. Als sich aber immer mehr Leute dem Protest anschlossen, sah sich die Stadtregierung zur Intervention gezwungen.

In den Akten, die nun Blatt für Blatt aus dem Faxgerät kamen, hieß es, Peng sei vor allem wegen seines Spitznamens in Schwierigkeiten geraten. Es gab viele Reiche in der Stadt, manche zweifellos noch vermögender als er, doch diese hatten sich bedeckt gehalten. Sein ungeheurer Erfolg war ihm zu Kopf gestiegen; er genoß es, Shanghais größter Geldsack genannt zu werden. Doch als sich die Schere zwischen arm und reich immer weiter öffnete, wurde Unmut über die allseits verbreitete Korruption laut, wobei Peng als einer der Hemmungslosesten galt. Schließlich wußte schon der Volksmund: Der Vogel, der den Hals reckt, wird abgeschossen.

Noch brisanter wurde die Situation, als der bekannte Rechtsanwalt Jia Ming die Verteidigung der Bewohner übernahm. Klug wie er war, entdeckte er alsbald weitere Rechtsbrüche bei dieser betrügerischen Transaktion, die nicht nur Peng, sondern auch zahlreiche Regierungsbeamte zu verantworten hatten. Die Medien berichteten ausführlich über den Fall, und die Stadtregierung fürchtete, die Kontrolle zu verlieren. Daraufhin brachte man Peng hinter Gitter und versprach den Klägern einen fairen Prozeß.

Stirnrunzelnd pflückte Chen eine weitere Seite aus seinem Faxgerät. Dem Schreiben war zu entnehmen, daß Jia heimlich von der Inneren Sicherheit überwacht wurde. Falls die Agenten auch nur den kleinsten Anhaltspunkt fänden, um Jia in Schwierigkeiten zu bringen, würde der Korruptionsvorwurf in sich zusammenfallen; doch offenbar war ihnen das bislang nicht gelungen.

Chen knüllte die Seite zu einem Ball zusammen; er war froh um seine Ausrede. Dank des Magisterprogramms konnte er es vermeiden, sich zu sehr auf diesen Fall einzulassen.

Es war in der Tat eine einmalige Chance, die sich ihm bot, ein maßgeschneidertes Programm für aufstrebende Parteikader, die beruflich mit wichtigen Aufgaben betraut und sehr beschäftigt waren, weshalb man es ihnen ermöglichte, in kurzer Zeit einen höheren akademischen Abschluß zu machen.

Doch für Chen besaß dieses Programm noch einen weiteren Reiz. Augenscheinlich war seine bisherige Karriere optimal verlaufen. Er war einer der jüngsten Oberinspektoren im Polizeidienst und zudem designierter Nachfolger von Parteisekretär Li Guohua, dem leitenden Kader im Shanghaier Polizeipräsidium. Dennoch war es nicht seine Wunschkarriere gewesen, zumindest nicht damals, nach dem Studium. Obwohl er ein erfolgreicher Polizeibeamter geworden war – zu seiner eigenen wie zur Überraschung anderer – und man ihn mit mehreren »politisch sensiblen Fällen« betraut hatte, fühlte er sich zunehmend frustriert von seiner Arbeit. Einige dieser Fälle waren anders ausgegangen, als ein Polizist sich das wünschen würde.

Konfuzius sagt: Es gibt Dinge, die ein Mann tun kann, und Dinge, die ein Mann nicht tun kann. Nur leider gab es dafür in diesen turbulenten Umbruchzeiten keine klaren Richtlinien mehr. Das Magisterprogramm, so hoffte er, würde ihm Gelegenheit geben, die Dinge von einer anderen Warte aus zu sehen.

Für diesen Morgen hatte er sich vorgenommen, Professor Bian Longhua aufzusuchen. Da ihm das Programm nun schon als Ausrede gedient hatte, konnte er ebensogut Ernst damit machen.

Unterwegs kaufte er einen Jinhua-Schinken, eingeschlagen in ein besonderes Ölpapier, und folgte damit einer Tradition aus der Frühzeit des Konfuzianismus. Der Weise hätte niemals Geld von seinen Schülern angenommen, geschenkten Hühnern oder Schinken gegenüber war er aber keineswegs abgeneigt. Da es lästig gewesen wäre, einen solchen Schinken im Bus zu transportieren, ließ er sich den Dienstwagen kommen. Während er in dem Delikatessengeschäft wartete, erledigte er gleich noch ein paar weitere Telefongespräche, die den Bauskandal betrafen; die Ergebnisse bestätigten ihn nur in seinem Vorsatz, sich besser nicht einzumischen.

Der Kleine Zhou, sein Fahrer, erschien früher als erwartet. Er war der erklärte Vertraute des Oberinspektors und würde die Neuigkeit von Chens Besuch bei Bian geflissentlich weiterverbreiten. Und das war auch gut, dachte Chen, während er sich innerlich auf den Besuch bei seinem Professor vorbereitete.

 

Bian bewohnte eine Vierzimmerwohnung in einem Neubaukomplex in guter Lage. Das war ungewöhnlich für einen Intellektuellen. Bian öffnete selbst. Er war Mitte Siebzig und von durchschnittlicher Größe. Sein Haar schimmerte weiß über dem rosigen Gesicht; für sein Alter und das, was er durchgemacht hatte, wirkte er erstaunlich lebhaft. In seiner Jugend in den fünfziger Jahren ein »Rechtsabweichler«, in den mittleren Jahren während der Kulturrevolution ein »historischer Konterrevolutionär« und im Alter in den Neunzigern ein »beispielhafter Intellektueller«, hatte Bian sich während all der Jahre an die Literaturwissenschaft geklammert wie an einen Rettungsring.

»Nur ein kleiner Beweis meiner Wertschätzung, Professor Bian«, sagte Chen und hielt das Paket hoch. Er suchte nach einem Platz, wo er den Schinken ablegen konnte, doch das neue, teure Mobiliar schien zu empfindlich für fettiges Ölpapier.

»Vielen Dank, Oberinspektor Chen«, erwiderte Bian. »Der Dekan hat mit mir über Sie gesprochen. Angesichts Ihrer Arbeitsbelastung haben wir beschlossen, Ihnen die Anwesenheit im Hörsaal zu ersparen, Sie müssen nur die Seminararbeiten pünktlich einreichen.«

»Ich weiß das zu schätzen. Selbstverständlich werde ich pünktlich abliefern wie jeder andere Student auch.«

Eine junge Frau Anfang Dreißig kam leichtfüßig ins Wohnzimmer. Sie trug einen schwarzen qipao mit hochhackigen Sandalen und nahm Chen den Schinken ab, den sie auf den Couchtisch legte.

»Das ist Fengfeng, meine talentierte Tochter. Sie ist Geschäftsführerin eines amerikanisch-chinesischen Joint Venture.«

»Eine höchst pietätlose Tochter, wie man sieht«, sagte sie. »Statt chinesischer Literatur habe ich Betriebswirtschaft studiert. Vielen Dank, daß Sie sich meinen Vater zum Lehrer gewählt haben. Es schmeichelt seinem Ego, daß eine Berühmtheit wie Sie bei ihm studiert.«

»Ganz im Gegenteil, ich fühle mich geehrt.«

»Warum entscheidet sich ein so erfolgreicher Ermittler für dieses Studienprogramm?« wollte sie wissen.

»Mit Literatur kann man nichts ausrichten«, mischte der alte Herr sich bescheiden lächelnd ein. »Sie hat diese Wohnung gekauft, die meine Mittel bei weitem überstiegen hätte. Und hier leben wir nun – ein Land, zwei Systeme.«

Ein Land, zwei Systeme – ein politischer Slogan, den Deng Xiaoping für die Koexistenz des sozialistischen China mit dem kapitalistischen Hongkong nach der Übernahme 1997 geprägt hatte. Hier war es auf eine Familie gemünzt, die ihr Geld in zwei unterschiedlichen Systemen verdiente. Chen war klar, daß viele Leute seine Entscheidung mißbilligen würden, wollte dem aber keine zu große Bedeutung beimessen.

»Ein Literaturstudium gilt für mich als eine dieser verpaßten Gelegenheiten, an die man mit Bedauern zurückdenkt. Aber manchmal bekommt man eine zweite Chance«, erwiderte er. »Außerdem schmeichelt es dem Ego, sich einer neuen Laufbahn zuzuwenden.«

»Ich muß Sie um einen Gefallen bitten, Oberinspektor«, sagte sie. »Vater ist zuckerkrank und hat einen hohen Blutdruck. Er geht nicht mehr jeden Tag in die Uni. Könnten Sie ihn vielleicht hier aufsuchen?«

»Aber natürlich, wenn das angenehmer für ihn ist.«

»Sie kennen sicher den Ausspruch von Gao Shi«, warf Bian ein. »Die nutzlosesten sind die Gelehrten. In meinem Alter ist man zu nichts anderem nütze, als zu Hause Insekten zu schnitzen

»Literatur wird tausend Herbste überdauern«, konterte Chen mit der Zeile eines anderen berühmten Dichters.

»Nun, Ihre Leidenschaft für die Literatur ist ein guter Ausgangspunkt. Wie sagt doch der Volksmund: Menschen mit derselben Krankheit bedauern einander. Wie ich höre, sind Sie ein romantischer Dichter. Da haben Sie mit einer anderen Variante der ›Durstkrankheit‹ zu kämpfen.«

Xiaoke zhi ji – die Durstkrankheit. Chen hatte den Begriff schon gehört; er bezog sich auf Diabetes, der dem Patienten Durstgefühle verursacht. Bian hatte damit auf subtile Weise auf seinen Durst nach Literatur angespielt. Aber was meinte er mit der Bemerkung, daß Chen ein romantischer Dichter sei?

Als Chen wieder in den draußen wartenden Dienstwagen stieg, erwischte er den Kleinen Zhou dabei, wie er in einer Hongkonger Ausgabe des Playboy nackte Models betrachtete. Da fiel ihm ein, daß der Begriff »Durstkrankheit« im alten China auch als Bild für die hoffnungslose Leidenschaft eines jungen Mannes zu einem Mädchen gebraucht worden war.

Doch dann kamen ihm Zweifel. Vielleicht hatte er den Ausdruck auch bloß irgendwo gelesen und mit eigenen Assoziationen aufgeladen. Kaum in seinem Dienstwagen, dachte er schon wieder wie ein Polizist, nach Erklärungen für Bians Äußerung suchend. Er mußte über sich selbst den Kopf schütteln.

Doch die Aussicht auf das Literaturprogramm war eine Abwechslung und stimmte ihn heiter.

 

 

2

 

Hauptwachtmeister Yu Guangming vom Shanghaier Polizeipräsidium saß nachdenklich in seinem Büro – nein, er saß nicht in seinem Büro, soweit war er noch nicht. Als stellvertretender Einsatzleiter der Sonderkommission hatte er während Chens Abwesenheit dessen Büro übernommen.

Man nahm ihn nicht ernst, obwohl er die Sonderkommission bereits mehrfach kompetent geleitet hatte, immer dann, wenn Chen für mehrere Wochen mit politischen Sitzungen oder gutbezahlten Übersetzungsaufträgen beschäftigt gewesen war. Dennoch stand er auch weiterhin im Schatten des Oberinspektors.

Yu verstand nicht, warum Chen dieses Literaturstudium mit solchem Nachdruck betrieb. Diese Entscheidung hatte im Präsidium zu vielerlei Spekulationen Anlaß gegeben. Liao Guochang, der Leiter der Mordkommission, meinte, Chen wolle sich bedeckt halten, nachdem er kürzlich in höheren Kreisen unangenehm aufgefallen war; seine Literatenpose diene dazu, sich eine Zeitlang aus dem Rampenlicht zurückzuziehen. Der Kleine Zhou dagegen mutmaßte, daß es Chen um einen Magister oder Doktor zu tun sei, denn ein akademischer Titel konnte in der neuen Beförderungspolitik der Partei einen gewaltigen Karrieresprung bedeuten. Und Kriminalrat Zhang, der sich bereits teilweise im Vorruhestand befand, behauptete gar, Chen plane einen Studienaufenthalt im Ausland, um bei seiner hongyan zhiji, einer ihm zugetanen Schönen, zu sein – in diesem Fall eine Kollegin bei den US-Marshalls. Doch wie die meisten Gerüchte um Chen ließen auch diese sich weder beweisen noch widerlegen.

Yu war sich diesbezüglich nicht sicher, denn es gab noch eine weitere Vermutung, die nicht auszuschließen war und in eine völlig andere Richtung wies: Chen hatte ihn zu einem Wohnungsbauprojekt befragt, ohne dafür einen Grund zu nennen. Das war ungewöhnlich für das Verhältnis zwischen dem Oberinspektor und seinem Assistenten.

Doch an diesem Morgen blieb Yu keine Zeit für weitere Spekulationen. Parteisekretär Li hatte ihn in Inspektor Liaos Büro zitiert.

Liao war ein stämmiger Mann Anfang Vierzig, dem seine Hakennase und die runden Augen ein eulenhaftes Aussehen verliehen. Er runzelte die Stirn, als Yu eintrat.

Wurde im Präsidium ein Fall der Sonderkommission zugeteilt, so war er von besonderer politischer Brisanz. Liaos beleidigtes Gesicht ließ darauf schließen, daß der Mordkommission wieder einmal ein Fall entzogen worden war.

»Haben Sie schon vom qipao-Mord gehört, Genosse Hauptwachtmeister Yu?«

»Ja«, erwiderte Yu, »ein aufsehenerregender Fall.«

Vor einer Woche war die Leiche eines Mädchens, bekleidet mit einem roten qipao, in einer Blumenrabatte an der Huaihai Xilu gefunden worden. Wegen der Nähe zu einigen exklusiven Boutiquen war ausführlich über den Fall berichtet worden, und man hatte ihm den Spitznamen »Roter-qipao-Mord« gegeben. Die Nachricht hatte wiederholt zu Verkehrsstaus in dieser Gegend geführt; zahlreiche Neugierige kamen zu einem Schaufensterbummel, um zugleich den neuesten Klatsch aufzuschnappen, daneben natürlich viele informationshungrige Fotografen und Journalisten.

Die Zeitungen übertrafen einander mit wilden Theorien. Der Mörder hatte seine Leiche bestimmt nicht ohne Grund an einen solchen Ort gelegt. Ein Reporter wollte deshalb den Täter im Konservatorium vermuten, das gegenüber der Verkehrsinsel auf der anderen Straßenseite lag. Ein anderer vermutete einen politischen Kommentar zum Wertewandel im sozialistischen China, denn der qipao, einst als Inbegriff kapitalistischer Dekadenz verteufelt, war wieder in Mode gekommen. Eine Boulevard-Zeitung spekulierte sogar, der Mord könne von einem bedeutenden Modekonzern inszeniert worden sein. Ironischerweise hatte die breite Berichterstattung über den Mord zur Folge, daß in den Schaufenstern nun vermehrt Kleider dieses Stils auftauchten.

So manches an dem Fall schien Yu rätselhaft. In einer ersten gerichtsmedizinischen Untersuchung waren Druckstellen an Armen und Beinen der Leiche festgestellt worden, die auf eine Vergewaltigung vor dem Tod durch Ersticken hindeuteten. Dennoch wies die Tote keine Samenspuren auf und war offenbar gewaschen worden. Unter dem Kleid war sie nackt, bei einer solchen Garderobe eher unüblich. Noch ungewöhnlicher war der Fundort der Leiche direkt an einer vielbefahrenen Straße.

Ersten Annahmen zufolge hatte der Mörder der Leiche das Kleid nur für den Transport angezogen und in der Eile Slip und BH vergessen oder diese nicht für nötig erachtet. Das Kleid konnte das Opfer bereits bei der fatalen Begegnung mit dem Mörder getragen haben. Auch der Fundort könnte möglicherweise bedeutungslos sein: wenn der Verbrecher so unverfroren war, sich seines Opfers bei erstbester Gelegenheit zu entledigen.

Yu hielt nichts von dieser Beliebigkeitsthese, aber schließlich war es kein Fall der Sonderkommission; er war klug genug, nicht in anderer Leute Küche zu kochen.

»Ziemlich aufsehenerregend«, wiederholte Yu, der sich zu einer Äußerung gedrängt sah, nachdem Li und Liao beharrlich schwiegen. »Allein der Fundort.«

Noch immer keine Entgegnung. Li schnaufte hörbar; seine großen Tränensäcke wirkten in der unheilschwangeren Stille noch gewichtiger.

»Irgendwelche Fortschritte?« wandte Yu sich jetzt direkt an Liao.

»Fortschritte?« knurrte Li. »Wir haben eine zweite Leiche im roten qipao. Sie wurde heute morgen gefunden.«

»Ein neues Opfer? Wo?«

»Vor dem Zeitungsschaukasten am Tor Nummer Eins des Volksparks, an der Nanjing Lu.«

»Das ist ja unerhört – mitten im Stadtzentrum«, sagte Yu. Vor den Schaukästen an der Mauer des Parks fanden sich im Tagesverlauf zahlreiche Menschen ein, um die aktuelle Zeitung zu lesen. »Eine gezielte Provokation.«

»Wir haben beide Opfer miteinander verglichen«, sagte Liao. »Es gibt da eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten, vor allem natürlich den roten qipao. Material und Schnitt sind identisch.«

»Die Medien werden ihre Freude haben«, bemerkte Li, denn gerade wurde ein Stapel Zeitungen hereingereicht.

Yu griff nach der neuesten Ausgabe der Befreiung; auf dem Titelblatt prangte das Bild einer jungen Frau im roten qipao, die unter dem Schaukasten lag.

»Shanghais erster Seriensexmörder«, las Liao vor. »Der rote qipao ist bereits zum Markenzeichen geworden. Die Spekulationen schießen ins Kraut. Die Stadt bebt vor Erregung …«

»Diese Journalisten sind ja verrückt«, unterbrach ihn Li. »Treten eine Lawine von Artikeln und Bildreportagen los, als gäbe es nichts anderes zu berichten.«

Lis Frustration war verständlich. Shanghai war für die Effizienz seiner Stadtregierung ebenso bekannt wie für seine niedrige Verbrechensrate. Nicht daß es in der Stadt keine Serienmorde gegeben hätte, aber die strenge Medienkontrolle hatte eine Berichterstattung bislang erfolgreich verhindern können. Ein solcher Fall würde ein schlechtes Licht auf die lokalen Polizeikräfte werfen, was die staatlichen Medien natürlich zu vermeiden suchten. Seit Mitte der Neunziger hatte die Situation sich verändert: Auch Zeitungen mußten um Wirtschaftlichkeit bemüht sein, weshalb sich die Journalisten um Sensationsberichte rissen und die Medienkontrolle längst nicht mehr so wirkungsvoll war wie früher.

»Heutzutage, wo Buchhandlungen und Fernsehprogramme von westlichen Krimis überschwemmt werden – einige davon in der Übersetzung unseres Oberinspektors –, wollen auch die Journalisten in ihren Kolumnen Sherlock Holmes spielen. Hier, sehen Sie sich die Schlagzeile in der Wenhui Tageszeitung an. Man sagt uns bereits den Zeitpunkt des nächsten Mordes voraus: ›Weiteres Opfer im roten qipao für nächsten Freitag zu erwarten.‹«

»Es ist doch allgemein bekannt«, bemerkte Yu, »daß Serienmörder in regelmäßigen Intervallen zuschlagen. Wenn er nicht gefaßt wird, macht er womöglich sein Leben lang so weiter. Chen hat mal ein Buch mit einem Serienmörder übersetzt. Vielleicht sollten wir mit ihm sprechen …«

»Ach was, Serienmörder!« Schon der Begriff schien Li zur Weißglut zu bringen. »Haben Sie vielleicht mit Ihrem Vorgesetzten gesprochen? Ich bezweifle das. Der ist doch viel zu beschäftigt mit seinen literarischen Essays.«

Das Verhältnis zwischen Chen und Li war noch nie besonders gut gewesen. Yu hielt sich wohlweislich zurück.

»Keine Sorge«, kommentierte Liao sarkastisch. »Die Leute werden auch ohne Metzger Zhang Schweinefleisch auf dem Teller haben.«

»Diese Morde sind eine Ohrfeige für das Präsidium: ›Seht her, ich hab’s ein zweites Mal geschafft!‹« erregte sich Li. »Der Klassenfeind versucht die Fortschritte unserer Reformpolitik zu sabotieren. Indem er Panik unter den Menschen verbreitet, möchte er die soziale Stabilität aushebeln. Wir müssen uns bei den Ermittlungen auf jene konzentrieren, die einen tiefsitzenden Haß gegen die Regierung hegen.«

Lis Logik war noch immer von Maos Kleinem Rotem Buch beeinflußt, dachte Yu. In seinen Augen konnte jeder ein sogenannter Klassenfeind sein. Der Parteisekretär war bekannt dafür, daß er Mordfälle auf der Basis politischer Theorie lösen wollte. Der führende Parteikader des Präsidiums hielt sich zugleich für einen genialen Ermittler.

»Ein Verbrecher braucht zunächst mal einen Tatort … vermutlich seine Wohnung«, sagte Liao. »Die Nachbarn könnten etwas bemerkt haben.«

»Ja, alarmieren Sie sämtliche Nachbarschaftskomitees, vor allem im Umkreis der beiden Fundorte. Gemäß dem Großen Vorsitzenden sollen wir uns auf die Hilfe der Massen verlassen, so auch jetzt, wo es um eine rasche Aufklärung geht.« Dann verkündete er in offiziellem Ton: »Inspektor Liao und Hauptwachtmeister Yu, Sie werden gemeinsam die Leitung des Sondereinsatzkommandos übernehmen.«

Erst nachdem der Parteisekretär das Büro verlassen hatte, konnten die beiden Polizisten den Fall ernsthaft besprechen.

»Ich weiß bislang nur wenig über die Morde«, begann Yu, »über das erste Opfer praktisch gar nichts.«

»Hier ist die Akte des ersten Falls.« Liao reichte ihm einen dicken Ordner. »Über den zweiten sammeln wir derzeit noch Informationen.«

Yu nahm ein vergrößertes Foto der ersten Leiche zur Hand. Das Gesicht der jungen Frau war teilweise von ihrem schwarzen Haar verdeckt; sie hatte eine gute Figur, deren Rundungen von dem engen Kleid noch betont wurden.

»Den Blutergüssen an Armen und Beinen nach zu urteilen«, sagte Liao, »ist sie vergewaltigt worden. In ihrer Vagina wurden allerdings keine Samen- oder Sekretspuren gefunden. Ein Kondom haben die Pathologen ausgeschlossen. Das hätte Reibungsspuren hinterlassen. Was immer er ihr angetan haben mag, anschließend hat er der erstarrenden Leiche grob und mit offensichtlicher Eile das Kleid angezogen. Das erklärt die aufgerissenen Seitenschlitze und die losen Knöpfe.«

»Das rote Kleid kann wohl nicht ihr eigenes gewesen sein«, bemerkte Yu, »wenn die zweite Leiche in einem identischen qipao gefunden wurde.«

»Nein, es war nicht ihr Kleid.«

Yu sah sich die eingerissenen Schlitze auf dem Bild genauer an. Warum war jemand, der sich die Mühe gemacht hatte, vorab ein so teures, modisches Kleid zu besorgen, anschließend so rücksichtslos damit umgegangen, und das gleich zweimal?

»Wurden die Seitenschlitze auch beim zweiten Opfer aufgerissen?«

»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen«, erwiderte Liao gereizt.

»Wann wurde die Identität des ersten Opfers festgestellt?«

»Erst drei Tage nachdem wir sie entdeckt hatten. Tian Mo, dreiundzwanzig Jahre alt. Man nannte sie Jasmine. Sie arbeitete im Hotel Kranich unweit der Kreuzung Guangxi und Jingling Lu. Sie lebte bei ihrem gelähmten Vater. Nachbarn und Kollegen bestätigen einmütig, sie sei ein freundliches, fleißiges Mädchen gewesen. Sie hatte keinen Freund, und wer sie näher kannte, hält es für ausgeschlossen, daß sie Feinde hatte.«

»Der Mörder muß die Leiche aus einem Auto geworfen haben.«

»Ganz offensichtlich.«

»Ein Taxifahrer oder der Halter eines Privatwagens?«

»Taxifahrer arbeiten in Schichten von jeweils zwölf Stunden. Nach dem Fund der zweiten Leiche haben wir sofort kontrolliert, wer in beiden Nächten Dienst hatte. Das trifft nur auf knapp zwanzig Fahrer zu, von denen jeder zumindest für die eine Nacht lückenlose Quittungsbelege vorweisen kann. Wie sollte ein Taxifahrer zwischen seinen Fahrten Zeit gehabt haben, sie umzubringen, zu waschen – wozu er ein privates Badezimmer bräuchte – und sie dann in diesen roten qipao zu stecken?« Liao schüttelte den Kopf, bevor er fortfuhr: »Ein Privatwagen ist da schon wahrscheinlicher. Ihre Zahl ist in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen, seit es in Geschäfts- und Parteikreisen von Geldsäcken nur so wimmelt. Selbst wenn die Partei grünes Licht für eine Überprüfung gäbe, würden uns bei weitem die Mittel fehlen, um alle zu erfassen.«

»Und was sagen Sie zu den jeweiligen Fundorten?«

»Im ersten Fall«, begann Liao und nahm ein Foto zur Hand, auf dem im Hintergrund eine Kreuzung mit Ampel zu sehen war, »muß der Mörder das Auto verlassen haben, um die Leiche abzulegen. Ein beträchtliches Risiko. In dieser Gegend kommt der Verkehr praktisch nie zur Ruhe. Der Oberleitungsbus Nummer 26 stellt nur zwischen halb drei und vier Uhr morgens den Betrieb ein. Außerdem fahren ständig Autos vorbei, und aus dem Konservatorium gegenüber kommen ständig Studenten, die bis in die Nacht hinein arbeiten.«

»Meinen Sie, daß der Fundort eine Verbindung zur Hochschule nahelegt, wie manche Journalisten behaupten?« fragte Yu.

»Wir haben das überprüft. Jasmine hat nicht dort studiert. Sie mochte Musik, aber das ist schon alles. Auch ihre Familie hat nichts mit der Hochschule zu tun. Nachdem die zweite Leiche woanders lag, sehe ich keinen Grund, diese Schreiberlinge ernst zu nehmen.«

»Li mag recht haben mit seiner Vermutung, daß der Verbrecher diese öffentlichen Orte gewählt hat, um eine Aussage zu machen«, meinte Yu. »Sie haben die Nachbarschaftskomitees in der Umgebung sicher schon unter die Lupe genommen.«

»Keine Frage. Aber die Nachforschungen konzentrierten sich auf einen bestimmten Tätertyp – Sexualverbrecher mit einschlägiger Vorstrafe. Bislang ergebnislos. Und die zweite Leiche wurde erst heute morgen gefunden.«

»Was wissen wir über das zweite Opfer?«

»Die Leiche wurde von einem Austräger der Wenhui Tageszeitung entdeckt. Der Junge hat die Zeitung im Schaukasten ausgewechselt. Er hat ihr das Kleid über die Schenkel heruntergezogen und das Gesicht mit einer Zeitung bedeckt, dann hat er statt bei uns in der Redaktion angerufen. Als wir hinkamen, hatte sich bereits eine Menschenmenge versammelt. Die Leiche wurde vermutlich sogar umgedreht. Die Befunde dort sind also letztlich wertlos.«

»Hat sich die Gerichtsmedizin schon geäußert?«

»Noch nicht. Bislang liegt nur ein erster Bericht vom Fundort vor. Wieder Tod durch Ersticken. Auch diesem Opfer scheint keine sexuelle Gewalt angetan worden zu sein, aber wie die erste Frau trug sie nichts unter ihrem qipao.« Liao holte weitere Fotos aus seiner Schreibtischschublade. »Keine Samenspuren, weder vaginal noch oral, auch anal kein Befund. Die Jungs von der Spurensicherung haben sie auf noch so vage Fingerabdrücke hin untersucht, sie haben nicht das winzigste Härchen, die kleinste Spur an der Leiche gefunden.«

»Könnte es sich um einen Nachahmer handeln?«

»Wir haben die beiden Kleider untersucht. Derselbe Stoff mit aufgedrucktem Muster, auch der Schnitt ist derselbe. Niemand hätte diese Details genau kopieren können.«

»Was haben Sie sonst noch unternommen?«

»Eine Meldung mit Foto ist rausgegangen. Es gab bereits zahlreiche telefonische Hinweise. Die Sache läuft auf Hochtouren.«

»Auch wenn Li den Begriff Serienmörder nicht leiden kann«, bemerkte Yu, »wir dürfen die Möglichkeit nicht ausschließen. Womöglich haben wir in einer Woche die dritte Leiche im roten qipao.«

»Ein Serienmörder in Shanghai ist politisch undenkbar. Deshalb hat Li ja auch die Sonderkommission eingeschaltet.«

»Falls es sich tatsächlich um einen Serienmörder handelt«, sagte Yu, dem die Rivalität zwischen den Abteilungen durchaus bewußt war, »müssen wir ein Täterprofil erstellen.«

»Solche Kleider sind teuer, also ist er vermutlich reich. Er besitzt ein Auto und lebt allein, entweder in einem Apartment oder in einer Villa. Mit Sicherheit nicht im Einzelzimmer eines shikumen-Hauses, zusammengepfercht mit zwanzig anderen Familien. Sonst hätte er wohl kaum unbemerkt die Leichen wegschaffen können.«

»Stimmt.« Yu nickte. »Außerdem ist er ein Einzelgänger, ein Perverser. Die Opfer waren splitternackt, wurden aber nicht auf die übliche Weise vergewaltigt. Es muß sich um einen Psychopathen handeln, der aus diesen rituellen Tötungen seine Befriedigung zieht. Der rote qipao ist sein Markenzeichen.«

»Ein Psychopath mit perversen Sexualpraktiken?« rief Liao. »Nun mal langsam, Hauptwachtmeister. Das klingt mir ganz nach diesen Krimis, die Ihr Chef übersetzt. Mit solchem psychologischen Kauderwelsch können wir hier nichts anfangen.«

»Aber ein psychologisches Profil könnte uns vielleicht weiterbringen«, erwiderte Yu. »Ich muß das in einer von Chens Übersetzungen gelesen haben, aber das ist lange her.«

»Mein Profil hält sich an die Tatsachen und hilft immerhin, den Kreis der Verdächtigen einzugrenzen. Die weniger Begüterten fallen damit schon mal weg.«

»Und was ist mit den Kleidern?« fragte Yu, der eine Konfrontation mit Liao vermeiden wollte.

»Ich hatte vor, eine Belohnung auszusetzen, aber Li hat den Vorschlag verworfen, zu viele Falschmeldungen …«

Ihr Gespräch wurde von Liaos Assistentin Hong, einer jungen Absolventin der Shanghaier Polizeihochschule, unterbrochen. Ein hübsches Mädchen mit strahlendweißen Zähnen; man munkelte, ihr Freund sei Zahnarzt und habe im Ausland studiert.

»Ich werde mir die Akten mal genauer ansehen«, sagte Yu und stand auf. Beim Hinausgehen schoß ihm durch den Kopf, daß Hong eine gewisse Ähnlichkeit mit dem ersten Opfer hatte.