Zsolnay E-Book

 

Qiu Xiaolong

 

Tod einer roten Heldin

 

ROMAN

 

Aus dem Amerikanischen von

Holger Fliessbach

 

 

Paul Zsolnay Verlag

 

Die Originalausgabe erschien erstmals 2000 unter dem Titel Death of a Red Heroine bei Soho Press in New York.

 

 

 

ISBN 978-3-552-05806-4

© Qiu Xiaolong 2000

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe:

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2003/2016

Schutzumschlaggestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung einer Fotografie von © Sandi Fellmann 1982

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

 

 

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

 

FÜR LIJUN

 

 

1

 

Die Tote wurde am 11. Mai 1990 um 16.40 Uhr im Baili-Kanal gefunden, einem abgelegenen Kanal etwa 35 Kilometer westlich von Shanghai.

Gao Ziling, Kapitän der Vorhut, stand neben der Leiche und spuckte dreimal kräftig auf den feuchten Boden – ein halbherziger Versuch, die bösen Geister jenes Tages abzuwehren. Eines Tages, der mit dem lang ersehnten Wiedersehen zweier Freunde begann, deren Wege sich vor über zwanzig Jahren getrennt hatten.

Die Vorhut, ein Patrouillenboot der Shanghaier Wasserwacht, war eher zufällig um etwa halb zwei auf dem Baili-Kanal unterwegs; normalerweise kam das Boot nicht einmal in die Nähe dieser Gegend. Die ungewöhnliche Route war von Gaos altem Freund Liu Guoliang vorgeschlagen worden, den Gao seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Auf der Mittelschule waren sie eng befreundet. Nach der Schule, Anfang der sechziger Jahre, hatte Gao angefangen, in Shanghai zu arbeiten, Liu hingegen hatte noch eine Hochschule in Peking besucht und danach in einem atomaren Testzentrum in der Provinz Qinghai zu arbeiten begonnen. Während der Kulturrevolution verloren sie sich aus den Augen. Nun hatte Liu geschäftlich in Shanghai zu tun – es ging um ein Projekt, an dem eine amerikanische Firma beteiligt war – und nahm sich einen Tag frei, um Gao zu treffen. Beide freuten sich sehr darauf, sich nach so langer Zeit wieder einmal zu sehen.

Sie hatten sich an der Waibaidu-Brücke verabredet, wo der Suzhou Creek in den Huangpu fließt. Im Sonnenlicht war die Stelle, an der die beiden Flüsse sich treffen, deutlich zu erkennen. Allerdings war der Suzhou Creek noch stärker verschmutzt als der Huangpu; gegen den klaren blauen Himmel wirkte er wie eine schwarze Plane, und trotz der angenehmen Sommerbrise roch er faulig. Gao entschuldigte sich mehrmals. Er hätte für diese besondere Gelegenheit einen hübscheren Ort vorschlagen sollen, meinte er, zum Beispiel das Teehaus im Herzen des Sees in der Altstadt von Shanghai. Bei einer guten Tasse Tee und den klassischen Klängen von Pipa- und Sanxian-Musik im Hintergrund hätte man sich dort über vieles unterhalten können. Doch er mußte auf der Vorhut bleiben, denn niemand hatte seine Schicht übernehmen wollen.

Als Liu auf das trübe Wasser mit all dem Müll blickte – Plastikflaschen, leere Bierdosen, flachgepreßte Kartons, Zigarettenschachteln –, schlug er vor, mit dem Boot an eine andere Stelle zu fahren und dann dort zu angeln. Der Fluß hatte sich so stark verändert, daß die beiden alten Freunde ihn kaum noch wiedererkannten. Sie selbst hatten sich dagegen nicht so stark verändert – das Angeln war eine Leidenschaft, der beide schon in ihrer Schulzeit frönten.

»In Qinghai habe ich den Geschmack von Karauschen schrecklich vermißt«, gestand Liu.

Gao ging sofort auf Lius Vorschlag ein. Einen Ausflug flußabwärts wollte er mühelos als ganz normale Fahrt ausgeben. Außerdem konnte er seinem Freund zeigen, wie gut er mit seinem Boot umgehen konnte. Also schlug er als Ziel den Baili-Kanal vor, einen Seitenkanal des Suzhou Creek, etwa vierzig Kilometer südwestlich der Waibaidu-Brücke. Deng Xiaopings Wirtschaftsreformen hatten sich bislang noch nicht auf diesen Kanal ausgewirkt, denn er lag weitab der Hauptstraßen, und auch das nächste Dorf war einige Kilometer entfernt. Allerdings war der Wasserweg dorthin nicht ganz einfach. Sobald sie die Östliche Raffinerie hinter sich gelassen hatten, die direkt am Wusong in den Himmel ragte, wurde der Fluß immer schmaler, und manchmal war er so seicht, daß er kaum befahrbar war. Sie mußten tiefhängende Äste beiseite schieben, doch nach einigen Mühen gelangten sie schließlich wieder in tieferes Gewässer, das von langen Gräsern und allerlei anderen Gewächsen getrübt war.

Zum Glück war der Baili-Kanal genauso schön, wie Gao versprochen hatte. Er war zwar nicht breit, doch da es im letzten Monat heftig geregnet hatte, führte er genügend Wasser. Und Fische gab es hier auch reichlich, da das Wasser relativ sauber war. Sobald sie ihre Köder ausgeworfen hatten, spürten sie schon, wie die Fische bissen. Bald konnten sie die Leinen wieder einholen. Fische über Fische sprangen aus dem Wasser, landeten auf dem Boot, zuckten, schnappten nach Luft.

»Sieh dir den mal an!« sagte Liu und deutete auf einen Fisch, der sich zu seinen Füßen wand. »Mehr als ein Pfund schwer!«

»Phantastisch!« sagte Gao. »Du bringst uns heute Glück!«

Gleich darauf zog auch Gao den Haken aus dem Maul eines Barsches, der sicher ein halbes Pfund wog.

Erfreut warf er die Schnur mit einem geübten Schwung seines Handgelenks wieder aus. Er hatte sie noch nicht halb eingeholt, als es heftig ruckte. Die Angel bog sich, und ein riesiger Karpfen funkelte im Sonnenlicht.

Sie kamen kaum zum Reden. Die Zeit lief rückwärts, während silberne Schuppen im goldenen Sonnenlicht tanzten. Zwanzig Minuten oder zwanzig Jahre – die beiden fühlten sich in ihre Jugend zurückversetzt. Zwei Schüler, nebeneinander sitzend, redend, trinkend, angelnd, und die ganze Welt baumelte an ihren Angelschnüren.

»Was bekommt man denn für ein Pfund Karauschen?« fragte Liu, der schon wieder einen stattlichen Fisch in der Hand hielt. »Für einen von dieser Größe?«

»Mindestens dreißig Yuan, würde ich sagen.«

»Ich habe hier gut vier Pfund, die sind also etwa hundert Yuan wert, stimmt’s?«, sagte Liu. »Wir sind jetzt erst eine Stunde hier, und ich habe schon mehr hereingeholt, als ich in einer Woche verdiene.«

»Ist das dein Ernst?« fragte Gao und holte einen Sonnenfisch von seinem Haken. »Ein Atomingenieur mit deinem Ruf?«

»Tja, ist aber so. Ich hätte lieber Fischer werden und südlich des Yangzi zum Angeln gehen sollen«, sagte Liu kopfschüttelnd. »In Qinghai bekommen wir oft monatelang keinen Fisch zu sehen.«

Liu arbeitete seit zwanzig Jahren in dieser Wüstengegend. Einer alten Tradition folgend servierten die dort lebenden Bauern zum Frühlingsfest einen hölzernen Fisch, denn das chinesische Schriftzeichen für Fisch bedeutet auch Überfluß, also Glück für das kommende Jahr. Vielleicht vergaß man dort mit der Zeit, wie Fisch schmeckte, doch die Tradition war nicht in Vergessenheit geraten.

»Das ist doch nicht zu fassen«, empörte sich Gao. »Der große Wissenschaftler, der Atombomben herstellt, verdient weniger als ein fliegender Händler mit seinen Tee-Eiern. Eine Schande!«

»Das ist die Marktwirtschaft«, sagte Liu. »Das Land ändert sich, die Richtung stimmt, die Menschen haben ein besseres Leben.«

»Aber es ist doch ungerecht, zumindest dir gegenüber.«

»Na ja, eigentlich kann ich momentan nicht klagen. Das war vor einiger Zeit nicht so. Du kannst dir sicher denken, warum ich dir während der Kulturrevolution nicht geschrieben habe.«

»Nein, warum denn nicht?«

»Ich wurde als bürgerlicher Intellektueller kritisiert und ein Jahr lang eingesperrt. Nach meiner Freilassung galt ich noch immer als Rechtsabweichler, und da wollte ich nicht, daß ein Verdacht auf dich fällt.«

»Das tut mir wirklich leid«, sagte Gao. »Aber du hättest mir trotzdem Bescheid geben sollen. Allerdings hätte ich mir das auch denken können, als meine Briefe immer wieder zurückkamen.«

»Nun, das ist jetzt vorbei«, sagte Liu. »Jetzt sitzen wir hier und angeln nach unseren verlorenen Jahren.«

»Das eine sage ich dir«, meinte Gao, der das Thema wechseln wollte, »wir haben inzwischen genug für eine hervorragende Fischsuppe.«

»Eine wunderbare Suppe – he, da ist ja noch so ein Prachtbursche!« Liu zog einen gut dreißig Zentimeter langen, zuckenden Flußbarsch aus dem Wasser.

»Meine Frau ist keine Intellektuelle, aber sie kann eine ziemlich gute Fischsuppe kochen. Ein paar Scheiben Jinhua-Schinken, eine Prise Pfeffer, eine Handvoll Frühlingszwiebeln, und schon hast du eine phantastische Suppe.«

»Ich freue mich schon darauf, sie kennenzulernen.«

»Sie kennt dich bereits. Ich habe ihr oft das Foto von dir gezeigt.«

»Ja, aber das ist zwanzig Jahre alt«, sagte Liu. »Wie soll sie mich heute noch aufgrund eines Hochschulfotos erkennen? Erinnerst du dich noch an He Zhizhangs berühmte Zeilen? Mein Dialekt ist noch derselbe, doch meine Haare sind ergraut.«

»Meine auch«, sagte Gao.

Es wurde Zeit, den Heimweg anzutreten.

Gao ging wieder ans Steuer. Doch der Motor stotterte und knirschte. Er versuchte es mit voller Kraft, der Auspuff spuckte schwarzen Rauch aus, aber das Boot bewegte sich kein bißchen. Kapitän Gao kratzte sich am Kopf. Schließlich wandte er sich entschuldigend an seinen Freund. Er war ratlos. Der Kanal war zwar schmal, aber nicht seicht. Die Schiffsschraube war durch das Ruder geschützt. Sie konnte nicht auf Grund gelaufen sein. Vielleicht hatte sich etwas darin verwickelt, ein zerrissenes Fischernetz oder eine Schnur. Ersteres war allerdings eher unwahrscheinlich – der Kanal war zu schmal für die Fischer, sie würden hier kaum ihre Netze auswerfen. Doch falls sich tatsächlich eine Schnur darin verfangen hatte, würde es schwierig sein, die Schraube wieder freizubekommen.

Er stellte den Motor ab und sprang ans Ufer. Noch immer konnte er nichts Ungewöhnliches erkennen. Also begann er, mit einem langen Bambusstab in dem trüben Wasser herumzustochern. Den Stab hatte er von daheim mitgebracht, seine Frau pflegte daran auf dem Balkon die Wäsche aufzuhängen. Nach einigen Minuten stieß er unter dem Boot auf etwas.

Es fühlte sich weich an und war ziemlich groß.

Er zog Hemd und Hose aus und stieg ins Wasser. Problemlos bekam er das Ding zu fassen, doch es kostete ihn einige Mühe, es durchs Wasser ans Ufer zu ziehen.

Es war ein großer schwarzer Plastiksack.

Er war fest zugebunden. Vorsichtig knotete er die Schnur auf, beugte sich hinab und blickte hinein.

»Verdammt!« fluchte er.

»Was ist denn los?«

»Sieh dir das an! Haare!«

Liu beugte sich vor und schnappte ebenfalls nach Luft.

Es waren die Haare einer toten, nackten Frau.

Mit Lius Hilfe zog Gao die Leiche aus dem Sack und legte sie auf den Rücken.

Sie hatte sicher noch nicht sehr lange im Wasser gelegen. Ihr Gesicht war zwar etwas aufgedunsen, aber es war noch deutlich zu erkennen, daß sie jung und hübsch gewesen war. In ihrem dichten schwarzen Haar hatte sich ein Strang grüner Binsen verfangen. Ihr Körper war gespenstisch weiß, die Brüste schlaff, die Hüften breit, das schwarze Schamhaar naß.

Gao sprang zurück ins Boot, holte eine alte Decke und warf sie über die Leiche. Mehr fiel ihm momentan nicht ein. Schließlich brach er noch den Bambusstab entzwei. Es war zwar schade um ihn, aber er würde von nun an nur Unglück bringen. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, seine Frau tagein, tagaus die Wäsche daran aufhängen zu sehen.

»Was sollen wir jetzt tun?« fragte Liu.

»Wir können nichts tun. Berühre nichts, vor allem nicht die Leiche, bis die Polizei kommt.«

Gao holte sein Handy heraus. Er zögerte, bevor er die Nummer der Shanghaier Polizei wählte. Er würde einen Bericht schreiben und genau erklären müssen, wie er die Leiche gefunden hatte. Doch zuallererst würde er erklären müssen, warum er überhaupt dort gewesen war, zu dieser Tageszeit und mit Liu an Bord. Eigentlich hätte er seine Schicht abarbeiten müssen; statt dessen hatte er sich mit seinem Freund ein paar vergnügte Stunden gemacht, geangelt, getrunken. Aber er würde die Wahrheit sagen müssen, es blieb ihm nichts anderes übrig. Er wählte die Nummer.

»Hauptwachtmeister Yu Guangming, Spezialabteilung«, meldete sich eine Stimme.

»Hier Kapitän Gao Ziling von der Vorhut, Mitarbeiter der städtischen Wasserwacht. Ich melde einen Mord. Im Baili-Kanal wurde eine Leiche entdeckt, die Leiche einer jungen Frau.«

»Wo liegt denn der Baili-Kanal?«

»Westlich von Qingpu. Hinter der städtischen Papierfabrik Nummer 2, etwa zehn Kilometer davon entfernt.«

»Einen Moment, ich sehe kurz nach, wen ich losschicken kann«, sagte Hauptwachtmeister Yu.

Kapitän Gao wurde nervös, während am anderen Ende der Leitung Stille eintrat.

»Kurz nach halb fünf ist ebenfalls ein Mord gemeldet worden«, sagte der Hauptwachtmeister schließlich. »Alle sind unterwegs, sogar Oberinspektor Chen. Ich mache mich selbst auf den Weg. Ich nehme an, Sie wissen genug, um nichts durcheinanderzubringen. Warten Sie dort auf mich.«

Gao blickte auf seine Uhr. Der Hauptwachtmeister würde mindestens zwei Stunden brauchen. Ganz zu schweigen von der Zeit, die sie danach noch mit ihm verbringen müßten. Er und Liu würden als Zeugen gebraucht werden und dann wahrscheinlich noch mit auf die Wache kommen müssen, um dort ihre Aussage zu Protokoll zu geben.

Das Wetter war angenehm, es war mild, weiße Wolken zogen ruhig am Himmel entlang. Er sah eine dunkle Kröte in einen Spalt zwischen den Steinen springen; der graue Fleck hob sich deutlich von den kreideweißen Steinen ab. Auch eine Kröte konnte Unglück verheißen. Er spuckte abermals auf den Boden.

Selbst wenn sie es schafften, rechtzeitig zum Abendessen daheim zu sein, wären die Fische schon ziemlich lange tot. Dies würde der Suppe nicht sonderlich bekommen.

»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Gao. »Ich hätte eine andere Stelle vorschlagen sollen.«

»Wie unser alter Weiser sagt: ›In acht oder neun von zehn Fällen gehen Dinge in dieser unserer Welt schief‹«, erwiderte Liu, der allmählich seine Fassung wiedergewann. »Niemand ist schuld daran.«

Wieder spuckte Gao auf den Boden und blickte dabei auf die Füße der toten Frau, die unter der Decke hervorragten. Weiße, wohlgeformte Füße mit geschwungenem Rist, zierlichen Zehen, dunkelrot lackierten Nägeln.

Dann sah er die glasigen Augen eines toten Karpfens, der an der Oberfläche des Eimers trieb. Kurz beschlich ihn das Gefühl, der Fisch starre ihn an; sein Bauch wirkte gespenstisch weiß und aufgedunsen.

»Diesen Tag unseres Wiedersehens werden wir jedenfalls nicht vergessen«, meinte Liu.

 

 

2

 

Um 16.30 Uhr an jenem Tag wußte Oberinspektor Chen Cao, der Leiter der Spezialabteilung innerhalb der Mordkommission der Shanghaier Polizei, noch nichts von diesem Fall.

An jenem Freitagnachmittag war es ziemlich schwül. Aus der Pappel vor dem Fenster seines neuen Einzimmerapartments, das sich im zweiten Stock eines grauen Backsteingebäudes befand, drang gelegentliches Zirpen von Zikaden an sein Ohr. Aus dem Fenster blickte man auf die vielbefahrene Huaihai Zhonglu, die allerdings weit genug entfernt lag, daß man den Autolärm nicht hörte. Von hier aus war es nicht weit bis ins Zentrum des Bezirks Luwan; zur Nanjing Lu im Norden oder zum Stadtgott-Tempel im Süden brauchte man zu Fuß keine zwanzig Minuten, und in klaren Sommernächten wehte vom Huangpu eine frische Brise herüber.

Oberinspektor Chen hätte eigentlich noch im Büro bleiben sollen, doch er war heimgegangen, um sich dort mit einem Problem zu beschäftigen. Nun saß er auf seiner Ledercouch, die Beine auf einen grauen Schaukelstuhl gelegt, und musterte eine Liste auf der ersten Seite eines kleinen Notizblocks. Er kritzelte ein paar Worte darunter, strich sie wieder durch, sah aus dem Fenster. Im Licht der Nachmittagssonne blickte er auf einen hohen Kran, der sich gegen einen Neubau etwa einen Häuserblock entfernt abhob. Noch immer wurde an der Wohnanlage gebaut.

Dem Oberinspektor war die Wohnung erst vor kurzem zugewiesen worden, und nun plante er seine Einweihungsparty. Wenn man in Shanghai eine Wohnung bekam, mußte das gefeiert werden. Seine Freude war groß. Spontan hatte er einige Einladungen verschickt und war nun dabei zu überlegen, was er seinen Gästen vorsetzen sollte. Ein einfaches Mahl würde nicht genügen, dies hatte ihm Lu, der den Spitznamen »Überseechinese« trug, bereits zu bedenken gegeben. Ein solcher Anlaß erforderte ein besonderes Menü.

Ein weiteres Mal ging er die Namen auf seiner Liste durch. Wang Feng, Lu Tonghao und dessen Frau Ruru, Zhou Kejia und dessen Frau Liping. Die Zhous hatten ihn zwar angerufen und gemeint, daß sie vielleicht nicht kommen könnten, weil sie zu einer Veranstaltung an der East China Normal University eingeladen seien, aber er hatte sie trotzdem noch nicht von seiner Liste gestrichen.

Das Telefon auf dem Aktenschrank läutete. Er ging hinüber und hob den Hörer ab.

»Hier bei Chen.«

»Herzlichen Glückwunsch, Genosse Oberinspektor Chen!« sagte Lu. »Hmmm, fast rieche ich schon all die wundervollen Düfte, die aus deiner neuen Küche dringen.«

»Sag bitte nicht, daß ihr verhindert seid, Überseechinese Lu. Ich rechne fest mit euch.«

»Selbstverständlich kommen wir. Es ist nur so, daß das Bettlerhuhn noch ein paar Minuten schmoren muß. Das köstlichste Huhn in ganz Shanghai, das garantiere ich dir. Nur mit den besten Piniennadeln aus den Gelben Bergen gebraten, damit sich sein spezielles Aroma richtig entfalten kann. Keine Sorge, wir würden deine Einweihungsparty auf gar keinen Fall verpassen wollen, du Glückspilz!«

»Danke.«

»Und vergiß nicht, ein paar Flaschen Bier in den Kühlschrank zu stellen. Und auch die Gläser, das macht viel aus!«

»Ich habe schon sechs Flaschen kaltgestellt, Qingdao und Bud. Und der Reiswein aus Shaoxing soll erst bei eurer Ankunft erwärmt werden, richtig?«

»Jetzt darfst du dich schon halb als Gourmet fühlen. Vielleicht sogar schon etwas mehr als das. Jedenfalls lernst du rasch.«

Dieser Kommentar war wieder mal typisch für Lu. Selbst über das Telefon merkte Chen ihm deutlich an, wie aufgeregt ihn die Aussicht auf ein gutes Abendessen stimmte. Wenn man sich mit Lu unterhielt, konnte man sicher sein, daß das Gespräch nach wenigen Minuten auf Lus Lieblingsthema umschwenkte – Essen.

»Mit dem Überseechinesen Lu als Lehrer kann ich doch gar nicht umhin, Fortschritte zu machen.«

»Heute abend nach der Party werde ich dir ein neues Rezept verraten«, sagte Lu. »Du bist doch wirklich ein Glückspilz, Genosse Oberinspektor! Deine großartigen Vorfahren müssen der Glücksgöttin Unmengen Räucherwerk angezündet haben. Und dem Küchengott auch.«

»Na ja, meine Mutter hat zwar Räucherkerzen geopfert, aber ich weiß nicht, für welche Gottheit.«

»Guanyin, das weiß ich. Einmal – es ist gewiß schon gut zehn Jahre her – habe ich sie gesehen, wie sie sich vor einer Tonfigur verneigte. Damals habe ich sie gefragt.«

In Lus Augen war Oberinspektor Chen in den Schoß der Glücksgöttin oder sonst eines Gottes gefallen, der ihm der chinesischen Mythologie zufolge Glück gebracht hatte. Anders als die meisten seiner Generation war Chen Anfang der siebziger Jahre nicht aufs Land geschickt worden, um »von den armen und unteren Mittelbauern umerzogen zu werden«, obwohl er ein »gebildeter Jugendlicher« mit höherer Schulbildung gewesen war. Als Einzelkind hatte er in der Stadt bleiben und sich mit dem Fach seiner Wahl beschäftigen dürfen, nämlich Englisch. Nach der Kulturrevolution studierte Chen am Fremdspracheninstitut in Peking; die Eingangsprüfung in Englisch bestand er mit Bravour. Danach bekam er eine Stelle bei der Shanghaier Polizei. Und nun zeigte sich abermals, wieviel Glück Chen immer wieder hatte. In einer überbevölkerten Stadt wie Shanghai, in der über dreizehn Millionen Menschen lebten, herrschte große Wohnungsnot. Dennoch hatte man ihm ein privates Apartment zugewiesen.

Shanghais Wohnungsproblem reichte weit in die Vergangenheit hinein. In der Ming-Dynastie war Shanghai nur ein kleines Fischerdorf gewesen, doch dann hatte es sich zu einer der blühendsten Städte des Fernen Ostens entwickelt; ausländische Firmen und Fabriken schossen wie Bambusschößlinge nach einem Frühlingsregen aus dem Boden, aus allen Himmelsrichtungen strömten die Menschen in die Stadt. Unter der Herrschaft der Warlords aus dem Norden und der Nationalregierung wurde kaum Wohnraum geschaffen. Als 1949 die Kommunisten an die Macht kamen, verschlechterte sich die Lage den Erwartungen zum Trotz noch mehr. Der Vorsitzende Mao förderte große Familien, er ließ ihnen sogar subventionierte Lebensmittel und eine kostenlose Kinderbetreuung zukommen. Es dauerte nicht lange, bis die verheerenden Folgen spürbar wurden. Oft mußten sich zwei bis drei Generationen ein einziges, nur zwölf Quadratmeter kleines Zimmer teilen. Bald wurde das Wohnen zu einem brisanten Thema für die »Arbeitseinheiten« des Volkes – die Fabriken, Firmen, Schulen, Krankenhäuser oder das Polizeipräsidium –, denen die Stadtverwaltung eine jährliche Wohnungsquote zuwies. Die Arbeitseinheiten bestimmten dann, welcher Arbeiter eine Wohnung bekam. Zum Teil war Chen auch deshalb so zufrieden, weil er seine Wohnung durch die Intervention seiner Arbeitseinheit erhalten hatte.

Während er nun die letzten Vorbereitungen für seine Einweihungsfeier traf – er schnitt gerade eine Tomate –, erinnerte er sich an ein Lied, das er in der Grundschule unter dem Porträt des Vorsitzenden Mao gesungen hatte. Dieses Lied war in den sechziger Jahren sehr populär gewesen: »Die Fürsorge der Partei erwärmt mein Herz«. In seiner Wohnung hing kein Porträt des Vorsitzenden Mao.

Die Wohnung war nicht luxuriös. Sie hatte keine richtige Küche, nur einen schmalen Gang mit einem zweiflammigen Gasherd in einer Ecke. Darüber hing ein kleiner Wandschrank. Es gab auch kein richtiges Bad, sondern nur einen winzigen Raum, gerade groß genug für eine Toilette und ein Zementviereck mit einem Duschkopf aus Edelstahl. An heißes Wasser war nicht zu denken. Er hatte zwar einen Balkon, auf dem er allen möglichen Ramsch hätte aufbewahren können – Korbtruhen, Regenschirme, die noch zu reparieren waren, verrostete Messingspucknäpfe oder was nicht anderweitig vernünftig unterzubringen gewesen wäre. Aber da er solche Dinge nicht besaß, standen jetzt nur ein Plastikklappstuhl und ein paar Regalbretter auf seinem Balkon.

Für ihn war die Wohnung gut genug.

Im Büro hatten sich einige Kollegen über seine angeblichen Privilegien beschwert. In den Augen derer, die dort schon länger arbeiteten oder größere Familien hatten und auf der Warteliste ausharren mußten, war Oberinspektor Chens jüngste Errungenschaft ein weiterer Beweis für die ungerechte neue Kaderpolitik, das war ihm klar. Doch er beschloß, in diesem Moment nicht weiter an jene unerfreulichen Klagen zu denken. Er mußte sich mit dem abendlichen Menü befassen.

Im Vorbereiten einer Party hatte er wenig Erfahrung. Er konzentrierte sich auf diejenigen Rezepte in seinem Kochbuch, die als einfach gekennzeichnet waren. Schon diese waren zeitaufwendig genug, doch nun füllte ein buntes Gericht nach dem anderen den Tisch, und im Raum breitete sich eine angenehme Mischung unterschiedlicher Düfte aus.

Um zehn vor sechs war der Tisch gedeckt. Zufrieden mit dem Ergebnis seiner Mühen, rieb er sich die Hände. Das Hauptgericht bestand aus Schweinemagenstücken auf einem Bett grüner Napa, dünnen Scheiben Räucherkarpfen, gebettet auf zarte Jicai-Blätter, und gedämpften Krabben in Tomatensauce. Daneben gab es noch ein Gericht aus Aalen mit Frühlingszwiebeln und Ingwer, das er in einem Restaurant bestellt hatte. Außerdem hatte er eine Dose gedämpftes Meiling-Schweinefleisch aufgemacht und mit etwas Gemüse verfeinert, um sein Buffet um ein weiteres Gericht zu bereichern. Als Beilage stellte er eine kleine Schale mit Tomaten- und eine zweite mit Gurkenscheiben auf den Tisch. Sobald seine Gäste eingetroffen waren, wollte er aus der Sauce des eingemachten Schweinefleisches und aus sauer eingelegtem Gemüse noch eine Suppe zaubern.

Er suchte gerade einen Topf, in dem er den Shaoxing-Wein erwärmen wollte, da klingelte es an der Tür.

Wang Feng, eine junge Reporterin der Wenhui-Zeitung, einer der einflußreichsten Tageszeitungen Chinas, war der erste Gast. Sie war eine attraktive, junge, intelligente Frau, die alles zu haben schien, was eine erfolgreiche Reporterin ausmachte. Im Augenblick hatte sie jedoch nicht ihre schwarze Lederaktentasche in der Hand, sondern einen großen Pinienkuchen.

»Herzlichen Glückwunsch, Oberinspektor Chen!« sagte sie. »Was für eine geräumige Wohnung!«

»Danke«, sagte er und nahm ihr den Kuchen ab.

Er führte sie rasch durch sein Reich. Ihr schien die Wohnung sehr gut zu gefallen, sie sah sich alles ganz genau an, öffnete die Schranktüren und trat auch ins Bad, wo sie sich auf Zehenspitzen stellte, um die Wasserleitung der Dusche und den Duschkopf zu berühren.

»Sogar ein Bad!«

»Na ja, wie die meisten Shanghaier habe ich immer davon geträumt, einmal eine Wohnung in dieser Gegend zu bekommen«, sagte er und überreichte ihr ein Glas Schaumwein.

»Und dieser wundervolle Blick aus dem Fenster!« sagte sie. »Das ist ja wie gemalt!«

Wang lehnte sich mit dem Glas in der Hand an den frisch gestrichenen Fensterrahmen und überkreuzte die Füße.

»Sie machen ein Gemälde daraus!« sagte er.

Das durch die Plastikjalousien hereinströmende Nachmittagslicht zauberte einen matten Porzellanschimmer auf ihre Haut. Ihre klaren, nur ganz leicht mandelförmig geschnittenen Augen verliehen ihrem Gesicht einen ausgeprägten Charakter. Ihr dichtes schwarzes Haar reichte ihr weit über die Schultern. Sie trug ein weißes T-Shirt und einen Faltenrock mit einem breiten Krokodilledergürtel, der ihre emanzipierte Wespentaille zusammenschnürte und ihre Brüste unterstrich.

Wespentaille – dieses Bild stammte von Li Yu, dem letzten Kaiser der Südlichen Tang-Dynastie. Er war ein brillanter Dichter und besang in vielen berühmten Gedichten die atemberaubende Schönheit seiner kaiserlichen Lieblingskonkubine. Der Dichterkaiser fürchtete, sie zu zerbrechen, wenn er sie zu fest hielt. Angeblich hatte sich unter Li Yus Herrschaft auch der Brauch des Füßewickelns eingebürgert. Über Geschmack läßt sich nicht streiten, ging Chen durch den Kopf.

»Wie meinen Sie das?« fragte sie.

»Taille so schlank, gewichtslos tanzt sie auf meiner Hand«, sagte er, wobei er sich nun auf ein anderes Gedicht bezog, denn ihm war das tragische Ende der kaiserlichen Konkubine eingefallen: Sie hatte sich in einem Brunnen ertränkt, als die Südliche Tang-Dynastie gestürzt worden war. »Nicht einmal Du Mus berühmte Zeilen werden Ihnen gerecht.«

»Haben Sie wieder mal ein paar Komplimente aus der Tang-Dynastie abgekupfert, Sie Dichter-Polizist?«

Das klang eher nach der lebhaften jungen Frau, die er zum erstenmal im Wenhui-Haus getroffen hatte. Chen war sehr froh, sie wieder so zu erleben. Sie hatte ziemlich lange gebraucht, um über die Flucht ihres Mannes hinwegzukommen. Er hatte in Japan studiert und beschlossen, nicht mehr nach China zurückzukehren, als sein Visum abgelaufen war. Wang war darüber natürlich sehr betrübt gewesen.

»In diesem Fall nur Dichter«, sagte er.

»Mit Ihrer neuen Wohnung haben Sie jetzt jedenfalls keine Entschuldigung mehr für Ihr Junggesellendasein.« Sie leerte ihr Glas und warf schwungvoll ihr Haar zurück.

»Na ja, dann stellen Sie mir doch ein paar nette Mädchen vor!«

»Brauchen Sie meine Hilfe?«

»Warum nicht, wenn Sie sie mir anbieten?« Doch dieses Thema wollte er jetzt nicht weiter vertiefen. »Wie geht es Ihnen denn überhaupt? In bezug auf eine eigene Wohnung, meine ich. Wetten, daß Sie auch bald eine bekommen?«

»Wenn ich doch nur eine Oberinspektorin wäre, ein aufsteigender politischer Stern.«

»Na klar«, sagte er und hob seine Tasse. »Tausend Dank!«

Aber bis zu einem gewissen Grad hatte sie natürlich recht.

Sie hatten sich aus rein beruflichen Gründen kennengelernt. Sie sollte einen Artikel über die »Polizisten des Volkes« schreiben, und Parteisekretär Li vom Shanghaier Polizeipräsidium hatte seinen Namen erwähnt. Als sie sich dann mit Chen in ihrem Büro unterhielt, interessierte sie sich mehr für seine abendlichen Unternehmungen als für seine Arbeit. Chen hatte einige westliche Kriminalromane übersetzt. Die Reporterin war zwar kein Krimifan, aber sie erkannte darin einen Aufhänger für ihren Artikel. Die Leser reagierten sehr positiv auf das Bild eines jungen, gut ausgebildeten Polizisten, der »noch spät in der Nacht arbeitet und Bücher übersetzt, um seinen beruflichen Horizont zu erweitern, während die Stadt Shanghai friedlich schläft«. Der Artikel erregte die Aufmerksamkeit eines Vizeministers in Peking; Genosse Zheng Zuoren glaubte, ein neues Vorbild entdeckt zu haben. Zum Teil war es Zhengs Empfehlungen zu verdanken, daß Chen zum Oberinspektor befördert worden war.

Aber es stimmte auch nur zum Teil, daß Chen Kriminalromane übersetzte, um sich beruflich fortzubilden. Vielmehr wollte er damit als Jungpolizist sein kümmerliches Gehalt etwas aufbessern. Er hatte auch eine Sammlung moderner amerikanischer Lyriker übersetzt, doch anstelle eines Honorars bot ihm der Verlag für seine Arbeit nur zweihundert Exemplare des Gedichtbandes an.

»Waren Sie sich denn über die Motive für meine Übersetzungen so sicher?« fragte er nun.

»Natürlich, das habe ich doch auch in meinem Artikel erklärt: ›Das Pflichtgefühl eines Volkspolizisten‹.« Lachend drehte sie ihr Glas im Sonnenlicht.

In diesem Moment war sie nicht mehr die Reporterin, die sich ernst mit ihm unterhalten hatte, sehr aufrecht hinter ihrem Schreibtisch sitzend und ein aufgeschlagenes Notizbuch vor sich. Und er war auch nicht mehr ein Oberinspektor, sondern einfach nur ein Mann in seinen eigenen vier Wänden, zusammen mit einer Frau, deren Gesellschaft er genoß.

»Es ist jetzt über ein Jahr her, seit wir uns im Gang des Wenhui-Hauses getroffen haben«, sagte er und schenkte ihr noch etwas Wein nach.

»Die Zeit ist ein Vogel / Sie hockt, und sie fliegt«, sagte sie.

Diese Zeilen stammten aus seinem kurzen Gedicht »Abschied«. Nett, daß sie sich daran erinnerte.

»Dazu hat Sie sicher ein Abschied inspiriert, den Sie nicht vergessen können«, sagte sie. »Ein Abschied von jemandem, den Sie sehr gern gehabt haben müssen.«

Damit lag sie tatsächlich richtig, in diesem Gedicht ging es um den Abschied von einer guten Freundin. Er hatte sich vor vielen Jahren in Peking zugetragen, und dennoch erinnerte er sich noch allzugut daran. Mit Wang hatte er jedoch nie darüber gesprochen. Sie blickte ihn über den Rand ihres Glases hinweg an und nahm mit glänzenden Augen einen tiefen Schluck.

Lag da etwa eine Spur Eifersucht in ihrer Stimme?

Das Gedicht hatte er schon vor langer Zeit geschrieben, doch auf den Anlaß wollte er jetzt nicht eingehen. »Ein Gedicht muß nicht unbedingt mit dem Leben des Dichters zu tun haben. Die Lyrik ist unpersönlich. T. S. Eliot hat gesagt, daß es dabei nicht darum geht, einer emotionalen Krise Luft zu machen –«

»Was, eine emotionale Krise?« Die erregte Stimme des Überseechinesen Lu brach in ihr Gespräch. Lu stampfte mit einem riesigen Bettlerhuhn in den Händen herein. Sein modischer, mit dicken Schulterpolstern versehener weißer Anzug und seine knallrote Krawatte ließen sein rundes Gesicht und seinen rundlichen Körper noch breiter erscheinen. Lus Frau Ruru, dünn wie ein Bambusrohr, wirkte in ihrem engen gelben Kleid eher eckig. Sie hielt einen großen lilafarbenen Keramiktopf in den Händen.

»Worüber habt ihr zwei denn gerade gesprochen?« wollte sie wissen.

Lu stellte sein Huhn auf den Tisch und ließ sich auf das neue Ledersofa plumpsen. Er sah die beiden neugierig an.

Chen beantwortete die Frage jedoch nicht. Er hatte eine gute Entschuldigung, schließlich mußte er das Bettlerhuhn auswickeln. Es roch wundervoll. Angeblich stammte das Rezept von einem Bettler, der ein Huhn in Lehm und in ein Lotosblatt gewickelt und dann in einem Gluthaufen gebraten hatte. Das Ergebnis war ein durchschlagender Erfolg. Lu hatte sicher lange für die Zubereitung gebraucht.

Dann wandte Chen sich dem Keramiktopf zu. »Was ist denn das?«

»Tintenfischeintopf mit Schweinefleisch«, erklärte Ruru. »Lu meinte, das hättest du in deiner Schulzeit gern gegessen.«

»Genosse Oberinspektor«, fuhr Lu fort, »aufstrebender Parteikader und obendrein noch romantischer Dichter, du brauchst meine Hilfe nicht, nicht in dieser neuen Wohnung, nicht mit einem jungen Mädchen an deiner Seite, das so hübsch ist wie eine Blume.«

»Was meinen Sie damit?« fragte Wang.

»Na ja, aber jetzt ist es Zeit zu essen – wie köstlich es hier riecht! Laßt uns anfangen, sonst werde ich verrückt.«

»So ist er eben. Wenn er mit seinem alten Schulfreund zusammen ist, vergißt er sich völlig«, erklärte Ruru Wang, die sie bereits kennengelernt hatte. »Heute nennt nur noch Oberinspektor Chen ihn den ›Überseechinesen‹.«

»Es ist jetzt sieben«, sagte Chen. »Professor Zhou und seine Frau werden wohl nicht mehr kommen, wenn sie bis jetzt noch nicht da sind. Wir können also anfangen.«

Ein Eßzimmer gab es nicht. Mit Lus Hilfe stellte Chen einen Klapptisch und Klappstühle auf. Wenn er allein war, aß Chen an seinem Schreibtisch. Doch für Anlässe wie diesen hatte er sich die Klappmöbel besorgt, die ja nicht viel Platz brauchten.

Das Abendessen war ein Erfolg auf ganzer Linie. Trotz Chens Zweifel an seinen Kochkünsten vertilgten die Gäste alles rasch und vergnügt. Die improvisierte Suppe kam besonders gut an. Lu fragte ihn sogar nach dem Rezept.

Schließlich stand Ruru auf und bot an, den Abwasch zu übernehmen. Chen wollte sie davon abhalten, doch Lu meinte: »Genosse Oberinspektor, meine gute alte Gattin sollte nicht der Gelegenheit beraubt werden, ihre Hausfrauentugenden unter Beweis zu stellen.«

»Ihr Chauvinisten!« sagte Wang und gesellte sich zu Ruru in die Küche.

Lu half Chen, den Tisch abzuräumen, verstaute die Reste und machte eine Kanne Oolong-Tee.

»Ich muß dich um einen Gefallen bitten, alter Freund«, sagte er schließlich, mit der Teetasse in der Hand.

»Um was geht es denn?«

»Ich habe immer davon geträumt, ein Restaurant aufzumachen. Das Wichtigste an einem Restaurant ist die Lage. Ich habe mich lange umgesehen, und jetzt bietet sich mir eine einzigartige Gelegenheit. Du kennst doch das Meeresfrüchtehaus in der Shauxi Nanlu?«

»Ja, zumindest vom Hörensagen.«

»Xin Gen, der Besitzer, leidet unter der Spielsucht, er spielt Tag und Nacht. Sein Geschäft hat er völlig vernachlässigt, seine Köche sind lauter Idioten, und jetzt ist er pleite.«

»Dann solltest du unbedingt zuschlagen.«

»Für diese ausgezeichnete Lage verlangt Xin einen unglaublich niedrigen Preis, und ich müßte nicht einmal die ganze Summe auf den Tisch legen, weil er so verzweifelt ist. Er will momentan nur eine Anzahlung von fünfzehn Prozent. Dennoch bräuchte ich zum Einstieg einen Kredit. Ich habe zwar die paar Pelzmäntel verkauft, die mein Alter Herr mir hinterlassen hat, aber es fehlen uns noch immer ein paar Tausender.«

»Du hättest gar keinen besseren Zeitpunkt wählen können, Überseechinese. Ich habe soeben zwei Überweisungen vom Lijiang-Verlag erhalten«, sagte Chen. »Die eine für die Neuauflage von Das Geheimnis des chinesischen Sargs, die andere als Vorschuß für Der tiefe Schlaf

So günstig war der Zeitpunkt natürlich auch wieder nicht. Chen hatte daran gedacht, sich ein paar Möbel für seine neue Wohnung zu kaufen. Er hatte in einem Trödelladen in Suzhou einen Mahagonischreibtisch im Ming-Stil gesehen, der vielleicht sogar tatsächlich von einem Schreinermeister aus der Ming-Dynastie stammte. Fünftausend Yuan sollte er kosten. Das war zwar teuer, aber vielleicht war es ja genau der Schreibtisch, der ihn zu seinen zukünftigen Gedichten inspirieren würde. Einige Kritiker hatten nämlich geklagt, daß er sich von der Tradition der klassischen chinesischen Dichtkunst entfernte – vielleicht würde ihm der antike Schreibtisch eine Botschaft aus der Vergangenheit vermitteln. Deshalb hatte er den Chef des Lijiang-Verlags um einen Vorschuß gebeten.

Chen holte die beiden Schecks, unterschrieb sie auf der Rückseite, fügte noch einen Scheck von sich hinzu und überreichte sie Lu.

»Nimm sie!« sagte er, »und lade mich einmal ein, wenn dein Restaurant läuft.«

»Ich werde dir das Geld natürlich mit Zinsen zurückerstatten«, sagte Lu.

»Zinsen? Noch ein Wort über Zinsen und ich nehme dir die Schecks wieder weg.«

»Dann werde doch mein Partner! Ich muß einfach etwas tun, alter Freund, sonst krieg ich mit Ruru heute abend noch die Krise.«

»Und worüber unterhaltet ihr beide euch jetzt? Noch eine Krise?«

Wang kam ins Wohnzimmer zurück, gefolgt von Ruru.

Lu beantwortete die Frage nicht. Statt dessen stellte er sich an das Kopfende des Tisches, klopfte mit einem Stäbchen an sein Glas und hob zu einer kleinen Rede an. »Ich möchte euch eine frohe Botschaft verkünden. Seit einigen Wochen arbeiten Ruru und ich an der Eröffnung eines Restaurants. Das einzige Problem war unser Mangel an Kapital. Dank eines äußerst großzügigen Darlehens meines alten Freundes und Genossen, des Oberinspektors Chen, ist dieses Problem nun gelöst. Bald, sogar sehr bald, wird das neue Restaurant Moscow Suburb seine Pforten öffnen.

Aus unseren Zeitungen erfahren wir, daß wir im sozialistischen China an der Schwelle einer neuen Zeit stehen. Einige alte Sturschädel grummeln, daß China immer kapitalistischer anstatt sozialistischer würde, aber wen kümmert das? Das sind doch alles nur Schlagworte. Hauptsache ist doch, die Menschen haben ein besseres Leben. Und genau das werden wir haben.

Und auch meinem guten alten Freund hier geht es bestens. Nicht nur, daß er befördert worden ist – Oberinspektor mit Anfang Dreißig! –, nein, er hat auch diese wunderbare neue Wohnung bekommen. Und an seiner Einweihungsfeier nimmt eine wunderschöne Reporterin teil.

Und jetzt laßt uns feiern!«

Lu erhob sein Glas, dann steckte er eine Kassette in den Recorder, und Walzerklänge breiteten sich im Raum aus.

»Es ist schon fast neun!« Ruru blickte auf ihre Uhr. »Ich kann meine Frühschicht nicht absagen.«

»Keine Sorge«, sagte Lu. »Ich werde dich krank melden. Eine Sommergrippe. Und du, Genosse Oberinspektor, erzählst mir jetzt nichts von deiner Polizeiarbeit! Laß mich doch wenigstens diesen Abend einmal ein echter Überseechinese sein!«

»Das ist doch wieder mal typisch!« Chen lächelte.

»Ein Überseechinese«, fügte Wang hinzu, »der die ganze Nacht lang trinkt und tanzt.«

Oberinspektor Chen war kein guter Tänzer.

Während der Kulturrevolution hatte es für das chinesische Volk nur einen einzigen Tanz gegeben, der auch nur im entferntesten diesen Namen verdiente: den loyalen Charaktertanz. Dabei stampften die Menschen im Gleichklang auf den Boden, um dem Vorsitzenden Mao ihre Loyalität zu zeigen. Allerdings hieß es, hinter den Mauern der Verbotenen Stadt hätten sogar in jener Zeit viele ausschweifende Bälle stattgefunden. Außerdem hieß es, der Vorsitzende Mao, ein geschickter Tänzer, habe »auch nach dem Ball seine Beine nicht von denen seiner Partnerin gelöst«. Natürlich wußte niemand, ob diese Gerüchte der Wahrheit entsprachen. Wahr hingegen ist, daß das chinesische Volk erst ab Mitte der achtziger Jahre ohne Angst vor der Obrigkeit tanzen durfte.

»Ich muß wohl oder übel mit meiner Löwin tanzen«, sagte Lu mit gespielter Enttäuschung in der Stimme.

Dank Lus Wahl blieb nur Chen als Partner für Wang, worüber er nicht unglücklich war. Mit einer Verbeugung nahm er die ihm dargebotene Hand.

Wang war eine recht begabte Tänzerin. Sie übernahm die Führung und drehte sich auf ihren hohen Absätzen unermüdlich in dem engen Raum, wobei ihr schwarzes Haar die weißen Wände streifte. Da er etwas kleiner war als sie, mußte er zu ihr aufblicken, während er sie in seinen Armen hielt.

Eine langsame, verträumte Ballade klang in die Nacht hinaus. Ohne die Hände von seinen Schultern zu nehmen, streifte sie sich die Schuhe ab. »Wir sind zu laut«, sagte sie und lächelte ihn strahlend an.

»Was für ein rücksichtsvolles Mädchen!« sagte Lu.

»Was für ein nettes Paar!« fügte Ruru hinzu.

Sie war tatsächlich rücksichtsvoll. Auch Chen hatte sich wegen des Lärms Sorgen gemacht. Er wollte seine neuen Nachbarn nicht gleich verärgern.

Zu einigen der Melodien konnte man langsam tanzen. Entspannt bewegten sie sich zu den Klängen, während diese wie Wellen um sie herum hochstiegen, zurückwichen, sie umspielten. Auf ihren bloßen Füßen schien sie fast zu schweben, Strähnen ihres Haars kitzelten seine Nase.

Als ein neues Lied erklang, versuchte er, die Führung zu übernehmen. Er wollte, daß sie sich drehte, doch leider war der Wechsel etwas zu plötzlich für sie. Sie fiel gegen ihn. Er spürte ihren Körper, weich und nachgiebig, in seiner ganzen Länge an dem seinen.

»Wir müssen jetzt los«, erklärte Lu nach diesem Lied.

»Unsere Tochter macht sich gewiß schon Sorgen«, fügte Ruru hinzu und nahm den von ihr mitgebrachten Keramiktopf.

»Ich gehe wohl besser auch«, sagte Wang und löste sich aus seinen Armen.

»Nein, Sie müssen noch bleiben«, sagte Lu und schüttelte heftig den Kopf. »Bei einer Einweihungsfeier dürfen nicht alle Gäste gleichzeitig aufbrechen.«

Chen begriff, warum die Lus gehen wollten. Lu intrigierte gern, das gab er offen zu. Es bereitete ihm ein Riesenvergnügen, hin und wieder gutgemeinte Ränke einzufädeln.

Es überraschte Chen angenehm, daß Wang nicht darauf beharrte, gemeinsam mit den anderen beiden aufzubrechen. Sie legte eine neue Kassette ein, und es erklang ein Stück, das er nicht kannte. Ihre Körper schmiegten sich eng aneinander. Durch ihr T-Shirt spürte er die Weichheit ihres Körpers, seine Wange streifte ihr Haar. Ihr Parfüm duftete nach Gardenien.

»Sie riechen herrlich!«

»Ach, dieses Parfüm hat mir Yang aus Japan geschickt.«

Die Erwähnung ihres Mannes in Japan und das Bewußtsein, allein mit ihr in seiner Wohnung zu tanzen, steigerten seine Anspannung. Er kam aus dem Takt und trat ihr auf die nackten Zehen.

»Oh, entschuldigen Sie bitte, habe ich Ihnen weh getan?«

»Nein«, sagte sie. »Eigentlich freut es mich sogar, daß Sie so unerfahren sind.«

»Ich werde versuchen, das nächste Mal ein besserer Partner zu sein.«

»Seien Sie doch einfach Sie selbst«, sagte sie.

Der Wind legte sich. Der Blumenvorhang hing plötzlich ganz still. Das Mondlicht strömte ins Zimmer und fiel auf ihr Gesicht. Es war jung und sehr lebendig. In diesem Augenblick rührte es an etwas tief in seinem Innern.

»Sollen wir noch mal von vorn anfangen?« fragte er.

Da klingelte das Telefon. Überrascht blickte er auf die Wanduhr. Er zögerte kurz, bevor er ihre Hand losließ und nach dem Telefon griff.

»Oberinspektor Chen?«

Die Stimme kam ihm bekannt vor, klang allerdings in diesem Moment, als käme sie aus einer anderen Welt. Resigniert zuckte er die Schultern. »Ja, Chen am Apparat.«

»Hier spricht Hauptwachtmeister Yu Guangming. Es geht um einen Mord.«

»Was ist passiert?«

»In einem Kanal westlich des Kreises Qingpu ist die nackte Leiche einer jungen Frau gefunden worden.«

»Ich – ich mache mich gleich auf den Weg«, sagte er, während Wang die Musik ausstellte.

»Das ist wahrscheinlich nicht nötig. Ich habe den Ort bereits überprüft. Die Leiche wird demnächst in die Gerichtsmedizin überführt. Ich wollte nur Bescheid sagen, daß ich mich darum gekümmert habe, weil sonst niemand im Büro war. Und Sie konnte ich nicht erreichen.«

»Gut so. Wir sind zwar eine Spezialabteilung, aber natürlich sollten wir in Aktion treten, wenn sonst niemand verfügbar ist.«

»Morgen früh werde ich ausführlich darüber berichten«, meinte Hauptwachtmeister Yu. »Bitte verzeihen Sie mir, falls ich Sie und Ihre Gäste gestört habe.«

Yu hatte wohl die Musik im Hintergrund gehört. Chen glaubte, in der Stimme seines Assistenten einen Anflug von Sarkasmus entdeckt zu haben.

»Jaja, schon gut«, sagte er. »Da Sie den Fundort der Leiche bereits überprüft haben, können wir uns morgen darüber unterhalten.«

»Gut, also dann bis morgen. Und viel Spaß noch bei Ihrem Fest in Ihrer neuen Wohnung.«

Der Sarkasmus in Yus Stimme war nicht zu überhören, aber er war verständlich, dachte Chen. Schließlich war sein Kollege um einiges älter als er und hatte bislang kein Glück bei der Wohnungszuweisung gehabt.

»Vielen Dank.«

Er legte den Hörer auf und wandte sich wieder Wang zu. Die stand an der Tür und hatte ihre Schuhe angezogen.

»Sie müssen sich mit wichtigeren Dingen befassen, Genosse Oberinspektor.«

»Nur ein neuer Fall, aber alles Nötige ist bereits getan worden«, sagte er. »Sie können ruhig noch bleiben.«

»Lieber nicht«, sagte sie. »Es ist schon spät.«

Die Tür stand offen.

Sie blickten sich an.

Hinter ihr sah man durch das Gangfenster auf die dunkle Straße, hinter ihm lag seine neue, hellerleuchtete Wohnung.

Sie umarmten sich zum Abschied.

Er trat auf den Balkon, doch ihre schlanke Gestalt war schon in der Nacht verschwunden. Aus einem offenen Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite wehten Geigenklänge herüber. Zwei Zeilen aus Li Shangyins »Zither« fielen ihm ein.

Die Hälfte der Zithersaiten sind gerissen, ohne ersichtlichen Grund

Eine Saite, ein Wirbel, Erinnerungen an die Jugend werden wach.

Li Shangyin war ein schwieriger Dichter aus der Tang-Zeit, er war berühmt für seine schwer faßbaren Zweizeiler. In diesem Gedicht ging es sicher nicht um das alte Musikinstrument. Warum waren ihm plötzlich diese Zeilen eingefallen?

War der Mordfall der Grund?

Eine junge Frau. Ein blühendes Leben vernichtet. All die zerrissenen Saiten. Die verlorengegangenen Klänge. Nur ein halbes Leben gelebt.

Oder war es etwas anderes?