Chen Cao ist nicht länger Oberinspektor beim Sonderdezernat, man hat ihn weggelobt auf einen weniger einflussreichen Posten. Wer die Gerechtigkeit über die Parteiinteressen stellt, landet schnell auf dem Abstellgleis und wird auch persönlich bedroht. Chens Dienstwagen fliegt samt Fahrer in die Luft; die Wohnung seiner Mutter wird verwüstet; einer Razzia in einem teuren Nachtclub entgeht er nur knapp. Und seiner neuen Bekannten, einer Sängerin der Suzhou-Oper, lauern Auftragskiller in ihrer Wohnung auf. Chen muss sich fragen, wodurch er den Zorn der Mächtigen auf sich gezogen hat. Die kriminellen Verbindungen reichen vom chinesischen Rotlichtmilieu bis in die Kreise des Ersten Parteisekretärs.
Schakale in Shanghai ist von realen politischen Ereignissen in China inspiriert, die mit Chens Worten »absurder sind als jeder Kriminalroman«.
Zsolnay E-Book
Qiu Xiaolong
Schakale in Shanghai
OBERINSPEKTOR CHENS
ACHTER FALL
Aus dem Englischen von
Susanne Hornfec
Paul Zsolnay Verlag
Die Originalausgabe erschien erstmals 2015 unter dem Titel Shanghai Redemption bei St. Martin’s Press, New York.
Das Gedicht »An der roten Wand« von Du Mu im Epilog wird zitiert in der Übersetzung von Volker Klöpsch, © China Renmin University Press.
ISBN 978-3-552-05787-6
Copyright © Qiu Xiaolong 2015
Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe
© Paul Zsolnay Verlag Wien 2016
Umschlag: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Foto: © Wei Gensheng/Hap/Quirky China News/Rex
Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien
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1
Der April ist ein schlimmer Monat, vielleicht der schlimmste von allen.
Dem Mondkalender nach ist der 5. April der Tag des Totengedenkens, auch Gräberputztag genannt. An Qingming besuchen die Menschen die Gräber ihrer Familien und bezeugen den Verstorbenen ihre Zuwendung durch Opfergaben, ein wichtiger, seit alters her gepflegter Brauch. Der Tang-Dichter Du Mu schildert in einem Vierzeiler eine solche Szene:
Um Qingming fällt Nieselregen
auf die untröstlichen Reisenden entlang der Straße.
»Ach, wo ist die nächste Herberge?«
Der Hütejunge weist den Weg ins Aprikosenblütendorf.
Und bei Konfuzius heißt es: Wenn du am Grab der Verstorbenen opferst, werden sie so leibhaftig vor dir erscheinen, als wären sie lebendig.
Früher war das nicht immer leicht. Die Gräber lagen oft weit entfernt, und man musste lange Wege auf sich nehmen. Mit dem Boot oder dem Esel, beladen mit Opfergaben, konnte das an Regentagen ziemlich beschwerlich sein.
Im einundzwanzigsten Jahrhundert gibt es zu diesem Zweck spezielle Qingming-Busse. In einem solchen befand sich Chen Cao; der ehemalige Oberinspektor und Stellvertretende Parteisekretär des Shanghaier Polizeipräsidiums war auf dem Weg nach Suzhou. Mit steifem Kreuz saß er zwischen anderen Grabbesuchern, während der Bus über die verstopfte Autobahn kroch. Er betrachtete sein Spiegelbild in der schmutzigen Scheibe und dachte an die Zeilen von Du Mu. Draußen im Gewirr der Trauerweiden am Straßenrand schimmerten Regentropfen wie Tränen der Dankbarkeit.
Qingming war in letzter Zeit immer mehr zu einem landesweiten Feiertag geworden, was neue Probleme mit sich brachte, vor allem für die Shanghaier. Seit in Shanghai die Grundstückspreise ins Astronomische gestiegen waren, mussten sich die Leute nach Friedhöfen fernab der teuren Metropole umsehen. Auch das Feng-Shui eines Grabes musste berücksichtigt werden, und da bot sich Suzhou als beliebte, gut erreichbare Alternative an. Deshalb waren die Züge an Qingming schon weit im Voraus ausgebucht, und auf den Autobahnen bildeten sich lange Staus. Aus der einen Stunde Fahrzeit nach Suzhou konnten so leicht vier oder fünf werden.
Chen hatte beschlossen, erst einige Tage nach dem Fest hinzufahren, aber keine Lust gehabt, sich in die langen Schlangen vor den Fahrkartenschaltern am Shanghaier Bahnhof einzureihen. Und das wäre nur der Anfang gewesen. In Suzhou hätte er sich noch einmal für einen lokalen Bus oder ein Taxi anstellen müssen, um zum Friedhof zu kommen.
Diesmal nahm Chen einen der Sonderbusse, die morgens am Volksplatz abgingen, ihn direkt zum Friedhof brachten und am späten Nachmittag wieder zurückfuhren. Diese praktische und preiswerte Einrichtung wurde abschätzig »Friedhofsbus« genannt. Busfahren galt in diesen materialistischen Zeiten als schäbig. Die Neureichen fuhren in ihren Luxuskarossen zum Gräberputzen, manche sogar mit Chauffeur. Die Fahrgäste im Bus hingegen gehörten nicht zu den Wohlhabenden, sie konnten sich weder ein eigenes Auto noch ein teures Schnellzugticket leisten. Der Bus war entsprechend heruntergekommen, weder ansehnlich noch bequem. Die Sitze waren hart und aus Plastik, und Chen sah, dass der Boden schmutzig und die Scheiben zum Teil gesprungen waren. Zwei Nachzügler mussten mit einem Platz auf dem Boden vorliebnehmen.
Chen war schon einige Jahre nicht mehr beim Gräberputzen gewesen. Als Leiter der Sonderkommission des Shanghaier Polizeipräsidiums war er zu eingespannt gewesen, ein Fall jagte den anderen. Jetzt hatte sich durch seinen Stellenwechsel eine Lücke ergeben, die er zu nutzen gedachte. Er zog eine zerknitterte Zigarettenschachtel heraus, stopfte sie dann aber in seine Hosentasche zurück. Die Luft im Bus war schon schlecht genug, ein grauer Vorhang aus Rauch zwang ihn zum Blinzeln. Während er sich Luft zufächelte, fiel ihm eine ähnliche Busfahrt ein, die er vor vielen Jahren gemacht hatte. Damals war ihm dieses Beförderungsmittel nicht so unbequem erschienen, doch da war er auch noch nicht durch die Privilegien eines Parteikaders verwöhnt.
Der Friedhofsbus hatte noch einen anderen Nachteil. Solch ein Tagesausflug galt in der Regel nicht allein dem Gräberdienst. Nach dem morgendlichen Kotau auf dem Friedhof schlenderten die Leute über den Xuanmiao Tempelmarkt, tranken Tee, aßen eine Kleinigkeit, besuchten die Gärten und genossen zum Abendessen die typische Suzhouer Küche, bevor sie den Abendzug zurück nach Shanghai nahmen.
Mit dem Bus blieb dazu keine Zeit, aber Chen war auch nicht nach touristischen Attraktionen zumute. Er durfte sich nichts vormachen – er steckte in Schwierigkeiten.
Die Neuigkeit war ihm tags zuvor ohne Vorwarnung mitgeteilt worden: Chen würde von seinen Ämtern als Stellvertretender Parteisekretär und Oberinspektor des Shanghaier Polizeipräsidiums entbunden und künftig dem Shanghaier Komitee zur Rechtsreform vorstehen.
Diese Entscheidung wurde als schlichter Stellenwechsel hingestellt und sah für Außenstehende sogar nach einer Beförderung aus. Immerhin behielt er seinen Rang in der Parteihierarchie und würde künftig kein »Stellvertretend« mehr im Titel führen.
Doch das Wegloben aus einer einflussreichen Position war ein beliebter Schachzug in der chinesischen Politik. Als Direktor des Komitees würde er keine wirklichen Machtbefugnisse haben, dieses Gremium hatte bestenfalls dekorative Funktion und verfasste Berichte oder Eingaben für übergeordnete Stellen. Da die Interessen der Partei ohnehin Vorrang vor rechtsstaatlichen Erwägungen hatten und die Justiz alles andere als unabhängig war, ließ sich die Position im Dienste der »Rechtsreform« nicht mit der im aktiven Polizeidienst vergleichen.
Zu einer Zeit, in der die »Aufrechterhaltung der Stabilität« oberste politische Priorität hatte, konnte diese Berufung ihm und der Öffentlichkeit allenfalls als formelle Anerkennung gelten. Chen war als fähiger und aufrechter Polizeibeamter bekannt, und seine plötzliche Entlassung hätte unerwünschte Spekulationen provoziert.
Aber warum? Schon der Gedanke an diese Frage bereitete ihm Kopfzerbrechen.
Als Parteisekretär Li die Entscheidung bei einer Sitzung bekannt gab, erklärte er mit vor Rührung belegter Stimme: »Höhere Stellen haben befunden, dass der Genosse Chen Cao zu noch verantwortungsvolleren Aufgaben innerhalb der Partei ausersehen ist. Seine außerordentlichen Leistungen während der vergangenen Jahre können wir nicht hoch genug schätzen. Dem Oberinspektor eilt ein fast schon legendärer Ruf voraus, er war stets der Stolz unserer Abteilung. Ich schlage daher vor, dass er sein Büro hier vorerst behält. Kein Grund, überstürzt aufzubrechen. Hier im Präsidium hat er sein angestammtes Zuhause, und wir hoffen, dass er uns häufig besuchen kommt.«
Sogar Teng Shenguo aus dem Stab von Shanghais Erstem Parteisekretär Lai Xi rief persönlich bei Chen an und hob die Bedeutung der neuen Stelle hervor. »Meinen herzlichen Glückwunsch! Es ist eine mühevolle, aber wichtige Aufgabe, China in einen Rechtsstaat zu verwandeln. Diese Stelle erfordert Kenntnis und Erfahrung. Genosse Lai ist der Ansicht, dass nur Sie die dafür nötige Qualifikation mitbringen, Direktor Chen.«
Was die potentiellen Kandidaten innerhalb des Präsidiums betraf, hatte er damit vermutlich recht. Dennoch hörte es sich an wie ein Leitartikel aus dem Parteiorgan Volkszeitung, leere Phrasen, die niemanden überzeugten. Welche Bedeutung seine Versetzung auch immer haben mochte, ein Anlass zu Glückwünschen war sie nicht.
So befand sich Chen nun also in diesem schäbigen, überfüllten Bus Richtung Suzhou, ohne den Titel »Oberinspektor« vor seinem Namen, der zu ihm gehört hatte wie das Haus zur Schnecke.
Das ist nicht der richtige Augenblick für Selbstmitleid, ermahnte er sich und konnte doch eine böse Vorahnung nicht unterdrücken. Er hatte das Gefühl, noch nicht am Ende seiner Prüfungen angelangt zu sein.
Als »aufstrebender Kader« hatte er seine Verbindungen, die bis nach ganz oben in die Verbotene Stadt in Peking reichten. Dennoch war seine sogenannte Beförderung völlig unerwartet gekommen, schon das ein Hinweis auf den Ernst der Lage. Keiner seiner Verbündeten hatte versucht, ihm zu helfen oder ihn zu warnen. Selbst Genosse Zhao, der pensionierte Sekretär der Zentralen Parteidisziplinarbehörde, hatte sich bedeckt gehalten.
Dazu kamen ihm zwei Zeilen des Tang-Dichters Li Bai in den Sinn: Eine vorüberziehende Wolke verdunkelt die Sonne. / Mich ängstigt, dass Chang’an nicht zu sehen ist.
Chang’an war Hauptstadt der Tang-Dynastie gewesen. Und der gefeierte Dichter Li Bai war während der An-Lushan-Rebellion, die den Niedergang des mächtigen Tang-Reiches einläutete, selbst in politische Schwierigkeiten geraten.
Chen seinerseits konnte keinen konkreten Grund für seine missliche Lage ausmachen. Als Oberinspektor war er, vorsätzlich oder nicht, vielen einflussreichen Leuten auf die Füße getreten, von denen einige sicher nur auf den Moment der Abrechnung warteten. Jetzt sprangen sie ihn aus dem Hinterhalt an, um seiner Karriere ein vorzeitiges Ende zu bereiten. Er war als Liberaler verschrien, als jemand, der es wegen seiner wachsenden Enttäuschung über die jüngste chinesische Politik an Loyalität gegenüber der Partei fehlen ließ. Chen hätte sich zwar nicht als direkte Gefahr für seine Vorgesetzten eingestuft, dennoch war eine gewisse Dringlichkeit, ihn kaltzustellen, nicht zu übersehen.
Für das Jahresende war ein landesweiter Parteitag anberaumt, und im Vorfeld schien es Tendenzen zu geben, die der Agenda der Partei zuwiderliefen. Vielleicht hatten die Ermittlungen des Oberinspektors jemanden an der Spitze in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht. Doch an den Fällen, die er in letzter Zeit im Rahmen der Sonderkommission bearbeitet hatte, war ihm nichts Ungewöhnliches aufgefallen.
Der Friedhofsbus war jedoch nicht der richtige Ort für solche Spekulationen. Ein plötzlich aufsteigender Gestank nach gesalzenem Fisch lenkte ihn von seinen Überlegungen ab. Auf der gegenüberliegenden Seite des Gangs bemerkte er einen abgedeckten Bambuskorb zu Füßen einer alten Frau. Sie mochte Ende sechzig oder Anfang siebzig sein und hatte ein blasses, von tiefen Falten durchzogenes Gesicht und ein Muttermal am Kinn.
Als sie Chens Blick bemerkte, sagte sie mit entschuldigendem Grinsen: »Mein verstorbener Mann mochte Salzfisch. Ich habe ihm extra welchen bei den Drei Sonnen gekauft, seinem Lieblingsladen. Er war furchtbar teuer, trotzdem schmeckt er nicht annähernd so gut wie früher.«
Salzfisch galt als typische Opfergabe zu Qingming. Man versuchte nach Möglichkeit, die Verstorbenen mit ihren Leibspeisen zu verwöhnen. Beschämt bemerkte Chen, dass er mit leeren Händen gekommen war.
»Ist ja auch kein Wunder«, mischte sich ein älterer Mann aus der hinteren Reihe ein. »Wissen Sie, wie man solche Fische heutzutage konserviert? Indem man sie mit DDT besprüht. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie eine Fliege, die auf einem dieser Salzfische landete, innerhalb von Sekunden starb. Offensichtlich vergiftet. Ungelogen, ich übertreibe nicht.«
»Ach du liebe Güte«, klagte die Frau. »Jetzt kann ich meinem armen Mann nicht mal mehr ungiftigen Fisch anbieten.«
»Heben Sie sich Ihr Gejammer für den Friedhof auf. In einer Stunde können Sie an seinem Grabstein so laut heulen wie sie wollen«, mischte sich ein anderer ein.
Chen wusste nicht, was er ihr zum Trost sagen konnte. Er wandte sich ab, schob das Fenster herunter und wollte gerade wieder zu seinen Zigaretten greifen, als sich hinter ihm eine weitere Stimme zu Wort meldete.
»In diesem Bus gibt es keine vornehmen Pinsel, also führen Sie sich nicht wie einer auf. Warum fahren Sie mit diesem stinkenden Bus, wenn Sie so vornehm sind?«
»Wir sind alle arm. Also, was soll’s. Ins Grab kann keiner was mitnehmen.«
»Aber in einem Grab am Acht-Schätze-Hügel in Peking liegt sich’s bedeutend besser. Unvergleichliches Feng-Shui! Kein Wunder, dass die Söhne und Töchter dieser Leute heutzutage deren einflussreiche Positionen erben.«
Ein Streit schien sich anzubahnen. Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich schürte Unzufriedenheit und machte die Menschen leicht erregbar. Die Passagiere im Bus waren die Verlierer dieser Gesellschaft. Der von der Partei so lange propagierte Mythos von der maoistischen Gleichheit war zu einem verlorenen Traum verblasst.
Chens Handy klingelte. Es war der Dürre Wang, der altgediente Fahrer des Präsidiums.
»Wo sind Sie, Chef? Es ist so laut im Hintergrund.«
»In einem Friedhofsbus nach Suzhou. Wegen Qingming.«
»Warum haben Sie mir denn nicht Bescheid gesagt?«
»Wieso sollte ich?«
»Ich bin Ihr Fahrer. Warum haben Sie den Bus genommen?«
»Ich arbeite nicht länger für das Präsidium.«
Oberinspektor oder nicht, Chen hätte auch weiterhin Anspruch auf einen Wagen mit Chauffeur gehabt. Schließlich hatte er sein Büro noch nicht geräumt. Er hielt es jedoch für unpassend, den Dienstwagen für einen privaten Ausflug zu beanspruchen.
»Sie sind der einzige Polizeibeamte, der mich auf meinen Job stolz sein lässt, Chef.«
»Sagen Sie so was nicht.«
»Dann lassen Sie mich eine wahre Geschichte erzählen: Vergangenen Monat hatten wir Klassentreffen. Bei solchen Anlässen reden die Leute über ihre Arbeit und ihre Einkünfte. In meiner Generation, die in der Kulturrevolution zehn kostbare Jahre verloren hat, schätzt man sich schon glücklich, wenn man eine sichere Stelle hat. Dennoch ist ein Job als Fahrer – noch dazu im Polizeidienst – nichts, womit man angeben könnte. Als ich aber sagte: ›Ich fahre für Oberinspektor Chen‹, da sind einige aufgestanden und haben mich beglückwünscht. Warum? Wegen Ihnen. Sie hatten von Ihnen gehört oder gelesen. Dass Sie ein fähiger und aufrechter Polizist sind. Heutzutage leider eine aussterbende Spezies.
Und dann hat Xiahou, der inzwischen Multimillionär ist, mir zugeprostet: ›Auf deinen ganz besonderen Arbeitsplatz.‹ Als ich ihn verwirrt ansah, erklärte er: ›Du hast Oberinspektor Chen erwähnt. Sicher hast du davon gehört, dass die Arbeiter jetzt wieder voller Inbrunst die alten roten Lieder singen. Ich wäre beinahe im Knast gelandet, weil ich das in meiner Firma untersagt habe. Aber Chen hat sich für mich eingesetzt. Dabei kannte er mich gar nicht. Er hat wie ein aufrechter Polizist gehandelt. Er ist ein qingguan – ein unbestechlicher Beamter, so wie Richter Bao und Richter Di es waren.‹«
»Qingguan«, murmelte Chen. Solche Beamte gab es inzwischen kaum noch. Sie waren nicht systemkonform, sondern Außenseiter, und entsprechend häufig gerieten sie in Schwierigkeiten. Das war vermutlich auch der Grund, warum der Dürre Wang ihm diese Geschichte gerade jetzt erzählte. Chen konnte sich an einen Geschäftsmann namens Xiahou nicht erinnern.
»Jedenfalls sind Sie mein Oberinspektor«, fuhr der Dürre Wang fort. »Ich finde nichts Anstößiges daran, Sie weiterhin zu fahren.«
»Aber Gräberdienst ist eine persönliche Angelegenheit. Ich möchte den Dienstwagen nicht für private Fahrten nutzen, auch wenn ich weiterhin ein Büro im Präsidium habe.«
»Wie Sie meinen. Dann fahre ich Sie nächstes Mal eben mit meinem eigenen Wagen, aber Sie müssen mir Bescheid geben.«
»Das werde ich. Vielen Dank, Dürrer Wang.«
Er steckte das Handy ein und wandte sich der vorbeiziehenden Landschaft zu. Dann kam im Bus erneut Unruhe auf. Aus den Lautsprechern dröhnte: Ohne die Kommunistische Partei kein neues China.
Oh, die Kommunistische Partei, sie arbeitet so hart für unsere Nation. Von ganzem Herzen bemüht, das Land zu retten, weist sie dem Volk den Weg in die Befreiung. Sie führt China in eine strahlende Zukunft …
Es war eines der alten Revolutionslieder zum Lob der Partei, hier allerdings in einer modernisierten Version mit jazzigen Rhythmen, seltsam vertraut und doch fremd. Die Botschaft war jedoch unmissverständlich. Nur die Partei kann China regieren, alles, was sie tut, ist gut und richtig.
Bei Chen riefen solche Lieder Erinnerungen an die Kulturrevolution wach, an jenen Morgen, als sein Vater mit einer Tafel um den Hals am Pranger stand und wie ein kaputtes Grammophon immer wieder sich selbst beschuldigte. Die Roten Garden hatten Parolen gebrüllt und dieses Lied gesungen, während sie Bücher ins Feuer warfen. Danach war es, wie die anderen roten Lieder, in Vergessenheit geraten. Und heute feierten sie fröhliche Urstände.
»Stell das ab!«, rief einer der Mitreisenden dem Fahrer zu. »Mao ist tot und verfault in seinem Sarg. Solche Lieder gehören auf den Friedhof.«
»Sag nichts gegen Mao, du erbärmlicher Verlierer«, mischte sich ein anderer ein und starrte wütend über die Schulter zurück. »Habt ihr den Film Hibiskusdorf gesehen?«
»Ja, und?«
»Die Kulturrevolution wird sich wiederholen.«
»Ach was. Das war doch nur das wirre Gerede eines Wahnsinnigen am Ende des Films. Mir scheint, bei dir geht’s auch schon los.«
»Nur kein Streit«, meldete sich der Fahrer zu Wort. »Wir spielen diese Lieder auf Anweisung von Parteisekretär Lai.«
Dräute tatsächlich eine neue Kulturrevolution am Horizont? Chen dachte über diese Frage nach. Das Revival der alten Revolutionslieder war Lai, dem Ersten Parteisekretär Shanghais, zu verdanken. Er war ein Neuling in der Stadt, hatte sich aber durch eine Reihe von politischen Bewegungen erstaunlich rasch etabliert. Als sogenannter Prinzling, der Sohn eines hohen Parteikaders, besaß er den nötigen Einfluss und ein Gespür für die wechselnden politischen Wetterlagen. Er galt als führender Kopf der Linken, Shanghai war für ihn nur eine Zwischenstation auf dem Weg an die Spitze der Macht. Sein Kurs knüpfte an die vermeintlich guten alten Zeiten unter Mao an und gefiel vor allem jenen, die im modernen China den Kürzeren zogen. Chen hielt davon nichts. Trotz dieser nostalgischen Lieder befand China sich weiterhin in einer Phase dramatischer Veränderung.
Ein grauhaariger Alter ein paar Reihen weiter vorne nickte versunken zu der vertrauten Melodie. Er musste das Lied in seiner Jugend unzählige Male gehört haben und dachte über den Text längst nicht mehr nach.
Vielleicht schlief er auch, und sein Kopf wackelte im Rhythmus der Schlaglöcher. Andere aber summten mit und klopften dazu mit dem Fuß den Takt; die Beschallung schien sie jedenfalls nicht zu stören.
Der abrupte Halt des Busses entfachte eine neue Auseinandersetzung.
»Diese elende Schaukelei«, schimpfte ein anderer Mitreisender. »Das ist zu viel für meine alten Knochen.«
»Wer’s komfortabel will, muss den Hochgeschwindigkeitszug nehmen«, wies ihn der Fahrer zurecht.
»Sie haben leicht reden. Wie soll sich ein Rentner den Zug leisten können?«, jammerte der Alte. »Warum müssen wir armen Leute so etwas erdulden? Unter Mao hätte es das nicht gegeben.«
»Dein Hirn wird wohl langsam weich, Tattergreis. Mao hatte einen eigenen Sonderzug voll bildhübscher Bedienungen, die ihm jeden Wunsch erfüllt haben. Stell dir mal vor, was da abging! In einer Dokumentation habe ich gesehen, dass eine von ihnen seine Privatsekretärin wurde und später ein einflussreiches Mitglied im Politbüro.«
»Lasst Mao in Ruhe.«
»Unter Mao durften wir zu Qingming keinen Gräberdienst verrichten. Das galt als Aberglaube und war verboten.«
Chen hörte sich den Schlagabtausch an, mischte sich aber nicht ein. Wieder klingelte sein Handy. Diesmal war es Inspektor Yu, sein langjähriger Partner im Präsidium. Nach Chens Weggang würde er die Leitung der Sonderkommission übernehmen. Damit war auch eine Beförderung zum Inspektor verbunden. Diese Nachfolge war eine Beruhigung für Chen, er vertraute Yu. Dennoch versuchte er, nicht zu viel in die Beförderung seines Freundes hineinzuinterpretieren. Womöglich war auch sie nur Teil dieser Schmierenkomödie.
»Chef …«
»Ich sitze in einem Friedhofsbus, daher die Hintergrundgeräusche und roten Lieder. Ich kann jetzt nicht reden.« Dann fügte er noch hinzu: »Außerdem bin ich nicht mehr dein Chef.«
»Ich muss mit dir über die Fälle sprechen, die wir kurz vor deiner Versetzung übernommen haben.«
»Du leitest jetzt die Abteilung, Yu. Du musst nicht mehr Rücksprache mit mir halten.«
»Aber deine Meinung ist dem Präsidium wichtig. Vor allem bei den Ermittlungen, an denen du noch beteiligt warst.«
Er glaubte zu wissen, warum Yu ihn anrief. Es war eine Solidaritätsbekundung. Doch genau aus diesem Grund wollte er den Kollegen bremsen. Sein Handy wurde womöglich abgehört.
»Heute Abend, wenn ich aus Suzhou zurück bin, rufe ich dich an.«
Yus Bemerkung war interessant. Vielleicht stand Chens plötzliche Versetzung ja in Zusammenhang mit seinen Ermittlungen für die Sonderkommission. Allen diesen Fällen war gemeinsam, dass sie als politisch sensibel eingestuft wurden. Chens Aufgabe war die Schadensbegrenzung im Sinne der Partei gewesen. Aber offenbar hatte er seine Rolle als Polizist zu ernst genommen. Und genau deswegen hatte er jetzt ein Problem.
Dennoch wollte ihm die Verbindung zu den alten Fällen, insbesondere jenem, den er noch am Tag vor seiner Entlassung übernommen hatte, nicht einleuchten. Dabei ging es um einen toten Tiger – einen öffentlich in Ungnade gefallenen Geschäftsmann, der nicht mehr zurückschlagen konnte. Eigentlich eine Formalität, die nur wegen des hohen Bekanntheitsgrads der Beteiligten auf seinem Schreibtisch gelandet war. Chen hatte in der Sache noch nichts unternommen und hatte auch nicht vor, es zu tun. Die Akte lag ungelesen auf seinem Bürorechner. Andere Unterlagen hatte er auf seinem Laptop, konnte sie also auch außerhalb des Büros durchsehen. Vorerst würde er seinen Kollegen Yu nicht kontaktieren.
Der Bus hielt abrupt an. Der Fahrer hatte am Straßenrand Leute erspäht, die mit ihren Opfergaben auf dem Weg zum Friedhof waren. Er fuhr rechts ran und ließ sie einsteigen, nicht ohne jedem von ihnen zehn Yuan abzuknöpfen. Der Bus gehörte ihm, und er musste bei jeder Fahrt so viel Geld wie möglich verdienen.
Dann fuhr der Bus wieder an und bog in eine nagelneue Schnellstraße ein. Chen konnte sich nicht erinnern, je auf ihr gefahren zu sein, doch die Hochhäuser zu beiden Seiten, eintönige graue Streichholzschachteln aus Beton, wirkten sonderbar vertraut.
Nach mehrmaligem Abbiegen ging es weiter durch enge Straßen, die von baufälligen alten Bauernhäusern gesäumt waren. Doch auch hier standen bereits vereinzelt Villen, ganz so, wie man es auch von den Vororten Shanghais kannte.
2
Der Bus zurück nach Shanghai geht um 12:30 Uhr«, verkündete der Fahrer. »Es gibt auch noch einen späteren, aber es ist ungewiss, wann der fährt. Also verpassen Sie besser nicht den um 12:30 Uhr.«
Chen sah auf seine Armbanduhr. Jetzt war es halb zehn. Er hatte drei Stunden Zeit. Kein Grund zur Eile. Er folgte den anderen zum Friedhofseingang. Obwohl Qingming bereits vorbei war, herrschte reger Betrieb.
Chen war mehrere Jahre nicht mehr hier gewesen, der Friedhof hatte sich verändert. Das Schild am Eingang war frisch lackiert, und ein neuer Torbogen, der an einen alten Palast erinnerte, war errichtet worden. Zusammen mit den grünen Hügeln, die sich bis zum Horizont erstreckten, verlieh er der Szenerie etwas Majestätisches. Zu seiner Linken sah er in einem roten Pavillon zwei Räucherfässer aus Bronzeimitat stehen, darüber ein Schild, das Instruktionen zum Verbrennen von Totengeld gab – auch dies eine der »allmählichen Verbesserungen«, von denen in der Volkszeitung ständig zu lesen war. Früher hatten die Leute ihr Totengeld vor den Gräbern verbrannt, wodurch es immer wieder zu Waldbränden gekommen war.
Chen hatte keine Opfergaben mitgebracht und fühlte erneut den Anflug eines schlechten Gewissens, als er die anderen mit riesigen roten Umschlägen und braunen Tragetaschen auf die Räucherfässer zusteuern sah.
Am Tor standen Wachleute, ernst und bewegungslos wie antike Statuen. Vielleicht gaben sie acht, dass die Leute kein Totengeld zu den Gräbern mitnahmen. Doch Chen vermutete eher, dass sie in diesen materialistischen Zeiten dazu dienten, den Friedhof aufzuwerten.
Rechts vom Eingang wurden an einem Stand winzige Dosen mit roter und schwarzer Farbe angeboten, auch ausgefranste Pinsel konnte man dort mieten. Er nahm sich eine Pappschachtel mit zwei Farbdosen und einem nahezu borstenlosen Pinsel.
Nebenan saß eine weißhaarige Alte über einen Tisch mit Bündeln von Totengeld gebeugt – Millionen und Abermillionen in der Währung des Jenseits. Hier war mehr Reichtum versammelt als in den größten Banken dieser Welt, und alles in bar. Sie saß da, hatte sich rote Ärmelschoner mit weißen Punkten übergestreift und zählte in einem fort, mit heiligem Ernst. Ein Rabe flog krächzend auf. Sie sah ihm nach, den Blick auf Dinge gerichtet, die andere nicht sahen. Ihre Ellenbogen wetzten beim Zählen über die Tischkante, hinter ihr schienen die Schatten und Erinnerungen wie Geister zu lauern.
Er beschloss, nichts bei ihr zu kaufen. Sein verstorbener Vater, ein neokonfuzianischer Gelehrter, hätte diesen vordergründigen Symbolismus verachtet.
Mit einem Plan des Friedhofs in der Hand erklomm er in mehreren Spitzkehren den Hügel. Grab türmte sich über Grab bis hinauf zum Gipfel, auch das eine Form der Überbevölkerung.
Er brauchte mehr als zehn Minuten, bis er das Grab seines Vaters gefunden hatte. Voller Staub, von Unkraut überwuchert und mit abblätternder Farbe machte es einen einsamen, vernachlässigten Eindruck. Hier war lange nichts getan worden. Chen hockte sich hin, holte einen kleinen Besen aus seinem Rucksack und begann mit dem Gräberputz. Er fegte den Grabstein und riss das Unkraut aus, eine Pflicht, der er längst hätte nachkommen müssen und die ihm den Schweiß auf die Stirn trieb. Er spürte seine Knie.
Als er fertig war, holte er Räucherstäbchen aus dem Rucksack, zündete ein Bündel an und steckte es in eine mit Unkraut bewachsene Mulde. Dann verneigte er sich dreimal. Während der Weihrauch in duftenden Spiralen verbrannte, tauchte er den Pinsel in die Dose mit der roten Farbe und zog die Schriftzeichen für den Namen seines Vaters auf dem Grabstein nach. Dasselbe tat er mit dem Namen seiner Mutter, diesmal jedoch mit schwarzer Farbe, um deutlich zu machen, dass sie noch lebte. Die Logik der Farben, und was sie im Jenseits bedeuteten, verwirrte ihn.
Als er damit fertig war und sich umsah, bemerkte er markante Unterschiede zwischen den alten und einigen neuen Gräbern. Die neuen waren größer, hatten teure, imposante Steine und schienen auch besser gepflegt zu werden; das Gras war geschnitten, die Büsche waren frisch gestutzt.
Galten die materialistischen Werte des neuen China nun auch schon unter den Verstorbenen? Das Grab seines Vaters war kurz nach der Kulturrevolution errichtet worden. Damals hatte es ganz gut ausgesehen, jetzt nicht mehr. Die Räucherstäbchen waren niedergebrannt und hatten ein kleines Häuflein Asche zurückgelassen. Chen überlegte, ob er ein weiteres Bündel anzünden sollte, auf dass sein Vater dem in Schwierigkeiten geratenen Sohn zu Hilfe käme.
Doch stattdessen holte er die Kamera heraus und machte ein paar Bilder, wie er es seiner Mutter versprochen hatte. Zögernd sah er sich um, denn er wollte vermeiden, dass eines dieser Luxusgräber im Hintergrund sichtbar wäre. Er machte ein paar Nahaufnahmen des Grabsteins mit den frisch nachgezogenen Namen.
Schließlich zündete er sich eine Zigarette an und blieb noch eine Weile stehen, während der Wind in den Kiefern rauschte. Ihm fiel etwas ein, an das er bei seinem letzten Besuch hier gedacht hatte – es hatte mit Politik zu tun und mit den Farben Rot und Schwarz im politischen Diskurs Chinas. Sie waren wie Bälle in den Händen eines Jongleurs. Derzeit gewannen die roten Lieder aus der Kulturrevolution wieder an Popularität.
Im Geiste rekonstruierte er, was er über das Leben seines Vaters wusste. Als Gelehrter und Anhänger des Neokonfuzianismus hatte er gegen Ende seines Lebens sehr zu leiden gehabt. Seine Überzeugungen hatten ihn während der Kulturrevolution zur Zielscheibe der Kritik gemacht. Viele Jahre später berief sich die Partei nun selbst wieder auf Konfuzius. Er wurde als der größte Weise der chinesischen Zivilisation dargestellt, der die geistigen Fundamente für die heutige »harmonische Gesellschaft« gelegt hatte. Es gab sogar einen neuen Film über den Philosophen, in einer reißerischen Szene wird er darin von einer zwielichtigen Schönheit verführt. Ironischerweise hatte ein junger Politologe in einem Fernsehvortrag die konfuzianischen Ideale mit dem »neuen Sozialismus chinesischer Prägung« in Verbindung gebracht und dabei lange Passagen aus den Werken von Chens Vater zitiert, die völlig aus dem Kontext gerissen waren.
Zudem war vor nicht allzu langer Zeit auf dem Platz des Himmlischen Friedens eine Konfuzius-Statue aufgetaucht, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Mao, dessen Porträt am Tor des Himmlischen Friedens hängt.
Aber ein allgemein anerkanntes Wertesystem war nicht etwas, das man nach Belieben aufstellen und entfernen konnte wie eine Statue. Die Rückkehr von Konfuzius in die öffentliche Sphäre war so manchem Maoisten ein Dorn im Auge. Deshalb verschwand das Standbild ebenso rasch, wie es gekommen war; nach nur einer Woche wurde es wieder abgebaut. Chen schauderte es bei dem Gedanken an den Machtkampf, der sich an der Spitze zugetragen haben musste.
Abgesehen von der Politik hatte Chen seinen Vater bitter enttäuscht. Diese Erkenntnis kam ihm, als er in der gespenstischen Stille des Friedhofs an dessen Grab stand. Chen hatte versucht, seine Berufswahl vor dem Geist des verstorbenen Vaters zu rechtfertigen, dieser hatte immer eine akademische Laufbahn für seinen Sohn vorgesehen. Zu seiner Verteidigung konnte Chen sich immerhin auf eine alte Tradition berufen, die es Intellektuellen nahelegte, sich in den Dienst des Staates zu stellen. Eine solche Position erforderte jedoch bedingungslose Loyalität gegenüber dem Kaiser, der seinerseits mit dem Mandat des Himmels ausgestattet war. Gemäß der Lehre des Konfuzius kann der Herrscher alles von seinem Untertan verlangen, sogar dessen Leben. Jahrelang hatte Chen solche Gedanken verdrängt und seine Kompromisse mit der Überzeugung gerechtfertigt, dass er seinem Land einen Dienst erwies. Auch das war nicht einfach für ihn gewesen.
Inzwischen wusste Chen nicht mehr, was richtig und was falsch war, zumindest nicht an diesem Morgen. Um in der heutigen Gesellschaft etwas ausrichten zu können, müsste er seine Position als Oberinspektor behalten. Seine Dienstzeit war ein einziger Eiertanz gewesen, immer in dem Bewusstsein, dass in Chinas Einparteiensystem die Interessen der Partei Vorrang hatten. Alles, was er erreichen konnte, musste zwangsläufig auch zum Nutzen der Partei sein. Nur auf diese Weise hatte er bislang im System überlebt.
Doch nachdem er die Stellung im Präsidium verloren hatte, war sein Überleben nicht länger gewährleistet. Die Wasser der Politik waren zu tief für ihn. Der Ausflug nach Suzhou war auch der Erkenntnis der eigenen Machtlosigkeit geschuldet, eine kurze Verschnaufpause, bevor er den Tatsachen ins Auge sehen musste.
Wie aus dem Nichts kam ein schwarzer Vogel angeflogen, er schien sich auf dem Grabstein niederlassen zu wollen, doch dann zog er nur einige Kreise und flog davon. Chen schauderte erneut und fühlte sich an ein Gedicht von Cao Cao erinnert:
Der Mond scheint hell, Sterne sind kaum zu sehen.
Der schwarze Vogel umkreist dreimal den Baum,
findet aber keinen Ast, sich niederzulassen …
Er kannte das Gedicht von seinem Vater, der ihm von Cao Cao, dem ehrgeizigen Minister während der Zeit der Drei Reiche, erzählt hatte. Auch Cao Cao hatte eigentlich Gelehrter werden wollen und war dann in die Politik gegangen. Immerhin war er ein erfolgreicher Politiker geworden.
Was würde sein Vater ihm jetzt wohl raten?
In seiner Verunsicherung kamen ihm konfuzianistische Zitate in den Sinn, vermischt mit väterlichen Ermahnungen: Trotz seiner Armut ist Yan Hui glücklich, auch wenn andere in seiner Lage unzufrieden wären … Mit vierzig hat man keine Zweifel mehr … Ein Mann soll unablässig danach trachten, sich selbst und seine Umgebung zu verbessern … Und dann vernahm er die Stimme seines Vaters: »Das Mindeste ist, dass du dich um dich selbst kümmerst …«
Doch Spekulationen waren nutzlos. Er konnte genauso gut etwas Sinnvolles tun. Zum Beispiel, das Grab seines Vaters in Ordnung bringen.
Es sah einfach schäbig aus. Vielleicht sollte er, wie er es bei anderen Gräbern gesehen hatte, ein Bild seines Vaters in den Grabstein einfügen lassen.
Schließlich wandte er sich zum Gehen. Er sammelte die Farbdosen und den Pinsel auf, dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Bis zur Abfahrt des Busses blieb ihm noch etwas Zeit, und er beschloss, die Friedhofsverwaltung aufzusuchen. Eigentlich waren die Friedhofsgebühren für die nächsten Jahre bereits bezahlt, aber es würde nicht schaden, sich dessen noch einmal zu vergewissern. Er machte sich auf den Weg zu dem Büro am Fuß des Hügels.
Als er eintrat, fiel sein Blick auf mehrere Schalter, an denen man seine Gebühren entrichten konnte. An der Wand gegenüber gab es eine Reihe von Stühlen, wo bereits weitere Kunden warteten. Im Anschluss an die Stuhlreihe, in einem extra gekennzeichneten VIP-Bereich, standen zwei oder drei bequeme Sofas. Vermutlich waren sie jenen vorbehalten, die luxuriöse neue Gräber auf dem Hügel gepachtet hatten. Hinter einem Paravent, der Diskretion garantierte, saß ein älterer Mann in tadelloser Mao-Jacke an einem Tisch. Kerzengerade und mit einem Lächeln im Gesicht blätterte er in einer Kladde.
Chen ging hinüber, er wollte zwei Fragen an den Herrn richten. Zunächst musste er klären, ob die jährliche Gebühr bereits beglichen war. Bei der derzeitigen Inflation wäre es durchaus möglich, dass er mit seinen Zahlungen ins Hintertreffen geraten war, ohne es zu merken. Außerdem müsste etwas für die Instandhaltung der Grabstelle getan werden.
Der Alte erhob sich, bot Chen einen Stuhl an und stellte sich als Manager Hong vor. Eilfertig zeigte er Chen die Liste mit den neuen Tarifen.
»Gütiger Himmel. Mehr als tausend Yuan pro Jahr!« Chen starrte ungläubig auf die Zahlen.
»Sie kennen doch sicher die Redewendung zu arm zum Leben, zu arm zum Sterben«, erwiderte Hong. »Die Pacht steigt wie ein Drache mit gerissener Schnur. Bei den derzeitigen Immobilienpreisen kommt der Quadratmeter auf fünfzigtausend Yuan, und das für nur siebzig Jahre. Und wie viel verdienen Sie im Jahr, mein Herr? Weniger als das, möchte ich wetten. Also bekommen Sie für Ihr Jahreseinkommen gerade mal einen Quadratmeter oder weniger – über der Erde wohlgemerkt. Dasselbe gilt für den Raum unter der Erde. Da können wir Ihnen allerdings ein günstiges Pauschalangebot mit Ewigkeitsgarantie machen – den Für-immer-Tarif.«
»Ich bin verwirrt, Manager Hong. Was meinen Sie mit Für-immer-Tarif?«
»Wie gesagt, eine einmalige Zahlung, die alles abdeckt. Es fallen keine jährlichen Kosten mehr an, kein Kopfzerbrechen mehr über die Inflation.«
Hong schlug die Seite mit dem Für-immer-Tarif auf, bevor er fortfuhr: »Ich will Ihnen mal was sagen. Warum, glauben Sie, wird bei uns Wohneigentum nur für siebzig Jahre verkauft – oder besser gesagt verpachtet? Weil die Kader durch Immobiliengeschäfte zwar genug Reichtum für sich und ihre Kinder angehäuft haben, sich aber Sorgen um ihre Enkel machen. Auf diese Weise können die Enkel den Wohnraum noch einmal verkaufen, sobald die siebzig Jahre um sind.«
»Aber wie können sie so sicher sein, dass auch ihre Enkel Parteikader sein werden?«
»Bei den Prinzlingen, den Kindern der heutigen Kader, funktioniert es doch auch«, erklärte Hong. »Sie kommen aus Shanghai. Da haben Sie sicher schon von Parteisekretär Lai gehört. Sein Vater war einer der acht mächtigsten Männer in der Verbotenen Stadt, und Lais eigener Sohn, Xixi, der im Ausland studiert, wird zu wichtigen Sitzungen regelmäßig eingeflogen – so als wäre er bereits ein hoher Staatsbeamter.«
»Wer kann schon wissen, wie es in China in siebzig Jahren zugehen wird?«
»Genau. Hätten Sie vor zwanzig Jahren den Für-immer-Tarif bezahlt, hätte Sie das nur etwa zweitausend Yuan gekostet.«
»Heute ist es um einiges teurer«, bemerkte Chen und deutete auf die Preisliste, obwohl für ihn auch diese Summe nicht unerschwinglich war. »Aber da ist noch etwas anderes, das ich mit Ihnen besprechen will, Manager Hong. Das Grab meines Vaters ist in schlechtem Zustand.«
»Auch das ist eine lange Geschichte«, entgegnete Manager Hong, entfaltete einen weißen Papierfächer und fing an, sich mit der Dramatik eines Suzhou-Opernsängers Luft zuzuwedeln. »Dieses Grab wurde vor vielen Jahren errichtet, und die damals festgesetzte Summe für die Erhaltung entspricht längst nicht mehr dem heutigen Standard. Bei den neueren Gräbern ist das anders. Haben Sie eine Ahnung, was man da hinblättern muss?«
»Sie meinen, was die Neureichen heutzutage für ihre Protzgräber zahlen?«
»Wenn Sie es so formulieren wollen. Den hiesigen Bauern ist natürlich nicht entgangen, was solche Leute verdienen. Kann man es ihnen da verdenken, dass sie ihr Land so teuer wie möglich verkaufen?«
»Durchaus nicht«, räumte Chen ein. »Aber zurück zu meiner Frage: Was für ein Angebot könnten Sie mir machen, wenn ich das Grab meines Vaters wieder herrichten lasse und gleichzeitig den Für-immer-Tarif nehme? Es soll nicht aussehen wie diese Protzgräber, ich hatte eher an etwas Bescheidenes gedacht, vielleicht mit einem eingelassenen Foto meines Vaters.«
»Was für ein pietätvoller Sohn Sie doch sind!«
»Sagen Sie das nicht, Manager Hong. Das Problem ist, dass ich keine Zeit habe, regelmäßig herzukommen.«
»Nun, Sie müssten sich zunächst für ein Design entscheiden.« Hong holte eine größere Broschüre hervor, in der verschiedene Ausführungen mit den entsprechenden Preisen und Einzelheiten verzeichnet waren. »Der Preis hängt von Stil und Material ab. Da gibt es viele Varianten.«
Während Chen in der Broschüre blätterte, rechnete er rasch die Kosten durch. Er konzentrierte sich auf angemessene, aber nicht zu teure Varianten. Schließlich deutete er zögerlich auf eine der Seiten.
»Wenn Sie sich dafür entscheiden, kostet Sie das grob geschätzt … na, sagen wir sechzigtausend Yuan. Das ist die Hälfte des regulären Preises.«
»Aber immer noch zu teuer für mich«, erwiderte Chen, obwohl er Feilschen hasste. »Mein Vater war ein neokonfuzianischer Gelehrter. Für diesen Betrag könnte ich alle seine Werke veröffentlichen lassen.«
»Ich weiß, Sie scheuen keine Kosten für Ihren Vater.« Hong tippte erneut auf seinem Taschenrechner herum, dann notierte er ein paar Zahlen und addierte sie zu einem günstigeren Preis. »Wie wäre es damit?«
Chen wurde langsam unwohl, hier saß er und schacherte um das Grab seines Vaters wie auf dem Fischmarkt. In der Umgebung gab es noch weitere höherpreisige Friedhöfe. Dieser war schon vor Jahren angelegt worden, was die relativ günstigen Preise erklärte. Dennoch hatte er keine Garantie, dass die Renovierung des Grabes auch sorgfältig und fachgerecht durchgeführt würde.
Deshalb zog er vorsichtshalber eine Visitenkarte hervor, auf der in Goldprägung sein neuer Titel stand: Direktor des Shanghaier Komitees zur Rechtsreform. Die Karten waren ihm am gestrigen Abend zugestellt worden, nun spielte er sie wie einen Trumpf aus, um den Preis weiter zu drücken. Für den Manager spielte es keine Rolle, ob Chen ein pietätvoller Sohn war oder nicht, aber dass er ein hochrangiger Beamter war, änderte die Sache. Chen war allerdings nicht ganz wohl dabei, dass er seine neue Visitenkarte erstmals im Friedhofsbüro benutzte. Das schien ihm kein gutes Omen zu sein.
»Ein höchst pietätvoller Sohn, ich muss schon sagen«, wiederholte der Manager mit lauter Stimme, während er die Karte betrachtete. »Da fehlen mir die Worte. Glauben Sie mir, ich habe hier schon vieles gesehen, aber Sie sind anders. Jemand wie Sie besitzt den Segen des Buddha.«
»Sagen Sie das nicht, Manager Hong. Und was ist, wenn ich sofort zahle? Gibt es dann einen zusätzlichen Rabatt?«
»Wenn Sie die ganze Summe auf einmal bezahlen, kann ich Ihnen weitere zehn Prozent nachlassen«, sagte Hong eilfertig. »Sowohl die Renovierung des Grabes als auch die Grabpflege werden zu Ihrer Zufriedenheit ausgeführt werden.«
Chen nickte. Er war nicht wirklich wohlhabend, aber auf diese Weise würde er seine Mutter beruhigen können – zumindest in dieser Hinsicht. Wer konnte schon sagen, wie lange er die Position, die auf seiner Visitenkarte stand, innehaben würde. Womöglich konnte er sich die jährlichen Friedhofsgebühren schon bald nicht mehr leisten.
»Sehr gut. Könnten Sie mir von dieser Seite des Prospekts eine Kopie machen, damit ich sie meiner Mutter in Shanghai zeigen kann?«
»Natürlich. Wann sollen die Arbeiten denn durchgeführt werden?«
»Zufällig habe ich gerade eine Woche frei. Es wäre mir recht, wenn wir möglichst bald anfangen könnten.«
»Das lässt sich machen. Morgen oder übermorgen kann es losgehen. Und was die Zahlung betrifft …«
Chen zog seine Kreditkarte heraus, wegen des Limits würde er nur die Hälfte der Summe bezahlen können.
»Buchen Sie bitte die Hälfte jetzt ab? Die andere überweise ich morgen oder übermorgen.«
»Kein Problem, bei einem Kunden wie Ihnen!«, rief Hong sichtlich beeindruckt.
Chen unterschrieb die Quittung und steckte den Beleg ein, dann wandte er sich zum Gehen. Draußen an der Bushaltestelle stand niemand mehr. Durch seine Verhandlungen im Friedhofsbüro hatte er den Bus verpasst.
Ein Taxi war auch nicht in Sicht. Dazu war der Friedhof zu abgelegen. Aber der Fahrer hatte ja erwähnt, dass später noch ein Bus fuhr. Chen wusste allerdings nicht, wie lange er nun warten musste. Doch er hatte Zeit, in Shanghai erwarteten ihn keine dringenden Geschäfte. Außerdem musste er jetzt sparen und die Rückfahrt mit dem Friedhofsbus kostete ihn nichts mehr.
Eine halbe Stunde wartete er vergebens.
»Da fahren heute keine Busse mehr!«, rief ihm ein vorbeigehender Bauer zu.
»Gibt es noch andere Haltestellen?«
»Gehen Sie weiter die Straße lang, am Bach müssen Sie sich dann rechts halten. Dort sollte in zehn Minuten einer abfahren.«
»Danke!«
Er beschloss, dem Hinweis des Bauern zu folgen.