Ann Brashares
Eine für vier –
Vier gewinnt
Aus dem Amerikanischen
von Nina Schindler
Voller Bewunderung bedanke ich mich zuerst und immer bei Jodi Anderson. Nach vier Büchern und sechs gemeinsamen Jahren danke ich meiner Truppe bei Random House mit größter Wärme und Wertschätzung: Wendy Loggia, Beverly Horowitz, Chip Gibson, Judith Haut, Kathy Dunn, Marci Sanders, Daisy Kline, Joan DeMayo und vielen anderen, die sich mit ganzem Herzen an diesem Projekt beteiligt haben. Ich danke Leslie Morgenstein und meiner Freundin und Agentin Jennifer Rudolph Walsh. Die Zeit mit euch war wunderschön.
Ich danke meinen Eltern, Jane Easton Brashares und William Brashares und meinen Brüdern Beau, Justin und Ben Brashares. Es heißt, man kann sich seine Familie nicht aussuchen, aber die hätte ich mir ausgesucht.
Voller Liebe bedanke ich mich bei meinem Mann Jacob Collins und unseren drei Kindern Sam, Nate und Susannah.
DIE AUTORIN
Ann Brashares wuchs mit drei Brüdern in der Nähe von Washington D.C. auf. Sie studierte Philosophie an der Columbia University in New York, unterbrach jedoch das Studium aus finanziellen Gründen und begann, in einem großen amerikanischen Verlag zu arbeiten. Die Arbeit dort gefiel ihr so gut, dass sie nicht mehr an die Uni zurückging und stattdessen einige Jahre als Lektorin tätig war. Seit 2000 widmet sich Ann Brashares ganz dem Schreiben. Sie lebt mit ihrem Mann, einem Künstler, und ihren drei Kindern in Brooklyn, New York.
Das ist meine Heimat.
William Shakespeare
An unserem letzten Tag in Griechenland machten wir eine lange Wanderung und kamen an eine Felsklippe, von der aus man weit über das Meer sehen konnte. Wir saßen da, unsere Beine baumelten im Nichts, in der Luft. Der Himmel war wolkenlos und das Meer glatt wie ein Spiegel. Ich sah meine Freundinnen an, braun gebrannt, barfuß, sommersprossig, zerzaust, glücklich. Jede von uns in den Klamotten einer anderen. Tibby hatte Lenas weiße Hose hochgekrempelt, Carmen trug Tibbys Paisley-T-Shirt, Lena hatte meinen Strohhut auf und ich hatte meine Haare mit Carmens Tuch zusammengebunden.
Der Himmel und das Meer waren so ruhig und unbewegt, dass wir den Übergang zwischen Himmel und Meer nicht ausmachen konnten. Die Stelle, wo Zeit und Raum, Wasser und Luft einander begegnen, konnten wir nicht sehen. Ich musste an das denken, was Carmen gesagt hatte. Wir leben nicht mehr zusammen an irgendeinem festen Platz oder in einer bestimmten Zeit. Wir sind überall, hier und dort, in der Vergangenheit und in der Zukunft, gemeinsam und allein.
Lange Zeit sahen wir schweigend in die Ferne, weil das Ende unsichtbar und die Farbe die Ewigkeit war.
Ich dachte über die Farbe nach, und mir wurde bewusst, welches Blau es war. Es war das weiche, abgewetzte, aber unverwechselbare Blau einer oft getragenen Jeans.
JEANS = LIEBE
Das einzige Paradies ist das verlorene Paradies.
Marcel Proust
Gildas Sportstudio war wie immer. Es veränderte sich nie. Wie wunderbar, dachte Lena. Wie beruhigend, dass man sich auf die menschliche Eitelkeit und den fortschreitenden Fitnesswahn mit seinem Riesenbedarf an Spiegeln und Gymnastikmatten immer verlassen konnte.
Sonst hatte sich allerdings einiges verändert und manches fehlte.
Carmen zum Beispiel fehlte.
»Ich weiß wirklich nicht, wie wir das ohne Carmen hinkriegen sollen«, sagte Tibby. Es war ein fester Brauch, dass Carmen ihre Videokamera mitbrachte, um alles für die Nachwelt festzuhalten, aber dann nicht einschaltete. Die vier waren sich nicht sicher, wann die Nachwelt anfing oder ob sie möglicherweise schon mittendrin waren.
»Vielleicht sollten wir es gar nicht erst versuchen«, sagte Bee. »Vielleicht sollten wir einfach warten, bis wir alle wieder zusammen sind.«
Lena hatte zwar Kerzen mitgebracht, aber sie hatte sie nicht angezündet. Tibby hatte die obligatorische Achtzigerjahre-Aerobicmusik dabei, aber sie lief nicht. Bee hatte unverdrossen Schalen mit Gummiwürmern und Käsegebäck hingestellt, aber keine aß davon.
»Und wann wird das sein?«, fragte Tibby. »Ehrlich, wir haben seit letztem September versucht, ein Treffen hinzukriegen, und es hat nicht ein Mal geklappt.«
»Was war mit Thanksgiving?«, fragte Lena.
»Da musste ich doch nach Cincinnati zu Urgroßmutter Felicias hundertstem Geburtstag, weißt du nicht mehr?«, antwortete Tibby.
»Stimmt. Und sie hatte einen Schlaganfall«, sagte Bee.
»Ja, aber erst nach der Feier.«
»Und Carmen war über Weihnachten in Florida«, sagte Lena. »Und ihr zwei wart an Silvester in New York.«
»Na schön, also wie wär’s mit dem Wochenende in zwei Wochen? Carmen ist dann doch wieder zurück, oder?«
»Ja, aber mein Kurs fängt am 20. Juni an.« Lena umklammerte ihre Knie und stemmte ihre großen Füße auf den Holzboden. »Ich kann unmöglich am ersten Tag fehlen, sonst krieg ich den miesesten Platz im ganzen Atelier ab und sehe einen Monat lang nur die Kniekehlen des Modells.«
»Okay, also wie wär’s dann mit dem 4. Juli?«, kam Tibbys vernünftiger Vorschlag. »An dem Freitag hat keine Uni oder irgendwas anderes. Wir könnten uns hier für ein langes Wochenende treffen!«
Bee zog ihren Schnürsenkel auf. »Ich fliege aber am 24. Juni nach Istanbul.«
»Was, so früh schon? Kannst du nicht auch später fliegen?«, fragte Tibby.
Bridget schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, die Organisatoren haben uns alle auf diesen Charterflug gebucht. Wenn wir den nicht nehmen, kostet es mindestens tausend Dollar extra, und du kannst zusehen, wie du vom Flughafen allein zur Ausgrabungsstätte kommst.«
»Wie konnte Carmen das hier bloß verpassen?«, stöhnte Tibby.
Lena wusste genau, was sie meinte. Keine von ihnen hätte freiwillig dieses Ritual verpasst – ganz besonders Carmen nicht, der es immer besonders viel bedeutet hatte.
Bee schaute in die Runde. »Aber was verpasst sie schon groß?«, fragte sie, weniger anklagend als einlenkend. »Es ist ja noch nicht der große Startschuss, oder?« Sie zeigte auf die JEANS, die säuberlich gefaltet zwischen ihnen lag. »Jedenfalls nicht offiziell. Wir haben sie das ganze Schuljahr über getragen. Ist ja nicht so wie in den früheren Sommern, wenn wir hier das große Start-Tamtam veranstaltet haben.«
Lena wusste nicht genau, ob sie durch den Spruch getröstet oder verärgert sein sollte.
»Vielleicht stimmt das«, überlegte Tibby. »Vielleicht brauchen wir in diesem Sommer keinen Startschuss mit Tamtam.«
»Aber wir sollten heute Abend wenigstens die Reihenfolge festlegen«, schlug Lena vor. »Carmen muss sich dann einfach damit abfinden.«
»Warum bleiben wir nicht bei unserer üblichen Reihenfolge?«, fragte Bridget und streckte ihre Beine aus. »Warum sollten wir daran was ändern, nur weil’s Sommer ist?«
Lena kaute nachdenklich an der Nagelhaut ihres Daumens und ließ sich den Vorschlag durch den Kopf gehen.
Früher waren die Sommer anders.
Früher fuhren alle von zu Hause weg und lebten für zehn lange Wochen ihre eigenen Leben und vertrauten darauf, dass die JEANS AUF REISEN sie zusammenhielt und am Ende wieder zusammenbrachte. Lena wurde bewusst, dass jetzt das Jede-lebt-ihr-Leben nicht mehr die Ausnahme war, sondern die Regel.
Wann kommen wir alle wieder nach Hause? Das hätte sie gern gewusst.
Wenn sie die Situation allerdings nüchtern betrachtete, dann war ihr klar: Es war nicht nur die Antwort, die sich geändert hatte, sondern auch die Frage. Was war jetzt noch Zuhause? Was war der Normalzustand?
»Zu Hause« war eine bestimmte Zeit gewesen und diese Zeit war vorbei.
Immer noch aß keine von den Gummiwürmern. Lena dachte: Wenn ich nicht sofort einen esse, fang ich an zu heulen.
»Also bleiben wir bei der alten Reihenfolge«, wiederholte sie matt. »Ich glaube, dann bin ich jetzt dran.«
»Ich hab’s aufgeschrieben«, sagte Tibby.
»Gut.«
»Tja.«
Lena sah auf die Uhr. »Sollen wir jetzt einfach gehen?«
»Ich denk schon«, sagte Tibby.
»Wollen wir auf dem Heimweg noch beim Tastee Diner halten?«, fragte Bridget.
»Klar.« Tibby sammelte die Requisiten für das Ritual ein, das nicht so richtig vollzogen worden war. »Vielleicht können wir ja danach noch ins Kino gehen. Ich hab heut Abend keine Lust auf meine Eltern.«
»Wann müsst ihr denn morgen los?«, fragte Bee.
»Ich glaube, unser Zug geht um zehn«, sagte Tibby. Lena und Tibby fuhren zusammen mit dem Zug. Tibby fuhr bis New York, weil ihr Drehbuchseminar anfing und sie ihren Job in einer Videothek antreten musste. Lena fuhr weiter bis Providence, und Bee blieb noch ein paar Tage zu Hause, bevor sie in die Türkei flog.
Lena merkte, dass sie noch nicht nach Hause wollte. Sie nahm die JEANS und wiegte sie für einen Augenblick in den Armen. Sie hatte ein Gefühl für die JEANS, das sie nicht genau benennen konnte, aber sie wusste, dass sie das noch nie für sie gefühlt hatte. Sie empfand immer noch Dankbarkeit, Bewunderung und Vertrauen, aber heute Abend kam ein Hauch von Verzweiflung dazu.
Wenn wir sie nicht hätten, wüsste ich nicht, was wir tun sollten, dachte sie, als Bee die Tür von Gildas Sportstudio hinter ihnen schloss und sie langsam die dunkle Treppe hinabgingen.
Das echte Leben ist oft das, was man nicht führt.
Oscar Wilde
Carmen, es ist wunderschön! Ich kann gar nicht abwarten, bis du es siehst!«
Carmen nickte in den Telefonhörer. Ihre Mutter klang so glücklich, dass Carmen auch glücklich sein musste. Wie konnte sie da nicht glücklich sein?
»Wann könnt ihr denn voraussichtlich einziehen?«, fragte sie betont fröhlich.
»Na ja, wir müssen noch viel tun. Die Wände müssen noch verputzt und gestrichen werden und die Fußböden sind noch nicht versiegelt. Die Abwasserleitungen und die Elektrik sind auch noch nicht gelegt. Hoffentlich kriegen wir das meiste hin, bevor wir einziehen. Ich hoffe, dass es Ende August so weit ist.«
»Wow. So früh schon.«
»Nena, es hat fünf Schlafzimmer! Ist das nicht unglaublich? Und einen tollen Garten, in dem Ryan toben kann.«
Carmen sah im Geist ihren kleinen Bruder vor sich. Er konnte gerade mal laufen, noch lange nicht herumtoben. Seine Kindheit würde völlig anders als ihre eigene sein.
»Tja, das war’s dann wohl mit unserer Wohnung, oder?«
»Stimmt. Sie war groß genug für uns zwei, aber haben wir nicht immer von einem Haus geträumt? Hast du dir nicht immer eins gewünscht?«
Sie hatte sich auch immer ein Geschwisterchen gewünscht und dass ihre Mutter wieder einen Partner hätte. Es war nicht immer leicht, wenn man das bekam, was man sich wünschte.
»Ich muss die Sachen aus meinem Zimmer zusammenpacken«, sagte Carmen.
»Im neuen Haus wirst du ein größeres Zimmer bekommen«, sagte ihre Mutter schnell.
Ja, klar. Aber dafür war es jetzt etwas spät, oder? Für ein Haus mit Garten und einem großen Zimmer?
Zu spät, denn ihre Kindheit war vorbei. Ihre hatte in dem kleinen Zimmer in ihrer alten Wohnung stattgefunden. Es war traurig und irgendwie merkwürdig, dass es dieses Zimmer bald nicht mehr gab, aber zu spät, um es durch ein anderes zu ersetzen.
Und was sollte sie jetzt tun? Ohne ihr altes Leben und ohne dass ein wirklich neues angefangen hätte? Sie saß zwischen den Stühlen, im Nichts.
Irgendwie passte das nur zu gut.
»Lena kam gestern kurz vorbei, um Hallo zu sagen und Ryan zu sehen. Sie hat ihm eine Frisbeescheibe mitgebracht«, erzählte ihre Mutter etwas wehmütig. »Ich wünschte, du wärst zu Hause.«
»Ja. Aber ich hab hier so viel zu tun.«
»Ich weiß, Nena.«
Kaum hatte Carmen den Hörer aufgelegt, klingelte das Telefon schon wieder.
»Carmen? Wo steckst du?«
Julia Wymans Stimme klang verärgert. Carmen sah auf die Uhr hinter sich.
»Die Probe auf der Bühne fängt an … und zwar … jetzt!«
»Ich komme.« Carmen zog ihre Socken an, während sie das Telefon zwischen Ohr und Schulter festklemmte. »Ich komm wirklich sofort.«
Sie hastete aus ihrem Zimmer im Studentenwohnheim rüber ins Theater. Auf dem Weg fiel ihr ein, dass ihre Haare fettig waren und sie eigentlich eine andere Hose hatte anziehen wollen, weil sie sich in der hier so dick fühlte. Aber machte das überhaupt was aus? Es schaute sie ja eh keiner an.
Julia wartete hinter der Bühne auf sie.
»Kannst du mir hier helfen?« Für ihre Rolle in dem Stück trug Julia einen langen, viel zu großen Tweedrock.
Carmen bückte sich, um die Taille mit einer Sicherheitsnadel enger zu stecken. »Wie sitzt er jetzt?«, fragte sie.
»Besser. Danke. Und wie sieht’s aus?«
Julia sah gut darin aus. Julia sah in so ziemlich allen Klamotten gut aus, und sie brauchte sicher nicht Carmen, um ihr das zu bestätigen. Aber Carmen tat es trotzdem. Auf eine seltsame Weise war es Julias Job, gut für sie beide auszusehen. Und es war Carmens Job, sie dafür zu loben.
»Ich glaube, Roland wartet auf dich.«
Carmen trat auf die Bühne, aber offenbar wartete Roland nicht auf sie. Er reagierte überhaupt nicht, als er sie sah. Mittlerweile kam sie sich fast wie ein Geist vor – unsichtbar, nur die Luft wurde etwas kühler, wenn sie kam. Carmen kniff die Augen zusammen und machte sich klein. Sie war ungern auf der Bühne, wenn alle Scheinwerfer an waren. »Brauchst du etwas?«, fragte sie Roland.
»Äh, ja, wart mal.« Er dachte kurz nach. »Ach ja – kannst du den Vorhang im Wohnzimmer befestigen? Er fällt gleich runter.«
»Klar«, sagte sie schnell und fragte sich, ob sie sich schuldig fühlen sollte. Hatte sie den Vorhang angetackert?
Sie stellte die Leiter auf, kletterte drei Sprossen hoch und setzte den Tacker an der Sperrholzwand an. Bühnenbildnerei war eine merkwürdige Sache. Es kam nur auf den momentanen Eindruck an, auf diesen oder jenen Blickwinkel, nicht auf Beständigkeit. Alles existierte in Raum und Zeit nicht als ein tatsächliches Ding, sondern nur als Trick.
Sie mochte den satten Klang, wenn der Tacker in die Holzwand schoss. Immerhin das hatte sie auf dem College gelernt: zu tackern. Dafür bezahlte ihr Vater einen Haufen Geld.
Natürlich hatte sie auch noch andere Sachen gelernt. Wie man vom Mensaessen und von nächtlichen Schokoladeorgien siebzehn Pfund zunimmt, wenn man sich einsam fühlt. Wie man sich für Jungs unsichtbar macht. Wie man seine Neun-Uhr-Psychologievorlesung verpennt. Wie man fast ausschließlich weite Sweatshirts trägt, weil man sich für seinen Körper schämt. Wie man den Leuten aus dem Weg geht, die man am meisten auf der Welt liebt. Wie man eigentlich generell für alle unsichtbar ist, sogar für sich selbst.
Es war ein Glücksfall, dass Carmen Julia kennengelernt hatte, das war ihr klar. Weil Julia eine der sichtbarsten Personen in der ganzen Williams-Uni war. Sie ergänzten sich perfekt. Ohne Julia, vermutete Carmen, hätte sie sich wahrscheinlich schon längst in Luft aufgelöst.
An: Carmabelle
Von: Beezy3
Wir haben schwere carmische Störungen hier.
Ich weiß, dass du Winterschlaf hältst, und im Gegensatz zu allen andern weiß ich auch, warum. Aber Meena, es ist schon Juni. Jetzt kriech mal aus der Höhle und komm zu deinen Freundinnen, die dich lieb haben. Wir haben uns bei Gilda getroffen, aber ohne dich konnten wir’s einfach nicht durchziehen.
Unmöglich.
Deine Summ-Biene
Als »Mädchen mit einem Freund« fühlt man sich ganz anders.
Dieser Gedanke ging Bridget im Kopf herum, als sie von Lena die Edgemere Street entlang nach Hause ging. Gerade als sie darüber nachdachte, fuhr ein Typ an ihr vorbei, den sie vom Sehen aus der Schule kannte, hängte sich aus dem Autofenster, schrie »Hey, Süße!« und schickte ihr einen Luftkuss.
Früher hätte sie irgendwas zurückgebrüllt. Oder den Luftkuss erwidert. Vielleicht hätte sie dem Typen auch den Stinkefinger gezeigt, je nach Laune. Aber irgendwie war alles anders, seit sie ein »Mädchen mit einem Freund« war.
Sie hatte fast ein Jahr gebraucht, um sich daran zu gewöhnen. Es war nämlich besonders schwierig, wenn man seinen Freund nur ein- oder zweimal im Monat sah – weil er in New York studierte und man selbst in Providence, Rhode Island. Das Zusammensein war dann eher theoretisch. Bei jedem Typen, der aus dem Autofenster grölte, bei jedem Kerl, der einen auf dem Weg zur Psychologievorlesung prüfend musterte, dachte man: Du hast ja keine Ahnung, dass ich einen Freund habe.
Jedes Mal wenn sie Erics markantes Gesicht sah, jedes Mal wenn er in ihrer offenen Zimmertür auftauchte oder wenn er sie am Busbahnhof in New York abholte, war alles wieder da. Die Art, wie er sie küsste. Wie er seine Hose trug, wie er mit ihr eine ganze Nacht durchgepaukt hatte, damit sie ihre Spanischklausur schaffte.
Aber alles wurde wieder total theoretisch, nachdem Eric ihr von Mexiko erzählt hatte. Er hatte dort einen Job als stellvertretender Leiter in ihrem alten Trainingslager in Baja bekommen.
»Ich fahr gleich nach Semesterende los«, hatte er gesagt, als sie im April telefonierten.
Da war keine Unsicherheit oder kleine Pause oder Frage in dem Satz gewesen. Da war nichts für sie drin.
Sie hatte den Telefonhörer etwas fester umklammert, aber sie wollte ihn nicht das Chaos spüren lassen, das seine Worte in ihr ausgelöst hatten. Allein gelassen zu werden, war nicht ihr Ding.
»Wann kommst du zurück?«, fragte sie.
»Ende September. Ich bleib anschließend noch einen Monat bei meinen Großeltern in Mulege. Meine Großmutter hat jetzt schon mit dem Kochen angefangen.« Sein Lachen war unbeschwert und lieb. Er tat so, als müsste sie sich genauso freuen wie er. Er merkte überhaupt nicht, wie tief sie seine Ankündigung traf.
Manchmal fühlt man beim Auflegen des Telefonhörers, dass das Herz blaue Flecken bekommen hat. Es tat richtig weh und später würde es noch mehr schmerzen. Sie hätte dieses unbefriedigende Gespräch eigentlich beenden sollen, aber das brachte sie nicht fertig. Am liebsten hätte Bridget das Telefon gegen die Wand geknallt und sich selbst gleich hinterher.
Irgendwie hatte sie angenommen, dass Erics und ihre Pläne für den Sommer sich gemeinsam entwickeln würden. Sie dachte, wenn man einen festen Freund hat, bedeutet das automatisch, dass man seine Zukunft zusammen plant. War er sich ihrer so sicher, dass er kein Problem damit hatte, von ihr wegzugehen, oder war sie ihm gleichgültig?
Sie joggte die große Runde und verscheuchte ihre Zweifel. Schließlich waren sie nicht verheiratet oder so. Sie sollte davon nicht so gekränkt sein. Sie wusste ja, dass es nicht persönlich gemeint war. Der Job als stellvertretender Leiter war wirklich eine tolle Chance: Er wurde nicht nur gut bezahlt, er war dann auch in der Nähe seiner Familie.
Sie war nicht wirklich gekränkt, aber in den Tagen nach dem Telefonat wurde sie von einem unberechenbaren inneren Motor angetrieben. Sie hatte keine Lust, rumzuhängen und sich nach Eric zu verzehren. Wenn seine Entscheidung sie nicht so aus heiterem Himmel getroffen und damit angstvolle Vermutungen ausgelöst hätte, hätte sie sich vielleicht nicht so schnell für die Ausgrabung in der Türkei verpflichtet.
Eric konnte doch nicht erwarten, dass sie einfach dahockte und auf ihn wartete. Das lief mit ihr nicht. Wie konnte sie sich einbilden, sie hätte einen festen Freund, wenn der mal eben plante, von Mai bis September zu verschwinden? Waren sie dann überhaupt noch ein Paar? Das war ihr alles zu theoretisch.
Nach dem Gespräch über Mexiko hatte sie angefangen, sich ernsthaft Gedanken über diese Dinge zu machen. Danach kam es ihr auf dem Weg zu den Seminaren bei all den Typen auf einmal so vor, als ob ihr »Mädchen mit einem Freund«-Status eher etwas war, das ihr abverlangt wurde, und nicht etwas, das sie bereitwillig angenommen hatte.
Tibby schaute auf ihre Kasse. Sie hatte noch vier Minuten bis zum Schichtende und noch eine Schlange von mindestens zwölf Leuten zu bedienen.
Sie scannte einen Stapel von sechs Filmen für ein sehr junges Mädchen mit silbernem Lidschatten und einer zu eng aussehenden Halskette in die Kasse ein. Quollen ihre Augen schon hervor oder bildete Tibby sich das nur ein?
»Willst du dir die alle ansehen?«, fragte Tibby geistesabwesend.
Es war Freitag. Ab jetzt galten bis Montag die Wochenend-Sonderpreise. Der Kaugummi des Mädchens roch nach künstlichem Wassermelonen-Aroma. Als sie schlucken musste, erinnerte Tibby das an die abgerichteten Pelikane der Fischer, die einen Ring um den Hals tragen, damit sie die gefangenen Fische nicht runterschlucken.
»Meine Freundinnen übernachten heute bei mir. Wir sind zu siebt. Aber nur, wenn Callie auch kommt. Wenn sie nicht kann, dann bräuchte ich den hier nicht, weil die anderen ihn ätzend finden.«
Himmel! Waren wir auch so?, überlegte Tibby, während das Mädchen ausführlich alle Filmwünsche ihrer Freundinnen beschrieb.
Jetzt war ihre Schicht schon seit zwei Minuten vorbei, und Tibby verfluchte sich selbst, weil sie dieses Gespräch überhaupt angefangen hatte. Immer wieder vergaß sie die goldene »Niemals Fragen stellen«-Regel. Die Leute antworteten so gern.
Sie hatte noch elf Kunden abzukassieren, bevor sie endlich ihren Schalter dichtmachen konnte, und sie wurde bereits nicht mehr bezahlt.
»Hier bitte nicht mehr«, rief sie einem neuen Kunden zu, bevor er sich an ihrer Schlange anstellte.
Der Nächste war ein junger Typ mit Ziegenbärtchen und einer Windjacke über seiner Arbeitskluft. Als die Jacke ein Stückchen aufging, konnte sie sehen, dass er Carl hieß. Sie wollte ihm eigentlich sagen, dass sein Film ganz gut war, aber das Ende mies und die Fortsetzung eine Beleidigung für jedes einigermaßen funktionierende Gehirn, aber sie zwang sich, es nur zu denken. Ab jetzt galt ihre neue Regel. Ehrlich gesagt redete sie lieber selbst, als dass sie zuhörte.
Sie schloss ihre Kasse, verabschiedete sich und ging den Broadway entlang, bog in die Bleeker Street ein und dann in den Eingang ihres Wohnheims. Schlecht an ihrem Job war, dass er obermies bezahlt wurde. Aber das Gute daran war, dass er nur drei Blocks entfernt war.
Die Eingangshalle des Wohnheims war kühl und leer bis auf den Wachmann. Jetzt im Sommer war alles anders. Keine quasselnden Studenten, kein Durcheinander von Handyklingeltönen. Die große Korkpinnwand, normalerweise mit zwanzig Schichten Zetteln bedeckt, war jetzt blank und leer.
Während des Semesters war die Fahrt im Aufzug zwischenmenschlich anstrengend. Zu viel Zeit zu glotzen, einzuschätzen und zu urteilen. In dem engen Raum hatte sie immer das Gefühl, sie müsse für die anderen Mitfahrer etwas darstellen, selbst wenn sie nicht mal deren Namen kannte. In dem leeren Aufzug dagegen war ihr jetzt, als würde sie mit der Holztäfelung verschmelzen.
Heute Abend würden alle Flure leer sein. Die Sommerkurse fingen erst nach dem 4. Juli an. Und selbst dann wohnten die neuen Studenten ja nur vorübergehend hier, das waren keine Freunde oder Leute, über die man sich im Aufzug Gedanken machte. Mitte August waren sie spätestens wieder weg.
Das war das Merkwürdige am College. Eigentlich sollte hier dein Leben beginnen. Bei jedem neuen Menschen überlegte man: Wirst du mir etwas bedeuten? Werden wir einander etwas bedeuten? Tibby hatte sich mit ein paar Leuten auf ihrem Flur und in ihren Filmseminaren angefreundet, aber bei den meisten wusste sie sofort, dass sie für sie nicht wichtig waren.
Wie die Mädchen vom Schwimmteam, die ihre Gesichter rot anmalten, um Zusammengehörigkeit zu demonstrieren, oder der Typ mit dem struppigen Bart und dem Warhammer-T-Shirt.
Andererseits, ertönte die Stimme von Meta-Tibby, wie sie ihr Alter Ego nannte (ihr besseres Ich, niemals hektisch, niemals zickig), wer hätte damals am ersten Tag im 7-Eleven gedacht, dass Brian einmal so wichtig für dich werden würde?
Es war jetzt vier Jahre her, dass sie Brian zum ersten Mal begegnet war, aber beim Gedanken an seine Nähe spürte sie immer noch dieses Flattern tief im Bauch. Und es war neun Monate her, dass sie … was? Sie hasste den Ausdruck »zusammengekommen waren«. Vor neun Monaten waren sie nachts verbotenerweise in der Unterwäsche im Rockwood-Schwimmbad geschwommen und hatten sich so wahnsinnig geküsst und umarmt, bis ihre Finger und Füße ganz schrumpelig und ihre Lippen blau gewesen waren.
Sie hatten bis jetzt noch nicht miteinander geschlafen. Nicht wirklich, obwohl Brian es so sehr wollte. Aber seit dieser Nacht im August hatte Tibby das Gefühl, dass ihr Körper Brian gehörte und seiner ihr.
Seit dieser Nacht im Schwimmbad hatte sich ihre Liebe füreinander verändert.
Vorher hatte jeder von ihnen seinen eigenen Raum eingenommen. Danach gab es nur noch einen gemeinsamen Raum. Wenn er vor dieser Nacht unter dem Tisch ihren Fuß berührt hatte, war sie rot geworden und hatte einen Schweißausbruch bekommen. Nach dieser Nacht gab es keinen Moment mehr, in dem sich ihre Körper nicht irgendwie, irgendwo berührten. Sie konnten ineinander verschlungen auf einem Bett liegen und sich trotzdem auf ihre Bücher konzentrieren. Na ja, ein bisschen konzentrieren.
Heute Abend würde es hier still sein. Irgendwie fehlten ihr Bernie, die sonst von neun bis zehn ihre Opern schmetterte, und Deirdre, die richtiges Essen in der Gemeinschaftsküche kochte. Aber es war auch sehr angenehm, mal ganz allein zu sein. Sie würde ihren Freundinnen ein paar Mails schreiben und ihre Achseln und Beine rasieren, bevor Brian morgen kam. Vielleicht würde sie beim Thailänder um die Ecke was zu essen bestellen. Natürlich würde sie es selbst abholen, um das Trinkgeld für den Boten zu sparen. Diese Knauserigkeit war ätzend, aber sie konnte sich die paar Dollar extra einfach nicht leisten.
Tibby steckte ihren Schlüssel ins Schloss. Es war so ausgeleiert, dass man es vermutlich mit jedem Schlüssel aus dem Wohnheim aufschließen konnte. Vielleicht mit jedem Schlüssel der ganzen Welt. Es war ein billiges kleines Schloss.
Sie stieß die Tür auf und freute sich wieder mal über ihr Einzelzimmer. Wen störte es schon, dass es nur neun Quadratmeter groß war? Wen kratzte es, dass es eher ein begehbarer Kleiderschrank war als ein richtiges Zimmer? Es war ihr Zimmer. Anders als zu Hause blieb ihr Kram genau da, wo sie ihn liegen gelassen hatte.
Sie sah zuerst das Flimmern ihres Monitors, dann die grüne Statusanzeige ihrer voll aufgeladenen Kamerabatterie. Dann wanderte ihr Blick zu den glänzenden Augen eines großen braunhaarigen, neunzehn Jahre alten Typen, der auf ihrem Bett saß.
Alles zuckte zusammen. Magen, Beine, Rippen, Kopf. Dazu kam das wild klopfende Herz.
»Brian!«
»Hey«, sagte er leise.
Sie wusste, dass er sie nicht hatte erschrecken wollen.
Sie ließ ihre Tasche fallen, lief zu ihm und verschwand sofort in seiner stürmischen Umarmung.
»Ich hab gedacht, du kommst erst morgen!«
»Ich konnte es keinen Tag länger aushalten«, sagte er und presste sein Gesicht an ihr Ohr.
Es war so ein gutes Gefühl, ihn überall zu spüren. Sie liebte dieses Gefühl. Sie würde sich nie daran gewöhnen. Es war zu schön, um wahr zu sein. Sie konnte ihre Überzeugung nicht abschütteln, dass alles seinen Preis hatte. Nichts ist umsonst. Dieses Glücklichsein war wie eine Shoppingorgie mit geschenktem Geld.
Die meisten Typen sagen, sie rufen morgen an, und melden sich dann am nächsten Samstag oder gar nicht. Die meisten Typen sagen, sie kommen um acht, und sind dann irgendwann um Viertel nach neun da. Sie halten dich in einem Zustand von Unsicherheit, Wünschen, Hoffnung, und du selbst bist von jeder Sekunde genervt, die du das mitmachst.
Brian war anders.
Brian versprach, er würde am Samstag kommen, und kam stattdessen am Freitag.
»Jetzt bin ich glücklich«, brummte er in ihren Nacken.
Sie betrachtete sein Profil, seinen männlichen Oberarm. Er sah wahnsinnig gut aus, aber er war sich dessen nicht bewusst. Sie liebte ihn nicht deshalb, weil er so gut aussah, aber man konnte sich ja trotzdem daran freuen, oder?
Er rollte sie aufs Bett, zog ihr T-Shirt hoch und legte seinen Kopf auf ihren nackten Bauch, die Arme um ihre Hüften geschlungen, die Beine angewinkelt an der Wand. Wenn das Zimmer für sie allein schon klein war, dann konnte sich Brian kaum darin ausstrecken. Hin und wieder trat er aus Versehen gegen die Wand. Sie war froh, dass sie heute Nacht wegen dem Typen aus Zimmer 11 C kein schlechtes Gewissen haben musste.
Es war wie ein Wunder.
Ihr eigenes Zimmer. Kein Verstecken, keine Notlügen, kein Noch-mal-gut-gegangen. Keine Eltern, denen man erklären musste, wo man gewesen war, oder eine Heimkommzeit, die nervte.
Die Zeit dehnte sich. Sie würden essen, worauf sie Lust hatten – oder wenigstens das, was sie sich leisten konnten. Später würden sie zusammen einschlafen, seine Hand auf ihrer Brust oder auf ihrer Taille; sie würden gemeinsam aufwachen und aufstehen, wann immer ihnen danach war. Das war so schön. Zu schön. Womit hatte sie das verdient?
»Ich liebe dich«, murmelte er, während seine Hände weiter unter ihr T-Shirt wanderten. Er wartete nicht auf den kurzen Moment, auf die Stille, in der sie eigentlich antworten sollte, »Ich dich auch«. Seine Hände waren schon unter ihren Schultern, er richtete sich über ihr auf für einen richtigen Kuss. Er brauchte ihr »Ich dich auch« nicht.
Früher hatte sie diese Vorstellung – eigentlich einen unbestätigten Glauben – gehabt, dass man wie in einer Art Spiegeltanz liebt. Dass man immer so stark liebt, wie der andere willens war, selbst zu lieben.
Brian war da anders. Er liebte einfach, ohne dass er das gleiche Maß an Liebe zurückforderte. Sie fand das atemberaubend, aber es machte ihn auch zu jemand sehr Besonderem, als könnte er Mandarin sprechen oder einen Basketball treffsicher im Korb versenken.
Sie schob ihre Hand unter sein T-Shirt, fühlte seinen warmen Rücken, seine Schulterblätter.
»Ich liebe dich«, sagte sie. Er hatte nicht um die Worte gebeten, aber sie sagte sie gern.