Diane Glancy
Tante Parnettas elektrische Wunden
Erzählungen
Aus dem Amerikanischen von Alissa Walser
FISCHER E-Books
Diane Glancy, die 1941 in Kansas City, Missouri, geboren wurde, ist Cherokee.
Sie lehrt ›Creative Writing‹ am Macalester College in Saint Paul, Minnesota. Für ihre Veröffentlichungen, zu denen zwei Erzählungsbände, fünf Lyrikbändchen, Essays und Theaterstücke gehören, wurde sie mit mehreren literarischen Preisen ausgezeichnet.
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Covergestaltung: buxdesign, München
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei Fischer Digital
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2016
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-560697-1
Dies ist nicht so sehr für ein Volk
als vielmehr für einen Ort –
Oklahoma
Wo ich zum ersten Mal
die Stimmen meiner Herkunft
gehört habe.
Whay Nah. Sie hatten die alte Sprache im Kopf. Deshalb also haben die jungen Männer getanzt. Kiowa, Caddo, Creek, Chickasaw, Cheyenne, Ponca, Pawnee, Osage, Cherokee.
Deshalb trugen sie beim Tanzen Kopfschmuck & Federbusch, Schellen & Leggings, perlenbestickte Mokassins & Brustschmuck. Nein, die Jungs natürlich nicht, die über den Festplatz gingen und Mädchen abschleppten. Das waren die, die keine Hoffnung mehr hatten. Für sie rollte die Sonne wie eine fehlgeschossene Kegelkugel über die Ebenen und weiter über die Grenzen von Oklahoma.
Aber die jungen Männer in der leuchtenden Arena tanzten den Büffeltanz, den Schlangentanz, Kreistanz, den wilden Kriegstanz, während die Sänger »hey da, hey da« riefen und in der Hitze ihre Trommeln schlugen.
Sie tanzten eine Spur in den schwarzen Himmel, wo die Ahnen neben dem fleckigen Gesicht des Mondes warteten. Auch wenn ihr Leben ein Loch war, in dem sie herumkrochen, tanzten sie doch auf den großen Ebenen des Landes mit der Flagge voll roter Blutstreifen.
A pah nuh. Da war sie wieder, die tote Sprache.
Ein Nadelkissen, jeder von ihnen.
Wie hatten sie diesen Kampf & die Niederlage überlebt? Warum hatte sich ihr Volk nicht einfach zusammengefaltet & war im Staub verschwunden, wo die Füße der jungen Männer auf den Boden der Arena trafen?
Nuh hekka.
Der Kriegermond fing den staubigen Dunst der Arena ein, wo noch immer Wagen auf die Wiese fuhren, um dort zu parken.
Unterdessen stolzierten junge Männer in die Arena wie Präriehähne, schauten hierhin, schauten dorthin, im Trommeltakt, wie bizarre Ballettänzer oder aufgeregte Bowlingspieler, vibrierend, überspannt, im Einklang mit den Toten.
Es gibt Geschichten, die man nur
im Winter erzählen kann.
Diese gehört nicht dazu, denn für
Parnetta ist es im Kühlschrank
immer Winter.
Hey Chekta! All das, und dann ist auch noch der Kühlschrank hin! Onkel Filo fuhr durch sein langes graues Haar, das ihm als ausgefranster Zopf im Rücken hing. Soviel Gestampfe und prächtiges Tanzen. Die alten Krieger gaben nicht auf. Aber hat’s je was gebracht? fragte Tante Parnetta. Den ganzen Winter lang tat’s der Kühlschrank; als sie Milch und Eier hätte in den Schnee legen können. Die Fische und das Fleisch von der letzten Jagd. Das ganze Frühjahr lang lief der Kühlschrank noch. Als sie das Geld vom Deckensteppen und Perlensticken hatte. Jetzt war ihre Spardose leer, es war heiß, und die glänzende weiße Kiste war hin. Dieser Sarg! Falls der Großvater sterben würde, könnten sie ihn samt Kriegsaxt und Tomahawk hineinlegen. Samt seinem alten Hund sogar. Aber wie käme sie zu einem neuen Kühlschrank?
Der Elektriker sagte, er könne ihn nicht mehr reparieren. Whee choo tun. Filo lud seine Flinte und schoß eine Kugel mittendurch. Na ja, sagte er, ein Mann muß sich rächen. Muß sich gegen die Zivilisation behaupten. Er suchte am Sommerhimmel nach einem Zeichen des Umschwungs, als wären die Sterne weiße Blätter über dem Hügel. Würden die Sterne herabfallen? Müßte Filo sie zusammenrechen, wenn wieder die kühlere Witterung einsetzte? Filo hustete und fingerte an seiner Hemdtasche herum, als winde sich da etwas tief in seiner Brust. Vielleicht sein Herz, falls er das überhaupt finden würde.
Tante Parnetta stand am Waschbecken, weichte vor dem Waschen die Laken ein.
»Wann geht bei uns schon mal was?« fragte Parnetta, während sie die Laken mit einer Stange umrührte.
»Wir haben diesen Kühlschrank vor zwanzig Jahren gekauft«, sagte Filo zu ihr. »Und seither ging’r.«
»Mist«, sagte sie. »Hätte doch länger laufen können, bis uns der Frost zudeckt. Hätt’ ich die Milch rausstellen können. Aber so. Hat einfach nicht gehalten.«
»Nee«, meinte Filo. »Leider nich.«
Parnetta sah auf ihre Perlenstickerei. Sie ließ die Hände fallen. Da würde sie noch lange dran sitzen. Sie sah auf die weiße Blechkiste. Groß genug für sie beide. Für die Kuh, falls die stürbe.
»Stell ihn raus in den Garten, zu seinem Vorgänger.«
Am Nachmittag fuhren sie nach Tahlequah, Filos Laster wirbelte Staub auf und ließ die Kiesel zur Seite spritzen.
Sie parkten vor der Eisenwarenhandlung in der Muskogee Straße. Regimenter von Kühlschränken, Küchenherden, Waschmaschinen, Trocknern standen da wie weiße Soldaten. General Gelbhaar Custer kommandierte sie. Little Big Horn. Whu chutah! Diese Preise! Dreihundert Mäuse.
»Bißchen mehr sogar«, vermutete Filo. Sein Flanellhemdkragen war nach innen verdreht, der Zopf lag auf der Seite wie ein umgekippter Güterzug.
»Filo, ich glaube, wir sollten das nicht heute entscheiden.«
»Nein«, die prompte Antwort schoß aus seinem Mund wie die Küchenschabe aus der Bodenritze.
»Wir schauen bloß.«
»Natürlich«, sagte Custer.
Sie gingen zur Tür, ließen die Waschmaschinen, Herde, Trockner, die durcheinanderflimmernden Fernseher und die zur Schlacht aufgereihten Kühlschränke zurück.
Filo hob seine Hand von dem klapprigen Laster.
»Gib’s auf«, sagte Parnetta. Ist doch immer das gleiche!«
Der Laster ruckte und knatterte und schüttelte Filo und Tante Parnetta durch, bis Filo ihn wieder auf die Straße zurückgesetzt hatte. Der Vorwärtsgang bockte weniger als der Rückwärtsgang.
Als sie zu Hause ankamen, nahm Filo die Rückwand des Kühlschranks ab und sah sich den Motor an. Wenn er Räder hätte, könnte man damit eine Ladung Heu zur Straße hinaufbringen. Könnte die Hälfte der Fische aus dem Teich darin einfrieren. Die winzigen Spulen, die verflochtenen Innereien des Kühlschranks, ganz wie die Sau, die er letzten Winter geschlachtet hatte, auch ein Schußloch im Kopf.
»Bei uns tut nie was.« Parnetta sah ihm durchs Küchenfenster zu. »Alles ist gegen uns«, maulte sie vor sich hin.
Filo holte seine Kriegsfeder aus dem Schuppen, steckte sie in seinen verdrehten Zopf. Er stampfte mit den Füßen und stimmte ein Geheul an. Filo, der Medizinmann, nahm wegen des Kühlschranks Kontakt mit der Welt der Geister auf. Er rüttelte an jedem Rohr und Bolzen. Sogar am Geist der Kälte selbst. Fast eine halbe Stunde lang brüllte er rum und führte Krieg im Hof.
»Nicht mit ’nem Schußloch.« Parnetta schüttelte den Kopf und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.
Er holte einen Schraubenschlüssel und die Metallsäge, die Axt und den Hammer. Jetzt war er mit Sicherheit hinüber. Parnetta am Waschbecken wußte es. Dieses Ding würde im Garten begraben werden. »Hat gelebt wie wir auch.« Tante Parnetta redete mit sich selbst. »Vor lauter eigenem Kram tut man nicht, was man soll.«
Parnetta hängte die Laken im Hof auf, viereckig und weiß wie der Kühlschrank.
Der neue Kühlschrank wurde mit einem Lieferwagen gebracht. Dann stand er in der Küche. Günstig gekauft, ein Glücksfall. Der billigste im ganzen Laden. Filo rechnete es nach. Die Zinsen für fünf Jahre waren so hoch wie der Preis für den Kühlschrank. Tante Parnetta versuchte, ihm das zu erklären. Parnetta zeigte den Männern, wo sie den Kühlschrank hinstellen sollten. Sie verstellten die kleinen Schweinsfüße und paßten sie an. Sie gaben Parnetta die Bedienungsanleitung, die Garantie. Fuhren dann siegreich davon. Der neue Geruch des glänzenden weißen Inneren, wie mit Zedernholz aus dem Keetowah-Feuer gereinigt.
Tante Parnetta ließ sich von Filo zum Lebensmittelgeschäft an der alten Straße nach Tahlequah bringen. Sie packte den Wagen voll mit Milch und Butter. Gefrorenen Waffeln. Orangensaft. Mit allem, was eben kühl gehalten werden muß. Der Kühlschrank war laut, sie glaubte, sie würde sich daran gewöhnen. Aber nachts hörte sie den Kühlschrank. Er schien in ihre Träume einzudringen. Es fiel ihr schwer einzuschlafen, auch auf den sauberen weißen Laken, und auch das Durchschlafen fiel schwer. Der Kühlschrank war wie ein riesiges Schwein in der Küche. Grunzte und schnaubte die ganze Nacht. Einmal stand sie auf und zog den Stecker raus. Früh am nächsten Morgen wachte sie auf und steckte ihn wieder ein, bevor Milch und Eier warm wurden.
»Stört dich dieser Kühlschrank, Filo?« fragte sie.
»Nee.«
Tante Parnetta schälte draußen Kartoffeln. Unter dem schattigen Baum flickte sie Filos Hemden. Im Küchenwaschbecken weichte sie nichts mehr ein, nicht einmal die Laken oder Filos Socken. Es gab einfach Dinge, die sie aushalten mußte, murrte sie. So war das eben.
Als die Enkel zu Besuch kamen, mußten sie wegen allem, was Parnetta brauchte, in die Küche laufen. Sie machten ein Picknick auf dem alten Wassermelonentisch im Garten. Sie stellte ihnen das alte Tipi zum Schlafen auf.
»Ist es dafür nicht ein bißchen zu spät in diesem Sommer?« neckte Filo sie.
»Nee. Es ist nich wegen dem Heimweh nach’m Sommer, der uns verläßt wie die Kinder.« Sie beeindruckte ihn mit ihrem Scharfsinn. Parnetta fiel immer etwas ein, wenn sie etwas wollte.
Mehrere Nächte schlief Filo im Bett mit der Gänsefliegen-über-einen-Sumpf-Muster-Steppdecke, aber Tante Parnetta blieb im Tipi unter den Sternen.
»Wir sind dreißig Jahre verheiratet. Komm ins Haus«, sagte Filo eines Nachts unter den weißen Blättern der Sterne.
»Ich kann wegen dieses wilden Schweins in der Küche nicht schlafen«, sagte Tante Parnetta. »Ich hab’s dir gesagt.«
»Hey chekta«, antwortete Filo ihr. »Warum hast du mir das nicht so gesagt, daß ich kapiere, was du meinst.« Filo deckte das weiße Gehäuse des Kühlschranks mit der Gänsesteppdecke und einer alten Indianerdecke zu, die er aus dem Schuppen holte. »Wirst du den ganzen Winter draußen bleiben?«
»Bis dieses Biest da drinnen seinen Geist aufgibt.«
»Gift und Galle«, meckerte Filo. »Das wird noch zwanzig Jahre dauern!«
In dieser Nacht wurde Tante Parnetta getröstet. Vom Schlafzimmer. Vom Schnarchen des alten Filo, nachdem er laut schnaufend mit ihr geschlafen hatte. Von der grau und blau gestreiften Tapete mit den Wasserflecken. Vom Ofenrohr, das sich die Wand hinaufringelte wie ein Schweineschwanz. Von der Frisierkommode mit dem kleinen Deckchen und ihrer Haarbürste. Von den Bildern ihrer Enkel. Einem türkisfarbenen Coyoten und einer geisterhaften Figur, von welcher der Junge behauptet hatte, das sei Running Wind.
Sie fiel in einen leichten Schlaf, in dem die weißen Sterne vom Himmel herabgeweht wurden, flatternd wie die weißen Laken an der Leine. Sie stieß Filo leicht an, seinen Rechen zu holen. Er ging auf sie los. Parnetta erwachte und setzte sich auf die Bettkante.
»Soll ich den Kühlschrank noch mit was anderem zudecken?« fragte Filo verschlafen.
»Nein«, antwortete Tante Parnetta. »Außer, es wäre die Polareisschicht.«
Jetzt träumte sie von der Reise nach Minnesota, als sie ein Mädchen war. Parnetta sah sich in kariertem Hemd und mit Zöpfen. War ihr Haar so dunkel gewesen? Jetzt hatte es graue Strähnen. Alles war wie in einer Kinderzeichnung. Übertrieben. So wie manchmal Träume. In der linken Ecke des Bildes eine Sonne. Eine Spur Rauch aus dem Kamin des schmalen Hauses. Es war kalt. So kalt, daß alles knirschte. Noch spät in der Nacht hörte sie Autos. Früh morgens entwich Dampf aus dem Auspuff. Die Scheibe aus Fensterglas in der Vordertür war ganz woanders gewesen. Im Frost tauchten alte Schriftzüge auf. Knochen erinnerten sich in der Kälte an ihre Schmerzen. Zähne an ihre Schäden. So wie Parnetta sich an alles Schlechte erinnerte, das geschehen war. Daran ergötzte sie sich.
Der kalte Ort schrumpfte zu einem kleinen vertikalen Rechteck in ihrer Brust zusammen, darin der Fisch, den ihr Enkel im Fluß gefangen hatte. Dort war dieser kalte Ort. Genau in ihrem Herzen. Das nicht mehr pulsierte wie die Leuchtreklamen, die sie in der Stadt gesehen hatte. Sie war der Minnesota-Winter, an den sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte. Der Strom, den sie verbrauchte, um sich kalt zu halten! Die Energie. Der Mond über ihr, wie eine Deckenlampe. Die Sterne waren Löcher, durch die es hereinregnete. Überlaufende Eimer. Alle wie Parnetta. Das Brrrrrrr des Kühlschranks. Aus. An. Die ganze Nacht. Diese weiße Kiste. Ein wilder Eber! Das muß man sich mal vorstellen. Sie wußte nicht immer, warum sie schlechtgelaunt war. Es war einfach so. Sie sah sich selbst als Kühlschrank. Ein gefrorener Fisch, hart wie ein Backstein. Der Große Geist hatte sie festgenagelt. Vielleicht würde sie ihr Herz finden, falls sie irgendwo in ihrer Brust nachschauen würde?
Brrrrr. Rat-tat-at-rat. Brrrrr. Der Kühlschrank fing wieder an, und entsetzt erwachte sie und schwankte leicht auf dem Bettrand, während er lärmte.
Aber sie war wie eine Fremde in dieser Welt. Eine Indianerin im Land des Weißen Mannes. »Sogar der Kühlschrank ist weiß«, erzählte Parnetta dem Großen Geist.
»War nicht jeder ein Fremder und ein Wanderer?« Der Große Geist schien zu ihr zu sprechen, oder es waren ihre eigenen Gedanken, die ihr im Kopf herumzogen.
»Nein«, beharrte Parnetta. Manche Menschen fühlen sich auf dieser Erde zu Hause, bewegen sich mühelos. Sie wollte dem Großen Geist später noch mehr Fragen darüber stellen. Schließlich riß er das Leben aus ihr heraus wie den Sicherungsstift einer Handgranate.
Plötzlich bemerkte Parnetta, daß sie andauernd stöhnte, wie der Kühlschrank. Vielleicht verärgerte sie den Großen Geist, so wie die weiße Kiste sie verärgerte. Empfanden die anderen das auch so? War das die Rache des Großen Geistes? Da saß sie nun auf der billigsten Kiste aus diesem Laden. Gab es nicht tatsächlich in ihren Ängsten einen weißen Eber, der ins Zimmer hereinbrechen und sie auffressen würde, sobald sie sich beruhigte und einschlief?
Hatte sie nicht in allem das Schlimmste gesehen? Wog sie sich im Winter nicht mit angezogenem Mantel? Manchmal auch noch in die Decke gehüllt?
»Filo?« Sie wandte sich an ihn. Aber er war weit weg. Weiter als Minnesota.
»Nein. Denk doch mal darüber nach, Parnetta«, schienen ihre Gedanken ihr zu sagen. Der Geist hatte ihr Leben beschützt. Aber in dem weißen Kühlschrank in ihr – in den Spulen – brauste ein eisiger Fluß. Ein Gletscher schnitt sich seinen Weg durch einen Kontinent. Alles seit Ewigkeiten vereist. Benötigte dringend ein Keetowah-Feuer. Hitze. Die Wärme des Großen Geistes. Filo war bloß ein Funke. Er konnte sie nicht wärmen. Obwohl er es versuchte.
Vielleicht hatte der Große Geist ihr einen Gefallen getan. Hoffnung gleißte in ihrem Kopf, wie weiße Sternfunken. Elektrische Blasen! MOMENTWEISE! Sie konnte still sein. Sie war eins mit dem Geist. Er hatte ihr nur eine Minute lang den Stecker herausgezogen. Schoß mit seiner Flinte genau durch ihren Kopf.
Die Blätter dröhnten und spuckten weiße Funken in den Himmel. Ein Vulkan vom Mond. Ein Ausbruch ins Firmament. Sandte seine weiße Funken herab, wie die Feuerrädchen, die Filo immer an die Bäume nagelte. Es waren die hellen Funken des Keetowah-Feuers, des heiligen Freudenfeuers, das kleinere Feuer entfachte, die die Reinigung durch den Großen Geist in jedes Haus brachten. In jedes zähe alte Fichtenzapfenherz.
Die Julisonne machte die Prärie eben wie einen Tisch, und an dem saß Keyo in der Schule, und hatte Schwierigkeiten. Er war der Älteste in der Klasse und konnte immer noch nicht lesen. Unter seinen Augen bewegten sich die Wörter, und es tat sich nichts. Es hätten genausogut Fledermäuse oder Geister sein können, solche, die sich nachts auf die Hütte stürzen. Er war nie sicher.
Die Lehrerin schaute wieder vom Fenster her. Sie seufzte und wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn. Sie zeigte auf die Konsonanten. Diese Woche war das l dran. Er mußte die Wörter lesen, die mit l anfingen und auf den ersten Laut in jedem Wort achten. Lila, Luchs, Licht, LESEN! Dann diktierte die Lehrerin ihm Silben. Ble, dle, ple, gle. Dann mußte er einen Absatz lesen und ihre Fragen beantworten. Aber er wußte die Antworten nie, weil er den Absatz nicht lesen konnte.
Die Lehrerin gab ihm die neuen Wörter für die nächste Woche. Es waren schwarze Flecken auf der Seite, brutal wie ein Schrotschuß. Stärker als er. Wie gern säße er jetzt im Laster seines Bruders. Wenn sie den bloß ankriegten, sie würden nach Chickasha fahren, nach Oklahoma und sich die Nacht vollaufen lassen. Als die Frau aufstand und aus dem Raum ging, schlug Keyo das Buch zu.
Die ganze Welt schmorte. Der rote Boden aufgepflügt für den Mais, zitterte in den Äckern, klatschte mit dürren Händen. Die Sonne rollte immer Richtung Südwest, über die Ebenen, ohne Halt, wie der Wind, wie der weiße Mann. Nein, Indianer kamen nicht vor auf dem Papier. Alle Wörter auf der Seite waren in Bewegung, sie flatterten unter seinen Augen. Sie waren die Stadt in der Ferne, und er war draußen. Seine Brüder waren fortgegangen und wiedergekommen. Egal wie viele Winter und Sommer Keyo in der Schule bliebe, er wußte, er würde es auch nicht schaffen.
Vor dem Fenster sah er eine Futterkrippe auf Pfählen, Äcker, die sich jeden Tag in der Hitze veränderten, den gleißenden Himmel. Wie konnte er sein ganzes Leben im Klassenzimmer sitzen und nichts wissen? Wie konnten die Wörter, diese kleinen Nagetiere, vor ihm davonlaufen und sich auf der Seite verkriechen? Manchmal kam aus dem Buch nur noch ein matter Schein.