Zsolnay E-Book

 

Qiu Xiaolong

 

Rote Ratten

 

OBERINSPEKTOR CHENS

VIERTER FALL

 

Aus dem Amerikanischen von

Susanne Hornfec

 

 

Paul Zsolnay Verlag

 

Die Originalausgabe erschien erstmals 2006 unter dem Titel A Case Of Two Cities bei St. Martin’s Press in New York.

 

Zitatnachweis

Wir danken dem Übersetzer Volker Klöpsch für die freundliche Abdruckgenehmigung des Gedichts »Früh nahmen wir …« (Kapitel 13) und des Gedichts »Entwächst dem Meer der helle Mond …« (Kapitel 25). Entnommen aus: Der seidene Faden. Gedichte der Tang. Aus dem Chinesischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Volker Klöpsch. Insel Verlag, Frankfurt/Main 1991.

 

 

ISBN 978-3-552-05791-3

© Qiu Xiaolong 2006

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2007/2016

Schutzumschlaggestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung eines Fotos von © Tim McConville/zefa/CORBIS

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

 

 

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PROLOG

 

Der anonyme Anruf traf an einem Abend im Mai um Viertel nach eins beim Polizeipräsidium Fuzhou ein.

»Kommen Sie sofort ins Goldrausch. Zimmer 135. Was Sie dort finden schafft es auf die Titelseite der Fujian Bild

Wachtmeister Lou Xiangdong, der den Anruf entgegennahm, war der Name dieses Etablissements bekannt. Es war ein sogenanntes Karaoke-Center, das unter dem Deckmantel harmloser Sangesfreuden die sexuellen Bedürfnisse gewisser Beamter und Geschäftsleute befriedigte. Der Anruf übermittelte eine unmißverständliche Botschaft: In dem fraglichen Zimmer ging etwas Skandalöses vor.

Auch das noch. Wachtmeister Lou war müde und schlecht gelaunt. Er hatte sich wegen der Nachtzulage für die Spätschicht gemeldet. Der Junggeselle Mitte Dreißig hatte vor kurzem eine großartige Frau kennengelernt, mit der er am nächsten Morgen Dimsum essen gehen wollte. Die Zulage für eine Woche Spätschicht würde wohl die Kosten decken, die ihre schlanke Gegenwart erfordern würde. Er träumte bereits von goldgelben Dampfkörbchen, in denen winzige Krabbentäschchen und Krebsbällchen lagen. Ihr perlendes Lachen würde die Oberfläche einer Tasse Drachenbrunnentee kräuseln und ihre elegante Hand für ihn das grüne Lotusblatt von dem mit Klebreis gegarten Hühnchen reißen …

Hin und wieder gingen beim Präsidium anonyme Anrufe ein, die sich als falscher Alarm herausstellten. Da die Korruption sich wie eine unkontrollierbare Seuche im ganzen Land ausbreitete und die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter klaffte, machten manche Menschen ihrem Frust auf diese Weise Luft. Wenn die Polizei dann pflichtschuldig die einschlägigen Etablissements überprüfte, fand sie die K-Mädels, die angeblich mit Gästen ohne Begleitung sangen, in der Regel so sittsam gekleidet vor, als wären die puritanischen Regeln der Mao-Zeit noch in Kraft. Aber natürlich wußte man nur zu gut, daß ihr Service hinter den geschlossenen Türen der Séparées alles andere als zugeknöpft war.

Lou jedoch bezweifelte, daß es sich bei solchen Anrufen immer um Denunziationen oder Scherze handelte. Es war bekannt, daß derartige Lokalitäten Verbindungen zu hochrangigen Beamten der Stadtverwaltung und damit Zugang zu Insider-Informationen hatten. Das war wohl der Grund, warum dort Polizeirazzien in etwa so effektiv waren wie Wasserschöpfen mit einem Bambuskorb.

Der Wachtmeister beschloß, etwas zu unternehmen. Der Anrufer hatte dringlich geklungen und sogar eine Zimmernummer angegeben. Wie andere Polizeibeamte in niederen Diensträngen machte auch Lou sich Sorgen, weil im »Sozialismus chinesischer Prägung« die Korruption überhandnahm. Er informierte seine Kollegen nicht, sondern steckte eines der Diensthandys ein und machte sich in einem Jeep auf den Weg.

Auf der Bühne in der großen Eingangshalle des Goldrausch tanzte vor einer Chorus-line aus Bikinimädchen eine in durchsichtige weiße Schleier gehüllte, gertenschlanke Tänzerin barfuß zu einer verspielten Melodie; sie schien einem der Wandgemälde mit den fliegenden Göttinnen in Dunhuang entstiegen. Neben der Bühne warteten aufgereiht die K-Mädels in schwarzen Mini-Slips und Plastiksandaletten. Eine von ihnen stand auf, hastete auf Lou zu und streckte ihm ihre dünnen, bleichen, an Hühnchenflügel erinnernden Arme entgegen. Er kam sich vor wie in einer Bordellszene aus einem alten Film. Hinter den Türen der Séparées, die von einem spärlich beleuchteten Korridor abgingen, meinte er, vielstimmiges Keuchen und Stöhnen zu vernehmen. In der Lobby schwänzelten zwei oder drei Kunden um die K-Mädels her-um und verhandelten dabei mit dem muskulösen Nachtportier, der einen traditionellen chinesischen Anzug in Schwarz trug.

Lou wandte sich ebenfalls an den Nachtportier, der, durch Rauchwolken hindurchgrinsend, sofort mit dem Verkaufsgespräch begann.

»Mein Name ist Pang. Wir freuen uns, Ihnen unsere Dienste anbieten zu dürfen. Einmal das Zifferblatt umrunden kostet hundert Yuan. Aber für einen reichen und erfolgreichen Mann wie Sie, ist das bei weitem nicht genug. Mein Vorschlag wären drei Runden. Das beinhaltet allerdings nicht die Gebühr für den Stich. Für eine ganze Nacht gibt es Rabatt. Die Einzelheiten können Sie mit dem Mädchen Ihrer Wahl besprechen. Da hätten wir beispielsweise Meimei, ein so hübsches und talentiertes Kind. Ihr Spiel entlockt der Jadeflöte herzzerreißende Lieder.«

Das Zifferblatt umrunden bedeutete wohl eine ganze Stunde, vermutete Lou. Was mit »dem Stich« oder dem »Spiel auf der Jadeflöte« gemeint war, war nicht schwer zu erraten. Er zog seinen Polizeiausweis.

»Bringen Sie mich in Zimmer 135

Pang sah ihn an wie ein aufgeschreckter Schlafwandler und begann sofort mit einer wortreichen Tirade, um den Polizisten davon zu überzeugen, daß dort niemand sei. Schließlich standen sie vor der fraglichen Tür. Sie war verschlossen, kein Licht drang nach außen. Auf Lous Drängen hin öffnete der Nachtportier mit einem Zweitschlüssel, stieß die Tür auf und knipste die Deckenbeleuchtung an.

Sie erhellte eine makabre Szene. Auf dem Sofabett lagen zwei nackte Körper, ihre Beine waren ineinander verschlungen wie die Stränge einer fritierten Teigstange. Es handelte sich um einen Mann mittleren Alters mit graumeliertem Haupthaar und langen, behaarten Gliedmaßen und ein junges, mageres, kaum entwickeltes Mädchen von höchstens siebzehn oder achtzehn Jahren. Sie hatte schwach ausgebildete Brüste und einen breiten Streifen schwarzes Schamhaar. Im Raum stank es nach Sex und anderen verdächtigen Dingen. Die beiden befanden sich offenbar im Tiefschlaf. Das grelle Licht weckte sie nicht.

Selbst als Lou den Mann an der Schulter rüttelte, zeigte er keine Reaktion. Als er sich zu ihm hinabbeugte, stellte er mit Entsetzen fest, daß der Mann tot war. Das Mädchen schlief mit einem lüsternen Lächeln auf den Lippen weiter, ihre rechte Hand ruhte auf dem kalten Bauch des Mannes.

Dann machte Lou eine weitere verblüffende Entdeckung. Bei dem Toten handelte es sich um Inspektor Hua Ting, den Leiter der Sonderkommission des Polizeipräsidiums Fuzhou. Instinktiv griff Lou nach einer Decke und verhüllte den Leichnam, dann zog er ihm ein Augenlid hoch. Darunter starrte ihn ein blutunterlaufenes Auge an, das eine unmißverständliche Botschaft übermittelte. Die Cornea war noch nicht völlig verschleiert, was seine Vermutung bestätigte, daß der Tod erst vor kurzem eingetreten war. Anschließend sammelte Lou Huas am Boden verstreute Kleidungsstücke auf. In einer der Hosentaschen spürte er etwas Hartes, eine Packung Zigaretten der Marke Fliegendes Pferd.

Das Mädchen erwachte. In panischer Angst fuhr es hoch, fiel aber gleich wieder zurück und warf den Kopf hin und her, während sich sein nackter Körper wand wie ein Reisfeldaal. Lou mußte den Tatort fotografieren.

»Bewegen Sie sich nicht!« rief er ihr zu und zückte seine Kamera. Sie brach in hysterisches Gelächter aus. Die Bilder wären in der Tat das richtige für die Fujian Bild. Doch so etwas würde er nie tun. Hua war nach seinem Eintritt in den Polizeidienst einer seiner Ausbilder gewesen.

»Beim achtzehnten Höllenkreis, Ratten und Schlangengezücht«, heulte das Mädchen, als befände es sich noch in einem Alptraum. Ihr Blick hatte keinen Fokus. »Alter Dritter, man sollte dir den Schwanz in tausend Stücke hacken. Ein kleiner Schluck, winzig wie eine Träne. Hab ihn nie gesehen. Kenne ihn nicht.«

Aus der war mit Sicherheit nichts Vernünftiges herauszubringen. Er mußte das Revier anrufen. Der Fall war ein echter Skandal. Man würde um Schadensbegrenzung bemüht sein, zumal korrupte Polizisten jetzt sogar schon in Fernsehserien vorkamen. In Zeiten des Goldrauschs schien niemand immun, nicht einmal ein altgedienter Beamter wie Hua. Lou erreichte seinen Vorgesetzten Ren Jiaye trotz der späten Stunde und berichtete. Gegen Ende seiner Ausführungen hielt er plötzlich inne.

»Was ist los?« fragte Ren.

Etwas schien hier in der Tat nicht zu stimmen. Lou fiel plötzlich der Fall ein, an dem Hua zuletzt gearbeitet hatte, laut Volkszeitung war es »Chinas bislang bedeutendster Korruptionsfall«. Die Ermittlungen betrafen Xing Xing, einen hohen Parteikader und Geschäftsmann aus der Provinz Fujian, dessen Schmuggelimperium sich dank seiner guten Beziehungen auf alle Regierungsebenen ausdehnte. Genauer gesagt ermittelte man gegen die darin verstrickten korrupten Beamten, denn Xing selbst hatte das Land wohlweislich verlassen. Aber diese Gedanken teilte Lou seinem Vorgesetzten nicht mit.

Nachdem er das Telefonat beendet hatte, suchte Lou Huas Privatnummer heraus, doch dann zögerte er. Er ging im Zimmer auf und ab, während das Mädchen heulte wie eine Elektroorgel und Pang noch immer dastand wie ein Krieger aus der Terrakotta-Armee.

Zu seiner Überraschung traf bereits nach weniger als zwanzig Minuten eine Gruppe der Inneren Sicherheit unter der Führung von Kommissar Zhu Longhua am Tatort ein. Das Auftauchen der Inneren Sicherheit, die von der Parteiführung bei politisch brisanten Fällen eingesetzt wurde, war insofern gerechtfertigt, als es sich bei dem Opfer um einen Polizisten handelte, der möglicherweise in einen Sexskandal verwickelt war. Dennoch war ihr rasches Eintreffen angesichts der späten Stunde erstaunlich. Die Beamten der Inneren Sicherheit übernahmen sofort das Regiment. Ohne seine Tatortschilderung abzuwarten, schickten sie ihn vor die Tür und begannen das Zimmer zu durchsuchen, die Zeugin zu vernehmen und Fotos zu machen.

Lou und Pang standen verdattert im Flur. Lou hatte nicht den nötigen Dienstgrad, um sich mit der Inneren Sicherheit anzulegen, auch wenn ihn deren Vorgehen stark irritierte. Sie machten nicht einmal Anstalten, Pang zu vernehmen. Dieser bot Lou eine Zigarette an. Es war eine Camel, eine weitaus teurere Marke als Fliegendes Pferd.

»Sind Sie Inspektor Hua schon einmal begegnet, Pang?«

»Nein, ich arbeite seit drei Jahren hier, aber ich habe ihn nie gesehen.«

»Und das Mädchen?«

»Nini. Die ist nicht regulär bei uns angestellt. Eine Aushilfe ohne K-Lizenz. Sie wissen ja, wir befolgen peinlich genau die Vorschriften.«

Es war absurd, dachte sich Lou, daß K-Mädels eine berufsethische Unterweisung durchlaufen mußten, bevor sie ihre Lizenz bekamen.

»Wann haben Sie heute abend mit der Arbeit begonnen?«

»Gegen acht. Ich wußte wirklich nicht, daß jemand in diesem Zimmer war. Es stand nichts im Belegbuch. Ich kann mir das nur so erklären, daß Nini sich vor Beginn meiner Schicht hier eingeschlichen hat.«

Lou hatte den Eindruck, daß Pang die Wahrheit sagte. Der Nachtportier hatte keinen Grund, die Sache anders darzustellen. Als sie ihre zweite Zigarette beendet hatten, kam Kommissar Zhu kopfschüttelnd heraus.

»Das Mädchen sagt, Hua sei hier Stammkunde gewesen. Er war zwar erst Anfang Fünfzig, hatte aber Probleme mit der Erektion. Deshalb nahm er regelmäßig Tiger-und-Drachen-Pulver, eine aus Südostasien eingeschmuggelte Droge, die auf dem Schwarzmarkt hohe Preise erzielt und ziemlich wirkungsvoll ist. Am früheren Abend hat er angeblich eine halbe Flasche Schnaps getrunken und dann eine doppelte Dosis von diesem Zeug eingeworfen. Sie sagt, sie hätte keine Veränderung an ihm wahrgenommen, außer daß er an diesem Abend zweimal gekommen sei. Danach seien sie beide erschöpft eingeschlafen. Sie hat überhaupt nicht mitgekriegt, was mit dem Mann neben ihr passiert ist.«

Lou war wie vor den Kopf gestoßen. Durch den Türspalt sah er das Mädchen, das hysterisch zitternd am Fußende des Divans saß. Wie hatte die Innere Sicherheit so schnell ein Geständnis aus ihr herausholen können? Zhu ging wieder ins Zimmer zurück und schloß die Tür hinter sich.

Lou dachte an die Bemerkungen von Pang, der nun vollkommen verwirrt aussah. Lou nahm eine weitere Zigarette von ihm an. Zweifel stiegen zusammen mit den Rauchspiralen auf. Hua, der Leiter der Sonderkommission, war als verläßlicher Polizist und moralisch integrer Mensch bekannt. Das paßte nicht mit dem leeren, wie von Drogen vernebelten Gesichtsausdruck des Mädchens zusammen. Wenn die Dinge sich so verhielten, wie Zhu sie eben geschildert hatte, dann hätte sich das Mädchen Wachtmeister Lou gegenüber nicht derart hysterisch verhalten müssen.

»Hundert Särge. Womöglich ist das hier der erste«, murmelte Lou unwillkürlich, während er den Zigarettenstummel austrat.

»Särge?« wiederholte Pang völlig verständnislos.

Lou erläuterte seine Äußerung nicht. Weitere düstere Vermutungen überkamen ihn. Huas Kollegen hatten sich über dessen letzten Auftrag Sorgen gemacht. Xing war bekannt als jemand, dessen Arme bis an den Himmel reichten. Nachforschungen über die einflußreichen Beamten anzustellen, die hinter Xing standen, kam einem Stochern im Hornissennest gleich.

Erst kürzlich hatte auch der chinesische Ministerpräsident in einer Presseerklärung die Korruption als Krebsgeschwür bezeichnet, die das System zersetze. »Um diese korrupten Parteifunktionäre zu bekämpfen«, sagte er, »habe ich hundert Särge bereitgestellt. Neunundneunzig für sie und einen für mich.« Und das war nicht nur leeres Gerede gewesen. Bei den vielen »in einem riesigen erdumspannenden Netz verstrickten« Parteibeamten war nicht auszuschließen, daß mit ihnen auch der Ministerpräsident zu Fall käme.

»Haben Sie den letzten Fall von Richter Di im Fernsehen gesehen? Der dunkelhäutige Richter hat seinen eigenen Sarg bis vor den Palast getragen.«

»Richter Di?« wiederholte Pang. »Sie meinen den unbestechlichen Beamten aus der Song-Zeit?«

Mit der Sarg-Metapher hatte der Ministerpräsident vermutlich diese uralte Legende aufgegriffen. In seinem Bemühen, korrupte Beamte zu bestrafen, hatte Richter Di einen Sarg bis vor den Kaiser geschleppt und damit deutlich gemacht, daß er bis zum bitteren Ende kämpfen würde. Nun hatte tausend Jahre später ein ähnliches Unterfangen zu Huas unrühmlichem Ende geführt.

Zhu kam erneut aus dem Zimmer und sagte: »Wir brauchen Sie hier nicht mehr, Lou. Das war eine lange Nacht für Sie. Hua und Nini werden für die nötigen Tests in die Klinik geschickt, und er wird anschließend in die Leichenhalle überführt. Wenn Sie wollen, können Sie seine Familie benachrichtigen.«

Das war das letzte, was Lou wollte. Hua hinterließ eine alte, kranke Frau. Sein einziger Sohn, den man während der Kulturrevolution als gebildeten Jugendlichen aufs Land geschickt hatte, war dort bei einem Traktorunfall ums Leben gekommen. Lou fragte sich, ob die alte Dame diesen neuerlichen Schicksalsschlag überleben würde.

»Hua war lange Jahre mein Kollege. Eigentlich sollte ich ihn auf seinem letzten Weg begleiten. Ich werde mit ins Krankenhaus fahren.«

Es handelte sich um eine Spezialklinik der Armee. Einmal mehr mußte Lou vor der Tür warten und vom Korridor aus zusehen, wie der altgediente Polizist, mit einem weißen Laken bedeckt, von einem Beamten der Inneren Sicherheit hineingerollt wurde. Wieder blieben ihm nur die Zigaretten, von denen er sich eine an der anderen ansteckte. All die Jahre, so rekapitulierte Lou mit einem bitteren Geschmack im Mund, hatte Hua die billigste Marke, Fliegendes Pferd, geraucht. In diesen hochfliegenden Zeiten war das ein klarer Gesichtsverlust, aber Hua war nichts anderes übriggeblieben. Die Arztrechnungen seiner Frau wurden nicht länger von dem inzwischen nahezu bankrotten Staatsbetrieb übernommen, in dem sie früher gearbeitet hatte. Wo hätte Hua das Geld hernehmen sollen, um Stammkunde in einem Karaoke-Club zu sein? Er, mit seiner Schachtel Fliegendes Pferd in der Hosentasche. Lou steckte sich eine weitere Zigarette an.

Dann kamen die ersten Testergebnisse. Die medizinische Untersuchung hatte ergeben, daß das Mädchen früher am Abend Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Der in ihrer Vagina verbliebene Samen stammte von Hua. Dessen Autopsie würde erst am folgenden Tag stattfinden. Der Arzt hielt es für möglich, daß eine Überdosis Tiger-und-Drachen-Pulver zu Herzversagen geführt hatte.

Damit schien der letzte Nagel in den Sarg getrieben. Lou fuhr jedesmal zusammen, wenn sein Mobiltelefon läutete. Alle möglichen Leute innerhalb und außerhalb des Präsidiums baten um Auskunft. Er wunderte sich, wie schnell sich die Nachricht von dem Fall verbreitet hatte. Man war schockiert. Keiner der Anrufer hätte Hua so etwas zugetraut.

Lou nahm sogar das Ferngespräch eines gewissen Yu Keji entgegen, der in Polizeikreisen auch Alter Jäger genannt wurde, ein pensionierter Kollege aus Shanghai, der weiterhin dem »nationalen polizeilichen Informationsnetzwerk« angehörte. Der Alte Jäger schien gut über die Ermittlungen in Sachen Xing informiert zu sein, mit denen Hua betraut gewesen war.

»Ich glaube kein Wort von alldem, Wachtmeister Lou. Ich kenne Hua seit zwanzig Jahren. Das muß eine Falle gewesen sein«, erklärte der Alte Jäger. »Haben Sie irgend etwas Verdächtiges gefunden?«

Lou teilte dem alten Mann seine Bedenken mit.

»Diese Typen von der Inneren Sicherheit müssen da selbst die Finger drin haben. Das heutige China ist wie ein Getreidespeicher, der von roten Ratten geplündert wird. Nun hat ein ehrbarer Mann wie Hua versucht, etwas dagegen zu unternehmen, und was ist passiert?«

»Ja, diese korrupten Parteifunktionäre sind wie vollgefressene Ratten. Aber warum rote Ratten?«

»Offiziell sind sie natürlich politisch rot. Solange ihre Bestechlichkeit nicht ans Licht kommt, geben sie sich als Speerspitze im proletarischen Kampf um den Aufbau des Sozialismus aus. Im Grunde aber sind es Ratten, die das Einparteiensystem als den Getreidespeicher sehen, in dem sie sich ungestört mästen können. Und warum? Weil der Speicher ihnen gehört. Niemand außerhalb des Systems kann sie belangen. Denken Sie an den Fall Xing. Schmuggel in so großem Stil bedarf flächendeckender Verbindungen zu Ministerium und Zoll, Polizei und Grenzkontrollorganen und außerdem einer ausgeklügelten Transport- und Verteilungslogistik. Und dieses Netzwerk hat durchweg funktioniert …«

»Da haben Sie recht, Alter Jäger.« Lou erinnerte sich, daß der pensionierte Polizist auch Suzhou-Opernsänger genannt wurde, weil diese Art der Lokaloper für ihre epischen Abschweifungen bekannt war. Der Alte war nicht mehr zu bremsen.

»Während der Qing-Dynastie«, fuhr er fort, »erkannte man die höheren mandschurischen Beamtenränge an den roten Tressen auf ihren Kappen. Wenn einer von ihnen nebenbei Geschäfte machte, nannten ihn die Leute einen Geschäftsmann mit roter Kappe. Das war zur damaligen Zeit ein einschlägiger Begriff, dessen man sich schämte. Heutzutage ist so etwas völlig normal. Derartige Beamte kann man nicht einmal als Geschäftsleute bezeichnen. Sie stehlen und schmuggeln nur noch, so wie Xing und diese Ratten in ihrem Getreidespeicher. Wie kann man einen ehrbaren Polizisten da hineinschicken?«

»Ja, das sollte eine Warnung an alle sein, die ernsthaft in diesem Fall ermitteln wollen«, unterbrach Lou den alten Mann. Schließlich war es ein Ferngespräch.

»Ein weiterer Beamter wurde sinnlos geopfert«, entgegnete der Alte Jäger mit tiefem Seufzer. »Was für ein elender Beruf. Es war ein großer Fehler, meinen Sohn in meine Fußstapfen treten zu lassen.«

»Aber Hauptwachtmeister Yu ist doch sehr erfolgreich – zusammen mit seinem Chef, Oberinspektor Chen«, sagte Lou mit aufrichtiger Bewunderung. »Die beiden sind in Polizeikreisen schon fast eine Legende.«

»Ein Vogel, der den Kopf hervorstreckt, wird abgeschossen. Das hat Laozi schon vor ein paar tausend Jahren gewußt. Heutzutage ist es nicht einfach, ein guter Polizist zu sein, geschweige denn ein bekanntermaßen guter Polizist wie Chen. Ich bin tief betroffen, aber man nennt mich nicht umsonst den Alten Jäger, ein paar dieser verdammten Ratten werde ich um Huas willen erlegen. Sagen Sie Bescheid, wenn ich irgend etwas für ihn tun kann. Und besorgen Sie bitte einen Kranz in meinem Namen. Ich schicke Ihnen das Geld.«

»Das werde ich, und ich halte Sie auf dem laufenden«, versprach Lou. »Ich möchte ja auch meinen Beitrag leisten.«

Er warf einen Blick auf seine Uhr und stellte fest, daß er das Dimsum mit seiner neuen Freundin verpaßt hatte. Er fragte sich, ob sie ihm wohl verzeihen würde. Er könnte versuchen, ihr alles zu erklären. Doch dann entschied er sich anders. Auch wenn der Alte Jäger das Gegenteil behauptete, es war doch nicht so übel, heutzutage Polizist zu sein. Nur mußte man eben ein schlauer Polizist sein. Hua war das offenbar nicht gewesen. Und Lou war sich nicht sicher, ob er selbst einer war. Wenn seine neue Freundin dies erst einmal begriffen hatte, würde ihre Beziehung ohnehin in sich zusammenfallen wie eine schmutzige Papierserviette im Dimsum-Restaurant.

 

 

1

 

Oberinspektor Chen Cao vom Shanghaier Polizeipräsidium war an einem Mainachmittag in ein gigantisches Wellness Center namens Vögel fliegen, Fische springen eingeladen worden.

Lei Zhenren, der Herausgeber der Shanghaier Morgenpost, hatte prophezeit, dort würden all ihre Sorgen auf angenehmste Weise weggewaschen. »Wieviel Kümmernis kann man ertragen? / So viel wie der Strom an Frühjahrsflut gen Osten führt. Dieses hochmoderne Badehaus ist wirklich einzigartig, eine typische Erscheinung des Sozialismus chinesischer Prägung. So etwas findest du nirgendwo sonst auf der Welt.«

Lei wußte, wie er den Oberinspektor mit der poetischen Ader zu überreden hatte; ein paar Zeilen des Dichters Li Yu aus dem zehnten Jahrhundert würden das Ihre tun. Auch der Ausdruck »Erscheinung des Sozialismus chinesischer Prägung« war eine einschlägige politische Phrase, die widersprüchliche Konnotationen haben konnte, besonders wenn damit die beispiellosen materialistischen Veränderungen gemeint waren, die derzeit die Stadt Shanghai überrollten. Erst kürzlich hatte Chen in einer englischen Werbebroschüre über dieses Wellness Center folgendes gelesen:

 

»An den Wochenenden tummeln sich abends circa 2000 Chinesen und mehrere Dutzend Ausländer nackt im Niaofei Yuyao, einem gigantischen Wellness Center, wo die Massen in milchgefüllten Wannen baden, in der ›Feurige-Jade-Sauna‹ schwitzen, sich Filme ansehen oder im Pool schwimmen. Und das alles öffentlich und legal. Nach einer Runde Minigolf (Kleiderzwang), kann man sich (unbekleidet) massieren lassen und eine Außerirdischen-Show genießen (die Zuschauer in Pyjamas, die Darsteller in deutlich weniger als Pyjamas) …«

 

Chen brauchte ein paar Minuten, um der Umschrift niaofei yuyao die Bedeutung der Schriftzeichen – Vögel fliegen, Fische springen – zuzuordnen. Der Name des Centers leitete sich von einer alten Redeweise ab: Meer so weit, wo Fische springen, Himmel so hoch, wo Vögel fliegen, ein Bild, das für »unbegrenzte Möglichkeiten« stand. Für ein Badehaus war das vielleicht ein wenig pompös, verwies aber auf die Größe und Angebotspalette des Unternehmens. Schließlich antwortete er seinem Gegenüber: »Ein solches Bad mag ja luxuriös sein, Lei, aber ich habe inzwischen auch eine heiße Dusche in meinem Apartment.«

»Und wenn schon, Genosse Oberinspektor. Wenn du deinen Dienstausweis zückst, wird der Badehausbesitzer barfuß herbeieilen und dich willkommen heißen. Selbst ein aufsteigender Parteikader und publizierter Dichter braucht mal eine Entspannungspause. Gesundheit ist das Kapital der sozialistischen Revolution, sagte doch schon der Große Vorsitzende.«

Chen kannte Lei seit vielen Jahren, zunächst durch den Schriftstellerverband, dem sie beide angehörten. Lei hatte seinen Abschluß in Chinesischer Literatur gemacht, Chen in Westlicher Literatur, doch gleich danach waren ihnen durch die staatliche Arbeitsplatzvergabe Stellen zugeteilt worden, die wenig mit ihrer ursprünglichen Neigung zu tun hatten. Lei hatte als Wirtschaftsjournalist angefangen und war dann stetig aufgestiegen. Als im vorigen Jahr die Shanghaier Morgenpost gegründet worden war, hatte man ihm den Posten des Herausgebers angeboten. Wie viele andere Blätter stand auch die Shanghaier Morgenpost weiterhin unter der ideologischen Kontrolle der Regierung, arbeitete aber auf eigenes finanzielles Risiko. Daher versuchte Lei alles, um seine Zeitung leserfreundlich zu gestalten und nicht nur mit den üblichen Politphrasen zu füllen. Seine Bemühungen zahlten sich aus; die Zeitung wurde immer beliebter und hatte fast schon die Auflage der Wenhui Tageszeitung erreicht.

Und heute wollte Lei Chen ausführen, um diesen Erfolg zu feiern. Eine solche Einladung konnte Chen kaum zurückweisen. In all den Jahren hatte Lei stets dafür gesorgt, daß die Gedichte des Freundes in seiner Zeitung abgedruckt wurden.

Doch in Chens Position und in Zeiten von guanxi, dem allumspannenden Beziehungsgeflecht, mußte man vorsichtig sein. »Das geht dann aber auf meine Rechnung, Lei«, entgegnete er. »Du hast mich erst neulich zu einem üppigen Abendessen ins Xinya eingeladen. Jetzt bin ich an der Reihe.«

»Hör zu, Chen. Ich arbeite an einem Artikel über die aktuelle Shanghaier Unterhaltungsszene. Allein in dieses Bad zu gehen macht keinen Spaß. Du tust mir also einen Gefallen, wenn du mitkommst. Natürlich auf Spesenrechnung.«

»Dann aber bitte keine Séparées oder besonderen Dienstleistungen.«

»Das brauchst du mir nicht zu sagen. Leute wie du und ich sollten nicht in derartiger Umgebung gesehen werden. Vor allem wo gerade mal wieder eine Anti-Korruptionskampagne läuft.«

»Na ja«, entgegnete Chen, »so wenigstens behaupten es die Schlagzeilen deiner Zeitung.«

 

Das Niaofei Yuyao war ein sechsstöckiges Gebäude an der Jumen Lu. Die Eingangshalle erstrahlte im Glanz von Kristalleuchtern und erinnerte Chen eher an ein amerikanisches Fünf-Sterne-Hotel. Der Eintritt kostete zweihundert Yuan pro Person, alle weiteren Dienstleistungen würden gesondert zu bezahlen sein, erklärte ihnen ein träger Angestellter und reichte jedem ein blitzendes Silberarmband mit einer Nummer.

»Wie beim Dimsum«, bemerkte Lei. »Alles wird auf deine Nummer registriert, und am Ende wirst du zur Kasse gebeten.«

Ein junger Mann mit dem Aussehen eines Reporters gesellte sich zu ihnen. Er trug eine Kamera, deren Objektiv so lang war wie ein Gewehrkolben. Daraufhin wurde der Angestellte munter, er erhob sich und wedelte abwehrend mit der Hand. »Hier wird nicht fotografiert.«

»Wenn die Bilder in einer Zeitung wie der deinen erschienen, wäre das doch nur gut fürs Geschäft«, sagte Chen hinter vorgehaltener Hand.

»Nun ja, ein hoher Baum setzt sich den Sturmböen aus«, kommentierte Lei, während er in Plastikschlappen schlüpfte. »Dieses Wellness Center kann nicht noch mehr Gratiswerbung gebrauchen, sonst könnte die Stadtverwaltung auf die Idee kommen, sich für seine enormen Umsätze zu interessieren.«

Der Badebereich hatte das Ausmaß von drei bis vier Fußballfeldern, den für Frauen reservierten Teil nicht mit eingerechnet. Das Wasser der drei großen Becken schimmerte grün im sanften Licht. Jedes von ihnen war mit majestätischen Marmorstatuen und Fontänen verziert. Man hätte sich in einem römischen Palast wähnen können, wären an den Rändern der Becken nicht alle Arten modernster Massagedüsen installiert gewesen.

Außerdem gab es Spezialwannen mit Bier-, Ginseng-, Milch- und Kräuterbädern. Chen inspizierte den Gazebeutel, der in der Ginseng-Wanne schwamm, und sah, daß er mit dicken Knollen gefüllt war. Ein teures Vergnügen, falls die wirklich echt waren. Allerdings hatte Chen seine Zweifel am medizinischen Nutzen eines solchen Wannenbades.

»Diese Bäder sollen sehr wirksam sein«, bemerkte Lei grinsend.

»Und auch sehr kostspielig.«

»Allein der Bau des Schwimmbadbereichs hat angeblich Millionen verschlungen. Man hat auf den Aufschwung und den ausländischen Kapitalzufluß gesetzt, den der WHO-Beitritt für Shanghai bringen wird. China ist derzeit nach den USA der zweitgrößte Empfänger ausländischer Investitionen. Bald werden wir der größte sein.«

Lei besuchte Abendkurse in Betriebswirtschaft. Für sein Medienunternehmen benötigte er Kenntnisse, die er während des Literaturstudiums nicht erworben hatte.

»Du wirst also über dieses Wellness Center schreiben?«

»Nicht nur über dieses Etablissement, sondern über neue Freizeittrends im allgemeinen; essen, trinken, baden, schlafen, was auch immer. In China gibt es einen aufstrebenden Mittelstand, der Geld in der Tasche hat und wissen will, wie er es ausgeben soll. Als Herausgeber muß ich schreiben, was die Leute lesen wollen.«

»In der Tat, Tröge voll Wein, Wälder von Fleisch«, sagte Chen in Anspielung auf ein klassisches Zitat. Langsam ließ er sich in das dampfende Becken gleiten. Er lehnte sich gegen die Wand des Pools, damit eine Düse seinen Rücken massieren konnte. Deren Gurgeln schien Ausdruck der hier herrschenden kollektiven Zufriedenheit zu sein, und Chen nahm sich davon nicht aus.

»Woran denkst du, Chen?«

»An gar nichts, mein Geist ist so leer und entspannt, wie du es vorhergesagt hast.«

»Als frischgebackener Stadtrat und Bestsellerautor kannst du dich jetzt erst mal zurücklehnen.«

Dem äußeren Anschein nach ging es mit Chens Karriere tatsächlich steil bergauf. Seine Berufung in den Volkskongreß der Stadt Shanghai schien ein weiterer Schritt in Richtung einer künftigen Nachfolge von Li Guohua, dem Parteisekretär des Polizeipräsidiums, zu sein. Doch Chen selbst war sich da nicht so sicher. Der städtische Volkskongreß war ein Gremium ohne wirklichen politischen Einfluß, und Stadtrat war im Grunde nur ein Ehrentitel. Seine Berufung war wohl eher ein Ausweichmanöver, denn Chen wußte, daß es innerhalb der Partei nicht wenige Hardliner gab, die sich seinem weiteren Fortkommen in den Weg stellen wollten. Er war ihnen zu liberal.

Zutreffend war jedoch, daß seine Gedichtsammlung unerwarteten Erfolg hatte. Mit Gedichten war eigentlich kein Geld zu verdienen, in einer so kapitalorientierten Gesellschaft war ihre Veröffentlichung an sich schon ein Wunder. Und jetzt verkaufte sich das Buch auch noch gut …

Seine Gedanken wurden von zwei Badenden unterbrochen, die sich gerade ins Wasser begaben. Einer war klein, grauhaarig und hatte stechende Augen, der andere groß, mit Adlernase und dicken Brillengläsern. Sie schienen in heftiger Auseinandersetzung begriffen.

»Der Sozialismus geht vor die Hunde. Und diese Hunde sind die gierigen, hemmungslosen Parteifunktionäre! Die beißen alles kurz und klein«, erklärte der Kleine empört. »Unsere Staatsbetriebe sind wie ein riesiger Gänsebraten, von dem sich jeder ein Stück sichert. Stell dir vor, der Chef der städtischen Exportbehörde verlangt einen Fünf-Prozent-Bonus, sonst wird keine Exporterlaubnis erteilt.«

»Was willst du denn, Mann?« sagte der Große sarkastisch. »Der Kommunismus existiert nur noch in Nostalgieschlagern. Das hier ist Kapitalismus, und die Kommunistische Partei sitzt vorne dran und leckt am roten Lutscher. Was soll man von solchen Parteikadern schon erwarten?«

»Korrupt bis ins Mark. Die glauben an nichts als ihren eigenen Profit, und das alles im Namen des Sozialismus chinesischer Prägung.«

»Und was ist dann Kapitalismus? Daß jeder dem Geld hinterherrennt, ungeachtet der kommunistischen Propaganda, die von allen Zeitungen gedruckt wird. Die ist nicht mehr wert als der Schaum auf dem Bierbad da drüben.«

»Die Polizei sollte kurzen Prozeß mit diesen faulen Eiern machen.«

»Die Polizei?« entgegnete der Lange und peitschte das Wasser mit seinen großen Füßen. »Die sind doch vom selben Schlag.«

Klagen über die allgemeine Bestechlichkeit wurden mittlerweile in ganz China laut, klangen aber nicht unbedingt schmeichelhaft für die Ohren eines nackten Polizeibeamten. Und für die eines nackten Chefredakteurs ebensowenig.

»Chinesisch ist doch eine entwicklungsfähige Sprache. Korruption – fubai – bedeutet wörtlich ›faulig, verdorben‹ im Zusammenhang mit Fleisch oder Fisch«, bemerkte Chen mit gedämpfter Stimme zu Lei. »Inzwischen wird es fast nur auf den Machtmißbrauch von Parteikadern angewandt.«

»Manche Dinge verderben eben rasch«, erwiderte Lei. »Einen Flußkarpfen kann man in den Kühlschrank legen, nicht aber einen Parteifunktionär.«

Die Veränderung des Sprachgebrauchs ließ tief blicken. In den sechziger Jahren hatte sich »korrupt« auf einen »verdorbenen bürgerlichen Lebensstil« bezogen und vor allem außereheliche Beziehungen gemeint. In Chens Schule hatte eine »korrupte« junge Lehrerin wegen vorehelichem Geschlechtsverkehr ihre Stelle verloren. Im erweiterten Sinn stand dieser Begriff auch für »bürgerliche Extravaganzen«, wie zum Beispiel dieses Bad, dessen Eintrittsgebühr dem Monatslohn eines Arbeiters entsprach. Seit einigen Jahren hatte das Wort allerdings nur mehr eine Zielgruppe – die Parteifunktionäre.

»Ein geistiges Vakuum. Das ist es, was mir wirklich Sorgen macht«, sinnierte Chen.

»Vielleicht muß man die Dinge aus einem anderen Blickwinkel sehen«, sagte Lei, während er aus dem Becken stieg. »Immerhin hat China große Fortschritte gemacht. Diese beiden Schreihälse von eben wären in der Kulturrevolution für ihre Reden hinter Gitter gekommen.«

»Da hast du recht«, erwiderte Chen und bemerkte, daß das ja genauso auf sie zutraf. Zwar machten auch sie ihre zynischen oder kritischen Bemerkungen über das System, aber letzten Endes verteidigten sie es doch.

Lei zeigte Chen die verschiedenen Duschräume, die von der Schwimmhalle abgingen. Jeder hatte seinen eigenen rätselhaften Namen: Schießstand, Nadelkissen, Fünf Elemente, Yin&Yang, Kettenhemd, Nebelschwade …

»Ich komme mir vor wie Gevatterin Liu, die den Garten der Augenweide betritt«, sagte Chen in Anspielung auf den klassischen Roman Traum der Roten Kammer. Gevatterin Liu war eine Landpomeranze, die von der Pracht dieses Gartens völlig überwältigt war. »Schau dir erst mal die Feurige-Jade-Sauna an.«

»Mit Geld kann man heutzutage alles machen«, erwiderte Lei.

»Genau, deshalb hat man es als Polizist ja auch so schwer.«

Sie begaben sich in den sogenannten »Trockenraum«, wo man von Hostessen mit großen Badetüchern trockengerieben wurde und in einen der bereitliegenden rot-weiß gestreiften Pyjamas schlüpfte, bevor man den Aufzug in den zweiten Stock nahm.

»Im dritten Stock befindet sich der Unterhaltungsbereich: Bildschirmwände, Tischtennistische, ein Angelteich mit Goldkarpfen …«

»Das können wir uns schenken.«

»Ist mir nur recht, ich habe nämlich Hunger. Laß uns erst mal essen gehen.«

Im zweiten Stock betraten sie einen zentralen Raum, der wie ein Marktplatz wirkte. Er war von großen Aquarien mit lebenden Fischen und Krustentieren gesäumt; in gläsernen Schaukästen wurden die unterschiedlichsten Gerichte in farbenfrohen Plastiknachbildungen ausgestellt – eine leibhaftige Speisekarte. Eine Bedienung, ebenfalls im rot-weiß gestreiften Pyjama, kam zu ihnen. Auf ihre Empfehlung hin bestellten sie einen Eintopf aus Schweinerippchen und Pastinaken, der im Edelstahltopf über einem Spirituskocher köchelte, lebend gedämpften Barsch mit Frühlingszwiebeln und Ingwer, Siedfleisch mit roten Paprika, Tomaten mit einer Füllung aus gepulten Krabben und gebratenen Reisfeldaal, der in Bambusköchern serviert wurde. Dazu bestellte jeder eine Flasche eisgekühltes Bier.

Während die Bedienung sie an einen Tisch führte, trommelten ihre Holzsandalen einen flotten Rhythmus aufs Parkett. Im Gastraum herrschte ein einheitliches Bild, da alle die gleichen rot-weiß gestreiften Pyjamas trugen.

»Hier ist der Kommunismus verwirklicht, alle sehen gleich aus, zumindest was die Kleidung anbelangt.« Lei griff nach den Stäbchen. »Aber sieh dir diesen Tisch da drüben an. Die haben das komplette Manchu-und-Han-Bankett auffahren lassen: Kamelhöcker, Bärentatzen, Schwalbennester, Affenhirn …«

»Die erlesensten und teuersten Speisen beider Volksgruppen«, sagte Chen, nachdem er einen Blick auf den eindrucksvoll gedeckten Tisch geworfen hatte. »Diese Neureichen geben wirklich hemmungslos an.«

»In diesen Zeiten gibt man nicht grundlos an. Mit einem solchen Bankett verschafft man sich Beziehungen. Ein Großkotz aus der Wirtschaft beeindruckt einen Großkotz aus der Politik«, sagte Lei und legte ein Stück Rindfleisch in Chens Schale.

»Wie schon der alte Meister Du wußte«, sagte Chen, »Hinter roten Toren Fleisch und Wein verderben / während in den Straßen Menschen Hungers sterben

»Das Leben ist kurz«, entgegnete Lei. »Laß uns essen und trinken.«

An einem der Nebentische hatte ein junges Mädchen ihren nackten Fuß auf den Schenkel eines alten Mannes gelegt. Ihre rotlackierten Fußnägel leuchteten zwischen seinen Wurstfingern.

Nach dem Essen begaben sie sich in den Ruhebereich im ersten Stock, der aus großen Sälen und vielen kleinen Séparées bestand. Die Säle waren für normale Besucher, die dort mit ihren gestreiften Pyjamas ein und aus gingen. Die Nebenzimmer von unterschiedlicher Größe boten eine intimere Atmosphäre sowie Dienstleistungen in unterschiedlichen Preislagen.

»Schau mal, da drüben ist Tong Tian, der Bürgermeister des Zhabei-Distrikts«, flüsterte Lei und warf einen vielsagenden Blick über den Gang, wo gerade ein Mann in einem der Séparées verschwand.

»Ja, das war Sekretär Tong. Ich habe ihn auch erkannt.«

»Er hat Frau und Tochter nach Vancouver geschickt. Seine Tochter geht dort auf eine Privatschule. Außerdem besitzen sie eine Villa.«

»Tja«, Chen war klar, was Lei damit sagen wollte. Seine Familie im Ausland auf großem Fuß leben zu lassen kostete eine Menge Geld, und ein offizielles Gehalt bei der Stadtverwaltung mußte etwa mit dem Chens vergleichbar sein.

»Wenn dir hinter geschlossener Tür ein hübsches junges Mädchen zu Diensten ist, dann kann das schnell ein paar tausend Yuan kosten. Allein der Raum kostet fünfhundert pro Stunde.« Dann meinte Lei unvermittelt: »Wenn alle unsere Parteikader so wären wie du, hätten wir den Kommunismus verwirklicht.«

Im Saal herrschte eine angenehm gemütliche Atmosphäre. Jeder Gast hatte eine weiche Liege und ein Beistelltischchen für Snacks und Getränke. Auf zwei großen Bildschirmen an den Wänden wurde ein amerikanischer Film gezeigt. Davor huschten Masseusen vorbei wie Fledermäuse in der Dämmerung.

»Für heute haben wir genug über Korruption geredet«, sagte Chen. »Kein passendes Thema nach einem guten Essen.«

Aber es war nicht allein eine Frage der Verdauung. Die Kosten für diesen einen Nachmittag würden Leis sozialistisches Monatseinkommen überschreiten. Als Parteifunktionär hatte Lei jedoch ein gut ausgestattetes Spesenkonto, das er angeblich im Interesse der Zeitung nutzte. Mit selbstkritischem Humor erinnerte sich Chen an eine Redewendung, die jene, welche fünfzig Schritte weggelaufen sind, davor warnt, jene zu verlachen, welche hundert Schritte weit gerannt sind.

»Keine Sorge, Chen«, sagte Lei, der seine Gedanken erraten zu haben schien. »Sobald dich der Anblick des Teufels nicht mehr schreckt, bist du ihn los.« Auch das ein chinesisches Sprichwort.

Zwei Masseusen in winzigen gestreiften Pyjamas, die den Blick auf schimmernde Gliedmaßen freigaben, kamen zu ihnen.

»Erst mal eine Rückenmassage«, wies Lei die eine an.

Chens Mädchen war höchstens siebzehn oder achtzehn Jahre alt. Sie half ihm aus seinem Pyjamaoberteil und verteilte Massageöl auf seinem Rücken. Er warf einen Blick über die Schulter auf ihre grazilen, zerbrechlich wirkenden Finger. Im Halbdunkel sah er sie über ihm knien, die Arme in rhythmischer Bewegung, während ihre Finger sich auf seine Problempunkte konzentrierten. Es war ein so exotisches Gefühl, daß ihm Leis früherer Vergleich mit dem Römischen Reich wieder in den Sinn kam.

Doch das Römische Reich war bekanntlich wegen seiner Korruption und Dekadenz untergegangen, überlegte Chen, während er das Gesicht in das weiche Kissen schmiegte. Darauf hatte Lei wohl nicht angespielt. Sein Medienimperium war gerade erst im Aufstieg begriffen.

Das Mädchen bat ihn, sich umzudrehen. Sie selbst saß auf einem niedrigen Hocker und hielt einen seiner Füße in ihrem Schoß. Er meinte, durch den dünnen Pyjamastoff mit den Zehen ihre weichen Brüste zu spüren. »Ihre Füße erregen mich«, sagte sie mit kehliger Stimme; ihr Gesicht war von der Anstrengung gerötet, Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Dann beugte sie sich plötzlich vor und nahm seinen großen Zeh in den Mund. Er war viel zu überrascht, um sie daran zu hindern. Sie wickelte ihre weiche warme Zunge um seinen Zeh wie um einen Lutscher.

In diesem Moment klingelte sein Handy. Er zog es unter dem Kopfkissen hervor. Erst vor kurzem hatte er seine Nummer geändert, kaum jemand kannte sie.

»Genosse Oberinspektor Chen Cao?«

»Am Apparat.«

»Hier ist Zhao Yan von der Disziplinarbehörde der Partei. Ich rufe im Namen der Behörde an.«

»Ah, Genosse Sekretär Zhao Yan.« Augenblicklich war er hellwach. Zhao war eine Legende in Peking. In den vierziger Jahren war er der Partei beigetreten und dann schnell in wichtige Regierungsämter aufgerückt. Große Teile der Kulturrevolution hatte er im Gefängnis verbracht, konnte aber seine Haftzeit zum Selbststudium nutzen und entwickelte sich zu einem der führenden Parteiintellektuellen. Es hieß, Genosse Deng Xiaoping habe in der Anfangsphase der Wirtschaftsreform einige seiner Vorschläge aufgegriffen. Anfang der achtziger Jahre war er dann Generalsekretär der neugegründeten Disziplinarbehörde geworden, die als parteiinterne Kontrollinstanz dienen sollte. Dem Pensionierungsgesetz für Kader folgend, war er schließlich in Rente gegangen, hatte aber noch ein Ehrenamt inne und war nach wie vor einer der einflußreichsten Männer jener Behörde, die sich nun vornehmlich der Korruptionsbekämpfung widmete.

»Ich bin nicht mehr im Amt, nur noch beratend tätig. Nennen Sie mich Genosse Zhao. Können wir ungestört reden?«

»Ja bitte, Genosse Zhao, sprechen Sie.« Schließlich konnte ihm der Oberinspektor schlecht erzählen, daß er sich halbnackt in einem luxuriösen Wellness Center aufhielt, wo ein ebenfalls halbnacktes Mädchen an seinen Zehen nuckelte. Mit einer Handbewegung schickte er die Masseuse weg, sprang auf, packte sein Handtuch und rannte hinaus auf den Korridor.

»Sie haben doch sicher unsere neue Anti-Korruptionskampagne verfolgt.«

»Ich habe darüber gelesen«, antwortete Chen und wischte sich mit dem Handtuch den Schweiß von der Stirn.

»Sagt Ihnen der Name Xing Xing etwas?«

»Ja, ich bin über den Fall informiert.«

Lei trat nun ebenfalls mit besorgtem Gesicht in den Korridor, er hielt ein Weinglas in der Hand. Womöglich hatte er den Namen Zhao Yan aufgeschnappt. Er reichte Chen das Weinglas. Der nahm es und hob es dann in einer entschuldigenden Geste gegen Lei, der wieder hineinging.

»Xing hat unserer Volkswirtschaft und dem politischen Ansehen unseres Landes enormen Schaden zugefügt. Auch nach seiner Flucht in die Vereinigten Staaten macht er uns noch jede Menge Ärger.«

Die Zeitungen hatten ausführlich über den Fall berichtet, und auch wenn die Leute der Presse gegenüber normalerweise skeptisch waren, wenn es um hemmungslose Korruption im großen Stil ging, so glaubten sie, was sie hier lasen. Allerdings war seit Xings Flucht kaum mehr etwas über ihn geschrieben worden, weshalb Chen über Xings Aktivitäten im Ausland nicht informiert war.

»Unsere Behörde ist entschlossen, die Ermittlungen zu Ende zu führen. Jeder, der in die Affäre verwickelt ist, soll, egal welchen Posten er bekleidet, seine gerechte Strafe erhalten. Wie hat doch unser Ministerpräsident gesagt: Die Korruption frißt wie ein Krebsgeschwür an unserem Staatskörper. Hier steht die Zukunft der Partei und unseres Landes auf dem Spiel.«

»Ja, wir müssen mit Entschiedenheit gegen die korrupten Elemente in der Partei vorgehen«, erwiderte Chen und wiederholte zur Bekräftigung: »Mit Entschiedenheit.«

»Das ist leichter gesagt als getan, Genosse Oberinspektor Chen. Wir hatten Xing unter Beobachtung, und doch ist er samt seiner Familie ins Ausland entwischt. Wie ihm das gelungen ist, ist mir noch heute ein Rätsel.«

»Vermutlich durch Verbindungen bis in …« Chen hielt inne, das »bis in höchste Kreise« verkniff er sich.

»Jetzt zieht er China in den Schmutz, indem er sich als Opfer politischer Verfolgung darstellt. Er macht falsche Anschuldigungen gegen unsere Regierung. Wir müssen etwas dagegen tun.«

»Aber wie, Genosse Zhao?«

»Alle relevanten Informationen werden Ihnen zur Verfügung gestellt. Sie leiten die Ermittlungen in Shanghai.«

»Was kann ich in Shanghai schon ausrichten«, entgegnete Chen, »wo Xing sich doch in den Staaten aufhält.«

»Xing hat sich abgesetzt, aber seine Hintermänner sind noch hier. Graben Sie tief, falls nötig. Die Behörde erteilt Ihnen volle Entscheidungsbefugnis. Betrachten Sie sich als qinchai dacheng – als Sonderbeauftragten seiner Majestät und Träger des kaiserlichen Schwerts. Im Ernstfall sind Sie bevollmächtigt, eigenständig Durchsuchungen und Verhaftungen anzuordnen und vorzunehmen.«

Chen gefiel dieser Ausdruck gar nicht, Sonderbeauftragter seiner Majestät hatte einen unangenehm feudalistischen Beiklang. Er hatte in der Peking-Oper solche machtvollkommenen, mit blitzenden Schwertern ausgestatteten Typen gesehen. Einerseits war so ein Titel eine große Ehre, andererseits bedeutete dies, daß höchste Kreise involviert waren.

»Aber was wird aus meiner Arbeit im Präsidium, Genosse Zhao?«

»Das werde ich mit Parteisekretär Li klären. Dieser Auftrag kommt direkt von der Disziplinarbehörde.«

 

Chen wollte nach diesem Anruf nicht in den Saal zurück. In seinem Glas funkelte ein letzter Schluck Wein. Dazu fiel ihm ein kurzes Gedicht des Tang-Dichters Wang Han aus dem achten Jahrhundert ein:

 

Milder Wein funkelt / in leuchtender Schale. / Ich leere sie / hoch zu Roß / während die Pipa die Truppen ruft. / Oh lache nicht / wenn ich trunken falle / auf dem Schlachtfeld. / Wie viele Soldaten / sind denn zurückgekehrt / seit unvordenklicher Zeit?

 

Das Gedicht vermittelte eine düstere Vorahnung. Chen war nicht abergläubisch, aber warum waren ihm gerade jetzt diese Zeilen eingefallen? Mit dem weißen Badetuch um die Schultern sah er nun wirklich nicht aus wie ein in den Krieg ziehender General.

Auf der anderen Seite des Korridors wurde die Tür zu einem der Séparées leise geöffnet. Eine Masseuse, sehr viel hübscher als ihre Kolleginnen in den Sälen, kam barfuß heraus und ihre schlanken Finger nestelten an der Verschnürung ihres scharlachroten Leibchens. Ihre Haare waren zerzaust und ihre Wangen gerötet wie von einem Traum.