Editorische Notiz

Die Autobiographie von Richard Dawkins besteht aus zwei Teilen, ­Staunende Neugier (An Appetite for Wonder) und Eine Kerze im ­Dunkeln (Brief Candle in the Dark). Beide Bände sind im englischen Original sepa­rat erschienen. Der Ullstein Verlag hat sich entschieden, beide Bücher ungekürzt in einem Band unter dem Titel Poesie der Natur­wissenschaften zu veröffentlichen, um ein umfassendes Bild vom Wissenschaftler und Menschen Richard Dawkins zu vermitteln.

DIE POESIE DER NATURWISSENSCHAFTEN


BAND I

Staunende Neugier

Anmerkungen zum Kapitel

1 Wheatley, H.B. und Cunningham, P.: London Past and Present, Band 1, London 1891, S. 109.

2 Siehe https://richarddawkins.net/bcd/.

3 Und für den ich den Nachruf schrieb; siehe auch hier:
https://richarddawkins.net/bcd/.

4 http://wab.uib.no/ojs/agora-alws/article/view/1263/977.

5 Conradi, Peter: Iris Murdoch: Ein Leben, übersetzt von Juliane Gräbener-Müller u. Marion Balkenhol, Frankfurt a. M. 2004, S. 479.

6 »Growing up in ethology«, Kapitel 8 in: Drickamer, L. and Dewsbury, D., Hg: Leaders in Animal Behavior, Cambridge 2010.

7 In: Randigal Rhymes, hrsg. von Joseph Thomas, Penzance 1895.

8 Durcheinander.

9 Lager für Lebendköder.

10 Schluckte.

11 Kiesel; meine Großmutter übersetzte es allerdings mit »Zwetschgenkern«, was plausibler ist.

12 Ordnungsgemäß.

13 Kehle.

14 Verschluckt.

15 Kotzte.

16 Stampfte.

17 Verrückt.

18 Lokales Sprichwort.

19 Stirnlocke.

20 Hermelin, Wiesel.

21 Purzelbaum.

22 Aus Pfefferminze destillierte Arznei.

23 Unsinnige Geschichte.

24 Verschluckte einen Frosch.

25 Boshafter Kobold.

26 Pflichtvergessen.

27 Kopf oder Zahl.

28 Einem Tier eine Blechdose o. ä. an den Schwanz binden.

29 Plündern.

30 Forsch ausschreiten.

31 Hinterkopf.

32 Kerbel in Blüte.

33 Ich habe mich bei Professor Björn Melander erkundigt, einem Experten für skandinavische Sprachen. Er stimmt meiner Theorie über »Beleidigung oder Schmeichelei« zu, fügt aber hinzu, dass das jeweilige Umfeld zwangsläufig zusätzliche Komplikationen schafft.

Anmerkungen zum Kapitel

34 »Askari« war die Bezeichnung für die einfachen Soldaten in der KAR.

35 Die traditionelle Rundform.

36 Der private Begriff, mit dem meine Frau und ich sture Bürokraten bezeichnen. Ich bemühe mich darum, das Wort in die englische Sprache einzuführen. Es stammt aus einem komischen Roman von Tom Sharpe, in dem J. Dundridge den Typus verkörpert. Es klingt so passend. Damit ein neues Wort Eingang in das Oxford English Dictionary findet, muss es häufig genug ohne Definition oder Zuordnung in der Schriftsprache vorkommen. Ich spreche aus Erfahrung und kann zu meinem Vergnügen sagen, dass der früher von mir geprägte Begriff »Mem« das Kriterium erfüllt und unter M einen sicheren Platz gefunden hat. Bitte nutzen und verbreiten Sie auch Dun­dridge.

3
Seeland

Wir führten weiterhin ein so rastloses Leben wie in Kenia. John und die anderen Armeeheimkehrer wurden als Stellvertreter eingesetzt, so dass die ortsansässigen Agrarbeamten, die seit Kriegsbeginn keinen Urlaub von ihrer Tätigkeit in den Tropen mehr gehabt hatten, sich in der angenehm warmen Zufluchtsstätte Südafrika eine Auszeit nehmen konnten. Deshalb wurde John alle paar Monate auf eine neue Stelle in einem anderen Teil von Nyassaland versetzt. Aber wie meine Mutter anmerkte, »hat es Spaß gemacht, für John war es zweifellos eine gute Erfahrung, wir haben viel von Nyassaland gesehen und in zahlreichen interessanten Häusern gewohnt.«

Das Haus, an das ich mich aus dieser Zeit am besten erinnere, stand in Makwapala am Fuße des Berges Mpupu nicht weit vom Chilwa-See. Mein Vater war dort für eine landwirtschaftliche Hochschule und eine Gefängnisfarm zuständig. Die Häftlinge, die auf der Farm die Arbeitskräfte stellten, hatten offensichtlich ein beträchtliches Maß an Freiheiten – ich weiß noch, wie ich ihnen zusah, wenn sie mit ihren abgehärteten nackten Füßen Fußball spielten. Während dieser Phase wurde meine Schwester Sarah im Krankenhaus von Zomba geboren, und meine Mutter erinnert sich noch daran, wie die Häftlinge von Makwapala, manche von ihnen verurteilte Mörder, »bei uns Schlange standen, um sie nach dem Tee in ihrem Kinderwagen herumzuschieben«.

Als wir nach Makwapala kamen, mussten wir das Diensthaus des örtlichen Landwirtschaftsbeamten zunächst mit der abreisenden Familie teilen, deren Schiffspassage nach England sich um einige Wochen verzögert hatte. Sie hatten zwei Söhne; David, der ältere, hatte die unangenehme Angewohnheit, andere Kinder zu beißen. Schon bald waren meine Arme voller Bissspuren. Einmal, beim Nachmittags­tee auf dem Rasen, erwischte mein Vater ihn dabei und schob sanft seinen Schuh dazwischen, um ihn aufzuhalten. Davids Mutter war empört. Sie drückte das Kind an ihre Brust und beschimpfte meinen armen Vater mit deutlichen Worten. »Haben Sie keine Ahnung von Kinderpsychologie? Das weiß doch jeder, dass es das Schlimmste ist, was man einem Beißer antun kann, wenn man ihn mitten im Biss aufhält.«

Makwapala war ein heißer, feuchter, von Moskitos und Schlangen verseuchter Ort. Es war so abgelegen, dass es keinen regelmäßigen Postdienst gab; die Siedlung hatte vielmehr ihren eigenen »Boten«; er hieß Saidi und hatte die Aufgabe, mit dem Fahrrad täglich rund 24 Kilometer nach Zomba zur Post zu fahren. Eines Tages kam Saidi nicht zurück; wie wir erfuhren,

war der beispiellose Regen im Gebirge von Zomba durch die steilen Schluchten heruntergestürzt und hatte große Brocken des Berges und riesige Felsen vor sich hergetrieben. In der Ortschaft Zomba waren Straßen, Brücken und Menschen in ihren Autos verschwunden, Häuser waren verlassen, und natürlich war die Straße nach Makwapala weggespült.

Saidi war wohlauf, aber man sagte, Mr Ingram, ein netter Mann, der mich auf seinem Schoß sitzen und sein Auto lenken ließ, sei getötet worden, als eine Brücke weggespült wurde, über die er gerade fuhr. »Später«, berichtete meine Mutter, »erfuhren wir von den Einheimischen, dass so etwas schon früher geschehen sei, allerdings nicht zu Lebzeiten der heutigen Bewohner. Die Ursache seien die Nyapolos, riesige, schlangenähnliche Tiere, die in die Täler krochen und alles zerstörten.«

Ich liebte den Regen. Vielleicht spürte ich das Gefühl der Erleichterung, das die Menschen in einem jahreszeitlich trockenen Land »an dem Tag, an dem der Regen kommt«, empfinden. Während des großen Nyapolos-Regens war ich, der ich »den Regen meist verpasst hatte«, offensichtlich »bezaubert – er zog sich aus, rannte in dem Wolkenbruch herum, schrie vor Freude und wurde richtig verrückt«. Noch heute vermittelt mir starker Regen ein warmes Gefühl der Zufriedenheit, aber ich bin dann nicht mehr gern draußen – vielleicht weil der englische Regen kälter ist.

Makwapala ist der Schauplatz meiner frühesten zusammenhängenden Erinnerungen und auch vieler Aufzeichnungen meiner Eltern über das, was ich sagte und tat. Hier nur zwei Beispiele:

Komm, sieh mal, Mama. Ich habe die Stelle gefunden, wo die Nacht schlafen geht, wenn die Sonne scheint [Dunkelheit unter dem Sofa].

Ich habe Sallys Badewasser mit meinem Lineal gemessen, es ist sieben und Ninepence, sie ist also sehr spät dran mit ihrem Bad.

Wie alle kleinen Kinder war ich versessen auf Rollenspiele.

Nein, ich glaube, ich bin ein Gaspedal.

Jetzt bist du aber nicht mehr das Meer, Mama.

Ich bin ein Engel, und du bist Mr Nye, Mama. Du sagst Guten Morgen, Engel. Aber Engel sprechen nicht, die grunzen nur. Jetzt geht dieser Engel schlafen. Sie schlafen immer mit dem Kopf unter den Zehen.

Auch an Meta-Rollenspielen zweiter Ordnung hatte ich Spaß:

Mama, ich will jetzt ein kleiner Junge sein, der so tut, als wäre er Richard.

Mama, ich bin eine Eule, die ein Wasserrad ist.

In der Nähe unserer Wohnung gab es tatsächlich ein Wasserrad, von dem ich fasziniert war. Mein dreijähriges Ich bemühte sich, ein paar Anweisungen zum Bau eines Wasserrades zusammenzustellen:

Man bindet eine Schnur ganz um die Stöcke herum und in der Nähe hat man einen Graben mit schnellem Wasser darin. Jetzt nimmt man ein Stück Holz und macht ein Stück Blech daran als Griff und benutzt ihn, wenn das Wasser kommt. Dann nimmt man ein paar Ziegelsteine, damit das Wasser schnell runterkommt, und dann ein Stück Holz und macht es rund und macht viele Dinge, die vorstehen, dann steckt man es auf einen langen Stock und das ist das Wasserrad und es dreht sich im Wasser und macht bäng bäng bäng.

Das Nächste ist vermutlich ein Rollenspiel nullter Ordnung, denn meine Mutter und ich mussten so tun, als wären wir wir selbst:

Du bist jetzt Mama und ich bin Richard und wir fahren mit diesem Garrimotor nach London. [Die anglo-indische Wortschöpfung »Garrimotor« gelangte wahrscheinlich durch meine Großeltern und Urgroßeltern aus der Kolonialverwaltung in meine Familie, sie könnte sich aber auch von Indien aus über das Empire verbreitet haben.]

Im Februar 1945 – ich war knapp vier Jahre alt – hielten meine Eltern fest, dass ich »nach unserem Wissen nie etwas Erkennbares gezeichnet« hätte. Das mag für meine künstlerisch begabte Mutter eine Enttäuschung gewesen sein: Man hatte ihr als Sechzehnjährige den Auftrag gegeben, ein Buch zu illustrieren, und später hatte sie eine Kunstschule besucht. Was bildende Kunst angeht, bin ich bis heute außerordentlich unbegabt, und ich habe sogar einen blinden Fleck, wenn es darum geht, sie zu beurteilen. Musik ist ein ganz anderes Kapitel, ebenso die Dichtung. Gedichte und (etwas weniger leicht) auch Musik können mich zu Tränen rühren, beispielsweise der langsame Satz des Streichquintetts von Schubert, aber auch manche Lieder von Judy Collins oder Joan Baez. Die Aufzeichnungen meiner Eltern lassen auch ein frühzeitiges Interesse an den Rhythmen der Sprache erkennen. Sie hörten zu, wenn ich in Makwapala meinen Mittagsschlaf machte:

The wind blows in

The wind blows in

The rain comes in

The cold comes in

The rain comes

Every day the rain comes

Because of the trees

The rain of the trees

Offensichtlich redete oder sang ich ständig vor mich hin, und das häufig in sinnlosen, aber rhythmischen Absätzen.

The little black ship was blowing in the sea

A little black ship was blowing in the wind

Down down down to the sea

Down in the meadows, a little black ship

The little black ship was down in the meadows

The meadows were down to the sea

Down to the meadows, and down to the sea

The little black ship down in the meadows

Down in the meadows, down to the sea|4|

Ich nehme an, solche Selbstgespräche, in denen mit Rhythmen experimentiert wird und vielleicht nur halb verstandene Wörter ausgetauscht werden, kommen bei kleinen Kindern häufig vor. Ein ähnliches Beispiel findet sich in der Autobiographie von Bertrand Russell; dort berichtet er, wie er seine zweijährige Tochter Kate bei ihren Selbstgesprächen belauschte; er hörte, wie sie sagte:

The North wind blows over the North Pole.

The daisies hit the grass.

The wind blows the bluebells down.

The North wind blows to the wind in the South.|5|

Die folgende durcheinandergewürfelte Anspielung auf Ezra Pound muss nach meiner Vermutung darauf zurückzuführen sein, dass meine Eltern laut vorlasen:

The Askari fell off the ostrich

In the rain

Huge sing Goddamn

And what became of the ostrich?

Huge sing Goddamn|6|

Ebenso haben meine Eltern festgehalten, dass ich über ein großes Repertoire an Liedern verfügte, die ich, immer mit der richtigen Melodie, zum Besten gab; dabei tat ich so, als wäre ich ein Grammophon, und manchmal machte ich »Witze«, beispielsweise als wäre ich in einer Rille hängen geblieben – dann sang ich immer wieder das gleiche Wort, bis die »Nadel« (mein Finger) ein Stück weiter geschoben wurde. Wir hatten ein tragbares Grammophon mit einem Uhrwerk zum Aufziehen, genau wie es von Flanders und Swann im »Song of Reproduction« unsterblich gemacht wurde:

I had a little gramophone

I’d wind it round and round.

And with a sharpish needle,

It made a cheerful sound.

And then they amplified it

It was much louder then.

And used sharpened fibre needles,

To make it soft again.|7|

Mein Vater kaufte keine »Fibre needles«. Vielmehr benutzte er meist behelfsweise die Dornen von den Enden der Sisalblätter.

Einige meiner Lieder hatte ich wahrscheinlich von Schallplatten, manche waren wie die zuvor zitierten aus dem Augenblick geborenes Gebrabbel, und wieder andere stammten von meinen Eltern. Insbesondere mein Vater hatte Spaß daran, mir Nonsens-Lieder beizubringen, die er vielfach wiederum von seinem Vater hatte. An so manchem Abend erklangen unsere Bemühungen mit Juwelen wie »Mary had a William goat«, »Hi ho Cathusalem, the harlot of Jerusalem« oder »Hoky Poky Winky Fum«, das mein Urgroßvater Smythies, wie ich erfuhr, jeden Tag beim Zuschnüren seiner Stiefel gesungen haben soll, sonst aber nie. Einmal verlief ich mich am Strand des Nyassasees; als man mich schließlich fand, saß ich zwischen zwei älteren Damen in Liegestühlen und ergötzte sie mit dem Gordouli-Lied, das Studienanfänger des Balliol College seit 1896 als Spottserenade über die Mauer zum benachbarten Trinity College gegrölt hatten und das auch ein Lieblingslied meines Vaters und Großvaters gewesen war.

Gordooooooooli.

He’s got face like a ham.

Bobby Johnson says so.

And he ought to know.

Bloody Trinity. Bloody Trinity.

If I were a bloody Trinity man

I would. I would.

I’d go into the public rear,

I would. I would.

I’d pull the plug and disappear.

I would. I would.

Bloody Trinity. Bloody Trinity.|8|

Große Dichtung ist das wohl kaum, und in nüchternem Zustand singt man es normalerweise nie, interessant wäre vielleicht gewesen, was die alten Damen davon hielten. Als ich 1959 auf das Balliol kam, stellte ich übrigens fest, dass die Melodie sich irgendwann während der 22 Jahre, seit mein Vater vom College abgegangen war, verändert hatte: Sie hatte eine destruktive memetische Mutation durchgemacht, durch die ein subtiler Aspekt verlorengegangen war.

Meine Grammophon-Metapher diente regelmäßig dem Versuch, das Zubettgehen hinauszuzögern: Das Grammophon lief ab, das Lied wurde langsamer, die Tonhöhe sank ab, und es musste »aufgezogen« werden. Das Ganze war sogar Teil unseres Alltagslebens: Wir hatten keinen elektrischen Strom, und das Uhrwerkgrammophon musste stets aufgezogen werden, damit es die Sammlung der 78-UpM-Schallplatten meines Vaters abspielen konnte. Vor allem waren es Aufnahmen von Paul Robeson, den ich bis heute verehre, aber auch Fjodor Schaljapin, der Tom der Reimer auf Deutsch sang (die Aufnahme würde ich gern ausfindig machen, aber iTunes hat mich bisher im Stich gelassen), und verschiedene Orchesterwerke, darunter die Symphonischen Variationen von César Franck, die ich – vermutlich wegen des Klavierparts – als »tropfendes Wasser« bezeichnete.

Da wir keinen Strom hatten, wurden unsere Häuser mit Petroleum-Starklichtlampen beleuchtet. Ihr Glühstrumpf musste mit Brennspiritus vorgeheizt werden, und wenn man dann den Petroleumdampf nach oben pumpte, zischten die Lampe gemütlich den ganzen Abend. In Nyassaland hatten wir die längste Zeit auch keine Toilette mit Wasserspülung, sondern wir mussten eine Trockentoilette benutzen, die sich manchmal in einem Klohäuschen befand. In anderer Hinsicht lebten wir aber in großem Luxus. Wir hatten immer einen Gärtner, einen Koch sowie weitere Bedienstete (die, wie ich zu meinem Bedauern sagen muss, als »Boys« bezeichnet wurden). An ihrer Spitze stand Ali, der zu meinem ständigen Begleiter und Freund wurde. Der Tee wurde auf dem Rasen serviert; die hübsche silberne Teekanne, der Krug mit dem heißen Wasser und das Milchkännchen standen unter einer zierlichen Musselinabdeckung, die von eingenähten Schneckenhäusern am Saum beschwert wurde. Dazu gab es Drop Scones (schottische Pfannkuchen), die für mich bis heute die Entsprechung zu ­Prousts Madeleines sind.

Die Ferien verbrachten wir mit Förmchen und Schaufel an den Sandstränden des Nyassasees, der so groß ist, dass man ihn für ein Meer halten könnte: Am Horizont ist kein Land zu sehen. Wir wohnten in einem hübschen Hotel, dessen Zimmer strohgedeckte Strandhütten waren. Einmal machten wir auch Ferien in einer geliehenen Hütte hoch oben im Zomba-Gebirge. Eine Anekdote von dieser Reise macht meinen Mangel an Kritikfähigkeit deutlich (und straft vielleicht die Geschichte Lügen, wonach ich mit einem Jahr den Weihnachtsmann durchschaut hatte). Ich spielte Verstecken mit einem freundlichen Afrikaner und suchte ihn in einer Hütte, in der er eindeutig nicht war. Später ging ich noch einmal zu derselben Hütte, und nun war er dort – an einer Stelle, an der ich ganz bestimmt nachgesehen hatte. Er schwor, er sei die ganze Zeit dort gewesen, habe sich aber unsichtbar gemacht. Ich nahm seine Erklärung hin, erschien sie mir doch plausibler als die aus heutiger Sicht naheliegende Alternative, dass er log. Ich frage mich, ob Elfengeschichten voller Zaubersprüche und Wunder, zu denen auch unsichtbare Menschen gehören, in der Erziehung schädlich sind. Aber immer wenn ich heute diese Zweifel äußere, bekomme ich von allen Seiten Prügel, weil ich angeblich den Zauber der Kindheit zerstören will. Ich glaube, ich erzählte meinen Eltern damals nichts von dem Versteckspiel im Zomba-Gebirge, aber ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass ich froh gewesen wäre, wenn sie mir Humes Überlegungen über Wunder in geeigneter Form nahegebracht hätten. Was meinst du wohl, welches das größere Wunder ist? Das Wunder, dass ein Mann lügt, um einem leichtgläubigen Kind einen Gefallen zu tun? Oder das Wunder, dass er sich tatsächlich unsichtbar gemacht hat? So, kleiner Richard, was glaubst du nun, was in der Hütte tatsächlich passiert ist, auf dem Zomba-Berg hoch über der Ebene?

Ein anderes Beispiel für kindliche Leichtgläubigkeit: Jemand, der meinen Kummer über verstorbene Haustiere lindern wollte, erzählte mir, Tiere würden nach ihrem Tod in einen eigenen Himmel eingehen, die Glücklichen Jagdgründe. Ich glaubte das aufs Wort und fragte nicht einmal nach, ob es auch einen »Himmel« für die Beutetiere gibt, die dort gejagt werden. In der Mullion Cove begegnete mir einmal ein Hund, und ich fragte, wem er gehörte. Die Antwort verstand ich falsch als »Mrs Ladners Hund zurückgekommen«. Ich wusste, dass meine Großmutter vor meiner Geburt einen Hund namens Saffron besessen hatte, der aber schon lange tot war. Mit einer gutgläubigen Neugier, die aber so schwach war, dass ich ihr nicht weiter nachging, nahm ich sofort an, es handele sich bei dem Hund tatsächlich um Saffron und er sei aus den Glücklichen Jagdgründen zurückgekehrt.

Warum fördern Erwachsene die Leichtgläubigkeit von Kindern? Ist es wirklich so falsch, ein Kind, das an den Weihnachtsmann glaubt, in ein kleines Frage-und-Antwort-Spiel zu verwickeln? Wie viele Schornsteine müsste er erreichen, um bei allen Kindern der Welt seine Geschenke abzuliefern? Wie schnell müsste sein Rentier fliegen, damit es bis zum Weihnachtsmorgen überall war? Sag dem Kind nicht rundheraus, dass es keinen Weihnachtsmann gibt. Ermutige es aber zu der unbestechlichen Gewohnheit, skeptische Fragen zu stellen.

In Kriegszeiten, Tausende Kilometer von Verwandten und Einkaufsstraßen entfernt, waren Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke zwangsläufig begrenzt, aber das machten meine Eltern durch Erfindungsreichtum wett. Meine Mutter nähte für mich einen wunderbaren Teddybären, der so groß war wie ich. Und mein Vater konstruierte verschiedene phantasievolle Maschinen, unter anderem einen Lastwagen, unter dessen Motorhaube sich eine einzige echte (völlig unpassende, aber herrlich maßstabslose) Zündkerze befand. Der Lastwagen war mein Stolz und meine Freude, als ich ungefähr vier war. Den Aufzeichnungen meiner Eltern ist zu entnehmen, dass ich so tat, als habe er eine Panne, woraufhin ich

Das Loch im Reifen flickte

Das Wasser vom Terveiler (Verteiler) wischte

Die Batterie reparierte

Wasser in den Kühler schüttete

Am Vergaser fummelte

An der Starterklappe zog

Den Schalter andersherum ausprobierte

Die Zündkerze reparierte

Die Ersatzbatterien richtig einsetzte

Öl in den Motor füllte

Nachsah, ob mit der Lenkung alles in Ordnung war

Benzin nachfüllte

Den Motor abkühlen ließ

Ihn umdrehte und die Unterseite betrachtete

Die Knalle durch Verkürzung der Enden überprüfte [was das ­bedeutet, weiß ich nicht]

Eine Feder auswechselte

Die Bremsen reparierte

Und so weiter

Jede Tätigkeit wurde mit den entsprechenden Bewegungen und Geräuschen begleitet, und dann kam das »Ger er er er er Ger er er er er« des Starters, woraufhin der Motor ansprang oder auch nicht.

1946, ein Jahr nach Kriegsende, konnten wir im Urlaub »nach Hause« nach England fahren (England war immer unser »Zuhause«, obwohl ich noch nie dort gewesen war; ich habe Neuseeländer der zweiten Generation kennengelernt, die der gleichen nostalgischen Konvention folgen.) Mit dem Zug fuhren wir nach Kapstadt, und dort gingen wir an Bord der Empress (ich glaubte, es heiße »Emprist«) of Scotland mit Kurs auf Liverpool. Die südafrikanischen Eisenbahnzüge hatten zwischen den Wagen offene Plattformen mit einer Reling wie auf einem Schiff. Man konnte sich hinauslehnen, die Welt vorüberziehen sehen und die Asche von der entsetzlich umweltverschmutzenden Dampflokomotive auffangen. Anders als auf einem Schiff hatten diese Geländer eine Teleskopfunktion und wurden so länger oder kürzer, wenn der Zug durch eine Kurve fuhr. Da war ein Unfall vorprogrammiert, und der ereignete sich auch. Ich hatte meinen linken Arm an dem Geländer eingehakt und merkte nicht, dass der Zug gleich in eine Kurve fahren würde. Als die Geländer sich zusammenschoben, wurde mein Arm eingeklemmt, und meine erschrockenen Eltern konnten mich erst befreien, als die Kurve zu Ende war und das Geländer sich wieder streckte. In Mafeking, der nächsten Station, wurde der Zug angehalten, und man brachte mich ins Krankenhaus, um den Arm nähen zu lassen. Ich hoffe, den anderen Fahrgästen war die Verspätung nicht allzu unangenehm. Die Narbe habe ich heute noch.

Als wir nach Kapstadt kamen, stellte sich heraus, dass die Empress of Scotland ein erbärmliches Schiff war. In Kriegszeiten war sie zum Truppentransporter umgebaut worden: Statt der Kabinen hatte sie verliesartige Schlafsäle mit dreistöckigen Betten. Es gab Schlafsäle für Männer und welche für Frauen und Kinder. Dort war es so eng, dass man sich bei Tätigkeiten wie dem Ankleiden abwechseln musste. Im Frauenschlafsaal, so das Tagebuch meiner Mutter,

ging es mit so vielen Kindern zu wie in einem Tollhaus. Wir zogen sie an, brachten sie zur Tür und übergaben sie den Vätern, die dort in einer langen Schlange warteten, um ihre Sprösslinge abzuholen. Die nahmen sie mit und stellten sich für das Frühstück an. Richard musste regelmäßig zum Schiffsarzt und sich den Arm verbinden lassen. In der Mitte der dreiwöchigen Reise bekam ich natürlich einen Malariaanfall; Sarah und ich wurden ins Schiffslazarett gebracht, und der arme Richard blieb allein in dem schrecklichen Schlafsaal. Man erlaubte ihm nicht, zu John oder zu mir zu kommen. Es war grausam.

Ich glaube, wir konnten nicht richtig einschätzen, was für eine schreckliche Zeit die ganze Reise für Richard gewesen sein muss und welche langfristigen Auswirkungen sie hatte. Er muss das Gefühl gehabt haben, dass alle Geborgenheit der Welt plötzlich weg war. Und als wir nach England kamen, war er ein trauriger kleiner Junge, der seinen ganzen Schwung verloren hatte. Als wir am Kai in Liverpool in den dunklen Regen hinausblickten und darauf warteten, an Land gehen zu können, fragte er erstaunt: »Ist das England?« Und dann wollte er sofort wissen: »Wann fahren wir wieder zurück?«

Wir fuhren zu meinen Großeltern väterlicherseits zum Anwesen The Hoppet in Essex, wo es …

im Februar bitter kalt und spartanisch war. Richards Zuversicht schwand, und er fing an zu stottern. Mit seiner Kleidung kam er nicht zurecht. Nachdem er bisher in seinem Leben meist sehr wenig angehabt hatte, gab er sich jetzt den Knöpfen und Schnürsenkeln geschlagen; die Großeltern hielten ihn für zurückgeblieben: »Kann er sich noch nicht selbst anziehen?« Weder sie noch wir hatten Bücher über Kinderpsychologie, also machten sie sich daran, ihm Disziplin beizubringen. Er wurde zu einem verschlossenen und ein wenig gelähmten Menschen. In The Hoppet gab es ein Ritual: Er musste lernen, »Guten Morgen« zu sagen, wenn er zum Frühstück kam, und wurde aus dem Zimmer geschickt, bis er es tat – sein Stottern verschlimmerte sich, und keiner von uns war glücklich. Heute schäme ich mich, dass wir den Großeltern erlaubt haben, sich so zu benehmen.

In Cornwall, bei meinen Großeltern mütterlicherseits, standen die Dinge nicht viel besser. Vom Essen mochte ich fast nichts, und wenn die Großeltern dennoch darauf bestanden, dass ich es aß, stellte ich mich innerlich darauf ein, zu erbrechen. Am schlimmsten war das wässerige Kürbisgemüse, das ich sogar auf den Teller kotzte. Wahrscheinlich waren alle erleichtert, als es für uns an der Zeit war, in South­ampton an Bord der Carnarvon Castle zu gehen, die nach Kapstadt fuhr, um von dort nach Nyassaland zurückzukehren – und zwar nicht nach Makwapala im Süden, sondern in den zentralen Distrikt rund um Lilongwe. Mein Vater wurde zuerst in die landwirtschaftliche Forschungsstation in Likuni nicht weit von Lilongwe und dann nach Lilongwe selbst versetzt, das heute die Hauptstadt Malawis ist, damals aber noch ein kleiner Provinzflecken war.

Likuni und Lilongwe sind für mich die Schauplätze angenehmer Erinnerungen. Offenbar interessierte ich mich schon mit sechs Jahren für Wissenschaft, denn ich weiß noch, wie ich meine kleine Schwester, die lange krank war, in unserem gemeinsamen Zimmer in Likuni mit Geschichten über Mars, Venus und die anderen Planeten unterhielt, über ihre Entfernung zur Erde und die Wahrscheinlichkeit, dass es auf ihnen Leben gibt. Mir gefielen die Sterne an diesem Ort, der kaum von irdischem Licht verunreinigt war. Der Abend war eine magische Zeit der Geborgenheit, und ich assoziierte sie mit dem Choral von ­Baring-Gould:

Now the day is over,

Night is drawing nigh,

Shadows of the evening

Steal across the sky.

Now the darkness gathers,

Stars begin to peep;

Birds, and beasts, and flowers

Soon will be asleep.|9|

Wieso ich überhaupt Choräle kannte, weiß ich nicht, denn in Afrika gingen wir nie in die Kirche (wohl aber wenn wir in England bei den Großeltern waren). Das Kirchenlied müssen mir meine Eltern beigebracht haben, ebenso wie »There’s a friend for littul children, above the bright blue sky«.

In Likuni fielen mir auch zum ersten Mal die langen Schatten des Abends auf, und sie faszinierten mich. Das Ganze hatte damals noch nichts mit den Vorahnungen zu tun, die durch T. S. Eliots »Schatten, der dich abends einholt« geweckt werden. Wenn ich die Nocturnes von Chopin höre, fühle ich mich noch heute zurückversetzt nach Likuni, und ich habe das angenehme Gefühl der abendlichen Geborgenheit, wenn die »Sterne munter blinzeln«.

Mein Vater dachte sich für Sarah und mich wunderbare Gutenachtgeschichten aus. Oft kam darin ein »Bronkosaurus« vor, der mit hoher Falsettstimme »Tiddly-widdly-widdly« sagte und gaaanz weit weg in Gonwnkyland wohnte. (Die Anspielung verstand ich erst während meines Studiums, als ich etwas von Gondwanaland hörte, dem großen Südkontinent, der später zerbrach und zu Afrika, Südamerika, Australien, Neuseeland, der Antarktis, Indien und Madagaskar wurde.) Wir betrachteten gerne in der Dunkelheit das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr, und er malte uns mit seinem Füllfederhalter eine Uhr auf das Handgelenk, damit wir während der milden Nächte unter dem Moskitonetz die Zeit ablesen konnten.

Auch Lilongwe war der Schauplatz einer kostbaren Kindheitserinnerung. Der Amtssitz des Distrikts-Agrarbeamten war über und über mit Bougainvilleen bewachsen. Der Garten war voller Kapuzinerkresse, deren Blätter ich gern aß. Mit ihrem einzigartigen, pfeffrigen Geschmack, der einem noch heute manchmal in Salaten begegnet, sind sie der zweite Kandidat für meine Proust’schen Madeleines.

In dem gleich aussehenden Haus nebenan wohnte der Arzt. Dr. und Mrs Glynns Sohn David war genauso alt wie ich, und wir spielten jeden Tag gemeinsam in ihrem Haus, unserem Haus oder der Umgebung. Der Sand enthielt dunkelblau-schwarze Körner – es muss sich um Eisen gehandelt haben, denn wir konnten sie mit einem Magneten, der an einer Schnur hing, herausziehen. Auf der Veranda bauten wir »Häuser« mit kleinen Zimmern und Korridoren aus Stoffstücken, Matten und Teppichen, die wir über Stühle und Tische legten. Wir statteten die »Häuser« auf der Veranda sogar mit fließendem Wasser aus; als Rohrleitungen steckten wir die hohlen Stängel von einem Baum im Garten zusammen. Er gehörte vielleicht zur Gattung ­Cecropia, aber wir nannten ihn »Rhabarberbaum« – den Namen hatten wir vermutlich aus einem Lied, das wir (zur Melodie von »Little Brown Jug«) gern sangen:

Ha ha ha. Hee hee hee.
Elephant’s nest in a rhubarb tree.|10|

Wir sammelten Schmetterlinge, meist gelbe und schwarze Schwalbenschwänze; heute vermute ich, dass es sich um verschiedene Arten der Gattung Papilio handelte. Damals machten David und ich aber keine Unterschiede: Wir nannten sie alle »Daddy Christmas«; das, so sagte er, sei ihr richtiger Name, der allerdings angesichts des gelb-schwarzen Musters nicht plausibel erschien.

Mein Vater unterstützte die Schmetterlingssammelei. Er baute mir eine Schachtel, in der ich meine Fundstücke aufspießen konnte; er legte den Kasten aber mit Sisal aus und nicht mit Kork, wie es die Profis gern tun und wie es auch mein Großvater Dawkins – der selbst Sammler war – tat, als er mit meiner Großmutter zu Besuch kam. Sie planten eine Rundreise durch Ostafrika und wollten ihre Söhne nacheinander besuchen. Zuerst fuhren sie nach Uganda zu Colyear, dann führte ihr Weg sie über Tanganyika nach Nyassaland. Und zwar, wie meine Mutter berichtete …

in einer Reihe kurzer Etappen mit den Bussen der Einheimischen, unglaublich unbequem und vollgepackt mit Horden von Afrikanern und armen Hühnern mit zusammengebundenen Beinen und ungeheuren Ballen verschiedener Waren. Kein Transportmittel fuhr weiter als bis nach Mbeya [im Süden von Tanganyika]. Aber ein junger Mann hatte ein kleines, leichtes Flugzeug und erbot sich, sie weiter zu bringen. Also machten sie sich auf, aber sie gerieten in schlechtes Wetter und mussten umkehren. Als das Wetter sich besserte, versuchten sie es noch einmal; dabei flogen sie so niedrig, dass Tony [mein Großvater, Kurzbezeichnung für Clinton] sich hinauslehnen konnte. Unterwegs erkannte er anhand einer alten Landkarte die Flüsse und Straßen und dirigierte den Piloten.

Mein abenteuerlustiger Großvater war in seinem Element. Er liebte Landkarten und auch Eisenbahnfahrpläne – die kannte er auswendig, und im sehr hohen Alter bildeten sie seinen einzigen Lesestoff.

In Lilongwe wusste jeder ungefähr zehn Minuten im Voraus Bescheid, wenn ein Flugzeug eintraf. Das lag daran, dass eine einheimische Familie in ihrem Garten Kronenkraniche als Haustiere hielt. Die Vögel hörten ein anfliegendes Flugzeug viel früher als die Menschen und fingen dann an zu schreien. Ob aus Angst oder aus Freude, wusste man nicht. Eines Tages, als das regelmäßige wöchentliche Flugzeug noch nicht fällig war und die Kraniche zu schreien begannen, fragten wir uns, ob es die Großeltern sein könnten. Also gingen wir zur Landepiste, Richard und David mit ihren Dreirädern. Wir kamen gerade noch rechtzeitig und konnten zusehen, wie das winzige Flugzeug zweimal über dem Ort kreiste und mit einem gewaltigen Bumms landete; dann stiegen Oma und Opa aus.

So etwas Naheliegendes wie eine Flugaufsicht gab es also nicht. Nur Kronenkraniche.

In Lilongwe wurden wir vom Blitz getroffen. Eines Abends zog ein heftiges Gewitter heran. Es war sehr dunkel, und die Kinder hatten ihr Abendessen in den (hölzernen) Betten unter dem Moskitonetz eingenommen. Ich saß auf dem Fußboden und las; dabei lehnte ich mich an unser sogenanntes Sofa (das aus einem alten Bettgestell aus Eisen gebaut war). Plötzlich hatte ich ein Gefühl, als hätte ich einen Vorschlaghammer auf den Kopf bekommen, und ich lag völlig flach. Es war ein gewaltiger, genau gezielter Schlag. Wir sahen, dass die Radioantenne und eine Gardine in Flammen standen, und liefen schnell in das Kinderzimmer, um nachzusehen, ob dort alles in Ordnung war. Die Kinder hatten überhaupt nichts mitbekommen und kauten ziemlich gelangweilt an ihren Maiskolben!

Ob meine Eltern den Vorhang löschten, bevor sie nach uns Kindern sahen, ist nicht überliefert. In ihrem Bericht fährt meine Mutter fort:

Ich hatte eine lange rote Verbrennung an der Körperseite, mit der ich mich an das Eisenbett gelehnt hatte, und später entdeckten wir noch alle möglichen anderen seltsamen Dinge. Zum Beispiel einen Brocken vom Betonfußboden, der herausgerissen und auf das Garagendach geschleudert worden war! Dem Koch wurde ein Messer aus der Hand geschlagen, und er wurde umgeworfen, eine Wäscheleine aus Draht war geschmolzen, und die Fensterscheiben im Wohnzimmer waren mit geschmolzenem Metall von der Radioantenne bespritzt, die völlig verschwunden war, usw. usw. Wir können uns nicht mehr an alles erinnern, aber es war dramatisch.

Ich selbst habe an den Blitzschlag nur verschwommene Erinnerungen, aber ich frage mich, ob das Messer dem Koch tatsächlich aus der Hand geschlagen wurde oder ob er es vor Angst fallen ließ – was ich sicher getan hätte. Ich erinnere mich noch an die bunten Muster, die irgendwelche Substanzen auf den Fenstern hinterlassen hatten, und auch an den Augenblick des Einschlags selbst, denn dabei bestand das Geräusch nicht aus dem üblichen bumm bumm bumm de bumm bumm bumm (das größtenteils ein Echo ist), sondern aus einem einzigen, auffallend langen Knall. Gleichzeitig muss ein heller Blitz aufgeflammt sein, aber daran habe ich keine Erinnerung.

Glücklicherweise hatten wir danach keine Unwetterangst, denn in Afrika gab es häufig prächtige Gewitter. Sie waren ungeheuer schön, die Bergketten hoben sich als Silhouetten vor dem hellerleuchteten Himmel ab, und alles war begleitet von der großen Oper des manchmal fast ununterbrochenen Donners.

In Lilongwe kauften wir auch unseren ersten Neuwagen, einen Willys Jeep Station Wagon, der auf den Namen Creeping Jenny getauft wurde. Er trat an die Stelle des alten Standard Twelve »Betty Turner«. Heute erinnere ich mich mit nostalgischer Begeisterung an den aufregenden Neuwagengeruch von Creeping Jenny. Unser Vater erklärte Sarah und mir, welche Vorteile sie im Vergleich zu allen anderen Autos hatte; denkwürdig waren vor allem die flachen Kotflügel über den Vorderrädern. Er erzählte uns, sie seien extra so konstruiert, damit sie uns als Tische für unser Picknick dienen konnten.

Mit fünf Jahren wurde ich in die Schule von Mrs Milne geschickt, eine kleine, einklassige Vorschule, die von einer Nachbarin geleitet wurde. Eigentlich konnte ich bei Mrs Milne überhaupt nichts lernen, denn die anderen Kinder lernten lesen, und das hatte meine Mutter mir schon beigebracht; deshalb setzte Mrs Milne mich mit einem »Erwachsenenbuch« an die Seite, wo ich allein lesen sollte. Das Buch war zu »erwachsen« für mich, aber pflichtschuldigst zwang ich mich, meinen Blick über jedes Wort gleiten zu lassen, auch wenn ich das meiste nicht verstand. Ich weiß noch, wie ich Mrs Milne fragte, was »wissbegierig« bedeutet, aber ich brachte nicht den Mut auf, mich bei ihr nach der Bedeutung weiterer Wörter zu erkundigen, während sie damit beschäftigt war, die anderen Kinder zu unterrichten. Also bekam ich …

gemeinsamen Unterricht mit dem Arztsohn Davis Glynn, der von der Frau des Arztes unterrichtet wurde. Beide waren aufgeweckte kleine Jungen, und wir nehmen an, dass sie eine Menge lernten. Dann gingen er und David zusammen auf die Eagle School.

4
Ein Adler in den Bergen

Die Eagle School war ein nagelneues Internat. Es lag hoch oben im Nadelwald des Vumba-Gebirges in Südrhodesien (dem heutigen Zimbabwe), nicht weit von der Grenze zu Mosambik. Ich bediene mich der Vergangenheitsform, weil die Schule während der Konflikte, die später über das unglückselige Land hereinbrachen, ein für alle Mal geschlossen wurde. Ihr Gründer war Frank (»Tank«) Cary, ein früherer Hausvorsteher der Dragon School in Oxford, die meines Wissens die größte und wohl auch beste Vorschule Englands ist und sich sowohl eines großartigen Abenteuergeistes als auch einer bemerkenswerten Liste angesehener Absolventen rühmen kann. Tank wollte sein Glück in Afrika versuchen, und seine Schule war ein originalgetreues Abbild von Dragon. Wir hatten den gleichen Schul-Wahlspruch (Arduus ad solem, ein Vergil-Zitat) und die gleiche Schulhymne, die nach der Melodie zu »Onward, Christian Soldiers« von Sulivan gesungen wurde: »Arduus ad solem/ By strife up to the sun«. Tank hatte unsere Familie in Lilongwe besucht, als er auf einer Rundreise war und bei den Eltern in Nyassaland die Werbetrommel rührte: Meine Eltern mochten ihn und gelangten zu dem Schluss, dass Eagle für mich die richtige Schule war. Dr. und Mrs Glynn trafen für David die gleiche Entscheidung, und wir kamen zusammen auf das Internat.

An die Eagle School habe ich nur verschwommene Erinnerungen. Vermutlich war ich nur zwei Schuljahre dort, und eines davon war das zweite Jahr, in dem die Schule überhaupt existierte. Ich weiß noch, dass ich bei der offiziellen Einweihung dabei war; von dem »Opening Day«, dem Eröffnungstag, war im Vorfeld viel geredet worden. Für mich war das ein Rätsel, denn ich hielt es für eine Anspielung auf das Kirchenlied »O God our help in ages past«:

Time like an ever-rolling stream,

Bears all its sons away;

They fly forgotten, as a dream

Dies at the opening day.|11|

Überhaupt machten Kirchenlieder an der Eagle School großen Eindruck auf mich, sogar »Fight the good fight with all they might«, dessen erstaunlich langweilige Melodie eher zum Einschlafen als zum Kämpfen einlud. Alle Eltern sollten ihre Söhne mit einer Bibel ausstatten. Meine Eltern gaben mir aus irgendeinem Grund The Children’s Bible, eine Kinderbibel, die durchaus nicht das Gleiche war, und so fühlte ich mich ziemlich ausgegrenzt und »anders«. Vor allem war diese Version nicht in Kapitel und Verse eingeteilt, was ich als entsetzlichen Mangel empfand. Ich war so fasziniert von der biblischen Methode, Prosa zum leichteren Nachschlagen in Abschnitte zu unterteilen, dass ich in einige meiner ganz normalen Bücher beim Durchlesen ebenfalls Zahlen für die »Verse« hineinschrieb. Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, mir das Buch Mormon anzusehen, das im 19. Jahrhundert entstandene Machwerk eines Scharlatans namens Smith, und dabei kam es mir so vor, als müsse die King-James-Bibel auf ihn die gleiche Faszination ausgeübt haben: Er fasste sein Buch ebenfalls in Versen ab und ahmte sogar mit seinem Englisch den Stil des 16. Jahrhunderts nach. Nebenbei bemerkt, ist es mir unverständlich, dass nicht allein diese Tatsache ihn sofort als Fälscher überführte. Glaubten seine Zeitgenossen, die Bibel sei ursprünglich in der Sprache von Tyndale und Cranmer geschrieben worden? Oder, wie Mark Twain bissig bemerkte: Wenn man die Formulierung »And it came to pass« (»Es begab sich aber …«) überall da, wo sie im Buch Mormon vorkommt, streichen würde, bliebe nur noch eine Broschüre übrig.

Mein Lieblingsbuch an der Eagle School war Doktor Dolittle und seine Tiere, das ich in der Schulbibliothek entdeckte. Es ist heute wegen seines Rassismus weitgehend aus den Bibliotheken verbannt, und man kann auch erkennen, warum. Der sagenumwobene Prinz Bumpo vom Stamm der Jolliginki will unbedingt zu dem Prinzen werden, in den Frösche sich auf magische Weise verwandeln und der sich in alle Aschenputtels verliebt. Weil er Sorge hat, sein schwarzes Gesicht könne einem Dornröschen Angst einjagen, falls er die Schönheit zufällig mit seinem Prinzenkuss aufweckt, bittet er Doktor Dolittle, sein Gesicht weiß zu machen. Natürlich erkennt man deutlich, warum dieses Buch, das bei seinem Erscheinen 1920 unauffällig und unumstritten war, gegen Ende des 20. Jahrhunderts dem gewandelten Zeitgeist zum Opfer fiel. Aber wenn wir schon über moralische Lehren sprechen, werden die großartigen, phantasievollen Doktor-Dolittle-Bücher – für das beste halte ich Doktor Dolittles Postamt – vom Hauch des Rassismus durch ihren viel auffälligeren Anti-Speziesismus reingewaschen.

Neben Wahlspruch und Schulhymne von Dragon übernahm man an der Eagle School auch die Tradition, Lehrer mit Spitznamen oder Vornamen anzusprechen. Den Schulleiter nannten wir Tank, und das auch dann noch, wenn er uns bestrafte. Damals glaubte ich, mit dem Namen sei der Tank gemeint, mit dem man Wasser vom Dach auffängt, aber heute ist mir klar, dass er sich mit ziemlicher Sicherheit auf das erbarmungslose, unaufhaltsame Militärfahrzeug bezog. Vermutlich hatte sich Mr Cary in seinen Jahren an der Dragon School den Ruf einer verbissenen Beharrlichkeit erworben, mit der er sich ungeachtet aller Hindernisse vorwärtsbewegte. Weitere Schulleiter waren Claude (auch er ein Auswanderer von der Dragon School), Dick (der die beliebte Aufgabe hatte, jeden Mittwoch nach dem Mittagsschlaf eine segensreiche Schokoladenration zu verteilen) und Paul, ein geheimnisvoll-jovialer Ungar, der Französisch unterrichtete. Mrs Watson, die Lehrerin der Jüngsten, war »Wattie«, und die Hausdame Miss Copplestone hieß »Coppers«.

Ich kann nicht behaupten, dass ich an der Eagle School glücklich war, aber vermutlich fühlte ich mich so wohl, wie man es von einem Siebenjährigen, der drei Monate von zu Hause weg ist, überhaupt erwarten kann. Am schmerzlichsten war eine Phantasie, in der ich meiner Erinnerung nach fast täglich schwelgte, wenn Coppers leise ihre morgendliche Runde durch die Schlafsäle machte, während wir noch im Halbschlaf lagen: Ich malte mir aus, sie würde sich auf magische Weise in meine Mutter verwandeln. Darum betete ich inständig – Coppers hatte wie meine Mutter dunkle Locken, deshalb glaubte ich in meiner kindlichen Naivität, es könne für die Verwandlung keines allzu großen Wunders bedürfen. Und ich war überzeugt, die anderen Jungen würden meine Mutter genauso gern mögen, wie wir Coppers mochten.

Coppers war mütterlich und freundlich. Ich stelle mir gern vor, dass ihr Bericht über mich am Ende des ersten Schuljahrs nicht ganz der Zuneigung entbehrte: Sie schrieb, es gebe bei mir »nur drei Geschwindigkeiten: langsam, sehr langsam und Halt«. Einmal machte sie mir Angst, ohne dass es auch nur im Geringsten ihre Absicht gewesen wäre. Nachdem ich einmal einen Afrikaner gesehen hatte, dessen Augen ins Leere starrten wie die Spitzen hartgekochter Eier, fürchtete ich mich entsetzlich davor, blind zu werden. Mich beunruhigte der Gedanke, ich würde eines Tages völlig taub oder völlig blind sein; nach langem, schmerzlichem Nachdenken gelangte ich zu dem Schluss, dass beides nahezu gleich schlecht sei, aber zu erblinden müsse doch das Schlimmste sein, was mir widerfahren könnte. Die Eagle School war modern und hatte elektrischen Strom, der von einem eigenen Generator erzeugt wurde. Eines Abends, als Coppers gerade im Schlafsaal mit uns sprach, ging offenbar der Motor des Generators aus. Als das Licht erlosch und völliger Dunkelheit Platz machte, fragte ich mit ängstlich zitternder Stimme: »Ist das Licht ausgegangen?«

»Oh nein«, erwiderte Coppers mit fröhlichem Sarkasmus, »du bist sicher blind geworden.«

Arme Coppers – sie wusste nicht, was sie da gesagt hatte.

Große Angst hatte ich auch vor Gespenstern. Ich stellte sie mir als klappernde Skelette mit riesigen Augenhöhlen vor, die durch lange Korridore mit enormer Geschwindigkeit auf mich zugestürmt kamen. Sie waren mit Spitzhacken ausgerüstet und würden ihre Schläge mit teuflischer Präzision auf meinen großen Zeh richten. Außerdem hatte ich eigenartige Phantasien, in denen ich gekocht und gegessen wurde. Ich habe keine Ahnung, woher diese schreckliche Bilderwelt kam. Sie stammte nicht aus irgendwelchen Büchern, die ich gelesen hatte, und mit Sicherheit auch nicht aus irgendwelchen Geschichten, die ich von meinen Eltern kannte. Vielleicht hatten sie ihren Ursprung in Lügenmärchen, die andere Jungen im Schlafsaal erzählt hatten – Märchen, wie sie mir an meiner nächsten Schule noch häufiger begegnen sollten.

Auf der Eagle School lernte ich aber auch zum ersten Mal die grenzenlose Grausamkeit von Kindern kennen. Ich selbst wurde glücklicherweise nicht schikaniert, aber ein Junge namens Aunty Peggy wurde pausenlos gehänselt, und dafür gab es offensichtlich keinen anderen Grund als seinen Spitznamen. Es war wie in einer Szene aus Herr der Fliegen: Ein Dutzend Jungen umringte ihn, tanzte um ihn herum und sang in eintöniger Spielplatzmelodie »Aunty Peggy, Aunty Peggy, Aunty Peggy«. Der arme Junge wurde dadurch in den Wahnsinn getrieben und stürzte sich blindlings auf seine Peiniger in dem Kreis, so dass schnell die Fäuste flogen. Einmal standen wir alle herum und sahen ihm bei einem ernsten, langwierigen Kampf zu, bei dem er sich mit einem Jungen namens Roger über den Boden rollte. Diesen bewunderten wir, weil er schon zwölf war. Die Sympathie der Zuschauer lag nicht beim Opfer, sondern auf Seiten des Peinigers, der gut aussah und gut in Sport war. Eine beschämende Szene, wie sie bei Schulkindern nur allzu häufig vorkommt. Am Ende und gerade noch rechtzeitig machte Tank der Massenschikane ein Ende und hielt den Versammelten einen ernsten Vortrag.

Abends im Schlafsaal mussten wir auf unseren Betten niederknien und die Stirnwand ansehen; jeden Abend war einer von uns mit dem Nachtgebet an der Reihe:

Erleuchte unsere Dunkelheit, so flehen wir dich an, o Herr; und beschütze uns mit deiner großen Gnade vor allen Gefahren dieser Nacht. Amen.

Keiner von uns hatte das Gebet jemals in schriftlicher Form gesehen, und wir wussten auch nicht, was es bedeutete. Wie Papageien plapperten wir es jeden Abend nach, und die Worte entwickelten sich zu entstellter Sinnlosigkeit. Dies ist ein interessanter Präzedenzfall, wenn man sich für die Memtheorie interessiert – wer nicht weiß, was das ist und wovon ich rede, sollte zum nächsten Abschnitt weiterblättern.

Wäre uns der Sinn des Gebets klar gewesen, wir hätten die Worte nicht verstümmelt, denn dann hätte ihre Bedeutung einen »Normalisierungseffekt« gehabt, ganz ähnlich wie das »Korrekturlesen« der DNA. Wegen solcher Normalisierungsvorgänge können Meme über so viele »Generationen« überleben, dass die Analogie zu Genen zutrifft. Aber da uns viele Wörter in dem Gebet nicht vertraut waren, konnten wir sie nur phonetisch nachahmen; die Folge war eine hohe »Mutationsrate« im Laufe der »Generationen«, in denen sie von einem Jungen nach dem anderen imitiert wurden. Es wäre interessant, diesen Effekt einmal experimentell zu untersuchen, aber dazu bin ich bisher noch nicht gekommen.

Einer der Schulleiter, vermutlich Tank oder Dick, leitete uns auch zum gemeinschaftlichen Singen an; unter anderem sangen wir »The Campdown Races« und

I have sixpence, jolly jolly sixpence,

Sixpence to last me all my life

I’ve tuppence to lend and tuppence to spend

And tuppence to take home to my wife.|12|

Mit dem nächsten Lied brachte man uns bei, das »r« in »birds« stimmhaft zu singen. Die Gründe verstand ich damals nicht – vielleicht sollte es ein amerikanisches Lied sein:

Here we sits like brrrds in the wilderness

Brrrds in the wilderness

Brrrds in the wilderness

Here we sits like brrrds in the wilderness

Down in Demerara.|13|