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Ann Brashares

 

Eine für vier

 

Der zweite Sommer

 

 

Aus dem Amerikanischen
von Cornelia Krutz-Arnold

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Illustration

Inhaltsverzeichnis

Über die Autorin
Copyright
Widmung
DANKSAGUNG
PROLOG
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17

DANKSAGUNG

Jodi Anderson möchte ich meine allergrößte und grenzenlose Hochachtung aussprechen. Außerdem möchte ich voller Bewunderung und mit herzlichem Dank Wendy Loggia erwähnen, Beverly Horowitz, Channing Saltonstall, Leslie Morgenstein und Jennifer Rudolph Walsh.

 

In Liebe und Dankbarkeit erwähne ich meinen Mann, Jacob Collins, und die drei größten Freuden meines Lebens, Sam, Nathaniel und Susannah. Ich bedanke mich bei meinem Vater, William Brashares, meinem Leitbild. Ich danke Linda und Arthur Collins, den Lieben, die uns dieses Jahr aufgenommen haben und mir sogar einen Platz gaben, um dieses Buch schreiben zu können. Und ich bedanke mich bei meinen Brüdern Beau, Justin und Ben Brashares, weil sie mir die bestmögliche Meinung davon vermittelt haben, wie Jungen sind.

DIE AUTORIN

 

Illustration

Ann Brashares wuchs mit drei Brüdern in der Nähe von Washington D.C. auf. Sie studierte Philosophie an der Columbia University in New York, unterbrach jedoch das Studium und begann, in einem großen amerikanischen Verlag zu arbeiten. Die Arbeit dort gefiel ihr so gut, dass sie nicht mehr an die Uni zurückging und stattdessen einige Jahre als Lektorin tätig war. Seit 2000 widmet sich Ann Brashares ganz dem Schreiben. Sie lebt mit ihrem Mann, einem Künstler, und ihren drei Kindern in New York.

 

Ann Brashares im Spiegel der Presse:

 

Ann Brashares erzählt einfühlsam eine Geschichte über Freundschaft, Mut und Treue. Eine Geschichte, die gänzlich ohne moralischen Zeigefinger auskommt.

Frankfurter Rundschau

 

Die amerikanische Autorin Ann Brashares hat einen abwechslungsreichen Roman geschrieben, der gute Unterhaltung mit Tiefgang zum Weiterdenken verbindet. Er erzählt davon, was das Leben zu bieten hat oder einem vor die Füße wirft.

Süddeutsche Zeitung

 

 

 

 

 

Wer fühlt es nach? –
Nur wer es selbst erlebt …

 

Lord Byron

 

 

 

 

 

 

Mit pochendem Herzen saß Bridget in ihrem Zimmer auf dem Fußboden. Auf dem Teppich lagen vier Briefumschläge, die alle an Bridget und Perry Vreeland adressiert und mit Briefmarken aus Alabama versehen waren. Sie waren von einer Frau namens Greta Randolph, der Mutter ihrer Mutter.

Der erste Brief war fünf Jahre alt und bat um ihre Teilnahme an einem Gedenkgottesdienst für Marlene Randolph Vreeland in der Methodistenkirche in Burgess, Alabama. Der zweite war vier Jahre alt und teilte Bridget und Perry mit, dass ihr Großvater gestorben war. In dem Umschlag befanden sich auch zwei nicht eingelöste Schecks über jeweils hundert Dollar und die Erklärung, dass es sich bei dem Geld um eine kleine Hinterlassenschaft handelte, die der Großvater ihnen testamentarisch vermacht hatte. Der dritte war zwei Jahre alt und enthielt einen detaillierten Stammbaum der Familien Randolph und Marven. Eure Abstammung hatte Greta obendrüber geschrieben. Der vierte Brief war ein Jahr alt und lud Bridget und Perry ein, doch bitte zu Besuch zu kommen, wann immer sie es ermöglichen konnten.

Bis heute hatte Bridget keinen der Briefe jemals zu sehen bekommen. Sie hatte sie im Hobbyraum ihres Vaters gefunden, wo sie bei ihrer Geburtsurkunde, ihren Zeugnissen und den Arztunterlagen eingeordnet waren, ganz so, als gehörten sie ihr, als hätte er sie ihr gegeben.

Ihre Hände zitterten, als sie zu ihm ins Schlafzimmer ging. Er war gerade von der Arbeit nach Hause gekommen, saß auf dem Bett und zog sich seine Arbeitsschuhe und die schwarzen Socken aus. Als sie ganz klein gewesen war, hatte sie ihm das gern abgenommen, und er sagte dann immer, dass es für ihn den ganzen Tag nichts Schöneres gab als das. Selbst damals hatte sie sich schon Gedanken darüber gemacht, dass er nicht genügend Schönes erlebte.

»Wieso hast du sie mir nicht gegeben?«, schrie sie ihn an und rückte ihm nahe genug auf die Pelle, dass er sehen konnte, was sie in der Hand hielt. »Sie sind an Perry und mich gerichtet!«

Ihr Vater sah sie an, als hörte er sie kaum. So sah er sie immer an, ganz egal wie laut sie sprach. Er schüttelte den Kopf. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, womit ihm Bridget vor der Nase herumwedelte.

»Greta und ich reden nicht miteinander. Ich habe sie gebeten, keinen Kontakt zu euch aufzunehmen«, sagte er schließlich, als wäre das ganz einfach und offensichtlich und keine große Sache.

»Aber sie gehören mir!«, schrie Bridget. Es war eine große Sache. Für sie war es eine sehr große Sache.

Ihr Vater war müde. Und er lebte tief im Innern seines Körpers. Nachrichten brauchten lange, um hinein- und herauszugelangen. »Du bist minderjährig. Ich bin dein Erziehungsberechtigter.«

»Aber was ist, wenn ich sie gern gehabt hätte?«

In aller Ruhe musterte er ihr zorniges Gesicht.

Sie hatte keine Lust, auf eine Antwort zu warten und ihn das Gesprächstempo bestimmen zu lassen. »Ich fahr dorthin!«, schrie sie ihn an, ohne sich zu überlegen, was sie da sagte. »Sie hat mich eingeladen und ich fahre zu ihr.«

Er rieb sich die Augen. »Du fährst nach Alabama?«

Sie nickte trotzig.

Er war mit seinen Schuhen und Socken fertig. Seine Füße wirkten sehr klein. »Wie willst du das anstellen?«, fragte er.

»Es ist Sommer. Ich hab ein bisschen Geld.«

Er dachte darüber nach. Offenbar fiel ihm kein Grund ein, warum das nicht gehen sollte. »Ich mag deine Großmutter nicht und traue ihr auch nicht über den Weg«, sagte er schließlich. »Aber ich werde nicht versuchen, dir die Reise zu verbieten.«

»Schön«, fauchte sie.

Sie kehrte in ihr Zimmer zurück. Ihr alter Sommer löste sich auf und ein neuer brach rings um sie her an. Sie würde fahren. Es war ein gutes Gefühl, irgendwohin zu fahren.

 

»Rate mal, was los ist?«

Dieser Spruch von Bee machte Lena immer hellhörig. »Was denn?«

»Ich fahr weg. Morgen.«

»Du fährst morgen weg?«, wiederholte Lena verdutzt.

»Nach Alabama«, sagte Bee.

»Du machst Witze.« Das sagte Lena nur so. Sie hatte es mit Bee zu tun, daher wusste sie, dass es kein Witz war.

»Ich will meine Großmutter besuchen. Sie hat mir ein paar Briefe geschrieben«, erklärte Bee.

»Wann?«, fragte Lena.

»Also … eigentlich … vor fünf Jahren. Damals ist der erste Brief gekommen.«

Lena war wie vor den Kopf gestoßen, weil sie davon gar nichts wusste.

»Ich hab sie gerade erst gefunden. Mein Vater hat sie mir nie gegeben.« Bee hörte sich gar nicht sauer an. Sie stellte nur eine Tatsache fest.

»Und warum nicht?«

»Er gibt Greta an allem Möglichen die Schuld. Er hat ihr gesagt, dass sie keinen Kontakt zu uns aufnehmen soll. Es hat ihn geärgert, dass sie es doch versucht hat.«

Was Bees Vater anbetraf, brachte Lena so wenig Optimismus auf, dass sie auch das nicht mehr schockieren konnte.

»Für wie lange fährst du? Was meinst du?«, fragte sie.

»Keine Ahnung. Einen Monat. Vielleicht auch zwei.« Bee legte eine Pause ein. »Ich hab Perry gefragt, ob er mitkommen will. Er hat die Briefe gelesen, aber er hat abgelehnt.«

Auch das überraschte Lena nicht weiter. Perry war ein süßes Kind gewesen, aber er war zu einem einsiedlerischen Jugendlichen herangewachsen.

Die veränderten Pläne machten Lena Angst. Sie hatten zusammen nach Jobs suchen wollen. Sie hatten den ganzen Sommer zusammen rumhängen wollen. Aber zugleich empfand sie diese Impulsivität als sonderbar tröstlich. Das war etwas, was die alte Bee getan hätte.

»Du wirst mir fehlen.« Lenas Stimme geriet ein wenig ins Wanken. Komischerweise war ihr zum Heulen. Es war nur natürlich, dass Bee ihr fehlen würde. Aber normalerweise registrierte Lena, dass etwas traurig war, bevor sie es fühlte. Jetzt war die Reihenfolge umgekehrt. Das überrumpelte sie total.

»Lenny, du wirst mir fehlen«, sagte Bee rasch und voller Zärtlichkeit. Die Emotion, die sich so schlagartig in Lenas Stimme eingestellt hatte, erschreckte sie genauso sehr wie ihre Freundin.

Im letzten Jahr hatte sich Bee sehr verändert, aber ein paar Dinge waren gleich geblieben. Die meisten Menschen, Lena selbst mit eingeschlossen, wichen davor zurück, wenn sie spürten, dass Gefühle außer Kontrolle gerieten. Bee hingegen trat ihnen geradewegs entgegen. In diesem Augenblick war das eine Eigenschaft, die Lena liebte.

 

Tibby wollte am nächsten Tag abreisen und war weder mit dem Packen fertig, noch hatte sie die Einkäufe für ihren zweimal jährlich stattfindenden Einbruch bei Gilda erledigt. Als Bridget auftauchte, packte sie gerade wie wild ihre Sachen.

Bridget schwang sich auf Tibbys Kommode und sah zu, wie sie den gesamten Inhalt ihres Schreibtischs auf den Fußboden schmiss. Sie konnte ihr Druckerkabel nicht finden.

»Schau doch mal im Wandschrank nach«, schlug Bridget vor.

»Dort ist es nicht«, sagte Tibby knurrig. Sie konnte ihren Schrank nicht aufmachen, weil er mit lauter Sachen voll gestopft war, die sie weder behalten noch wegwerfen konnte (wie zum Beispiel ihr alter Meerschweinchenkäfig). Tibby befürchtete, dass der ganze Berg zusammenstürzte und sie erschlug, wenn sie die Tür auch nur einen Spalt weit öffnete.

»Das hat bestimmt wieder Nicky genommen«, brummte Tibby. Nicky war ihr dreijähriger Bruder. Er nahm ihre Sachen und machte sie kaputt, meistens kurz bevor sie etwas wirklich brauchte.

Bee sagte nichts. Sie war entsetzlich schweigsam. Tibby wandte sich zu ihr um und sah sie an.

Wer Bee seit einem Jahr nicht mehr gesehen hatte, würde sie womöglich gar nicht mehr erkennen, so wie sie da saß. Sie war nicht blond und sie war nicht dünn und sie bewegte sich nicht. Sie hatte versucht, sich die Haare richtig dunkel zu färben, aber das Haarfärbemittel, das sie benutzt hatte, konnte das berühmte Goldblond, das sich darunter hervorkämpfte, kaum bezwingen. Normalerweise war Bee so dünn und durchtrainiert, dass die sechs oder sieben Kilo, die sie im Lauf des Winters und Frühjahrs zugenommen hatte, ihr schwer und auffällig auf Armen, Beinen und Rumpf lasteten. Es sah fast so aus, als sträubte sich ihr Körper dagegen, das zusätzliche Fett aufzunehmen. Er ließ es einfach dort an der Oberfläche sitzen und hoffte darauf, dass es bald wieder verschwand. Tibby kam der Gedanke, dass das, was Bees Geist und was ihr Körper wollten, zwei völlig unterschiedliche Dinge waren.

»Es könnte sein, dass ich sie verloren habe«, sagte Bee ernst.

»Wen oder was?«, fragte Tibby und schaute aus dem Chaos auf.

»Mich selbst.« Bee schlug mit der Ferse gegen eine zugezogene Schublade.

Tibby stand auf. Sie ließ ihr Chaos im Stich. Behutsam wich sie zum Bett zurück und setzte sich, wobei sie Bee im Blick behielt. So eine Stimmung war selten. Monat um Monat hatte Carmen unauffällig versucht, Bee eine Selbstbetrachtung zu entlocken, aber die war ausgeblieben. Lena war mütterlich und teilnahmsvoll gewesen, aber Bee hatte nicht reden wollen. Tibby wusste, wie wichtig das hier war.

Obwohl Tibby von allen in der Gruppe am wenigsten auf Körperkontakt aus war, hätte sie Bee am liebsten neben sich sitzen gehabt. Aber sie wusste instinktiv, dass Bee sich mit Absicht auf ihre Kommode gesetzt hatte. Sie wollte nicht auf einem weichen, niedrigen Platz sitzen, wo Trost sie schnell erreichen konnte. Und sie wusste auch, dass sich Bee für dieses Gespräch gerade sie ausgesucht hatte, weil Tibby sie bei aller Liebe anhören würde, ohne sie mit ihrer Zuneigung zu überschütten.

»Wie meinst du das?«

»Ich denke an den Menschen, der ich einmal war, und diese Person kommt mir so weit weg vor. Sie hatte ein schnelles Tempo drauf, ich bewege mich langsam. Sie ist lange aufgeblieben und früh aufgestanden, ich schlafe andauernd. Ich hab das Gefühl, dass ich bald gar keine Verbindung mehr zu ihr habe, wenn sie noch weiter entschwindet.«

Tibby hatte ein so großes Verlangen, näher an Bee heranzutreten, dass sie die Ellbogen gegen die Beine stemmen musste, damit sie an Ort und Stelle blieben. Bee hatte die Arme um den Körper geschlungen, hielt sich selbst umschlossen.

»Möchtest du denn … in Verbindung mit ihr bleiben?« Tibbys Worte kamen so langsam und leise hervor, als wollten sie sich alle einzeln auf den Weg zu Bridget begeben.

In diesem Jahr hatte sich Bee alle Mühe gegeben, sich zu verändern. Still für sich glaubte Tibby, den Grund dafür zu kennen. Weil Bee ihren Problemen nicht entkommen konnte, hatte sie sich in ihre eigene Version eines Zeugenschutzprogramms begeben. Tibby wusste, wie es war, wenn man jemanden verlor, den man lieb hatte. Und sie wusste auch, wie verlockend es war, diesen traurigen, kaputten Teil von sich selbst wegzuwerfen wie einen Pullover, aus dem man herausgewachsen war.

»Möchte ich das?« Bee dachte gründlich darüber nach. Manche Menschen (zum Beispiel Tibby) neigten dazu, auf eine gedämpfte, verhaltene Weise zuzuhören. Bee war das genaue Gegenteil.

»Ich glaub schon.« Bees Augen wurden von Tränen überschwemmt; ihre goldblonden Wimpern klebten zu Dreiecken zusammen. Tibby spürte, wie ihr ebenfalls die Tränen in die Augen stiegen.

»Dann musst du sie wiederfinden«, sagte Tibby. Ihr tat die Kehle weh.

Bee streckte einen Arm aus und hielt ihn in dieser Haltung, die Handfläche zur Decke gedreht. Ohne zu überlegen, stand Tibby auf und nahm die Hand. Bee legte den Kopf auf Tibbys Schulter. Tibby konnte ihr weiches Haar und die Nässe ihrer Augen am Schlüsselbein spüren.

»Deshalb fahr ich ja«, sagte Bee.

Später, als Tibby sich von Bee löste, dachte sie über sich selbst nach. Sie war nicht so destruktiv wie Bee. Sie war nie so dramatisch gewesen. Stattdessen war sie vor ihren Gespenstern vorsichtig und verstohlen davongehuscht.

 

Am Spätnachmittag lag Carmen froh und glücklich im Bett. Sie war gerade von Tibby zurückgekommen, bei der auch Bee und Lena aufgekreuzt waren. Am Abend würden sie sich zur Jahresfeier der JEANS-Einweihung bei Gilda treffen. Carmen hatte angenommen, dass ihr zu diesem Zeitpunkt elend zumute wäre, dass sie unglücklich wäre, weil sie nicht wegfuhr. Aber Abschiede fielen ihr oft leichter als erwartet. Den größten Teil des Grauens erledigte sie nämlich schon im Voraus. Und außerdem hatte es sie froh gemacht, Bee so zu sehen. Bee hatte einen Plan und Carmen freute sich darüber. Sie würde Bee wahnsinnig vermissen, aber irgendetwas in Bees Innerem hatte sich zum Guten gewendet.

Von ihrem Liegeplatz im Bett aus ließ sich der Sommer gar nicht so übel an. Sie hatten Grashalme gezogen, um die Route der JEANS zu bestimmen, und Carmen würde sie als Erste bekommen. Sie hatte die JEANS und morgen Abend außerdem noch ein Date mit einem der bestaussehenden Typen ihrer Klasse. Das war Schicksal, oder etwa nicht? Das musste doch etwas zu bedeuten haben.

Den ganzen Winter über hatte sie sich auszumalen versucht, was die JEANS ihr diesen Sommer bescheren würde. Und jetzt, wo ihr Date mit der JEANS zusammenfiel, sah sie den deutlichen Hinweis, den sie sich erhofft hatte. Diesen Sommer würde es die Liebes-JEANS sein.

Als sie ein wohl bekanntes Trillern von ihrem Computer hörte, setzte sie sich auf. Es war eine E-Mail von Bee.

 

Beezy3: Bin gerade am Packen. Hast du eine von meinen lila Socken mit dem Herzchen am Knöchel?

Carmabelle: Nein. Als ob ich deine Socken anziehen würde!

 

Carmen lenkte den Blick vom Computerbildschirm zu ihren Füßen hinunter. Zu ihrer Bestürzung hatten ihre Socken zwei unterschiedliche Schattierungen von Lila. Sie drehte den Fuß, damit sie den Knöchel sehen konnte.

 

Carmabelle: Äh. Könnte doch sein, dass ich die Socke habe.

 

Die Tür zu Gildas Aerobic-Studio in der Oberstadt von Bethesda hatte ein Schloss, das lachhaft leicht zu knacken war. Aber als sie die Treppe hinaufgestiegen waren, wurde der Geruch von altem Schweiß so durchdringend, dass Carmen sich fragte, wieso außer ihnen überhaupt jemand den Wunsch haben sollte, sich hier aufzuhalten und dafür sogar noch die Mühe eines Einbruchs auf sich zu nehmen.

Etwas Erhabenes lag in der Luft und sie gingen gleich ans Werk. Es war schon spät. Bee würde am nächsten Morgen um halb sechs den Bus nach Alabama besteigen und Tibby am Nachmittag zum Williamston-College aufbrechen.

Traditionsgemäß baute Lena die Kerzen auf und Tibby breitete die sauren Gummiwürmer, das deformierte Käsegebäck und die Flaschen mit Fruchtsaft aus. Bridget legte eine Platte auf, machte die Musik aber nicht an.

Alle Blicke waren auf die Tüte in Carmens Armen geheftet. Sie hatten die JEANS beschriftet und nach Carmens Geburtstag im September, dem letzten Geburtstag von ihnen, feierlich weggepackt. Seither hatte keine von ihnen sie mehr gesehen.

Stille senkte sich herab, als Carmen die Tüte aufmachte. Sie dehnte den Augenblick hinaus, stolz darauf, diejenige zu sein, die die JEANS entdeckt hatte, wobei sie allerdings auch diejenige war, die sie fast weggeworfen hätte. Sie ließ die Tüte zu Boden fallen, während die JEANS sich wie in Zeitlupe entfaltete und ihre Erinnerungen durch die Luft wirbeln ließ.

In stummer Ehrfurcht breitete Carmen die JEANS auf dem Boden aus und die Mädchen bildeten einen Kreis um sie. Lena faltete das Manifest auseinander und legte es auf die JEANS. Sie alle kannten die Regeln; die brauchten sie sich jetzt nicht mehr anzusehen. Die Route der JEANS hatten sie bereits aufgezeichnet und in diesem Sommer war die Logistik viel einfacher.

Sie fassten sich an den Händen.

»Das ist es«, hauchte Carmen. Der Augenblick hüllte sie alle ein. Sie dachte an ihren Schwur vom letzten Sommer. Sie alle dachten daran zurück. Und sagten ihn gemeinsam auf:

 

»Zu Ehren der JEANS und unserer Schwesternschaft

Und dieses Augenblicks. Und des Sommers. Und unseres ganzen restlichen Lebens.

Zusammen und getrennt.«

 

Es war Mitternacht, das Ende ihres Beisammenseins und in gewisser Weise doch ein Anfang.

 

 

 

 

 

Um die Veränderungen in sich selbst zu erkennen,
gibt es nichts Besseres,
als an einen unveränderten Ort zurückzukehren.

 

Nelson Mandela

 

 

 

 

 

 

Das Städtchen Burgess in Alabama, Einwohnerzahl 12 042, nahm zwar in Bridgets Kopf einen großen Platz ein, bot als Haltestelle an der Triangel-Buslinie aber wenig Anlass zu großem Trara. Tatsächlich hätte Bridget sie fast verschlafen. Zum Glück wurde sie von dem Ruck wach, als der Fahrer die Bremse zog, und sie hüpfte benommen herum und raffte ihre Taschen zusammen. Sie stürzte so schnell aus dem Bus, dass sie ihren Regenmantel vergaß, der zusammengeknüllt unter dem Sitz lag.

Sie lief zur Stadtmitte und nahm dabei die schmalen, geraden Linien zwischen den Pflastersteinen des Bürgersteigs wahr. Die meisten Ritzen im Pflaster, die man zu sehen bekam, waren falsche Fugen, die in nassen Zement hineingedrückt worden waren. Aber diese hier waren echt. Trotzig, mit voller Wucht, trat Bee auf jede Ritze1 und spürte dabei die Sonne, die ihr auf den Rücken brannte, und in der Brust einen Energiestoß. Endlich unternahm sie etwas. Zwar wusste sie selbst nicht so genau, worauf sie eigentlich aus war, aber Handeln war ihr immer lieber als untätiges Abwarten.

Eine rasche Bestandsaufnahme des Zentrums ergab zwei Kirchen, eine Eisenwarenhandlung, eine Apotheke, einen Waschsalon, eine Eisdiele mit Tischen draußen auf der Straße und ein Gebäude, das nach Gericht aussah. Ein Stück weiter die Market Street entlang sah sie eine malerische Pension, von der sie aber wusste, dass sie zu teuer sein würde, und um die Ecke, in der Royal Street, ein weniger malerisches Haus aus dem neunzehnten Jahrhundert mit einem verwitterten roten Schild, auf dem Royal Street Arms stand. Und darunter: Zimmer zu vermieten.

Sie stieg die Stufen hinauf und klingelte. Eine zierliche Frau in den Fünfzigern kam an die Tür.

Bridget zeigte auf das Schild. »Mir ist Ihr Schild aufgefallen. Ich bin auf der Suche nach einem Zimmer, das ich für ein paar Wochen mieten kann.« Oder für ein paar Monate.

Die Frau nickte und nahm Bridget gründlich in Augenschein. Das Haus gehörte ihr; das konnte Bridget ihr ansehen. Es war groß und früher einmal vermutlich sogar prächtig gewesen, hatte dann aber genau wie die Frau offensichtlich schwere Zeiten durchmachen müssen.

Sie stellten sich einander vor, und die Frau, Mrs Bennett, zeigte Bridget im zweiten Stock ein Zimmer nach vorne raus, das nur einfach möbliert, aber geräumig und sonnig war. Es hatte einen Ventilator an der Decke und war mit einer Kochplatte und einem Mini-Kühlschrank ausgestattet.

»Zu diesem Zimmer hier gehört ein Gemeinschaftsbad und es kostet fünfundsiebzig Dollar die Woche«, erklärte sie.

»Ich nehm’s«, sagte Bridget. Sie würde die Vorlage eines Personalausweises geschickt umgehen müssen, indem sie eine riesige Kaution hinterlegte, aber sie hatte vierhundertfünfzig Dollar in bar mitgebracht und würde hoffentlich bald einen Job finden.

Mrs Bennett leierte die Hausordnung runter und Bridget blätterte das Geld hin.

Als sie ihre Taschen ins Zimmer schaffte, konnte Bee sich nur wundern, wie schnell und leicht die ganze Transaktion über die Bühne gegangen war. Sie war noch keine Stunde in Burgess und hatte schon eine Bleibe. Das Wanderleben war einfacher, als man ihm nachsagte.

Im Zimmer war kein Telefonanschluss, aber draußen im Flur gab es einen Münzapparat. Von dort rief Bridget zu Hause an. Sie hinterließ eine Nachricht für ihren Vater und Perry, dass sie heil und gesund angekommen war.

Sie zog an der Schnur, um den Ventilator in Gang zu setzen, und legte sich aufs Bett. Als sie darüber nachdachte, wie sie sich bei Greta vorstellen würde, ertappte sie sich dabei, dass sie mit der Ferse unten gegen den weißen Metallrahmen schlug. Sie hatte schon so oft versucht, sich diesen Augenblick auszumalen, bekam das aber nicht hin. Es ging einfach nicht.

Das gefiel ihr nicht. Was sie von Greta wollte, so undefinierbar es auch war, würde bei der ersten Pflichtumarmung zerdrückt werden. Sie waren sich fremd und doch lag so viel Schweres zwischen ihnen. So mutig Bee sonst auch war – vor dieser Frau hatte sie Angst, und sie fürchtete sich vor all dem, was sie wusste. Bee wollte das alles wissen und gleichzeitig auch wieder nicht. Sie wollte es auf ihre Weise in Erfahrung bringen.

Bee spürte einen altbekannten Energiestoß durch ihre Glieder surren.

Sie stieg aus dem Bett. Sie schaute in den Spiegel. Manchmal konnte man in einem neuen Spiegel auch etwas Neues entdecken.

Auf den ersten Blick sah sie nur die übliche Verwüstung. Damit hatte es angefangen, als sie aufgehört hatte, Fußball zu spielen. Nein, eigentlich war es schon früher losgegangen, Ende des vorigen Sommers. Sie hatte sich in einen älteren Typen verknallt. Sie hatte sich heftiger verknallt und war mit ihm weiter gegangen, als sie es beabsichtigt hatte. Es war immer Bees Trick gewesen, in Bewegung zu bleiben, und zwar in einem solchen Tempo, dass es erregend und sogar leichtsinnig war. Aber nach dem letzten Sommer hatte sie eine kleine Pause eingelegt, und da hatten die schmerzlichen Dinge – alte, schon vergessen geglaubte Dinge – sie wieder eingeholt. Als der November kam, hatte sie mit dem Fußball aufgehört, gerade als die Talentsucher vom College um sie herumschwirrten. An Weihnachten hatte die Welt einen Geburtstag gefeiert und Bee hatte sich an einen Tod erinnert. Sie hatte ihre Haare mit einer dunklen Schicht Esche # 3 völlig überdeckt. Als es Februar wurde, schlief sie lange und sah fern, wobei sie entschlossen ganze Packungen voller Frühstücksflocken und tütenweise Donuts in persönliche Schwerkraft umwandelte. Das Einzige, was sie noch in der Welt hielt, war die ständige Zuwendung von Carmen, Lena und Tibby. Sie ließen nicht locker und Bridget liebte sie dafür.

Aber als sie länger in den Spiegel schaute, sah sie noch etwas anderes. Sie sah Schutz. Sie hatte eine Fetthülle um ihren Körper. Sie hatte eine Farbschicht auf dem Haar. Und wenn sie wollte, hatte sie auch die Deckung einer Lüge.

Sie sah nicht aus wie Bee Vreeland. Wer sagte denn, dass sie Bee Vreeland sein musste?

 

»Das ist fast so etwas wie eine Vorschau, nicht wahr?«, sagte Tibbys Mutter aufgeregt, als ihr Vater den silbernen Minivan hinter Lowbridge Hall in eine Parklücke fuhr.

Vermutlich hätte Tibby sich weniger daran gestört, wenn ihre Mutter es zum ersten Mal gesagt hätte.

Wie aufgekratzt machte sie die Vorstellung, Tibby ins College abzuschieben? Musste sie das so offen zur Schau tragen? Jetzt konnte Alice sich an ihren fotogenen Kleinkindern freuen, ohne dass sich im Hintergrund so ein störender Teenager herumdrückte.

Eigentlich sollte es doch so sein, dass der Jugendliche sich darüber freute, von zu Hause wegzukommen, und die Eltern traurig waren. Stattdessen war Tibby diejenige, die Trauer empfand. Die strahlende Freude ihrer Mutter führte einen Rollentausch herbei. Wir könnten uns alle beide freuen, dachte Tibby kurz, aber der Widerspruchsgeist in ihr würgte das gleich wieder ab.

Sorgfältig zog Tibby den Reißverschluss an der Tasche ihres neuen Notebooks zu. Es handelte sich um ein vorgezogenes Geburtstagsgeschenk von ihren Eltern, ein weiteres Beispiel dafür, dass sie mit Geschenken abgespeist wurde. Anfangs hatte dieses ganze Zeug in Tibby leichte Gewissensbisse ausgelöst: der Fernseher, der eigene Telefonanschluss, der iMac, die digitale Filmkamera. Dann hatte sie sich gedacht, dass sie sich entweder einfach ignorieren lassen konnte – oder sie konnte ignoriert werden und einen Haufen toller Elektronik haben.

Der Campus von Williamston bot die klassische Szenerie von studentischem Leben. Es gab die mit Ziegelsteinen gepflasterten Wege, das üppige Gras, das von Efeu überwucherte Wohnheim. Das Einzige, was nicht überzeugen konnte, waren die Studenten, die mit großen Augen in der Eingangshalle herumliefen. Sie wirkten wie Außerirdische, die man auf eine realistische Filmkulisse losgelassen hatte. Alle waren noch in der Highschool und sahen aus wie Hochstapler, ganz so, wie Tibby sich fühlte. Sie musste daran denken, wie Nicky mit ihrem Schul-Rucksack auf dem Rücken durchs Haus marschiert war.

Am Fahrstuhl hing ein Zettel mit der Zimmerverteilung. Voller Bangen überflog Tibby die Angaben. Ein Einzelzimmer. Lass es bitte ein Einzelzimmer sein. Da stand ihr Name. Zimmer 6B4. In Zimmer 6B4 schien sonst niemand zu sein. Sie drückte den Fahrstuhlknopf. Jetzt ließ sich die Sache schon besser an.

»In etwas über einem Jahr werden wir das Ganze noch mal machen. Ist das zu fassen?«, fragte ihre Mutter.

»Erstaunlich«, sagte ihr Vater.

»Ja«, sagte Tibby und verdrehte die Augen gen Himmel. Wieso waren sie sich so sicher, dass sie aufs College gehen würde? Was würden sie wohl sagen, wenn sie zu Hause blieb und bei Wallman’s arbeitete? Duncan Howe hatte ihr einmal gesagt, dass sie es in ein paar Jahren zur stellvertretenden Geschäftsleiterin bringen konnte, wenn sie sich eine andere Einstellung zulegte und das Loch in ihrer Nase zuwachsen ließ.

Die Tür zu Zimmer 6B4 stand offen und am Anschlagbrett baumelte an einer Reißzwecke ein Schlüssel. Auf dem Schreibtisch lag ein Haufen Papiere, die sie willkommen hießen und blablabla. Daneben standen ein einzelnes Bett, ein Nachttisch und eine sehr ramponierte Kommode. Der Fußboden bestand aus braunem Linoleum mit weißen Kotzflecken.

»Das ist ja … herrlich«, verkündete ihre Mutter. »Schaut euch nur diese Aussicht an!«

Als Maklerin, die seit fünf Jahren in diesem Gewerbe arbeitete, hatte ihre Mutter den Dreh des Immobilienmarkts raus. Wenn es in einem Zimmer absolut nichts gibt, was auch nur den geringsten Reiz hat, zeigt man aus dem Fenster.

Ihr Vater stellte Tibbys Taschen auf dem Bett ab.

»Hallo?«

Sie drehten sich alle drei um.

»Bist du Tabitha?«

»Tibby«, berichtigte Tibby. Das Mädchen hatte ein Williamston-Sweatshirt an. Ihre braunen Haare quollen aus ihrem Pferdeschwanz und kräuselten sich am Scheitel entlang. Sie hatte eine helle Haut und jede Menge Muttermale. Tibby begann, sie zu zählen.

»Ich bin Vanessa«, sagte das Mädchen und grüßte, indem sie mit einer weit ausholenden Bewegung einen Bogen beschrieb. »Ich bin die WB. Das ist die Abkürzung für Wohnheim-Betreuerin. Ich bin dazu da, auf jede nur erdenkliche Weise zu helfen. Dein Schlüssel ist da.« Sie zeigte darauf. »Und deine Baseballmütze ist dort.«

Tibby prallte voller Entsetzen vor der Williamston-Kappe zurück, die keck an der Ecke des Nachttischs baumelte.

»Informationsmaterial liegt auf dem Schreibtisch, die Erläuterung zum Telefonsystem auf dem Nachttisch. Sag einfach Bescheid, wenn ich etwas für dich tun kann.«

Das alles sagte sie in der gehetzten, auswendig heruntergeleierten Art eines Kellners, der viele Spezialitäten anzubieten hat.

»Vielen Dank, Vanessa«, sagte ihr Vater. Nachdem er seinen vierzigsten Geburtstag hinter sich gebracht hatte, war er dazu übergegangen, sämtliche Leute mit ihrem Namen anzusprechen und ihn sehr oft zu wiederholen.

»Hervorragend«, sagte ihre Mutter.

In haargenau diesem Augenblick ging das Handy ihrer Mutter los. Es klingelte nicht, sondern spielte stattdessen Mozarts Menuett in G-Dur. Tibby genierte sich jedes Mal, wenn sie es hörte. Dass es das letzte Stück war, mit dem sie sich als Zehnjährige abgeplagt hatte, bevor ihr Klavierlehrer es endgültig mit ihr aufgab, machte die Sache nicht besser.

»O nein«, sagte ihre Mutter, nachdem sie kurz zugehört hatte. Sie stöhnte und warf einen Blick auf die Uhr. »Ins Becken? … Ach du liebe Zeit … Okay.« Sie sah Tibbys Vater an. »Nicky musste sich im Schwimmkurs übergeben.«

»Der Ärmste«, sagte ihr Vater.

Vanessa wirkte in die Enge getrieben und unsicher. Dass Nicky im Schwimmkurs zu spucken anfing, stand vermutlich nicht in ihrem Handbuch.

»Danke«, sagte Tibby, an Vanessa gerichtet, und wandte sich von ihren diskutierenden Eltern ab. »Ich komm zu dir, wenn ich – du weißt schon – irgendeine Frage habe.«

Vanessa nickte. »Okay. Zimmer 6C1.« Sie zeigte mit dem Daumen über die Schulter. »Einfach nur den Flur runter.«

»Super«, sagte Tibby und sah ihr zu, wie sie die Flucht ergriff. Als sie sich wieder zu ihren Eltern umdrehte, standen ihr beide gegenüber. Sie hatten wieder diesen speziellen Blick.

»Schätzchen, Loretta muss Katherine um eins zu ihrer Musikstunde bringen. Ich muss schleunigst zurück und …« Sie schweifte kurz ab. »Ich überlege gerade … Was hat er denn zum Frühstück gegessen …?« Dann fiel ihr wieder ein, dass sie gerade dabei war, Tibby zu enttäuschen. »Jedenfalls, wir müssen unser geplantes Mittagessen verschieben. Tut mir Leid.«

»Das geht schon in Ordnung.« Tibby hatte gar keine Lust gehabt, mit ihnen zu Mittag zu essen, bis sie das Essen abgesagt hatten.

Ihr Vater wandte sich ihr zu, nahm sie in die Arme und drückte sie. Tibby drückte zurück. Dieser Instinkt war immer noch in ihr. Er küsste sie oben auf den Kopf. »Viel Spaß, Süße. Du wirst uns fehlen.«

»Okay«, sagte sie, ohne ihm das abzunehmen.

Alice blieb in der Tür stehen und drehte sich um. »Tibby«, sagte sie und breitete die Arme aus, als wäre sie nicht gerade eben noch so abgelenkt gewesen, dass sie fast vergessen hätte, sich zu verabschieden.

Tibby ging zu ihr und umarmte auch sie. Einen Augenblick lang ließ sie sich fallen, in den Körper ihrer Mutter hinein.

»Tschüss«, sagte Tibby und richtete sich wieder auf.

»Ich rufe heute Abend an und erkundige mich, ob du dich gut eingewöhnt hast«, versprach Alice.

»Das brauchst du nicht. Es wird alles in schönster Ordnung sein«, sagte Tibby bedrückt. Das sagte sie zu ihrem eigenen Schutz. Wenn ihre Mutter den Anruf vergaß, was durchaus passieren konnte, hatten sie alle beide eine Ausrede dafür.

»Ich hab dich lieb«, sagte ihre Mutter im Hinausgehen.

Am liebsten hätte Tibby Ja, ja gesagt. Eltern konnten sich ein gutes Gefühl damit holen, dass sie ihrem Kind das ein paarmal die Woche sagten. Es machte nahezu keine Mühe und gab ihnen eine ganze Reihe von Elternpunkten.

Sie krallte sich die Informationsbroschüre zum Telefonsystem auf dem Campus. Damit keine Trauer aufkam, beugte sie sich darüber und las sie sorgfältig durch.

Auf Seite sieben, Absatz drei, stellte Tibby fest, dass sie nicht nur ihre eigene Mailbox hatte und ihr eigenes Passwort, sondern dass auch bereits fünf Nachrichten auf ihrer Box waren. Sie hörte sie ab und lächelte, als sie die Stimmen hörte. Eine Nachricht war von Brian. Eine war von Lena. Zwei waren von Carmen. Tibby stieß ein kleines Lachen aus. Sogar Bee hatte ihr von einem Münztelefon an der Straße eine bruchstückhafte Nachricht auf die Box gesprochen.

Na schön, Blut war dicker als Wasser. Aber Tibby kam der Gedanke, dass Freundschaft dicker war als beides zusammen.

 

»Schätzchen, ich muss hier nur kurz mal rein.«

Lenas Mutter hatte sie dazu verdonnert, im Wagen sitzen zu bleiben, damit sie nicht einparken musste, während sie ein Medikament abholte. Aber das führte unweigerlich zu weiteren Besorgungen. Auf diese Weise sorgte ihre Mutter für Mutter-Tochter-Kontakt – klammheimlich und trickreich. Normalerweise hätte Lena sich rundheraus geweigert, aber sie hatte noch immer keinen Job und das untergrub ihr Selbstwertgefühl.

Sie raffte ihr schweres Haar zusammen und hielt es von ihrem schweißnassen Nacken weg. Es war zu heiß für ein Verdeck. Es war zu heiß für Parkplätze. Es war zu heiß für Mütter.

»Na schön.«

»Hier« war Basia’s, eine Boutique voller Frauen wie ihre Mutter.

»Soll ich warten, damit du nicht einparken musst?«, fragte Lena, während ihre Mutter bereits in eine große Parklücke direkt vor dem Laden einbog.

»Natürlich nicht«, gab ihre Mutter leichthin zurück. Wie immer stieß die Ironie in Lenas Stimme bei ihr auf taube Ohren.

In den vergangenen Monaten hatte Lena Kostos so sehr vermisst, dass sie es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, sich vorzustellen, er wäre da. Das war ein kleines Spielchen, das sie entwickelt hatte. Und irgendwie verlieh ihr seine erfundene Anwesenheit eine andere Perspektive auf ihren Wert als Mensch. Jetzt stellte sie sich vor, er säße auf dem Rücksitz im Auto und hörte zu, wie Lena sich wie ein undankbarer Klugscheißer aufführte.

Sie malte sich aus, wie Kostos auf den dunklen Ledersitz schwitzte und dabei dachte: Sie ist grässlich.

Nein, ich bin bloß zu meiner Mutter grässlich, verteidigte sich Lena im Geiste.

»Es dauert nur einen Augenblick«, versprach ihre Mutter.

Kostos zuliebe nickte Lena bereitwillig.

»Ich suche etwas für den Brunch zu Marthas Schulabschluss.« Martha war die Patentochter ihrer Kusine. Oder die Kusine ihrer Patentochter. Eins von beidem.

»Okay.« Lena folgte ihrer Mutter aus dem Wagen.

Im Laden war es so kalt wie im Februar. Das war ein Plus. Ihre Mutter steuerte geradewegs die Kleiderstangen mit beigefarbenen Sachen an. Bei der ersten Durchsicht wählte sie eine beigefarbene Leinenhose und ein beigefarbenes Hemd aus. »Schick, nicht?«, sagte sie und hielt die Sachen hoch, damit Lena sie sehen konnte.

Lena zuckte mit den Schultern. Die Sachen waren so langweilig, dass sie davon einen starren Blick bekam. Jedes Mal wenn ihre Mutter einkaufen ging, kaufte sie etwas, was haargenau so aussah wie alle anderen Sachen, die sie bereits besaß. Lena bekam das Gespräch mit der Verkäuferin mit. Das Kleidungsvokabular ihrer Mutter ließ sie zusammenzucken. »Damenhose … Bluse … cremefarben … ecru … taupe.« Ihr griechischer Akzent machte alles nur noch schlimmer. Lena floh zum vorderen Teil des Ladens. Wenn Effie hier wäre, würde sie quietschvergnügt in der Kabine neben ihrer Mutter geblümte Sachen anprobieren.

Lena schaute die Sonnenbrillen und Haarspangen auf der Ladentheke durch. Sie warf einen Blick durchs Schaufenster nach draußen. Auf dem Schild an der Tür stand: Illustration Illustration.

Ihre Mutter verringerte den Riesenhaufen Beige schließlich auf eine »reizende Bluse in Eierschale« und einen »süßen Rock in Hafermehlfarbe«. Das Ganze krönte sie mit einer großen Anstecknadel, die Lena nicht mal als Gag getragen hätte.

Als sie endlich gingen, hielt ihre Mutter an und packte Lena am Oberarm. »Schätzchen, sieh mal.«

Lena nickte zu dem Schild hinüber. »Ach so, ja.«

»Komm, wir fragen mal.«

Sie machte einen Schwenk zurück in den Laden.

»Mir ist das Schild an der Tür aufgefallen. Ich heiße Ari und das ist meine Tochter Lena.« Mit richtigem Namen hieß Mrs Kaligaris Ariadne, aber niemand außer ihrer eigenen Mutter sprach sie so an.

»Mom«, stieß Lena durch zusammengebissene Zähne im Flüsterton hervor.

Mit ein paar hundert frischen Dollar in der Kasse stellte sich die Verkäuferin als Alison Duffers vor. Sie war die Geschäftsführerin und lauschte begierig Mrs Kaligaris’ Rede.

»Dieser Job wäre genau das Richtige, meinen Sie nicht?«, kam Ari voller Eifer zum Schluss.

»Also –«, setzte Lena an.

»Und, Lena«, fiel ihre Mutter ihr ins Wort und wandte sich zu ihr um, »denk nur an den Rabatt!«

»Äh … Mom?«

Mrs Kaligaris plauderte freundschaftlich drauflos und sammelte dabei jede Menge nützliche Informationen, zum Beispiel die Arbeitszeiten (Montag bis Samstag von zehn bis achtzehn Uhr), das Geld (Anfangslohn sechs Dollar fünfundsiebzig die Stunde plus sieben Prozent Umsatzbeteiligung) und dass sie ein paar Formulare ausfüllen und ihre Sozialversicherungskarte einreichen müsste.

»Na, wunderbar.« Mrs Duffers strahlte sie alle beide an. »Sie sind eingestellt.«

»Hey, Mom?«, sagte Lena, als sie zum Wagen gingen. Gegen ihren Willen musste sie lächeln.

»Ja?«

»Ich glaub, sie hat gerade dich eingestellt.«

 

Als Carmen die JEANS AUF REISEN zu ihrer großen Einweihung im zweiten Sommer anzog, klingelte das Telefon.

»Rate mal, was los ist?«

Das war Lenas Stimme. Carmen drehte die Musik leiser.

»Was denn?«

»Du kennst doch diesen Laden Basia’s

»Basia’s

»Du weißt schon, um die Ecke vom Arlington Boulevard?«

»Ach, ich glaub, meine Mutter geht dort manchmal hin.«

»Genau. Also, ich hab dort einen Job.«

»Im Ernst?«, fragte Carmen.

»Also, eigentlich hat meine Mom dort einen Job bekommen. Aber ich werde zum Dienst antreten.«

Carmen lachte. »Ich hab dich nie mit einer Karriere in der Modebranche gesehen.« Sie betrachtete sich im Spiegel.

»Herzlichen Dank.«

»Hey, meinst du wirklich, ich soll heute Abend die JEANS anziehen?«, fragte Carmen, um nach Komplimenten zu fischen.

»Natürlich. Sie steht dir fantastisch. Warum denn nicht?«

Carmen drehte sich um, damit sie sich von hinten betrachten konnte. »Und wenn Porter die Beschriftung bescheuert findet?«

»Wenn er die JEANS nicht zu würdigen weiß, dann ist er auch nicht der Richtige für dich«, sagte Lena.

»Und wenn er mich danach fragt?«, sagte Carmen.

»Dann hast du Glück gehabt. Dir wird den ganzen Abend der Gesprächsstoff nicht ausgehen.«

Carmen konnte Lena förmlich in den Hörer lächeln hören. Einmal, in der achten Klasse, hatte sich Carmen solche Sorgen gemacht, ihr könnte beim Telefonieren mit Guy Marshall der Gesprächsstoff ausgehen, dass sie sich eine Themenliste auf eine rosa Karteikarte geschrieben hatte. Hätte sie doch niemandem etwas davon erzählt!

»Ich hole meine Kamera«, verkündete Carmens Mutter, als Carmen kurz darauf in die Küche kam. Sie räumte gerade das saubere Geschirr aus der Spülmaschine.

Carmen schaute von der wunden Stelle an ihrem Daumennagel hoch. »Mach das nur, wenn du unbedingt willst, dass ich Selbstmord begehe. Oder Mord. Ich glaube, das nennt sich dann Muttermord.« Sie machte sich wieder daran, erbarmungslos an der Haut an ihrem Daumen herumzuzupfen.

Christina klapperte lachend mit dem Besteckkorb. »Wieso darf ich denn kein Foto machen?«

»Soll der Typ schreiend aus der Wohnung rennen?« Konsterniert zog Carmen ihre wunden, erst seit kurzem schmal gezupften Augenbrauen hoch. »Das ist doch bloß ein dämliches Date. Nicht der Schulabschlussball oder so.«

Dass Carmen fast den ganzen Tag damit verbracht hatte, zusammen mit Lena Maniküre, Pediküre, Gesichtsmasken, Haarentfernung und hautstraffende Körperpflege zu betreiben, strafte ihre Lässigkeit Lüge. Tatsächlich hatte Lena nach der Pediküre das Interesse verloren und die restliche Zeit damit zugebracht, auf Carmens Bett Jane Eyre zu lesen.

Ihre Mutter bedachte sie mit einem geduldigen Blick und legte ihr märtyrerhaftes »Mutter einer Tochter in der Pubertät«-Lächeln auf. »Das weiß ich doch, nena, aber es ist nun mal dein erstes Date, dämlich hin oder her.«

Carmen heftete ihre großen, vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen auf ihre Mutter. »Wenn du das sagst, wenn Porter hier ist –«

»Na schön. Okay!« Christina hob die Hand. Und lachte noch mehr.

Jedenfalls, so tröstete sich Carmen mürrisch, ist es nicht mein erstes Date. Sie hatte nur noch keins im Fünfzigerjahre-Stil gehabt, wo der Typ einen zu Hause abholte, sodass man extremen Demütigungen seitens der Mutter ausgesetzt war.

Die Uhr zeigte mit strenger Sachlichkeit zwanzig Uhr sechzehn an. Das war eine heikle Angelegenheit. Ihr Date war um acht. Wenn Porter zum Beispiel früher als um Viertel nach acht kam, würde ihn das als übereifrig abstempeln. Das hätte eindeutig einen starken Unterton von Loser. Kam er hingegen nach acht Uhr fünfundzwanzig, hieß das, dass er nicht so besonders scharf auf sie war.

Acht Uhr sechzehn läutete die offizielle Anstandszeit ein. Noch neun Minuten, der Count-down lief.

Sie hastete in ihr Zimmer, um ihre Armbanduhr zu holen. Von dieser bösartigen Küchenuhr wollte sie sich nicht länger schikanieren lassen. Mit ihren großen schwarzen Ziffern, den unverkennbaren Minutenstrichen und dem dicken, unbarmherzigen Sekundenzeiger war es die gnadenloseste Uhr im Haus. Ihr zufolge kam sie dauernd zu spät zur Schule und schaffte es praktisch nie, ihre Ausgehzeit bis Mitternacht einzuhalten. Sie nahm sich vor, ihrer Mutter zum Geburtstag eine Uhr zu schenken, die diese ersetzen würde. Eine von diesen schicken Museumsuhren ohne Ziffern und irgendwelche Markierungen. So eine Uhr würde einem doch hin und wieder mal eine Atempause verschaffen.

Kaum war sie wieder in der Küche, klingelte das Telefon. Ihr schwirrte der Kopf. Es war Porter, der sie sitzen ließ. Es war Tibby, die ihr sagen wollte, dass sie nicht ihre Kunststoff-Pantoletten anziehen sollte, in denen man Schweißfüße bekam. Sie betrachtete das Display und wartete darauf, dass der Anrufer erschien und ihr Schicksal sie ereilte … Es war … die Anwaltskanzlei, in der Christina arbeitete. Ärx, total langweilig.

»Es ist der Stalker«, sagte Carmen gereizt, ohne ans Telefon zu gehen.

Seufzend schob sich Christina an ihr vorbei. »Du sollst doch nicht Stalker zu Mr Brattle sagen, Carmen.«

Christina setzte ihr leicht verkniffenes Kanzlei-Gesicht auf und nahm den Hörer ab. »Hallo?«

Das Gespräch ihrer Mutter wurde Carmen schon langweilig, noch bevor sie überhaupt anfing zu reden. Mr Brattle war der Chef ihrer Mutter. Er trug den Ring seiner Abschlussklasse und verwendete häufig das Wort proaktiv. Dauernd rief er wegen eines dringenden Notfalls an, weil er zum Beispiel das Briefpapier mit dem Kanzlei-Aufdruck nicht finden konnte.

»Ah … ja. Natürlich. Hallo.« Das Gesicht ihrer Mutter entkrampfte sich wieder. Sie hatte rote Wangen bekommen. »Verzeihung. Ich dachte, es wäre … Nein.« Sie kicherte.

Das konnte nicht Mr Brattle sein. Mr Brattle hatte in seinem ganzen Leben noch kein einziges Mal etwas gesagt, was jemanden zum Kichern gebracht hätte, noch nicht mal aus Versehen. Hm. Während Carmen über dieses Mysterium nachgrübelte, ertönte unten der Summer. Unwillkürlich schwenkte ihr Blick zu der bösen Wanduhr. Doch diesmal hatte sie ausnahmsweise keine schlechten Nachrichten. Acht Uhr einundzwanzig. Das war sogar sehr gut. Sie drückte die Taste, um die Tür zur Eingangshalle zu öffnen. Das Trauma einer Gegensprechanlage wollte sie Porter nicht antun.

»Hallo«, begrüßte sie ihn, nachdem sie eine angemessene Anzahl von Sekunden abgewartet hatte, bevor sie zur Tür ging. Sie gab sich Mühe, so zu wirken, als hätte sie gerade eine Kommode abgeschliffen und nicht etwa schlicht und einfach auf ihn gewartet.

Der Zustand seiner Haare (glatt und mittellang) sowie sein Gesichtsausdruck (aufmerksam, interessiert) war dadurch, dass er bei ihr in der Wohnung stand und nicht in der Schule vor ihrem Schließfach im Flur, nicht anders geworden. Sie bekam keine intimere Version von ihm zu sehen.

Er trug ein Hemd mit Button-down-Kragen und eine gute Jeans. Das bedeutete, dass er sie mehr mochte, als wenn er einfach nur ein T-Shirt angehabt hätte.

»Hey«, sagte er, während er ihr in die Wohnung folgte. »Du siehst toll aus.«

»Danke«, sagte Carmen und schüttelte ihre Haare ein bisschen. Ob das nun stimmte oder nicht – es war auf jeden Fall der richtige Satz.

»Bist du, äh, so weit?«, fragte er munter.

»Ja. Ich hol mir nur noch schnell meine Tasche.«

Sie ging in ihr Zimmer und schnappte sich ihre türkisfarbene Tasche vom Bett, wo sie wie eine Theater-Requisite gethront hatte. Als sie aus dem Zimmer kam, rechnete sie damit, dass ihre Mom sich auf sie stürzen würde. Aber seltsamerweise war Christina immer noch am Telefon in der Küche.

»Also, okay. Ich bin so weit«, sagte Carmen. Sie hängte sich die Tasche über die Schulter und blieb zögernd an der Tür stehen. Wollte sich ihre Mutter diese einmalige Chance, sie total in Verlegenheit zu bringen, ernsthaft entgehen lassen?

»Tschüss, Mom«, rief sie.

Eigentlich wollte Carmen aus dem Haus fegen, aber sie konnte es sich nicht verkneifen, sich noch mal umzudrehen und nachzusehen. Ihre Mutter war in der Küchentür aufgetaucht, mit dem Hörer am Ohr, winkte ihr eifrig zu und formte mit dem Mund lautlos die Worte: »Viel Spaß.«

Sehr merkwürdig.

Sie gingen nebeneinander den engen Flur entlang.

»Ich hab direkt vor dem Haus geparkt«, sagte Porter. Er betrachtete die JEANS. Seine Augenbrauen waren dabei leicht hochgezogen. Er bewunderte die JEANS.

Nein, er war von ihr verwirrt.

War es möglich, dass sie bei ihm Verwirrung nicht von Bewunderung unterscheiden konnte? Das war vielleicht kein so gutes Zeichen.