Die Eagle School war ein nagelneues Internat. Es lag hoch oben im Nadelwald des Vumba-Gebirges in Südrhodesien (dem heutigen Zimbabwe), nicht weit von der Grenze zu Mosambik. Ich bediene mich der Vergangenheitsform, weil die Schule während der Konflikte, die später über das unglückselige Land hereinbrachen, ein für alle Mal geschlossen wurde. Ihr Gründer war Frank (»Tank«) Cary, ein früherer Hausvorsteher der Dragon School in Oxford, die meines Wissens die größte und wohl auch beste Vorschule Englands ist und sich sowohl eines großartigen Abenteuergeistes als auch einer bemerkenswerten Liste angesehener Absolventen rühmen kann. Tank wollte sein Glück in Afrika versuchen, und seine Schule war ein originalgetreues Abbild von Dragon. Wir hatten den gleichen Schul-Wahlspruch (Arduus ad solem, ein Vergil-Zitat) und die gleiche Schulhymne, die nach der Melodie zu »Onward, Christian Soldiers« von Sulivan gesungen wurde: »Arduus ad solem/ By strife up to the sun«. Tank hatte unsere Familie in Lilongwe besucht, als er auf einer Rundreise war und bei den Eltern in Nyassaland die Werbetrommel rührte: Meine Eltern mochten ihn und gelangten zu dem Schluss, dass Eagle für mich die richtige Schule war. Dr. und Mrs Glynn trafen für David die gleiche Entscheidung, und wir kamen zusammen auf das Internat.
An die Eagle School habe ich nur verschwommene Erinnerungen. Vermutlich war ich nur zwei Schuljahre dort, und eines davon war das zweite Jahr, in dem die Schule überhaupt existierte. Ich weiß noch, dass ich bei der offiziellen Einweihung dabei war; von dem »Opening Day«, dem Eröffnungstag, war im Vorfeld viel geredet worden. Für mich war das ein Rätsel, denn ich hielt es für eine Anspielung auf das Kirchenlied »O God our help in ages past«:
Time like an ever-rolling stream,
Bears all its sons away;
They fly forgotten, as a dream
Dies at the opening day.|11|
Überhaupt machten Kirchenlieder an der Eagle School großen Eindruck auf mich, sogar »Fight the good fight with all they might«, dessen erstaunlich langweilige Melodie eher zum Einschlafen als zum Kämpfen einlud. Alle Eltern sollten ihre Söhne mit einer Bibel ausstatten. Meine Eltern gaben mir aus irgendeinem Grund The Children’s Bible, eine Kinderbibel, die durchaus nicht das Gleiche war, und so fühlte ich mich ziemlich ausgegrenzt und »anders«. Vor allem war diese Version nicht in Kapitel und Verse eingeteilt, was ich als entsetzlichen Mangel empfand. Ich war so fasziniert von der biblischen Methode, Prosa zum leichteren Nachschlagen in Abschnitte zu unterteilen, dass ich in einige meiner ganz normalen Bücher beim Durchlesen ebenfalls Zahlen für die »Verse« hineinschrieb. Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, mir das Buch Mormon anzusehen, das im 19. Jahrhundert entstandene Machwerk eines Scharlatans namens Smith, und dabei kam es mir so vor, als müsse die King-James-Bibel auf ihn die gleiche Faszination ausgeübt haben: Er fasste sein Buch ebenfalls in Versen ab und ahmte sogar mit seinem Englisch den Stil des 16. Jahrhunderts nach. Nebenbei bemerkt, ist es mir unverständlich, dass nicht allein diese Tatsache ihn sofort als Fälscher überführte. Glaubten seine Zeitgenossen, die Bibel sei ursprünglich in der Sprache von Tyndale und Cranmer geschrieben worden? Oder, wie Mark Twain bissig bemerkte: Wenn man die Formulierung »And it came to pass« (»Es begab sich aber …«) überall da, wo sie im Buch Mormon vorkommt, streichen würde, bliebe nur noch eine Broschüre übrig.
Mein Lieblingsbuch an der Eagle School war Doktor Dolittle und seine Tiere, das ich in der Schulbibliothek entdeckte. Es ist heute wegen seines Rassismus weitgehend aus den Bibliotheken verbannt, und man kann auch erkennen, warum. Der sagenumwobene Prinz Bumpo vom Stamm der Jolliginki will unbedingt zu dem Prinzen werden, in den Frösche sich auf magische Weise verwandeln und der sich in alle Aschenputtels verliebt. Weil er Sorge hat, sein schwarzes Gesicht könne einem Dornröschen Angst einjagen, falls er die Schönheit zufällig mit seinem Prinzenkuss aufweckt, bittet er Doktor Dolittle, sein Gesicht weiß zu machen. Natürlich erkennt man deutlich, warum dieses Buch, das bei seinem Erscheinen 1920 unauffällig und unumstritten war, gegen Ende des 20. Jahrhunderts dem gewandelten Zeitgeist zum Opfer fiel. Aber wenn wir schon über moralische Lehren sprechen, werden die großartigen, phantasievollen Doktor-Dolittle-Bücher – für das beste halte ich Doktor Dolittles Postamt – vom Hauch des Rassismus durch ihren viel auffälligeren Anti-Speziesismus reingewaschen.
Neben Wahlspruch und Schulhymne von Dragon übernahm man an der Eagle School auch die Tradition, Lehrer mit Spitznamen oder Vornamen anzusprechen. Den Schulleiter nannten wir Tank, und das auch dann noch, wenn er uns bestrafte. Damals glaubte ich, mit dem Namen sei der Tank gemeint, mit dem man Wasser vom Dach auffängt, aber heute ist mir klar, dass er sich mit ziemlicher Sicherheit auf das erbarmungslose, unaufhaltsame Militärfahrzeug bezog. Vermutlich hatte sich Mr Cary in seinen Jahren an der Dragon School den Ruf einer verbissenen Beharrlichkeit erworben, mit der er sich ungeachtet aller Hindernisse vorwärtsbewegte. Weitere Schulleiter waren Claude (auch er ein Auswanderer von der Dragon School), Dick (der die beliebte Aufgabe hatte, jeden Mittwoch nach dem Mittagsschlaf eine segensreiche Schokoladenration zu verteilen) und Paul, ein geheimnisvoll-jovialer Ungar, der Französisch unterrichtete. Mrs Watson, die Lehrerin der Jüngsten, war »Wattie«, und die Hausdame Miss Copplestone hieß »Coppers«.
Ich kann nicht behaupten, dass ich an der Eagle School glücklich war, aber vermutlich fühlte ich mich so wohl, wie man es von einem Siebenjährigen, der drei Monate von zu Hause weg ist, überhaupt erwarten kann. Am schmerzlichsten war eine Phantasie, in der ich meiner Erinnerung nach fast täglich schwelgte, wenn Coppers leise ihre morgendliche Runde durch die Schlafsäle machte, während wir noch im Halbschlaf lagen: Ich malte mir aus, sie würde sich auf magische Weise in meine Mutter verwandeln. Darum betete ich inständig – Coppers hatte wie meine Mutter dunkle Locken, deshalb glaubte ich in meiner kindlichen Naivität, es könne für die Verwandlung keines allzu großen Wunders bedürfen. Und ich war überzeugt, die anderen Jungen würden meine Mutter genauso gern mögen, wie wir Coppers mochten.
Coppers war mütterlich und freundlich. Ich stelle mir gern vor, dass ihr Bericht über mich am Ende des ersten Schuljahrs nicht ganz der Zuneigung entbehrte: Sie schrieb, es gebe bei mir »nur drei Geschwindigkeiten: langsam, sehr langsam und Halt«. Einmal machte sie mir Angst, ohne dass es auch nur im Geringsten ihre Absicht gewesen wäre. Nachdem ich einmal einen Afrikaner gesehen hatte, dessen Augen ins Leere starrten wie die Spitzen hartgekochter Eier, fürchtete ich mich entsetzlich davor, blind zu werden. Mich beunruhigte der Gedanke, ich würde eines Tages völlig taub oder völlig blind sein; nach langem, schmerzlichem Nachdenken gelangte ich zu dem Schluss, dass beides nahezu gleich schlecht sei, aber zu erblinden müsse doch das Schlimmste sein, was mir widerfahren könnte. Die Eagle School war modern und hatte elektrischen Strom, der von einem eigenen Generator erzeugt wurde. Eines Abends, als Coppers gerade im Schlafsaal mit uns sprach, ging offenbar der Motor des Generators aus. Als das Licht erlosch und völliger Dunkelheit Platz machte, fragte ich mit ängstlich zitternder Stimme: »Ist das Licht ausgegangen?«
»Oh nein«, erwiderte Coppers mit fröhlichem Sarkasmus, »du bist sicher blind geworden.«
Arme Coppers – sie wusste nicht, was sie da gesagt hatte.
Große Angst hatte ich auch vor Gespenstern. Ich stellte sie mir als klappernde Skelette mit riesigen Augenhöhlen vor, die durch lange Korridore mit enormer Geschwindigkeit auf mich zugestürmt kamen. Sie waren mit Spitzhacken ausgerüstet und würden ihre Schläge mit teuflischer Präzision auf meinen großen Zeh richten. Außerdem hatte ich eigenartige Phantasien, in denen ich gekocht und gegessen wurde. Ich habe keine Ahnung, woher diese schreckliche Bilderwelt kam. Sie stammte nicht aus irgendwelchen Büchern, die ich gelesen hatte, und mit Sicherheit auch nicht aus irgendwelchen Geschichten, die ich von meinen Eltern kannte. Vielleicht hatten sie ihren Ursprung in Lügenmärchen, die andere Jungen im Schlafsaal erzählt hatten – Märchen, wie sie mir an meiner nächsten Schule noch häufiger begegnen sollten.
Auf der Eagle School lernte ich aber auch zum ersten Mal die grenzenlose Grausamkeit von Kindern kennen. Ich selbst wurde glücklicherweise nicht schikaniert, aber ein Junge namens Aunty Peggy wurde pausenlos gehänselt, und dafür gab es offensichtlich keinen anderen Grund als seinen Spitznamen. Es war wie in einer Szene aus Herr der Fliegen: Ein Dutzend Jungen umringte ihn, tanzte um ihn herum und sang in eintöniger Spielplatzmelodie »Aunty Peggy, Aunty Peggy, Aunty Peggy«. Der arme Junge wurde dadurch in den Wahnsinn getrieben und stürzte sich blindlings auf seine Peiniger in dem Kreis, so dass schnell die Fäuste flogen. Einmal standen wir alle herum und sahen ihm bei einem ernsten, langwierigen Kampf zu, bei dem er sich mit einem Jungen namens Roger über den Boden rollte. Diesen bewunderten wir, weil er schon zwölf war. Die Sympathie der Zuschauer lag nicht beim Opfer, sondern auf Seiten des Peinigers, der gut aussah und gut in Sport war. Eine beschämende Szene, wie sie bei Schulkindern nur allzu häufig vorkommt. Am Ende und gerade noch rechtzeitig machte Tank der Massenschikane ein Ende und hielt den Versammelten einen ernsten Vortrag.
Abends im Schlafsaal mussten wir auf unseren Betten niederknien und die Stirnwand ansehen; jeden Abend war einer von uns mit dem Nachtgebet an der Reihe:
Erleuchte unsere Dunkelheit, so flehen wir dich an, o Herr; und beschütze uns mit deiner großen Gnade vor allen Gefahren dieser Nacht. Amen.
Keiner von uns hatte das Gebet jemals in schriftlicher Form gesehen, und wir wussten auch nicht, was es bedeutete. Wie Papageien plapperten wir es jeden Abend nach, und die Worte entwickelten sich zu entstellter Sinnlosigkeit. Dies ist ein interessanter Präzedenzfall, wenn man sich für die Memtheorie interessiert – wer nicht weiß, was das ist und wovon ich rede, sollte zum nächsten Abschnitt weiterblättern.
Wäre uns der Sinn des Gebets klar gewesen, wir hätten die Worte nicht verstümmelt, denn dann hätte ihre Bedeutung einen »Normalisierungseffekt« gehabt, ganz ähnlich wie das »Korrekturlesen« der DNA. Wegen solcher Normalisierungsvorgänge können Meme über so viele »Generationen« überleben, dass die Analogie zu Genen zutrifft. Aber da uns viele Wörter in dem Gebet nicht vertraut waren, konnten wir sie nur phonetisch nachahmen; die Folge war eine hohe »Mutationsrate« im Laufe der »Generationen«, in denen sie von einem Jungen nach dem anderen imitiert wurden. Es wäre interessant, diesen Effekt einmal experimentell zu untersuchen, aber dazu bin ich bisher noch nicht gekommen.
Einer der Schulleiter, vermutlich Tank oder Dick, leitete uns auch zum gemeinschaftlichen Singen an; unter anderem sangen wir »The Campdown Races« und
I have sixpence, jolly jolly sixpence,
Sixpence to last me all my life
I’ve tuppence to lend and tuppence to spend
And tuppence to take home to my wife.|12|
Mit dem nächsten Lied brachte man uns bei, das »r« in »birds« stimmhaft zu singen. Die Gründe verstand ich damals nicht – vielleicht sollte es ein amerikanisches Lied sein:
Here we sits like brrrds in the wilderness
Brrrds in the wilderness
Brrrds in the wilderness
Here we sits like brrrds in the wilderness
Down in Demerara.|13|
Ein wenig von dem berühmten Abenteurergeist der Dragon School war auch an die Eagle exportiert worden. Ich erinnere mich noch an einen aufregenden Tag, an dem die Schulleiter für die ganze Schule ein großes Spiel mit Matabeles und Mashonas organisierten, eine lokale Version von »Cowboys und Indianer« mit den Namen zweier mächtiger rhodesischer Stämme. Dabei mussten wir durch die Wälder und über die Wiesen der Vumba streifen (die »Nebelberge« in der Sprache der Shona). Ich habe keine Ahnung, wie wir es schafften, uns nicht ein für alle Mal zu verlaufen. Und auch wenn die Schule kein Schwimmbad hatte (das wurde erst später gebaut, als ich nicht mehr dort war), brachte man uns zum (nackten) Schwimmen zu einem hübschen Wasserbecken am Fuß eines Wasserfalls, was natürlich viel aufregender war. Welcher Junge braucht schon ein Schwimmbad, wenn es einen Wasserfall gibt?
Ich reiste mit dem Flugzeug zur Eagle School, ein großes Abenteuer für einen Siebenjährigen, der allein unterwegs war. Mit einem Doppeldecker des Typs Dragon Rapid flog ich von Lilongwe nach Salisbury (dem heutigen Harare), und von dort ging es weiter nach Umtali (heute Mutari). Die Eltern eines anderen Eagle-Schülers, die in Salisbury wohnten, sollten mich abholen und auf den weiteren Weg bringen, aber sie kamen nicht. Ich wanderte, wie es mir schien, einen ganzen Tag lang allein durch den Flughafen von Salisbury (im Rückblick betrachtet, kann die Zeit nicht so lang gewesen sein). Die Leute waren nett zu mir, irgendjemand lud mich zum Mittagessen ein, und man ließ mich in die Hangars, wo ich mir die Flugzeuge ansah. Seltsamerweise war es in meiner Erinnerung ein schöner Tag, und ich fürchtete mich weder, weil ich allein war, noch, weil ich nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Die Leute, die mich abholen sollten, tauchten am Ende doch noch auf, und ich gelangte nach Umtali. Dort nahm mich Tank mit seinem Willis-Jeep-Kombi in Empfang, was mir gefiel, weil das Auto mich an die Creeping Jenny und mein Zuhause erinnerte. Ich habe die Geschichte so wiedergegeben, wie sie mir im Gedächtnis geblieben ist. David Glynn hat andere Erinnerungen; nach meiner Vermutung machte ich die Reise in Wirklichkeit zweimal, einmal mit ihm und einmal allein.