Im Jahr 1949, drei Jahre nach ihrem letzten Urlaub, hatten meine Eltern wiederum eine Zeitlang frei. Wieder reisten wir über Kapstadt nach England, dieses Mal mit einem hübschen kleinen Schiff namens Umtali, an das ich kaum Erinnerungen habe; ich weiß nur noch, dass es polierte Holzplanken und glänzende Beschläge hatte, die, wie ich heute glaube, im Art-déco-Stil gestaltet waren. Die Mannschaft war so klein, dass es keinen eigenen Unterhaltungsoffizier gab; deshalb wurde einer der Passagiere für diese Funktion auserkoren. Mr Kimber war der Typ des Party-Alleinunterhalters; als wir den Äquator überquerten, organisierte er unter anderem eine »Äquatortaufe«, bei der Neptun in vollständigem Kostüm mit Seetangbart und Dreizack auftrat. Außerdem veranstaltete er ein Kostümfest, bei dem ich ein Pirat war. Ich war neidisch auf einen anderen Jungen, der als Cowboy kam, aber meine Eltern erklärten, sein zugegebenermaßen schickeres Kostüm sei einfach von der Stange gekauft worden, während meines improvisiert und deshalb in Wirklichkeit besser sei. Heute weiß ich, was sie damit meinten, aber damals verstand ich es nicht. Ein anderer kleiner Junge trat als Cupido auf – er war vollständig nackt und schoss mit Pfeil und Bogen auf die Leute. Meine Mutter hatte sich wie einer der indischen Kellner verkleidet und ihrer Haut mit Kaliumpermanganat eine dunkle Färbung verliehen, deren Entfernung anschließend Tage gedauert haben muss; außerdem hatte sie sich eine Kellneruniform mit der charakteristischen Schärpe und einen Turban geliehen. Die anderen Kellner machten bei dem Spaß mit, und keiner der Gäste durchschaute sie: weder ich noch der Kapitän, dem sie absichtlich Eis anstelle der Suppe brachte.
An meinem achten Geburtstag lernte ich schwimmen. Der Schauplatz war der winzige Swimmingpool der Umtali; er bestand aus Planen, die man an Deck zwischen Pfosten befestigt hatte. Ich war von meiner neuen Fähigkeit so begeistert, dass ich sie im Meer ausprobieren wollte. Als das Schiff in Las Palmas auf den Kanarischen Inseln festmachte, um eine große Ladung Tomaten an Bord zu nehmen, wurden die Passagiere für den Tag an Land gebracht, und wir gingen an einen Strand, wo ich stolz im Meer schwamm, während meine Mutter am Ufer aufpasste. Plötzlich sah sie eine ungewöhnlich große Welle, die sich nach ihrer Einschätzung genau über ihrem kleinen, wie ein Hund paddelnden Sohn brechen würde. Elegant eilte sie vollständig bekleidet ins Wasser, um mich zu retten. In diesem Augenblick hob die Welle mich gefahrlos hoch und brach sich mit voller Kraft über meiner Mutter, so dass sie von Kopf bis Fuß durchnässt war. Da die Passagiere erst am Abend auf die Umtali zurückkehren durften, verbrachte sie den Rest des Tages in salzwasserdurchweichter Kleidung. Undankbarerweise habe ich an diesen Akt mütterlichen Heldentums keine Erinnerung; der Bericht, den ich hier wiedergebe, stammt von ihr.
Die Tomatenladung war offenbar schlecht verstaut: Sie verschob sich auf See beunruhigend stark, und das Schiff krängte so weit nach Steuerbord, dass das Bullauge unserer Kamine ständig unter Wasser lag; deshalb glaubte meine kleine Schwester Sarah, wir seien »wirklich gesunken, Mama«. Noch schlimmer wurde es im berüchtigten Golf von Biskaya, wo die Umtali in einen gewaltigen Sturm geriet; er war so stark, dass man kaum noch stehen konnte. Aufgeregt lief ich in unsere Kabine hinunter, zog ein Laken aus meiner Koje und benutzte es als »Segel«, denn ich wollte mich vom Wind wie eine Yacht über das Deck blasen lassen. Meine Mutter war erbost und sagte mir – vielleicht zu Recht –, ich hätte über Bord geweht werden können. Sarahs kostbare Schmusedecke, »the Bott« genannt, ging tatsächlich über Bord; dies hätte zu einer ernsthaften Tragödie werden können, hätte meine Mutter sie nicht in weiser Voraussicht in zwei Hälften geschnitten, so dass sie noch über einen Ersatz mit dem richtigen Geruch verfügte. Das Phänomen der Schmusedecken interessiert mich sehr, obwohl ich selbst nie eine hatte. Offensichtlich werden sie beim Daumen- oder Fingerlutschen in der richtigen Stellung gehalten, so dass man daran riechen kann. Nach meiner Vermutung besteht ein Zusammenhang mit den Forschungsergebnissen von Harry Harlow an Rhesusaffen und Ersatzmüttern aus Stoff.
Schließlich kamen wir im Londoner Hafen an; im weiteren Verlauf wohnten wir in einem hübschen alten Tudor-Farmhaus namens Cuckoos, das gegenüber von The Hoppet lag; meine Großeltern väterlicherseits hatten es gekauft, um das Land vor Bauprojekten zu schützen. Bei uns wohnte Diana, die Schwester meiner Mutter, zusammen mit ihrer Tochter Penny und ihrem zweiten Ehemann Bill, dem Bruder meines Vaters, der gerade aus Sierra Leone auf Urlaub war. Penny wurde geboren, nachdem ihr Vater Bob Keddie wie auch seine beiden furchtlosen Brüder im Krieg ums Leben gekommen waren – eine schreckliche Tragödie für das alte Ehepaar Keddie; verständlicherweise hatten die beiden ihre Aufmerksamkeit dann auf die kleine Penny gerichtet, den einzigen verbliebenen Nachkommen. Auch zu Sarah und mir, Pennys Cousin und Cousine, waren sie sehr großzügig; sie behandelten uns als Enkelkinder ehrenhalber, machten uns regelmäßig teure Weihnachtsgeschenke und nahmen uns jedes Jahr mit nach London zu Theater- oder Pantomimenaufführungen. Sie waren reich – der Familie gehörte Keddie’s Warenhaus im Southend – und bewohnten ein großes Haus mit Außen-Swimmingpool und Tennisplatz; drinnen standen ein Broadwood-Stutzflügel und eines der ersten Fernsehgeräte. Einen Fernseher hatten wir Kinder noch nie gesehen, und nun waren wir begeistert von den unscharfen Schwarzweißbildern mit Muffin the Mule auf dem winzigen Bildschirm in dem großen Gehäuse aus poliertem Holz.
In den wenigen Monaten, in denen wir mit zwei Familien im Cuckoos lebten, entstanden jene zauberhaften Erinnerungen, die es nur in der Kindheit gibt. Unser geliebter Onkel Bill brachte uns zum Kichern, nannte uns »Treacle Trousers« (was, wie ich heute von Google erfahre, im australischen Slang der Ausdruck für »Hosen auf Halbmast« ist) und sang seine zwei Lieder, die wir häufig von ihm hören wollten.
Why has the cow got four legs? I must find out somehow.
I don’t know and you don’t know and neither does the cow.|14|
Und dieses zu einer Seemanns-Hornpipemelodie:
Tiddlywinks old man, get a kettle if you can,
If you can’t get a kettle get a dirty old pan.|15|
Pennys Halbbruder Thomas wurde während unseres Aufenthalts im Cuckoos geboren. Thomas Dawkins und ich sind doppelte Cousins, eine ungewöhnliche Verwandtschaftsbeziehung. Wir haben alle vier Großeltern und damit auch sämtliche Vorfahren mit Ausnahme unserer eigenen Eltern gemeinsam. Damit haben wir den gleichen Anteil gemeinsamer Gene wie Halbbrüder, aber wie es der Zufall will, sehen wir uns dennoch nicht ähnlich. Als Thomas geboren war, stellte die Familie eine Kinderschwester ein, aber die blieb nur so lange, bis sie gesehen hatte, wie der liebe Onkel Bill für beide Familien das Frühstück machte. Er saß, umgeben von Tellern, auf dem Steinfußboden der Küche und warf abwechselnd Eier und Schinken darauf, als würde er Spielkarten verteilen. Es war noch nicht das Zeitalter von »Gesundheit und Sicherheit«, und doch war es mehr, als die pingelige Kinderschwester ertragen konnte; sie ging hinaus und kam nie mehr wieder.
Sarah, Penny und ich gingen auf die St. Anne’s School in Chelmsford; diese Schule hatten im gleichen Alter auch Jean und Diana besucht, und sie hatten dieselbe Oberlehrerin gehabt, Miss Martin. Zu den wenigen Dingen, an die ich mich erinnern kann, gehören der Hackfleischgeruch des Schulessens, ein Junge namens Giles, der behauptete, sein Vater habe sich zwischen Eisenbahnschienen gelegt und den Zug über sich hinwegfahren lassen, und der Musiklehrer Mr Harp. Mr Harp ließ uns »Sweet Lass of Richmond Hill« singen: »I’d crowns resign to call her mine«, aber das interpretierte ich nicht als »ich würde auf Kronen verzichten, um sie die Meine zu nennen«, sondern ich hörte »crownsresign« als zusammenhängendes Verb, und aufgrund des Zusammenhangs nahm ich an, das müsse »so ähnlich wie« heißen. Ein vergleichbares Missverständnis war mir auch bei dem Kirchenlied »New every morning is the love/Our wakening and uprising prove« unterlaufen: Ich wusste nicht, was »our prisingprove« sein sollte, aber offenbar handelte es sich bei einem Prisingprove um einen Gegenstand, bei dem man dankbar sein musste, wenn man ihn besaß. Die St. Anne’s School hatte auch ein ziemlich bewundernswürdiges Motto: »I can, I ought, I must, I will« [»Ich kann, ich sollte, ich muss, ich werde«] (nicht unbedingt in dieser Reihenfolge, aber es hört sich so richtig an). Die Erwachsenen im Cuckoos fühlten sich an Kiplings »Song of the Commissariat Camels« (Gesang der Kamele der Verpflegungseinheit) erinnert und rezitierten es so schwungvoll, dass ich es nie vergessen konnte:
Can’t! Don’t! Shan’t! Won’t!
Pass it along the line!|16|
Ich wurde an der St. Anne’s School von ein paar älteren Mädchen gehänselt. Es waren eigentlich keine schlimmen Schikanen, dennoch malte ich mir in meiner Phantasie aus, ich müsse nur inbrünstig genug beten, damit mir übernatürliche Kräfte zu Hilfe eilten und die Tyranninnen ihr Fett wegbekamen. Ich stellte mir eine violett-schwarze Wolke mit einem zornigen menschlichen Gesicht im Profil vor, die über dem Spielplatz quer über den Himmel huschte und mir zu Hilfe kam. Ich musste nur daran glauben; wenn es nicht klappte, dann wohl deshalb, weil ich nicht eindringlich genug betete – genau wie an der Eagle School, wo ich um die Verwandlung von Miss Copplestone gebetet hatte. So naiv sind die kindlichen Vorstellungen von Gebeten. Natürlich wachsen manche Menschen auch später nie darüber hinaus und beten, damit Gott ihnen einen Parkplatz freihält oder sie in einer Tennispartie gewinnen lässt.
Ich rechnete damit, dass ich nach einem Semester an der St. Anne’s School nach Eagle zurückkehren würde, aber die Pläne meiner Familie änderten sich völlig, und ich sollte weder Eagle noch Tank oder Coppers jemals wiedersehen. Drei Jahre zuvor hatte mein Vater in einem Telegramm aus England die Mitteilung erhalten, dass er von einem entfernten Vetter den Familienbesitz der Dawkins in Oxfordshire geerbt hatte, dazu gehörten das Over Norton House, der Over Norton Park und eine Reihe kleinerer Häuser in dem Dorf Over Norton. Als die Familie ursprünglich in den Besitz des Anwesens gelangte – gekauft wurde es 1726 von dem Parlamentsabgeordneten James Dawkins (1696–1766) –, war es noch viel größer gewesen. James hinterließ es seinem Neffen, meinem Ururururgroßvater Henry Dawkins (1728–1814), dessen Sohn Henry mit Hilfe der vier Mietdroschken, die in unterschiedlichen Richtungen davonfuhren, durchbrannte. Danach ging es durch die Hände mehrerer Dawkins-Generationen; unter anderem gehörte es dem unseligen Colonel William Gregory Dawkins (1825–1914), einem cholerischen Krimkriegsveteranen, der angeblich seinen Pächtern die Vertreibung androhte, wenn sie nicht so wählten wie er, nämlich – eigenartigerweise – liberal. Colonel William war jähzornig und streitsüchtig; sein Vermögen vergeudete er zum größten Teil für einen Beleidigungsprozess gegen leitende Armeeoffiziere. Das Verfahren zog sich lange hin und nützte niemandem mit Ausnahme – wie üblich – den Anwälten. Offensichtlich litt er unter krassem Verfolgungswahn: Er beleidigte öffentlich die Königin, griff seinen Vorgesetzten Lord Rokeby in London auf offener Straße an und verklagte den Oberkommandierenden, den Herzog von Cambridge. Und was noch folgenschwerer war: Da er glaubte, es würde in dem wunderschönen georgianischen Over Norton House spuken, ließ er es abreißen und errichtete stattdessen 1874 ein viktorianisches Bauwerk. Seine Gerichtsprozesse zogen ihn immer tiefer in den Schuldensumpf und zwangen ihn, das Anwesen Over Norton bis zum Stehkragen mit Hypotheken zu belasten. Er starb verarmt in einer Pension in Brighton; dort hatte er von zwei Pfund pro Woche gelebt, die seine Gläubiger ihm bewilligt hatten. Die Hypothekendarlehen wurden Anfang des 20. Jahrhunderts schließlich von seinen unglückseligen Erben zurückgezahlt, aber das war nur möglich, weil sie einen großen Teil der Ländereien verkauften und bloß das kleine Kernstück behielten, das schließlich in den Besitz meines Vaters gelangte.
Bis 1945 gehörte das, was von dem Anwesen noch übrig war, Major Hereward Dawkins, einem Großneffen des Colonel William. Hereward wohnte in London und kam selten auch nur in die Nähe des Anwesens. Wie William, so war auch er nicht verheiratet und hatte keine nahen Angehörigen mit dem Namen Dawkins. Als er sein Testament verfasste, sah er offensichtlich im Familienstammbaum nach, und dabei stieß er auf meinen Großvater als ältesten noch lebenden Träger des Namens. Sein Anwalt gab ihm vermutlich den Rat, eine Generation zu überspringen, und so benannte er letztlich meinen Vater, seinen viel jüngeren Cousin dritten Grades, als Erben. Wie sich herausstellte, war es eine hervorragende Wahl: Auch wenn er es zu jener Zeit noch nicht wissen konnte, eignete mein Vater sich ausgezeichnet dafür, die Ländereien zu erhalten und etwas daraus zu machen. Die beiden hatten sich nie kennengelernt, und ich glaube, mein Vater wusste noch nicht einmal von Herewards Existenz, als das Telegramm aus heiterem Himmel in Afrika eintraf.
Im Jahr 1899 war das Over Norton House als Hochzeitsgeschenk an eine Mrs Daly langfristig verpachtet worden. Der Erlös verschwand sicher in dem bodenlosen Fass von Colonel Williams Schuldentilgung. Mrs Daly führte dort mit ihrer Familie ein prunkvolles Leben. Sie war eine Säule der örtlichen Gesellschaft und standhafte Anhängerin der Fuchsjagd; deshalb rechneten meine Eltern nicht damit, dass die Erbschaft von Hereward für ihr Leben eine tiefgreifende Veränderung bedeuten würde. Mein Vater hatte die Absicht, in der Landwirtschaftsverwaltung von Nyassaland weiter aufzusteigen, bis er in den Ruhestand ging (oder, wie sich herausstellen sollte, bis das Land unter dem Namen Malawi unabhängig wurde).
Als aber die Umtali 1949 in England festmachte, erreichte meine Eltern eine unerwartete Nachricht: Die alte Mrs Daly war verstorben. Zunächst kamen sie auf den Gedanken, sich um einen neuen Pächter zu bemühen. Aber dann fiel ihnen ein, dass sie ja auch Afrika verlassen und in England Landwirtschaft betreiben könnten, und allmählich wurde ihnen die Idee immer sympathischer. Ein Grund war Jeans Anfälligkeit für eine gefährliche Form der Malaria, und nach meinem Eindruck reizte sie auch die Idee, Sarah und mich auf eine englische Schule zu schicken. Ihre Eltern und auch der Anwalt der Familie rieten ihnen davon ab, Afrika den Rücken zu kehren. Nach Ansicht der Dawkins-Eltern hatte John die Pflicht, in Fortsetzung der Familientradition weiterhin in Nyassaland dem Empire zu dienen, und Jeans Mutter war voller düsterer Vorahnungen, sie würden wie die meisten Menschen »mit der Landwirtschaft scheitern«. Am Ende jedoch schlugen Jean und John alle Ratschläge in den Wind: Sie sagten Afrika Lebewohl, um in Over Norton zu wohnen und aus dem Anwesen einen funktionierenden Bauernhof zu machen, nachdem es zweihundert Jahre vornehmen Müßiggängern als Park gedient hatte. John nahm bei der Kolonialverwaltung seinen Abschied, verzichtete auf seine Pension und ging bei mehreren englischen Kleinbauern in die Lehre, um sich die notwendigen Fähigkeiten anzueignen. Meine Eltern entschlossen sich, nicht im Over Norton House zu wohnen, sondern das Haus in Wohnungen aufzuteilen in der Hoffnung, dass es sich finanziell selbst trug (der Anwalt hatte ihnen geraten, es abzureißen und so ihre Verluste zu begrenzen). Wir wohnten in dem Cottage am Anfang der Auffahrt, aber auch dieses musste umfassend renoviert werden, und während das geschah, lebten – oder besser gesagt, hausten – wir in einer Ecke des Over Norton House.
Ich war immer noch begeistert von Doktor Dolittle, und während des kurzen Zwischenspiels im Over Norton House war ich von der Phantasie beherrscht, wie er mit Tieren sprechen zu lernen. Allerdings wollte ich es noch besser machen als Doktor Dolittle und mich der Telepathie bedienen. Ich wünschte und betete und wollte, dass alle Tiere aus mehreren Kilometern Umkreis sich bei mir im Over Norton Park versammelten, damit ich gute Werke an ihnen tun konnte. Solche Bittgebete sprach ich sehr oft; offenbar war ich zutiefst beeinflusst von Predigern, die mir sagten, man müsse etwas nur stark genug wollen, dann werde es auch geschehen – man brauche dazu nur Willenskraft oder die Kraft des Gebets. Ich glaubte sogar, man könne Berge versetzen, wenn der Glaube nur stark genug sei. Irgendein Prediger hatte das wohl in meiner Hörweite gesagt und dabei – wie es bei Predigern nur allzu häufig vorkommt – vergessen, einem leichtgläubigen Kind den Unterschied zwischen Metapher und Realität zu erklären. Manchmal frage ich mich, ob solchen Leuten überhaupt klar ist, dass es den Unterschied gibt. Viele von ihnen scheinen zu glauben, dass er keine große Rolle spielt.
Meine Kinderspiele waren zu jener Zeit phantasievoll im Sinne von Sciencefiction. Meine Freundin Jill Jackson und ich spielten im Over Norton House »Raumschiff«. Unsere Betten waren Raumschiffe, und wir alberten darauf eine glückliche Stunde nach der anderen herum. Es ist interessant, wie zwei Kinder das Drehbuch einer gemeinsamen Phantasie zusammenzimmern können, ohne dass sie sich hinsetzen und die Handlung ausarbeiten. Ein Kind sagt plötzlich: »Käptn, sehen Sie, Troon-Raketen greifen uns auf der rechten Flanke an!« Daraufhin ergreift der andere sofort die Flucht und steuert erst dann seinen Teil zu der Phantasie bei.
Mittlerweile hatten meine Eltern mich bei der Eagle School offiziell abgemeldet und machten sich daran, in England eine Schule für mich zu finden. Vermutlich hätten sie mich am liebsten auf die Dragon School geschickt, die sich in der Nähe von Oxford befand, damit ich gewissermaßen die »abenteuerlichen« Erfahrungen von der Eagle School fortsetzen konnte. Aber an der Dragon School herrschte eine so große Nachfrage, dass man sein Kind schon bei der Geburt anmelden musste, um einen Platz zu bekommen. Also schickten sie mich stattdessen auf die Chafyn Grove in Salisbury (das englische Salisbury, nach dem die Stadt in Rhodesien benannt wurde); dort waren mein Vater und seine beiden Brüder gewesen, und es war alles andere als eine schlechte Schule.
Chafyn Grove und Eagle waren – das sollte ich für alle, die mit den Feinheiten des britischen Bildungswesens nicht vertraut sind, erklären – Preparatory Schools oder kurz Prep Schools (»Vorbereitungsschulen«). Worauf bereiteten sie uns vor? Die Antwort: auf die noch verwirrender benannten »Public Schools«, die so heißen, weil sie in Wirklichkeit nicht öffentlich, sondern privat sind – sie stehen nur denen offen, deren Eltern das Schulgeld bezahlen können. Nicht weit von meinem Wohnort Oxford gibt es eine Schule namens Wychwood, und dort hing jahrelang ein köstliches Schild am Tor:
Wychwood School for Girls (preparatory for boys)
Jedenfalls ging ich von meinem achten bis zum dreizehnten Lebensjahr auf die Prep School Chafyn Grove, um mich auf die Public School – 13 bis 18 Jahre – vorzubereiten. Übrigens glaube ich, dass meine Eltern nie auf den Gedanken kamen, mich auf eine andere Schule als eines der Internate zu schicken, die man in der Familie Dawkins normalerweise besuchte. Sie waren teuer, aber es lohnte sich, dafür Opfer zu bringen – das jedenfalls war ihre Einstellung.