Auf eine neue Schule zu kommen ist immer ein verwirrendes Erlebnis. Schon am allerersten Tag wurde mir bewusst, dass ich neue Wörter lernen musste. »Puce« war mir ein Rätsel. Es stand an einer Wand, und ich glaubte fälschlich, man müsse es »pucky« aussprechen. Schließlich fand ich heraus, dass es abschätzig gemeint war und das Gleiche bedeutete wie »wet«, ein weiteres Lieblingswort; beide meinten so viel wie »schwächlich«. Das Gegenteil war »muscle«: »Ich bin in muscle Indien geboren, Afrika ist puce« (zu jener Zeit waren viele Kinder, die auf solche Schulen gingen, in einem jener Gebiete zur Welt gekommen, die auf der Weltkarte im Rosa des Empire eingefärbt waren). »Wig« bezeichnete im gleichen Schuldialekt den Penis. »Bist du ein Rundkopf oder ein Spitzkopf? Du weißt schon, dein Wig, ist das ein Pilz oder ein Schnürsenkel?« Solche anatomischen Details waren ohnehin kein Geheimnis, denn wir mussten uns jeden Morgen nackt in einer Reihe aufstellen und dann kalt baden. Sobald uns die Klingel weckte, mussten wir aus den Bett springen, den Pyjama ausziehen, unsere Handtücher nehmen und ins Badezimmer stolpern, wo eine der drei Badewannen mit kaltem Wasser gefüllt war. Unter Aufsicht des Heimleiters Mr Galloway tauchten wir möglichst schnell unter und stiegen wieder heraus. Hin und wieder weckte uns dieselbe Glocke auch mitten in der Nacht wegen einer Brandschutzübung. Bei einer solchen Gelegenheit war ich noch so schläfrig und benommen, dass ich mechanisch mit dem Aufstehprogramm begann: Ich zog den Schlafanzug aus und stand schon völlig nackt mit dem Handtuch in der Hand unten an der Feuertreppe, bevor mir der Irrtum bewusst wurde – alle anderen trugen Schlafanzug, Bademantel und Hausschuhe. Glücklicherweise war Sommer. Das kalte Bad war natürlich nicht unser einziges. Abends mussten wir richtig heiß baden (wie viele Male in der Woche, weiß ich nicht mehr); dabei wurden wir im Stehen von einer Hausdame gewaschen, was uns ziemlich gut gefiel – insbesondere wenn es die hübsche zweite Hausdame war.
Es war eine karge Zeit: Das Kriegsende lag noch nicht weit zurück, und viele Dinge waren rationiert. Das Essen war, rückblickend betrachtet, entsetzlich. Süßigkeiten gehörten zu den staatlich rationierten Waren; das hatte paradoxerweise – und wahrscheinlich zum Nachteil unserer Zähne – zur Folge, dass uns mehr Süßigkeiten zur Verfügung standen, als es sonst der Fall gewesen wäre, denn unsere Ration wurde uns mit peinlicher Genauigkeit nach dem Tee ausgehändigt. Ich gab meine meistens anderen. Wenn ich heute darüber nachdenke, stellt sich die Frage: Warum war die Süßigkeitenration im Krieg eigentlich nicht gleich null? Hätte man den wenigen Zucker, der den U-Booten entkommen war, nicht besser verwenden können?
Ich hatte häufig kalte Füße und litt schrecklich unter Frostbeulen. Gerüche sind berüchtigte Auslöser für Erinnerungen, und der Eukalyptusgeruch des Frostbeulen-Einreibemittels, mit dem meine Mutter mich versorgte, ist für mich untrennbar mit Chafyn Grove und qualvoll juckenden Zehen verbunden. Nachts im Bett froren wir häufig, und um die Kälte fernzuhalten, legten wir die Bademäntel über die Bettdecke. Unter jedem Bett stand ein Nachttopf, damit wir nachts nicht über den Korridor laufen mussten. Leider wusste ich damals noch nicht, wie man diesen Gegenstand im Norden Englands nennt: gazunder (weil er drunter steht – goes under).
In Chafyn Grove gab es nur noch einen Heimleiter aus der Zeit meines Vaters: H. M. Letchworth, eine freundliche alte Gestalt, die an Mr Chips erinnerte. Er hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft und war früher Oberschulleiter gewesen. Wir nannten ihn Slush, aber nicht in seiner Gegenwart, denn die Spitznamentradition von Dragon/Eagle gab es hier nicht. Eine Ausnahme bildete nur das alljährliche Pfadfinderlager. Dort wollte er gern mit seinem Spitznamen Chippi angeredet werden, der vermutlich auf alte Zeiten zurückging, in denen er Baden-Powell gekannt hatte. Den Namen Slush mochte er nicht. Im Lateinunterricht tauchte unter den Vokabeln, die wir lernen mussten, einmal das Wort tabes auf. Mr Letchworth fragte uns ab, und als ein Junge das Wort tabes übersetzen sollte (was im Zusammenhang des Textes, den wir vor uns hatten, so viel wie »Matsch« – englisch slush – bedeutete), fingen wir an zu kichern. Traurig erzählte uns Mr Letchworth, der Name stamme genau aus dieser Stelle bei Livius (»vor so vielen Jahren… genau dieser Satz… vor so vielen Jahren…«), aber er erklärte uns nie, warum er an ihm hängen geblieben war.
Der Schulleiter Malcolm Galloway war eine Ehrfurcht gebietende Gestalt (vielleicht werden Schulleiter ja schon kraft Amtes zu Ehrfurcht gebietenden Gestalten); wir nannten ihn Gallows (Galgen). Wie es seinem Spitznamen entsprach, scheute er sich nicht, die Höchststrafe anzuwenden, und das war in Chafyn Grove der Rohrstock. Anders als die »Schinkenscheibenschläge« mit dem Lineal an der Eagle School konnte Gallows einem mit dem Rohrstock richtig weh tun. Er stand in dem Ruf, zwei Rohrstöcke namens Slim Jim und Big Ben zu besitzen, und die Bestrafung schwankte je nach der Schwere der Missetat zwischen drei und sechs Schlägen. Ich machte glücklicherweise nie mit Big Ben Bekanntschaft, aber drei Schläge mit Slim Jim waren schmerzhaft genug und hinterließen Blutergüsse, die wir anschließend im Schlafsaal voller Stolz vorzeigten wie Kriegsnarben. Bis sie verblassten, vergingen mehrere Wochen, in denen sie sich von violett über blau nach gelb verfärbten. Die Jungen machten Witze über ein Schulheft, das man sich in die Hose stecken konnte, um die Schläge abzumindern, aber das hätte Gallows natürlich sofort bemerkt; ich bin sicher, dass niemand es tatsächlich ausprobierte.
Heute ist körperliche Züchtigung in England verboten, und im Rückblick werden Lehrer, die sie praktizierten, häufig der Grausamkeit oder des Sadismus verdächtigt. Ich bin überzeugt, dass Gallows sich keines von beiden zuschulden kommen ließ. Wir haben es vielmehr mit einem Beispiel dafür zu tun, wie schnell sich Sitten und Werte wandeln können – mit einem Aspekt des »sich wandelnden ethischen Zeitgeistes«, wie ich ihn in Der Gotteswahn genannt habe. Nicht unter diesem Namen, aber über einen sehr langen Zeitraum hinweg wird der sich wandelnde ethische Zeitgeist von Steven Pinker in seinem Buch Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit ausführlich dokumentiert.37
Gallows konnte auch sehr freundlich sein. Bevor abends das Licht ausgeschaltet wurde, ging er durch die Schlafsäle wie ein liebenswürdiger Onkel, munterte uns auf und sprach uns mit Vornamen an (was er nur dort tat, aber niemals während des Schultages). Eines Abends bemerkte Gallows in einem Regal in unserem Schlafsaal das Buch Jeeves Omnibus und fragte, wer von uns P. G. Wodehouse kannte. Da sich niemand meldete, setzte er sich auf eines der Betten und las uns eine Geschichte vor. Sie hieß Das große Wettpredigen, und ich nehme an, sie muss sich über mehrere Abende hingezogen haben. Sie gefiel uns sehr und ist bis heute eine meiner liebsten Jeeves-Geschichten; ebenso ist P. G. Wodehouse einer meiner Lieblingsautoren: Ich habe ihn immer wieder gelesen und sogar für eigene Zwecke parodiert.
Jeden Sonntagabend las uns Mrs Galloway im privaten Wohnzimmer der Familie etwas vor. Wir mussten unsere Schuhe draußen ausziehen und saßen im Schneidersitz umgeben vom schwachen Geruch nach feuchten Socken auf dem Fußboden. Jede Woche las sie ein oder zwei Kapitel, und nach einem Semester war sie mit dem Buch durch. Meist waren es spannende Abenteuergeschichten wie Moonfleet, Das Schiff im Felsen oder The Cruel Sea (die »Kadettenausgabe« ohne die Sexszenen). Eines Sonntags war Mrs Galloway nicht da, und stattdessen las Gallows vor. Wir waren in König Salomos Schatzkammer gerade an der Stelle angelangt, an der die kühnen Helden mit ihren Tropenhelmen vor einem Zwillingsberg namens Sheba’s Breasts stehen. (Interessanterweise wurde dieser Name in der Verfilmung mit Stewart Granger zensiert, einer bizarren Version, in der eine Frau an der Expedition teilnimmt.) Gallows hielt inne und erklärte uns, dass diese Berge im Ngong-Gebirge liegen. (Ich sage euch, Jungs, das ist völliger Quatsch. Gallows will nur damit angeben, dass er schon in Kenia war. Die Schatzkammer von König Salomo spielt überhaupt nicht in Kenia. Schnell rauf mit euch in den Schlafsaal.)
Als einmal nachts ein heftiges Gewitter tobte, ging Gallows nach oben in den Schlafsaal der Jüngsten, schaltete das Licht ein und tröstete die Kleinen (die so winzig waren, dass sie noch Teddybären haben durften), wenn sie sich fürchteten. In der Mitte des Semesters, wenn die Eltern am »Sonntag der offenen Tür« kamen und ihre Söhne für den Tag abholten, gab es immer einen oder zwei Jungen, die keinen Besuch bekamen, weil die Eltern vielleicht im Ausland oder krank waren. Einmal passierte das auch mir. Mr und Mrs Galloway nahmen uns zusammen mit ihren eigenen Kindern in ihrem alten Dreißigerjahre-Reisewagen namens Grey Goose und ihrem kleinen Morris 8 mit Namen James mit. Wir veranstalteten ein nettes Picknick an einem Stauwehr; mir kommen fast die Tränen, wenn ich daran denke, wie freundlich sie zu uns waren, insbesondere da sie ja wahrscheinlich den Tag lieber nur mit den eigenen Kindern verbracht hätten.
Als Lehrer jedoch machte Gallows uns Angst. Er brüllte, was seine kräftige Stimme hergab, so dass sein lautstarker Zorn in sämtlichen Klassenräumen zu hören war. Bei uns Jungen und den anderen Lehrern provozierte er damit ein verschwörerisches Lächeln. »Was tut ihr, wenn euch ut mit dem Konjunktiv begegnet? … STILLHALTEN UND NACHDENKEN!« (Wenn man allerdings darüber nachdenkt, funktioniert Sprache in Wirklichkeit nicht nach solchen Regeln.) Noch beängstigender war Mr Mills, einer der Lehrer, die Latein unterrichteten. Wir fürchteten ihn so sehr, dass wir ihm nicht einmal einen Spitznamen gaben. Er hatte eine bedrohliche Ausstrahlung und bestand auf absoluter Genauigkeit und makelloser Handschrift – ein Fehler, und wir mussten den ganzen Absatz noch einmal schreiben. Miss Mills – nicht mit ihm verwandt – war pummelig, warmherzig und mütterlich; sie hatte ihre Zöpfe wie eine Art Heiligenschein um den Hinterkopf hochgebunden, unterrichtete die Kleinen und nannte uns alle »Liebes«. Mr Dowson, der joviale, bebrillte Mathematiklehrer, trug den Spitznamen Ernie Dow. Woher das »Ernie« kam, wusste keiner von uns, bis er uns eines Tages ein Gedicht vorlas und am Ende den Autor verriet: Es war natürlich von Ernest Dowson. Welches Gedicht es war, weiß ich nicht mehr – vielleicht »They are not long, the weeping and the laughter«, aber es war bei uns ohnehin vergebliche Liebesmüh. Ernie Dow war ein guter Lehrer: Mit seinem nordenglischen Akzent brachte er mir den größten Teil dessen bei, was ich in meinem Leben an Infinitesimalrechnung gelernt habe. Mr Shaw hatte keinen Spitznamen, aber seine halbwüchsige Tochter hieß »Pretty Shaw«, und das nur aus einem einzigen Grund: Es rechtfertigte den pubertären Witz, der zwangsläufig folgte, wenn jemand »I’m pretty shure…« sagte. Eine hohe Fluktuation herrschte bei den jüngeren Lehrkräften. Sie waren vermutlich Studenten, die auf die Zulassung zur Universität warteten oder gerade von dort kamen; meist mochten wir sie, und das wahrscheinlich schon deshalb, weil sie jung waren. Einer von ihnen, Mr Howard – Anthony Howard –, wurde später zu einem angesehenen Journalisten und Chefredakteur des New Statesman.
In meinem ersten Semester in Klasse II hatte ich Unterricht bei Miss Long, einer dünnen, knochigen Dame mittleren Alters mit glatten Haaren und randloser Brille. Wie die meisten Lehrer war sie sehr freundlich. Neben der Klasse II unterrichtete sie vor allem Klavier. Bei ihr hatte ich meine ersten Musikstunden, und vor meinen Eltern prahlte ich mit schnelleren Fortschritten, als es der Wahrheit entsprach. Aber die Wahrheit würde ohnehin irgendwann ans Licht kommen, welchen Sinn hatte also die Angeberei? Ich werde es nie erfahren.
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