Johns Versetzung nach Afrika setzte meine Eltern unter Zeitdruck. Am 27. September 1939 wurden sie in der Kirche von Little Baddow getraut. Anschließend reiste John mit dem Schiff nach Kapstadt, und von dort fuhr er mit dem Zug nach Nyassaland. Jean folgte ihm im Mai 1940 mit dem Flugboot Cassiopeia. Ihre dramatische Reise dauerte eine Woche und beinhaltete zahlreiche Landungen zum Nachtanken. Eine solche Zwischenstation war Rom, was bei ihr gewisse Ängste weckte, denn Mussolini stand kurz davor, auf deutscher Seite in den Krieg einzutreten. Hätte er das bereits getan, wären alle Passagiere der Cassiopeia bis zum Kriegsende interniert worden.
Als Jean in Afrika angekommen war, musste John ihr schonend beibringen, dass man ihn zu den King’s African Rifles (KAR) in Kenia einberufen hatte. Das junge Paar konnte in Nyassaland nur einen Monat lang sein Eheleben führen (und wenn ich zurückrechne, muss ich in dieser Zeit gezeugt worden sein), dann mussten sie abreisen. Das Bataillon aus Nyassaland schickte einen Fahrzeugkonvoi nach Kenia, wo die Soldaten ausgebildet werden sollten. John verschaffte sich irgendwie die Genehmigung, dem Konvoi fernzubleiben und selbst zu fahren. Für etwas anderes hatte er aber keine Erlaubnis: seine junge Ehefrau mitzunehmen. Die Frauen der Kolonialbeamten in Nyassaland hatten strikte Anweisung, im Land zu bleiben oder sich nach England oder Südafrika zu begeben, während ihre Männer nach Norden in den Krieg zogen. Soweit meine Mutter weiß, war sie als Einzige ungehorsam. Sie reiste illegal nach Kenia ein – was später zu Problemen führen sollte, über die ich noch berichten werde.
Am 6. Juli 1940 fuhren John, Jean und ihr Diener Ali, der sie treu begleitete und in meinem jungen Leben noch eine große Rolle spielen sollte, mit »Lucy Lockett« los, ihrem alten, klapprigen Ford-Kombi. Sie führten ein gemeinsames Reisetagebuch, aus dem ich im Folgenden zitieren werde. Absichtlich machten sie sich früher auf den Weg als der Konvoi für den Fall, dass sie unterwegs liegen blieben und gerettet werden mussten. Es war eine kluge Entscheidung: Schon auf der ersten Seite des Tagebuchs berichten sie, eine Gruppe von Jungen habe den Wagen anschieben müssen, damit er überhaupt ansprang. Am vierten Tag berichten sie, nachdem sie erfolgreich um ein paar Flaschenkürbisse gefeilscht hatten:
Nach dieser Episode fühlten wir uns sehr fröhlich, insbesondere weil wir den Kampf gewonnen und uns die Kürbisse gesichert hatten. John war so munter, dass er anfuhr, bevor Ali im Wagen war, und die Tür an einem Baum abriss. Das war sehr traurig.
Aber auch das Missgeschick mit der Autotür konnte die jungen Gemüter nicht erschüttern. Vergnügt fuhr das Trio weiter nach Norden, vorüber an Straußenvögeln und Giraffen, den Kilimandscharo am Horizont. Nachts schliefen sie im Laderaum des Wagens, an jedem Lagerplatz entzündeten sie ein Feuer, um die Löwen abzuschrecken, und dann kochten sie köstliche Eintöpfe und Pasteten auf einem behelfsmäßigen Herd, einer jener phantasievollen Erfindungen, an denen mein Vater sein Leben lang Freude hatte. Hin und wieder trafen sie mit dem Konvoi zusammen. Bei einer solchen Gelegenheit …
… verschwand ein großer militärischer Gentleman … mit rotem Hut und goldenen Litzen und Lakaien in einem indischen Laden, nachdem er uns befohlen hatte zu warten, und kam mit einer großen Schokoladentafel wieder heraus. Er gab sie mir und sagte: ›Ein Geschenk für ein kleines Mädchen auf einer großen Reise!‹ Die Schokolade aß John.
Ich frage mich, ob die Schokolade für den genialen Befehlshaber das Mittel war, um diskret darauf hinzuweisen, dass Jean illegal anwesend war?
Als sie sich der kenianischen Grenze näherten,
… waren wir darauf eingestellt, mich unter den Rollen mit dem Bettzeug zu verstecken, und Ali sollte sich oben draufsetzen, wenn die kenianische Grenze auftauchte. Aber die Grenze nahm nie konkrete Form an, und nach einer höchst faszinierenden, großartigen Reise fuhren wir in Nairobi ein, aber wir waren nicht klüger. John brachte mich im Norfolk Hotel unter und fuhr davon, um seinen Dienst anzutreten – zusammen mit Ali, der sich eine Askari-Uniform unter den Nagel gerissen und sich selbst zum Soldaten ernannt hatte.34 Später schnitt er in einer Askari-Fahrschule als Bester ab, womit er die Aufmerksamkeit auf sich zog und John viele Peinlichkeiten bescherte.
Trotz dieses blamablen Triumphes war Ali nie offiziell Soldat, sondern er reiste als inoffizieller Offiziersbursche meines Vaters mit und begleitete ihn überallhin, von einem Ausbildungslager zum nächsten. In einem davon namens Nyeri wurde zufällig gerade Lord Baden-Powell, der Gründer der Pfadfinder, mit militärischen Ehren bestattet. John, der früher selbst Pfadfinder gewesen war, wurde als Sargträger herangezogen und musste neben der Lafette marschieren. Von dieser Begebenheit besitze ich ein Foto (das im Bildteil wiedergegeben ist), und ich muss sagen, er sieht sehr schneidig aus mit seiner KAR-Uniform, den Khakishorts, den langen Strümpfen und dem Hut, dessen zunehmend mitgenommene Überreste er während seines ganzen späteren Lebens trug. Nebenbei bemerkt: Der große Offizier, der (im falschen Schritt) neben ihm marschiert, ist Lord Errol vom »Happy Valley«, der wenig später durch den berüchtigten, bis heute offiziell nicht aufgeklärten Mordfall »White Mischief« ums Leben kam.
Für Jean waren die nächsten drei Jahre eine Zeit der ständigen Wanderschaft: Sie folgte John zu seinen verschiedenen Arbeitsstellen in Uganda und Kenia. In ihren privaten Erinnerungen, die sie viel später für die Familie festhielt, merkte sie an:
John war sehr schlau und fand für mich immer vorübergehende Unterkünfte in der Nähe seiner verschiedenen Arbeitsstellen, während er bei den KAR ausgebildet wurde. Ich erledigte kleine Arbeiten, passte auf die Kinder anderer Leute auf und arbeitete in einigen Vorschulen, manchmal war ich aber auch nur zahlender Gast. Als sie einmal den Befehl bekamen, sich auf den Weg zu machen und Addis Abeba einzunehmen, sagte Johns Vorgesetzter, sie sollten sich besser beeilen, sonst sei Jean Dawkins vor ihnen da!
Zu Jeans vielen freundlichen Gastgebern während dieser Zeit gehörten auch Dr. und Mrs McClean in Uganda, die sie als Kindermädchen für ihre kleine Tochter »Snippet« einstellten.
Die McCleans in Jinja waren freundlich zu mir, und ich blieb Snippet auf den Fersen, wenn sie dieses oder jenes tat. Die Häuser in Jinja lagen alle rund um einen Golfplatz am Seeufer. Nachts spielten Flusspferde auf den Greens, rülpsten, grunzten und verwüsteten auch die Gärten. Es gab Rudel von Krokodilen, die im Wasser faulenzten und sich an den seichten Rändern des Sees unmittelbar unter den Wasserfällen sonnten, wo ich dummerweise zu paddeln pflegte. Die Krokodile waren lustig: Sie sperrten das Maul weit auf, damit ihre kleinen Freunde, die Vögel, ihnen ohne Gefahr die Zähne reinigen konnten!
Das symbiotische Putzverhalten ist heute bei den Fischen in Korallenriffen gut beschrieben. Das Phänomen und die interessanten evolutionstheoretischen Überlegungen dazu habe ich in Das egoistische Gen beschrieben, aber erst als ich sehr viel später die Erinnerungen meiner Mutter las, wurde mir klar, dass eine ähnliche Beziehung auch zwischen Krokodilen und Vögeln besteht. Ich nehme an, dass sie den gleichen Evolutionsvorgängen folgt, die sich am besten in der mathematischen Sprache der Spieltheorie ausdrücken lassen.
Während des Aufenthalts bei den McCleans erlebte meine Mutter die erste ihrer zahlreichen Malariaepisoden. Sie sollten während ihrer neun Jahre in Afrika immer wieder auftreten und waren einer der Gründe, warum meine Eltern sich schließlich entschlossen, nach England zurückzukehren. Sie erinnert sich noch lebhaft daran, wie sie bei einer späteren Gelegenheit – meine Eltern lebten nach dem Krieg in Nyassaland – während ihres Fieberdeliriums die aufgeregte Stimme von Dr. Glynn hörte, der damals leitender Arzt des Krankenhauses von Lilongwe war. Er sagte: »Wenn Sie nicht schnell John Dawkins rufen, ist es vielleicht zu spät.« Ihre spätere Genesung führte sie – wahrscheinlich zu Unrecht – darauf zurück, dass sie die Befürchtungen des Arztes, sie könne sterben, mitgehört hatte und trotzig entschlossen war, ihm das Gegenteil zu beweisen.
Bei einer ihrer ersten angeblichen Erkrankungen im Haus der McCleans, bei denen der Verdacht auf Malaria bestand, erwies sich jedoch eine andere Diagnose als richtig:
Der Arzt war ein lebhafter, fröhlicher Bursche, und eines Tages sagte er: »Sie wissen doch, was Ihr Problem ist, oder?« Darauf erwiderte ich: »Malaria?«, und er sagte: »Sie sind schwanger, meine Liebe!« Das war ein Schock, aber wir waren begeistert. Rückblickend betrachtet, war es in einer solchen unberechenbaren, heimatlosen Situation natürlich falsch von uns. Aber wenn wir klug und vernünftig und auf Sicherheit bedacht gewesen wären, hätten wir unseren Richard nicht! Nun denn! Wir kamen gut damit klar. Ich fing an, Babykleider zu nähen, und natürlich waren wir glücklich. Das Glück verließ uns die ganze Zeit nicht. Heute ist mir klar, dass es für Richard später schwierig gewesen sein muss, auf der ganzen Welt herumgezerrt zu werden, und vielleicht war es auch beunruhigend. In einer Liste hielten wir fest, wie viele Male sein kleiner Koffer in den ersten Jahren gepackt wurde. Viele Nächte verbrachten wir in kenianischen und ugandischen Eisenbahnzügen. Überall waren neue Gesichter, und seine ersten Jahre müssen von mitleiderregender Unsicherheit geprägt gewesen sein.
Die Liste, die sie damals aufstellte, habe ich gefunden: Sie verzeichnet meine Ortswechsel in den Jahren 1941 und 1942. Jean schrieb sie in ein Notizbuch, das »Blaue Buch«, das heute sehr mitgenommen ist; darin hielt sie auch einige meiner kindlichen Aussprüche und später die meiner Schwester Sarah fest. Der einzige Ort in der Liste, an den ich mich erinnern kann – vermutlich weil wir dort zweimal waren –, ist das Grazebrook’s Cottage in Mbagathi nicht weit von Nairobi. Wir waren dort bei Mrs Walter, ihrer im Krieg verwitweten Schwiegertochter Ruby und ihren kleinen Enkeln zu Gast.
In den Erinnerungen meiner Mutter heißt es weiter:
Kenia, Uganda und Tanganjika waren voller Erinnerungen, viele davon sehr glücklich und wunderschön. Aber auch voller Sorgen und Befürchtungen und Ängste und Einsamkeit, wenn John längere Zeit weg war und es keine Nachrichten von ihm gab. Briefe kamen nur in großen Abständen und dann häufig in Schüben und mit sehr alten Daten. Ich war oft furchtsam und einsam und stets ängstlich, aber wir hatten viele gute Freunde, und darüber war ich glücklich. Am wichtigsten waren die Walters in Mbagathi, die Richard und mich vollständig adoptierten.
Ich war auch dort, als das Telegramm kam und uns mitteilte, dass [Mrs Walters Sohn] John, der gerade erst auf Urlaub zu Hause gewesen war, nicht mehr lebte. Mrs Walter hatte das alles zuvor im Ersten Weltkrieg schon mit ihrem Mann durchgemacht, als John noch ein Baby war. Es war sehr, sehr schlimm.
Also konzentrierten wir uns auf den jungen William Walter und später, posthum, auf Johnny. Für Richard waren sie eine Zeitlang wie Brüder, und Mrs Walter war die Oma. Sie war eine bemerkenswerte, großartige Frau, und sie blieb immer geschäftig und positiv. Sie konzentrierte sich darauf, den Soldaten, die Urlaub hatten, schöne Ferien zu bereiten, und ich wurde öfter nach Nairobi geschickt, um Gruppen von Soldaten, Seeleuten und Luftwaffenangehörigen mit Juliana hin und her zu transportieren. Juliana war kein sehr zuverlässiges Transportmittel. Sie hatte zwei Kraftstofftanks, sie startete mit Benzin, und wenn man Glück hatte, wechselte sie anschließend zu Paraffinöl. Einmal überlebte ich die rund 20 Meilen nach Hause nur mit Glück. Ein ungeheuer dicker Marinekoch – wie ich schnell erkannte, war er sturzbetrunken –, den ich vom New Stanley Hotel abgeholt hatte, schlief quer über dem Sitz ein und lehnte sich so heftig gegen mich, dass ich das Auto kaum noch lenken konnte. Bewegen konnte ich ihn auch nicht. Es war sehr schwierig.
Ich glaube, diesen Männern hat es im Walter-Haushalt wirklich gefallen. Sie spielten mit den Kindern und erledigten viele kleine Hausmeistertätigkeiten für Mrs Walter. Die behandelte sie wie Söhne und setzte ihnen tolle Mahlzeiten vor. Es war für uns alle ein richtiges Zuhause.
Richard und ich bauten in Mbagathi eine neue Lehmhütte, einen großartigen Nachbau eines der beiden Rondavels35 mit einem geraden Stück dazwischen. Sie war sehr hübsch.
Die beiden Hütten mit dem gemeinsamen Dach aufzubauen dauerte nur ungefähr eine Woche. Sie bilden wohl meine früheste Erinnerung.
Mrs Walter hatte damals ein Stück Land gekauft. Eines Tages – sie rodete gerade zusammen mit einem Afrikaner das Gebüsch – gab es eine riesige Explosion; eine Mine aus dem Ersten Weltkrieg (so nahmen wir an) hatte dem armen Mann die Rückseite eines Unterschenkels sauber abgetrennt. Mrs Walter war eine sehr große, kräftige Person; sie hob ihn in ihren uralten Lieferwagen und brachte ihn nach Hause. Wir stützten ihn und deckten ihn zu, dann fuhr sie ihn nach Nairobi. Er war nach wie vor guter Dinge und plapperte die ganze Zeit. Wir mochten gar nicht glauben, wie ungeheuer tapfer er war!
Man vergisst nur allzu leicht, dass der Erste Weltkrieg bis weit ins mittlere und südliche Afrika hineingereicht hatte. Tanganjika war damals (zusammen mit Ruanda und Burundi) Deutsch-Ostafrika, und in der Region wurde gekämpft; auf dem Tanganjikasee fanden sogar Seeschlachten zwischen deutschen Schiffen auf der einen Seite und denen Großbritanniens und Belgiens auf der anderen statt (die Westküste des Sees gehörte zu Belgisch-Kongo). In ihrem wahrhaft großartigen Roman Red Strangers, einer epischen Saga über das Leben der Kikuyu, beschreibt Elspeth Huxley den Krieg aus Sicht eines Einheimischen: Für ihn ist er eine rätselhafte, nicht fassbare Verirrung der Weißen, in die Afrikaner auf entsetzliche Weise hineingezogen wurden. Der Krieg war aber nicht nur entsetzlich, sondern auch völlig sinnlos, weil die Sieger am Ende keine Rinder oder Ziegen der Verlierer nach Hause treiben konnten.
Aber nicht alle Schrecken jener Zeit hatten mit aktuellen oder vergangenen Kriegen zu tun.
Manchmal wurde ich auf Rubys Pferd – es hieß Bonnie – mit einer Nachricht zur Nachbarfarm des Ehepaars Lennox Browns geschickt. Als ich zum ersten Mal dorthin kam, führte mich der Page in den großen Salon, dann rief er den Memsahib. Der Raum war dunkel – die Vorhänge waren zum Schutz vor der sengenden Sonne zugezogen, und als ich wartete, wurde mir plötzlich klar, dass ich nicht allein war. Eine riesige Löwin lag in ganzer Länge ausgestreckt auf einem Sofa und riss das Maul auf! Ich war wie gelähmt. Als Mrs Lennox Browns hereinkam, gab sie dem Tier einen Klaps und schob es vom Sofa. Ich gab meine Nachricht ab und ging.
Das Bild, das meine Mutter aus dem Gedächtnis von dem Vorfall gezeichnet hat, ist im Bildteil wiedergegeben.
Später pflegten Richard und William Walter auf einer anderen Farm mit zwei Löwenjungen zu spielen, die dort die Haustiere waren. Sie hatten ungefähr die Größe und das Gewicht ausgewachsener Labradors (mit kurzen Beinen) und waren sehr grob und stark. Aber er und William hatten offenbar Spaß daran. Oft waren wir zum Picknick in den Ngong-Bergen, wo wir über das kurze Gebirgsgras fuhren – Straßen gab es nicht. Kühl und hoch und großartig. Aber wir waren dumm, denn in den Bergen gab es Büffelherden.
Meine beiden nächsten Erinnerungen handeln von Injektionen: Die erste gab mir Dr. Trim in Kenia, die zweite, schmerzhaftere erhielt ich später in Nyassaland von einem Skorpion. Dr. Trim trug zufällig einen passenden Namen, denn er war vermutlich dafür verantwortlich, dass ich beschnitten wurde. Natürlich bat man mich nicht um meine Zustimmung, aber offensichtlich wurden auch meine Eltern nicht gefragt! Mein Vater war im Krieg und wusste nichts davon. Meine Mutter wurde beiläufig und routinemäßig von einer Krankenschwester darüber in Kenntnis gesetzt, dass es an der Zeit sei, bei mir die Beschneidung vorzunehmen – das war alles. Anscheinend war es in Dr. Trims Gesundheitsstation gängige Praxis – und das Gleiche galt wohl zu jener Zeit auch für viele britische Krankenhäuser: In den verschiedenen Internaten, die ich besucht habe, war die Zahl derer, die beschnitten, und jener, die nicht beschnitten waren, ungefähr gleich; dabei gab es keinen erkennbaren Zusammenhang mit Religion, der gesellschaftlichen Stellung oder irgendeiner anderen Eigenschaft, die ich aufspüren konnte. Heute ist die Situation in Großbritannien anders, und soweit ich weiß, geht die Entwicklung auch in den Vereinigten Staaten mittlerweile in die gleiche Richtung. Ein deutsches Gericht entschied sogar in einem Musterprozess, dass die religiös motivierte Beschneidung von Säuglingen eine Verletzung der Rechte derer ist, die zu jung sind und ihr Einverständnis nicht geben können. Dieses Urteil wird wahrscheinlich wegen des Protestgeheuls derer aufgehoben werden, nach deren Ansicht das Recht der Eltern zur Religionsausübung verletzt wird, wenn man ihnen verbietet, ihre Kinder zu beschneiden. Interessanterweise werden die Rechte des Kindes nicht erwähnt. Die Religion erfreut sich in unserer Gesellschaft erstaunlicher Privilegien, die nahezu allen anderen Interessengruppen – und mit Sicherheit dem Einzelnen – verweigert werden.
Was den Skorpion angeht, so erteilte er mir eine schmerzhafte Rüge für meine Unzulänglichkeit als werdender Naturforscher. Ich sah, wie er über den Fußboden krabbelte, hielt ihn aber für eine Eidechse. Wie konnte ich nur? Eidechsen und Skorpione ähneln sich, soweit ich heute erkennen kann, in nichts. Ich glaubte, es müsse ein lustiges Gefühl sein, die »Eidechse« über meinen nackten Fuß kriechen zu spüren, also stellte ich ihn dem Tier in den Weg. Das Nächste, woran ich mich erinnern kann, war ein brennender Schmerz. Ich schrie das ganze Haus zusammen, dann muss ich ohnmächtig geworden sein. Meine Mutter erzählte mir, drei Afrikaner hätten meine Schreie gehört und seien ins Zimmer geeilt. Als sie sahen, was geschehen war, bemühten sie sich abwechselnd, mir das Gift aus dem Fuß zu saugen. Dies ist bei Schlangenbissen eine allgemein anerkannte Notfallmaßnahme. Ich habe keine Ahnung, ob sie auch bei Skorpionstichen wirkt, aber ich war gerührt, dass sie es probierten. Heute habe ich so große Angst vor Skorpionen, dass ich nicht einmal dann einen in die Hand nehmen würde, wenn man ihm den Stachel entfernt hätte. Und wenn ich an die Eurypteriden denke, die riesigen Meeresskorpione des Paläozoikums, von denen manche eine Länge von zwei Metern erreichten …
Ich werde oft gefragt, ob meine Kindheit in Afrika mich darauf vorbereitet hat, Biologe zu werden, aber die Episode mit dem Skorpion ist nicht das einzige Indiz dafür, dass die Antwort nein lautet. Die gleiche Vermutung legt auch eine andere Geschichte nahe, die ich nur mit Erröten erzählen kann. Während wir im Haus von Mrs Walter wohnten, hatte ein Löwenrudel ganz in der Nähe ein Tier erlegt, und einige Nachbarn boten uns an, alle aus dem Haus mitzunehmen, damit wir die Raubkatzen beobachten konnten. Mit einem Safariwagen fuhren wir bis auf zehn Meter an den Kadaver heran, an dem die Löwen sich gütlich taten; manche von ihnen lagen auch herum, als hätten sie bereits zu viel gefressen. Die Erwachsenen, die in dem Wagen saßen, waren starr vor Aufregung und Staunen. Aber wie meine Mutter mir später berichtete, blieben William Walter und ich auf dem Wagenboden sitzen: Wir waren völlig mit unseren Spielzeugautos beschäftigt, die wir herumschoben und dabei »wrummm wrummm« schrien. Die Löwen waren uns gänzlich gleichgültig, obwohl die Erwachsenen mehrfach versuchten, unser Interesse an ihnen zu wecken.
Den Mangel an zoologischer Neugier machte ich offensichtlich durch Geselligkeit wett. Meine Mutter sagt, ich sei außerordentlich freundlich gewesen und hätte keine Angst vor Fremden gehabt – ein kleiner Redner mit einer Liebe zu Worten. Und trotz meiner Defizite als Naturforscher war ich anscheinend auch schon frühzeitig ein Skeptiker. Zu Weihnachten 1942 trat ein Mann namens Sam, der sich als Weihnachtsmann verkleidet hatte, in Mrs Walters Haus beim Kinderfest auf. Er täuschte offenbar alle Kinder und verabschiedete sich schließlich mit einem jovialen Winken und viel Ha-ha-ha. Sobald er gegangen war, blickte ich auf und verkündete fröhlich und zur allgemeinen Verblüffung: »Sam ist weg!«
Mein Vater überstand den Krieg unbeschadet. Vermutlich war er froh, dass er nicht gegen Deutsche oder Japaner kämpfen musste, sondern gegen Italiener, die mittlerweile ihren lächerlich aufgeblasenen Duce durchschaut hatten und so vernünftig waren, nicht mehr auf einen Sieg hinzuarbeiten. John spielte seine Rolle als untergeordneter Offizier in den Panzern des Abessinien- und Somaliland-Feldzugs, und nachdem die Italiener besiegt waren, schickte man ihn zur Ausbildung mit dem East African Armoured Car Regiment nach Madagaskar mit der Aussicht, nach Burma verlegt zu werden. Dort hätte er seinen jüngeren Bruder Bill wiedersehen können, der damals als Major beim Sierra Leone Regiment gegen die viel schlimmeren Japaner kämpfte und später in den Kriegsberichten erwähnt wurde. Im Jahr 1943 räumte die Regierung aber Johns landwirtschaftlichen Arbeiten eine höhere Priorität ein als seinem Militärdienst, und er wurde zusammen mit anderen Angehörigen der Landwirtschaftsverwaltung von Nyassaland ins zivile Leben zurückberufen.
Als Jean die erfreuliche Nachricht von seiner Demobilisierung las, war sie so aufgeregt, dass sie mit mir auf dem Arm beinahe überfahren worden wäre. Wie gewöhnlich holte sie ihre Post aus dem Postlagerkasten in Nairobi ab. Johns Briefe schienen vordergründig die Beschreibung einer Cricketpartie zu enthalten. Aber wie John sehr genau wusste, interessierte sie sich nicht für Cricket, und er hätte sie nie damit gelangweilt. Das Schreiben musste also eine geheime Bedeutung haben. Die beiden hatten schon früh einen privaten Code entwickelt und auch mehrere Male benutzt, denn die Post aller Angehörigen der Streitkräfte wurde in Kriegszeiten regelmäßig von Zensoren geöffnet und gelesen. Ihr Code war einfach: Lies in jeder Zeile nur das erste Wort und lasse alles andere außer Acht. Und die ersten Worte der nächsten drei Zeilen über das Cricketmatch lauteten »bowler … hat … soon«. Leider ist der Brief nicht erhalten geblieben, aber man kann sich leicht vorstellen, was darin stand. Mit »Bowler« war angeblich der Cricket-Bowler gemeint, und irgendwie muss John auch den »hat« untergebracht haben (vielleicht war es der Panamahut des Schiedsrichters – meine Mutter erinnert sich nicht); das »soon« gehörte dann zu irgendeiner plausiblen Bemerkung über das Spiel. Was bedeutete es wirklich? Nun, ein Bowler war der Inbegriff der Zivilkleidung – Demobilisierung, ziviles Leben. »Bowler Hat Soon« konnte also nur eines bedeuten, und um es zu erkennen, brauchte Jean keine Kreuzworträtselmeisterin zu sein. John würde bald aus den Streitkräften entlassen werden, und als Jean sich diese Tatsache klarmachte, wäre sie aus lauter Aufregung beinahe vor ein Auto gelaufen.
In Wirklichkeit war es nicht so einfach, nach Nyassaland zurückzukehren. Jeans ursprünglich illegale Einreise nach Kenia holte sie jetzt ein. Die Dundridges36 in der Kolonialverwaltung konnten ihr kein Visum für die Ausreise ausstellen, weil sie den Unterlagen zufolge niemals eingereist war. Jean und John konnten aber auch nicht gemeinsam auf dem gleichen Weg zurückreisen, auf dem sie gekommen waren, denn John hatte dieses Mal den strengen Befehl, sich der Armee anzuschließen: Offiziell würde man ihn erst entlassen, wenn er das Hauptquartier des Nyassaland Bataillon in dessen Heimatland erreicht hatte. Die beiden mussten Kenia also getrennt verlassen, und Jean konnte nicht ausreisen, weil sie gar nicht dort war. Mrs Walter wurde gedrängt, sich für ihre Existenz zu verbürgen, und Dr. Trim bestätigte, dass es mich gab – da er mich auf die Welt geholt hatte, war er dazu berechtigt. Mit meiner amtlichen Geburtsurkunde klappte es schließlich, und die Dundridges stempelten mürrisch Jeans Ausreisepapiere. Zusammen mit mir, dem Zweijährigen, bestieg sie ein kleines Flugzeug eines Typs, den man heute als Teichhüpfer bezeichnen würde – es waren zweifellos ziemlich aufregende Teiche voller Krokodile und Flusspferde, Flamingos und badender Elefanten. Als wir in Nordrhodesien (dem heutigen Sambia) umsteigen mussten, ging unser gesamtes Gepäck verloren, aber das spielte schon bald keine Rolle mehr. Zu ihrer Begeisterung stellten meine Eltern fest, dass ihre Überseekoffer, die sie bei Kriegsbeginn in England aufgegeben hatten, endlich in Nyassaland eingetroffen waren, nachdem sie vermutlich in einem von der Marine eskortierten Schiffskonvoi gereist waren. Sie enthielten, wie meine Mutter in ihren Erinnerungen freudig berichtet:
Alle unsere Hochzeitsgeschenke, an die ich mich nur noch halb erinnerte, und meine neue Kleidung. Es war eine phantastische Heimkehr, und Richard war da und konnte helfen, die Kisten zu untersuchen.