Sigmar Schollak

NARRENREISE

Roman

Mit einem Nachwort von Klaus Pankow

mitteldeutscher verlag

Inhalt

Cover

Titel

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

Nachwort

Der Autor

Impressum

I.

Das war nun wirklich ein lebenslang haftenbleibender Tag gewesen, der 6. Juni 1944, der D-Day, an dem John Randow seinen Geburtstag begangen hatte. Solch ein Geburtstagssalut: Schiffsartillerie, Artillerie, Flugzeuggedröhn und Bombenkrachen, von den anderen Geräuschen ganz zu schweigen. „It’s only for you“, hatte Jeremias Cohen gebrüllt, und Bob Cashman, Zweitkleinster und engster Freund, hatte „Happy Birthday“ geschrien, „Happy Birthday, John“, oder John wohl doch nicht, weil einer mit abgerissenem Kopf nicht mehr schreien kann, und der flog gerade ins Meer, Meter zurück von der Normandie-Halbinsel Cotentin, auf der die Kompanie oder jedenfalls ihr größter Teil fleischklumpenweise herumlag und Randow mit seiner MP auf egal wen feuerte, bloß damit sein Gehirn nicht zersprang und, wusste der Herrgott, nicht wegen des Heldenmutes, für den man ihm später fälschlich das Verwundetenabzeichen verlieh.

Es war Randows erster Europatrip selig zurückliegenden Angedenkens. Diesen zweiten jetzt, fünfundvierzig Jahre später, hatte weder die Army bezahlt noch die Kleinzeitung in Seattle am Pazifik, die ihn immer heranzog, sobald irgendetwas los war in dem undurchsichtigen, nahe bei Russland befindlichen Berlin, in dem er sich ja auskennen musste von der Nachkriegszeit her.

Längere Zeit über lag John Randow nun schon in dem knarrenden Bett des Berliner Billighotels und hatte seinen mageren Körper in dumpfer Müdigkeit ausgestreckt. Hinter seinen von den Lidern abgeschotteten Augen versuchte er, sich einen Punkt vorzustellen, ein Wolkenband oder überhaupt ein Ding, das eine Form aufwies. Etwas, das ihm noch nie gelungen war, aber ihn in der Army-Zeit an fast allen Störungen vorbei in den Schlaf übergeleitet hatte. Diesmal nicht. Entweder war der Trick zu lange außer Gebrauch gewesen oder es hing mit der Zeitverschiebung zusammen oder die Dinge, die er bis hierher vorangetrieben hatte, fuhren mit ihm Karussell

Randow steckte die Beine aus der zum Tantalusbett gewordenen Schlafstätte. Er beblickte die Straße. Wie schon auf der Fahrt hierher bemerkt, war sie geblieben wie eine Menge ihrer Art damals. Wieder war er verblüfft, weil sie so genau in sein Nachkriegsbild passte: fortgeräumte Trümmer, unbebaut, krumpelig –ein Filmdrehort oder ein verrückter Traum. Der „Starlight-Grove“-Club trat vor seine Augen, und Angelique und Helgafraulein, Helgafraulein besonders. „Funny“, sprach er mit seinem schütteren Lachen. Längst war er es gewohnt, mit sich selbst zu sprechen. Es war eine famose Zeit gewesen, und famos war es auch, dass das Quartier genau an dem Ort lag, den er der Zimmerverwaltung beharrlich beschrieben hatte: near the wall, nahe der Mauer, die auf der anderen Seite geradezu herausfordernd in der Gegend stand, kriegerisch, als wollte man den Stunk von vorne anfangen.

Randow öffnete das Fenster und ließ die Ausdünstungen seines Vorgängers und des Vorgängers dieses Vorgängers und all der anderen hinaus, die hier geschlafen, gewacht, gehustet, geschwitzt hatten. Er nahm die Brille ab, diese Straße noch besser zu beschauen. Zum Teufel, es war so, wie Bob Cashman damals, als er noch den Kopf am Rumpf trug, sagte: „Einen Goliath, John, muss man mit dem Banjo erschlagen.“ So waren sie mit dem Staff Sergeant Fuller verfahren, und zwar, bis er weder Staff noch Sergeant mehr war. Und darum war es ganz richtig, dass er mit Joke an die Sache ging. Joke allein machte Ernst zunichte, bevor er bloody wurde. Einmal Cotentin war genug.

Es war ein gutes Quartier, in dem er gelandet war. Es war der rechte Ort. Es würde sein Hauptquartier werden.

Allerdings war der Dollar kein Dollar mehr, sondern war, böse gesehen, vergleichsweise auf den Stand des bunten Besatzungsgeldes gesunken, dem nur ein paar aus Verzweiflung hoffnungsvolle Narren damals einen späteren Wert voraussagten.

Der Junge mit dem Glitzerohrring, dem er bei der Ankunft das Geldstück zugeschoben hatte, flegelte in dem viel zu großen Aufenthaltsraum bei ein paar gleichaltrigen Freunden und nahm den in einer Art Entengang eingetretenen Alten nicht wahr. Der Dollar war auf einen Dime gesunken, und erst als Randow den Thekenhocker dicht an die Gruppe rückte und mit seinem Bierwunsch in das Gespräch fiel, schickte sich der Junge mit einem halben Seitenblick auf ihn an, das Glas unter den Zapfhahn zu stellen. Es störte Randow nicht. Es war nicht anders als in den Stampen Seattles. Auch das Gespräch lief ähnlich dahin, soweit er ihm folgen konnte. Er sandte seine Augen zu den beiden Poolbillardtischen und den Spielautomaten mit ihren zuckenden und ruckenden Lichtern.

Amerika hatte sich mächtig ausgebreitet.

Man kam einfach nicht weg aus den Staaten, so weit man auch reiste. „It’s very fine here“, sagte er, da der Junge ihm endlich das Bier rüberreichte. Er zeigte sein gutmütiges Lächeln. „It’s a long way to Tipperary“, spaßte er. „But from Seattle to Berlin it’s a long way, too.“

Diesmal ging der Junge auf ihn ein. Er nickte. „Wird so sein“, gab er zurück. „Wenn man zu Fuß geht.“

Sie grinsten sich an, und es war nicht mehr gar so kühl, als Randow das Bier zahlte und dabei sagte, dass der Weg zur Mauer doch wohl kürzer sei.

Der Junge aber meinte, der Durchgang am Checkpoint Charlie wäre gefragt, und so kamen sie noch zu einigen Worten mehr, in die sich die drei anderen gelassen einmengten. Yes, the Aussichtspoint sei rechts, right, genau hinter the corner. „For tourists“, verdeutlichte einer den Randow unbekannten Begriff.

Randow ging. Nun schon munter, schritt er durch die Ruine des Vordergebäudes, das die boys von der Air Force zerbombt hatten und bedauerte, dass weder Mitch, George noch Mike mitgereist waren, sondern ihn wieder einmal für verrückt erklärt hatten. Wie denn überhaupt keiner dieser mules, dieser Maulesel aus Seattle und Umgebung, sich auf seine Handzettel und Inserate gemeldet hatte. Niemand hatte Sinn für den Joke, den er sich ausgedacht hatte, ausgedacht und beschlossen, um es den Roten endlich zu zeigen.

Viel zu lange hatte er gezögert. Wie idiotisch schnell waren bloß die Jahre verflogen. Er schüttelte resigniert den Kopf. Lieber spät als nie. Jetzt war er hier, in seinem geliebten Berlin, das nun seit Ewigkeiten zwei war, Gott sei’s geklagt. Aber jetzt würde er, John Randow, die Welt wachrütteln, nein, wachlachen, denn seine Idee war einfach umwerfend. Er würde ein Piss-in an der Mauer veranstalten, rund herum um die Mauer, das größte Piss-in, das es je gab. Und hier würden die Leute seine Idee verstehen und zuhauf geströmt kommen mit Oma und Opa, Kind und Kindeskindern. Der einzige Haken: Die Frauen mussten zugucken. Aber auch das war enorm wichtig: Das Ereignis musste mit viel Publikum über die Bühne gehen, damit alle Welt sah, wie abscheulich die Massen dieses Monstrum fanden. Dann würde auch den Eseln, Maultieren, Breitkopfärschen in Seattle ein Licht aufgehen, all denen, für die er meschugge war. Aber so waren sie eben: ohne Ahnung, dass Amerika weit vor Amerika begann, nämlich genau hier an diesem dreckigen Weg und dem überall zerborstenen Straßenbelag, der vorn gegen die Mauer stieß und den man nur aufgeben musste, um das Ende nicht bloß vom amerikanischen Sektor zu haben, sondern auch das von Seattle sowie aller human rights, zuzüglich freedom.

Er stand vor dem Wall, und er war weniger hoch als gedacht. Allerdings auch nicht sehr niedrig. Und dass er bunt bemalt war, machte alles nur noch makabrer. So, als ob man auf einen Hinrichtungsstuhl ein Brokatkissen legte. Randow schüttelte sich. Plump und abscheulich wie der Krieg stand vor ihm the shit, damned Bleistiftstrich aus Potsdam und starrte ihn unversöhnlich an. Er starrte zurück. Nahm die Brille ab, starrte weiter. Er klopfte dagegen. Kaum ein Laut. „Stupid, stupid damned monster.“ Das sagte er leise, beeindruckt. Denn das war ja nun wirklich das Unfassbarste, das er je gesehen hatte. Disneyland einbezogen.

Es war sieben Uhr abends. Die Aprilsonne schickte die letzten Strahlen des Tages über die geteilte Stadt. Auf der östlichen Mauerseite begann Oberleutnant Burghard Wenhoff die Posten der ihm unterstellten Weltgrenze zu kontrollieren, während weit hinten, im Stadtbezirk Lichtenberg, Axel Unsorg, der noch zwei weitere Namen besaß, in einem abgeschirmten Gebäudetrakt sein Gehirn trainierte, um aus einem minderen Gesetzesbrecher einen Klassenfeind zu schmieden. Es tat dringend not für sein Ministerium, das von der Gefahr umringt war, mehr Angestellte als Staatsfeinde zu zählen und mit dieser hinterhältigen, neuen und verschärften Kampfform des unterlegenen Gegners an den Rand seiner Existenzgrundlage getrieben werden konnte, wenn man nicht wachsam war.

Auf der westlichen Seite aber stand Maxwell Grabowski und ließ voll Missmut ein paar Pubertätspickel dicht bei der Mauer in Kreuzberg Valley knallen, darüber verstimmt, dass Andrea Gulisch ihn für immer und ewig von ihrem so festen Birnenbusen vertrieben hatte. Auch, weil er aus der Anstreicherlehre geflogen war und weil es ihm an Geld und Zigaretten mangelte, die Welt sich also wieder einmal gegen ihn verschworen hatte. Und nun kam noch jemand in aller Ruhe daher und störte ihn bei den Gedanken zwischen Rache, ruppigem Banküberfall und Heulen.

Randow war in die am Wall entlangführende, enge Seitenstraße eingebogen, brach sich jedoch auf dem ganz und gar verrotteten Pflaster nicht, wie Maxwell gewünscht hatte, das Bein. Er blieb auf dem Weg zum hölzernen Ausguck immer wieder stehen, besah sich die Malereien am spröden Beton und ärgerte sich nicht weiter über die mules in Seattle, denn, wie er sich bereits drüben getröstet hatte, gab es hier mehr Leute. Und die hier kannten den Wall, denen lag er im Magen. Die würden nur so strömen zu seinem Heidenjoke.

Maxwell Grabowski, in einer Hausecke verborgen, hörte den Mann an der Mauer strullen, an dem einzig wirklichen Wahrzeichen der Stadt, und ohne Geld, wie er war, bekam er die flinke Vorstellung von einer Rinnstrecke entlang dem gesamten Gebilde. Das längste Pissoir der Welt! Anziehungspunkt für Jet-Setter, die zwischen einigen Flaschen Champagner rasch mal angedüst kamen, denn nur, wer einmal an der Mauer gepisst hatte, war in. Es war eine enorme, patentreife Idee, fand er. Ein paar Leute zum Einsammeln der Groschen, und alles war geritzt, seine Zukunft gesichert.

Derweil hatte Randow das Touristengerüst erklettert und bekam seinen Ausblick ins Ödland des Grenzstreifens, hinter dem sich eine weitere Mauer erhob. Verblüfft von dem Anblick, starrte er hinüber. „It’s crazy“, sagte er, „it’s verrückt. It’s mad.“ Erst dann fiel ihm ein, dass irgendwo dahinter Helgafraulein wohnen musste. Fraulein Helga Gerber, verheiratet, verwitwet? Wenn sie nicht bereits hinter einer dritten, einer Friedhofsmauer, begraben lag. Helgafraulein also, mit der er es 1945 zu ersten Mal gehabt hatte und sich sofort die Krankheit geholt, einen allied Tripper, nämlich einen kaum überwindbaren des Verbündeten aus der Mongolei, was Helgafraulein ihm später gestand. Doch Fraulein Gerber war lustig gewesen, sie war aufregend, toll, so dass er bei ihr blieb, trotz der Penicillinkosten auch noch für den Polizisten Günter und trotz Lore aus the British Sector, die, gelb vor Eifersucht, an den Captain schrieb, der Sergeant Randow triebe es mit der GPU. Gewonnen aber ganz zuletzt hatte doch Angelique aus dem Secteur Français, was aber nicht wegen der Negligés war, sondern weil Helgafraulein nun wirklich darauf drang, er möge ihr was ganz und gar Geheimes über seine Armee sagen, damit Günter befördert werde, und Amerika doch reif für den Untergang sei. Schon wegen der Neger sehe sie für die Staaten schwarz.

Zwischen den beiden Mauern fuhr Oberleutnant Wenhoff weiter die Kontrollfahrt und kaute dabei Schokolade, nach der er seit seiner Kindheit süchtig war. Als er den Mann auf dem Ausguck bemerkte, hielt er ihn eine Weile im Guckloch des Feldstechers. Erneut schob er sich ein Stück Schokolade in den Mund. Vierundvierzig Jahre war das her, seit er zum ersten Mal diesen Geschmack auf seiner Zunge gespürt hatte. Genau genommen war ihm die Geschichte lediglich durch die Eltern bekannt, und erzählt wurde sie meist, wenn Besuch erschien und die Süßigkeit mitbrachte. Wenn er dann wieder mal heftig zulangte in einem unbeobachteten Augenblick. „Hat er alles von damals“, pflegte die Mutter zu sagen. „Nämlich mein Mann, schlau wie er ist, setzt sich doch Burghardchen, unseren Zweijährigen, rauf auf die Schultern und sagt, jetzt gehen wir zum Schwarzen Markt.“

„Auf den Potsdamer Platz“, fiel der Vater dann ein. „Ich hatte doch den Fotoapparat gefunden, unsere Billig-Box.“

„Aber immerhin von Zeiss Ikon“, sagte dann stets die Mutter. „Also er schnappt sich den Burghard …“

„ … weil ich mir sagte“, unterbrach dann der Vater, „mit einem Kind auf dem Rücken lassen sie dich bei einer Razzia durch.“

„Aber es war keine Razzia an dem Tag“, erklärte die Mutter.

„Sondern es was nur schwarz voller Menschen“, ergänzte der Vater. Und dann berichtete er von dem Ami, der auf dem Jeep stand, und wie er dem, einen spillerigen Typ, die defekte Box für Zigaretten andrehte, ja, plötzlich dreist, noch Schokolade verlangte. Wie der Ami sie ihm gab, doch dann sauer war und so etwas schrie wie „Hau ab!“.

„Seitdem“, beendete die Mutter dann die Geschichte, „ist unser Burghardchen ein Süßmaul geworden.“

Übrigens hatte die Erzählung an Gewicht zugenommen. Seit Burghard Wenhoff sie selbst erzählte, war er an die Seite des großen Verbündeten gerückt, der ja auch den Ami aufs Kreuz gelegt hatte. Ein Stück Berlin gegen Thüringen, Sachsen und Mecklenburg und dann die Bude zu. Wer durchwill, soll zahlen. „Wenn er durchdarf“, wie Burghard Wenhoff fröhlich hinzusetzte. „Wenn wir ihn denn lassen.“

„Ist was?“, erkundigte sich nun der Fahrer. Wenhoff winkte ab. „Nur so’n oller Spindelmann.“ Er nahm den Feldstecher vom Auge. „Vielleicht so’n Ausreiser von hier, den es herzieht. Aber einmal weg, immer weg. Bei uns kommt der nicht mehr rein. No paseran!

Als Randow die Holzstiegen hinuntertapste, sah er Maxwell Grabowski vor sich stehen, einen schmächtigen Jungen mit drohendem Blick, der all seinen Mut zusammennahm und ihn mit der Stimme eines Banküberfalllehrlings anschrie: „Haste vielleicht mal ’ne Zigarette für mich?“

II.

Randow war froh, er war über die Maßen froh, dass er den Jungen hatte, diesen schmalen, pickeligen, ebenso unbedarften wie flinkhirnigen Jungen, der ihn sofort als Leittier annahm.

Ein einziges Mal, kurz nach dem Unfalltod seiner Frau, als er mit doppelseitiger Lungenentzündung im Bett lag, war so ein Junge in seiner Nähe gewesen. Irgend so ein Hilfsvereinsknabe der Sorte, die mit Inbrunst noch Schwächere suchen, um sie zu reglementieren und ihre versponnenen Ideen zu preisen. „Wem geholfen wird, der soll auch anderen helfen“, hatte dieser gesagt. Er hatte ihm ein Samariterdasein gepredigt, bis George Baker ihn mit einem Hinterntritt hinausbeförderte, weil Baker genau der entgegengesetzten Ansicht war, nämlich, dass der beste Samariterdienst, den man einem auf der Welt erweisen konnte, dieser Tritt in den Arsch war, und zwar so kräftig wie möglich, denn das sei der einzig menschliche Teil mit Gefühl.

Es war Bakers Art, nicht seine. Dennoch war es eine verlässliche und äußerst übersichtliche Art, die er sich manchmal für sich wünschte. Bei dem Jungen nicht. Bei dem Jungen hatte er am Abend in der Kneipe auf seine leise Art Klarheit geschaffen, dass bei ihm nichts zu holen war, weder aus der Jackentasche noch sonst wo. Gleich morgens, am Frühstücksstand, zeigte es sich. Es hatte gewirkt.

Wahrhaftig, es war gut, mit dem Jungen zu sein, der ihn in die Kneipe geschleppt hatte, wo plötzlich der ganze vertrackte Zeitunterschied verschwand und zwei über die Anwesenheit eines Amis verwunderte Würfler ihm sein längst begraben geglaubtes Deutsch wieder in den Kopf zurückriefen.

Und Maxwell kannte die Stadt!

Randow, an der Imbissbude, zwang ihm noch ein Brötchen auf. „Es ist besser so“, sagte er. „Es ist mehr okay. Der Magen ist der beste Safe“, schickte er hinterher. Es war der Spruch des verfressenen Harry Below, der es wie die anderen auch vorgezogen hatte, in den Staaten zu bleiben.

Randow wollte mit dem Jungen nach East-Berlin. Er wollte dahin, weil sein gestriger Vorschlag, um die Mauer zu spazieren, das heutige Ausbleiben der Würfler zur Folge hatte. Auch Maxwell, nach einigem Winden, hatte gesagt, dass es viel too long sei und auf die Kilometer gleich noch hundert draufgeschlagen, so dass Randow nun vorschlug, nach Berlin-Ost zu gehen und zwar gleich hier durch den Übergang Checkpoint Charlie. Er ließ nicht davon ab, obwohl Maxwell ihm sagte, was der soldier am Checkpoint dann gleich wiederholte, nämlich, dass das für den Jungen nicht ginge, weil er ein Deutscher war, weil sie ihn zurückschicken würden die da drüben. „Weil“, fauchte er, entnervt von Randows Starrsinn, „weil es, verdammt nochmal, hier so war wie an jenem Ort, wo selbst in Texas zwischen Männlein und Weiblein unterschieden würde. Und weil“, brüllte er dann, „es so ist, wie es ist, und das darum, weil es ist, wie es ist.“ Es war die übliche Soldatenlogik, eine uneinnehmbare Festung, die John Randow noch aus eigener Dienstzeit kannte.

„Let’s go to the city“, sagte Randow, grollte, war nur halbwegs befriedigt, obwohl er seinem Gegner noch hatte einen Hieb versetzen können mit der Bemerkung, er solle sich seinen Sold in Rubel auszahlen lassen, wenn er diesen Russen mit Vorsortieren half.

„Ab in die City, alright?“, wandte er sich an Maxwell.

„Alright“, sagte Maxwell zufrieden, da sein Ami sich von dem Soldatenami nicht hatte beeindrucken lassen. Er mochte die City. Trotz aller Verachtung, die er für sie kundtat, war diese City sein Zufluchtsort, wenn die Mutter mal wieder mit einem der zu Onkeln ernannten Männer zusammenstieß oder -lag, die Typen in der Straße ihn wieder mit ihrer hundsgemeinen Herablassung vertrieben hatten und die Welt ihn wieder mal als Boxbirne nahm. Es war der rechte Zeitpunkt. Es tat gut, aus der City in den Mief heimzukommen und herzuziehen über ihr Fassadengeflimmer.

„Dort musst du unbedingt hin“, bekannte Maxwell, der seine Gedanken zur City seinem Begleiter offenlegte, ohne Rücksicht darauf, ob der alles verstand. „Musst du gesehen haben.“

Randow hörte genau hin, nickte. Und eben da kamen die Kontrolleure in die U-Bahn-Wagen, und er sprang auf, weil der Junge auch aufsprang, denn es war das erste Mal, dass Maxwell auf Fahrschein fuhr, was er vergessen hatte, was die Beamten nicht wissen konnten, weswegen sie hinterhereilten, ihn und Randow unsanft griffen, sich dann genasführt fühlten, erst recht bläfften.

Dann waren beide in der City.

Es war eine Einstraßencity, wie Randow bald aufging, nachdem er sich an ein paar Seitenstraßen vorbei von Maxwell hatte führen lassen. Es war eine breite, mit Läden zugewachsene Straße. Aber eben nur eine. Und das war nun wirklich eine Sehenswürdigkeit, die Seattle nicht zu bieten hatte.

Randow, plötzlich, mitten auf dem Kurfürstendamm, fing an, von Seattle zu schwärmen. Da also war der Pazifik, da der Sund, und da die lange Straße, von der die anderen, die kleinen, aber oft menschenverstopften streets abgingen, die einen wieder zu einer weiteren Hauptstraße brachten, von wo aus nun die West-Point-Ave abging, wo er sein Appartment hatte, little, aber schmal, dafür hoch, jedenfalls im Preis.

„Can I come to you?“

Maxwell Grabowski, der sich dem beschwingten, wenn auch plattfüßigen Schritt seines Amis angeschlossen hatte, war endlich mit dem Satz fertig, der ihm, bloß eben nicht englisch, aufgeblitzt war. Doch die Begierde hatte mitgeholfen, ihn zu formen, um ja nicht missverstanden zu werden. Die Gelegenheit, wie er begriff, kam so leicht nicht wieder. Nicht bei einer Mutter, die in der Waldemarstraße wohnte und ganz auf Italien abfuhr, weil einer der wechselnden Onkel Angelo hieß und sie beinahe mit in den Süden genommen hätte. Überhaupt war es gänzlich ehrenrührig, die Welt nur aus zweiter Hand, also dem Fernsehen zu kennen. Maxwell ergriff die Gelegenheit, war darauf geeicht wie auf Faulheit, das Popeln und einige andere Dinge, die er in sich verbarg.

„Can I come with you?“

Aber das war nun sein Schicksal, das ihm jemand mit in den Mutterleib gelegt haben mochte, nämlich, dass ihm immer in wesentlichen Momenten seines Daseins etwas in die Quere kam. Randow erblickte die Gedächtniskirche und tat zwei Sprünge, einen am Ort und einen in der Zeit. „What’s the name of it? Oh yes, yes, my memory“, genau an dieser Kirchenruine, der Gedächtnis-Church, war er auf Clarky Williams gestoßen, der ihm Namen und Einheit zugerufen und ihm dabei etwas vor die Füße geschleudert hatte, kurz bevor die Militärpolizei ebenfalls aus der zerbombten Stätte herauskam und Williams anrief, verdammt stehenzubleiben. Clarky Williams aber war der Neffe von Williams & Williams, Bekleidungshaus in Seattle, wie sich am nächsten Tag bei der Übergabe des alten, rundum verzierten Silberleuchters herausstellte, und er hatte für die Nacharmeezeit nicht nur eine Stelle parat, sondern für sogleich auch die Freundin von Heidi, eben Helgafraulein.

  Military Police