Das Freudenhaus
Henry Jaeger, Das Freudenhaus
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Markgrafenstraße 12, 60487 Frankfurt
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Umschlag: Kunststück, Claudia Manns
Printed in Germany
ISBN 978-3-943758-03-0
Auch als Ebook unter 978-3-943758-04-7 erhältlich
ERSTES KAPITEL
ZWEITES KAPITEL
DRITTES KAPITEL
VIERTES KAPITEL
FÜNFTES KAPITEL
SECHSTES KAPITEL
SIEBENTES KAPITEL
ACHTES KAPITEL
NEUNTES KAPITEL
ZEHNTES KAPITEL
ELFTES KAPITEL
ZWÖLFTES KAPITEL
DREIZEHNTES KAPITEL
VIERZEHNTES KAPITEL
FÜNFZEHNTES KAPITEL
SECHZEHNTES KAPITEL
SIEBZEHNTES KAPITEL
ACHTZEHNTES KAPITEL
NEUNZEHNTES KAPITEL
ZWANZIGSTES KAPITEL
EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL
ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL
FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL
SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL
SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL
ACHTUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Ehe er ging, sagte er: »Die Zeit der Liliputaner ist vorbei.«
Leopold Grün nickte.
»Auch du, als Hundemensch, hast hier keine Zukunft mehr.«
Leopold Grün nickte.
»Ich beherrsche den Salto vorwärts und halte dabei ein Tablett mit acht gefüllten Wassergläsern auf der Hand. Ohne einen Tropfen zu verschütten! Aber was hilft mir das? – Und du? Du hattest einen Hund, der rechnen konnte. Heute bist du der einzige Hundemensch der Welt – niemand kann einen Hund so gut imitieren wie du. Aber was nützt dir das? Sehr klug von dir, jetzt zu heiraten«, sagte der Liliputaner Emil.
»Sie besitzt ein Restaurant und ein Haus. Sie ist sehr vermögend«, sagte Leopold Grün und nickte wieder vor sich hin.
»Ich muß gehen. Zeit für meinen Auftritt.«
Emil war ein Lückenbüßer des Zirkus Adolfo, hatte die längeren Pausen während der Vorstellung mit seinen Späßchen zu garnieren. Dafür kassierte er das Lachen der Zuschauer, aber nur eine geringe Gage. Es gab noch einen Mann unter den Artisten, der ebensowenig verdiente wie er: der Hundemensch, mit dem Emil seit Jahren den kleinen Wohnwagen teilte.
Eine Ungerechtigkeit war es. Darüber sprachen sie oft. Lachten die Zuschauer etwa nicht sofort, wenn er auf seinen kurzen Beinchen durch die Manege wirbelte, das Sägemehl aufstäubend, mit dröhnendem Baß rufend: »Und schon ist Emil wieder da!«
Die Zuschauer lachten über die Ungerechtigkeit, fanden es erheiternd, von Beruf Liliputaner zu sein.
Von allen Kränkungen aber, die Emil in seinem Dasein als Liliputaner erfahren hatte, empfand er eine als besonders schwer, daß er nicht in der Lage war, die Rinne des Pissoirs zu erreichen. Eine Erniedrigung, die sich täglich wiederholte, die ihm auch jetzt wieder zu Bewußtsein kam, als er am Toilettenwagen des Zirkus Adolfo vorbeiging.
Hoch ragte das Zirkuszelt vor ihm auf. Er ging darauf zu, verschwand darin, als habe ihn der in die Dunkelheit hinausleuchtende Eingang verschluckt.
Wenige Minuten später erschien er in der Manege, forderte wieder die harmlose Schadenfreude aller Zuschauer heraus.
Sein Alter war nicht zu schätzen. Er trug einen grobkarierten Anzug, zwei Nummern zu groß, eine weiße Chrysantheme aus Papier im Knopfloch, auf dem Kopf ein Tirolerhütchen, an dem eine lange Feder wippte. Statt der Knöpfe hielt eine riesige Sicherheitsnadel seine Jacke über der Brust zusammen. Es war, als trage er eine Uniform, die seine Disharmonie spaßig tarnte. Auch die Schminke war gnädig und verbarg das schrullige Mißverhältnis seines Gesichts. Nur die große Nase ragte knollig hervor. Sie blieb unmaskiert. Sie hatte ihm viele Anzüglichkeiten eingetragen. Die frivolen Witzeleien seiner Zirkuskollegen beschäftigten sich besonders gern mit der Formel: Wie die Nase des Mannes, so sein Johannes.
Sie trafen ihn damit an einer empfindlichen Stelle, von der er stets behauptete, dort könne er mit jedem anderen Mann konkurrieren. Dazu holte er mitunter Leopold und erhob ihn zu seinem Zeugen: »Erinnerst du dich an London? Nachts, in so einem gewissen Lokal? Ich wollte eine Frau haben. Ich habe sie auch gekriegt, eine große Frau. Und was sagte sie, als ich mit ihr zurückkam, Leopold?«
Es klang wie der Eid eines Entlastungszeugen, wenn Leopold bestätigte: »Er ist stark wie ein Roß, sagte sie.«
Dann lachte Emil stolz in urmännlichem Baß und sann der beglückenden Erinnerung nach.
Übertrieben die Spötter den Spaß, wurde er plötzlich zornig, griff an, wagte sich an kräftige Männer, die vor seinem tierhaften Aufbrüllen lachend davonliefen. Es gelang ihm nie, einen der Langbeinigen zu fassen. Er zog sich nach diesen Niederlagen grollend in den Wohnwagen zurück, klagte bei Leopold, den er seinen Freund nannte.
In dem kleinen Wohnwagen gab es zwei Kojen zum Schlafen, einen Tisch, für jeden Mann einen Stuhl, und von der Decke hing eine Glühbirne. Auf dem Zeltplatz standen jedoch auch Wagen für höhere Ansprüche, den Glanznummern des Zirkus Adolfo vorbehalten, den Luftakrobaten, den Dompteuren. Aber bis zum Dompteur hatte Leopold Grün es nie gebracht, obwohl er ein paar Jahre lang von einer sensationellen Tigerschau geträumt hatte: er, mit der Peitsche knallend, der Beherrscher der gefährlichen Raubkatzen. Es war die Übersetzung eines Wunschtraumes seiner Rekrutenzeit: er sah sich damals als Oberfeldwebel, der einige Züge kommandierte. Er ließ sie auch später noch, ein Obergefreiter in Kriegsgefangenschaft, im Stechschritt an sich vorbeidefilieren.
Warum er, der gelernte Buchhalter und Sohn eines Oberbuchhalters zum Zirkus gegangen war, war ihm selbst rätselhaft. Eine Frau hatte ihn gedemütigt. Er war der geschiedene Mann einer fröhlichen Blondine, die ihr üppiges Fleisch auch einem anderen geboten hatte. Dieser Nebenbuhler hatte es sich gemütlich gemacht in Leopolds Ehebetten. Leopold Grün entdeckte die beiden und rief: »Ertappt!« Er erwartete sie zum Verhör in der Küche, wo ihm der Liebhaber mit einer Bratpfanne auf den Kopf schlug, was Frau Grün, die einen herzhaften Spaß liebte, sehr erheiternd fand.
Er griff nicht an, gab seine Stellung auf und floh zum Zirkus – in die Rolle eines Dompteurs. Aber er wagte es nie, den Raubtierkäfig zu betreten. Wenn er es überdachte, mußte er sein Versagen auf ein Geräusch zurückführen, das er einmal, neben dem Tigerkäfig stehend, gehört hatte: das Magenknurren einer Raubkatze. Die Drohung war unüberhörbar gewesen. Und sie war schuld daran, daß er in diesem kleinen Wagen geblieben war.
Adolfo hatte ihn in der Buchhaltung angestellt. Und während er dort wieder Zahlenkolonnen addierte, dressierte er in seiner Freizeit einen schwarzweißen Spitz mit Fleiß und unermüdlicher Zähigkeit. Er hatte endlich das Wesen gefunden, das seinem Willen völlig untertan war. Er ließ ihn auf den Vorderpfoten über ein schmales Brett balancieren, kleidete ihn wie den gestiefelten Kater, der militärisch grüßend an ihm vorbeizog. Schließlich erlernte der Hund auch das Rechnen. »Dreimal drei? Vier und vier?« Er bellte die Ergebnisse ohne Fehler.
Die Manege war frei für die Hundenummer!
Der Hund diente ihm brav sieben Jahre. Dann starb er an Altersschwäche. Da es für Leopold Grün keine bessere Verwendung gab, mußte er selbst den Hund spielen. In einem aus Wollstoff zusammengenähten Hundefell hatte er in der Manege umherzutappen, als Einlage des Kraftaktes, den der Athlet Adolfo vorführte. Die Gage sank. Schnüffelnd, mit der Nase am Boden, das Bein hebend, wie das Hündische es verlangte, wofür ihm schließlich der starke Adolfo einen gewaltigen Tritt in den Hintern gab, mußte er sich durchschlagen.
Zu seinem Ärger erhielt er den Namen »der Hundemensch«. Und von einer gewissen Zeit an sagte er sich, daß er ein Mann war, der von Fußtritten lebte, die ihm zweimal täglich gegeben wurden.
Den ersten Tritt hatte er jetzt hinter sich – die Nachmittagsvorstellung. Er war hart gewesen, wie immer. Den zweiten fürchtete er bereits. Aber es blieb ihm noch etwas Zeit. Nur noch dieser letzte Tritt war zu überstehen. Wahrscheinlich würden sie noch in der Nacht abreisen. Rosa hatte geschrieben, sie wolle ihn abholen.
Witwe mit Hausbesitz! Sie hatte auf seine Annonce geantwortet, in der er sich anpries: »Artist mit Ersparnissen …« Die Reue über die Kühnheit seines Lebensplanes hatte ihm dieses Heiratsinserat diktiert, denn mit neunundvierzig Jahren kam die Angst vor dem Alter. Nicht die Furcht vor Krankheit und Gebrechen, aber das Unbehagen schlich sich heran, die Vorstellung, das Leben eines alten alleinstehenden Mannes führen zu müssen.
Sie hatten Briefe geschrieben, und darin hatten sie sich beteuert, daß sie zwar noch nicht zu alt seien für Liebe und Gefühle, sich jedoch einem Abschnitt ihres Lebens näherten, in dem es wichtig wäre, einen Vertrauten zu haben.
Auch Bilder waren getauscht worden. Eine kleine Warze auf der rechten Wange … Ob er sich daran störe? Aber nein, die Warze störe ihn überhaupt nicht.
Die Bilder zeigten ein kräftig gebautes Weib, vollbusig, mit Doppelkinn und kompakten Armen. Das ist etwas Solides, dachte Leopold Grün. Er hatte von jeher eine Schwäche für üppige Frauen.
Es war höchste Zeit abzuspringen, sich in die Sicherheit zu flüchten. Wenn Emil wie so oft von der Agonie des Zirkus sprach, sagte er: »Weißt du, wen sie zuerst abbauen? Mich, den Liliputaner, und dann dich, den Hundemenschen!«
Diese Bezeichnung gefiel Leopold Grün nicht, auch nicht, wenn Freunde ihn so nannten. Immerhin stammte er von einer leidlich angesehenen Familie ab. Er besaß zwar keine Bilder, nichts, womit er seine solide Familie beweisen konnte. Aber war er etwa nicht der Sohn eines Oberbuchhalters? Eine Familie, eine gesunde, runde Familie waren sie gewesen. Seine Mutter: ein wenig fett, etwas asthmatisch, sein Vater: streng, aber korrekt, mit scharfem Blick und einem Kneifer auf der Nase. Und neben ihm, dem Sohn, gab es zwei Schwestern: mit Zöpfen, später mit Männern, die er nicht schätzte.
Und dann kam der Krieg, zersplitterte die Familie. Da lebten noch die Schwestern mit Kindern, irgendwo. Aber er hatte die Verbindung nicht gesucht. Er wußte, was sie über ihn und den Zirkus gesagt hätten.
Von morgen an würde er nicht mehr in einem Wagen wohnen. Und Rosa? Sie würde neben ihm in einem weißbezogenen Bett liegen. Er dachte auch an die ehelichen Pflichten, und das veranlaßte ihn zur Prüfung eines Körperteils, der bei jedem seiner Auftritte besonders zu leiden hatte.
Er zog seinen alten Frottiermantel aus und stand nun nackt vor dem großen Schminkspiegel, versuchte, sein Hinterteil zu betrachten. Nach einigen Verrenkungen konnte er die Spuren des Kraftmenschen darauf erkennen: blaue Flecke neben grünlichen Malen, die ihm der Athletenfuß vor längerer Zeit beigebracht hatte.
Er überlegte, wie er ihr diesen gedemütigten Körperteil verbergen könne. Witwe mit Hausbesitz, noch munter, mit gewissen zärtlichen Andeutungen auf pastellfarbenem Briefpapier. Sie würde Anforderungen stellen. Sie sei gesund, schrieb sie, außerdem eine Frohnatur. Und sie habe noch alle Zähne, was ja schließlich ein Beweis für Gesundheit wäre.
Der nackte Leopold Grün musterte sich im Spiegel, prüfte, ob er ebenbürtig sei. War er etwa nicht gesund? Ein wenig Haarausfall – ja. Aber da konnte man sich später ein Toupet kaufen. Das hatte er schon mehrfach erwogen, doch die Summe hatte ihn erschreckt. Fünfhundert Mark schienen ihm ein sündhaftes Geld für ein paar Haare.
Er griff sich an den Bauch, drehte sich, sah ihn von der Seite. Natürlich, etwas Bauch setze ich da schon an – aber nur ein wenig! Und unter dem Bauch? Er prüfte auch das, musterte es leicht zweifelnd, aber noch voller Hoffnung. Man würde sehen. Jedenfalls war er gesund. Er fühlte sich ebenbürtig und der Zukunft gewachsen.
Emil kam zurück. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht. Er hatte wieder einmal für wenig Geld viel geleistet.
Die beiden ungleichen Männer bewegten sich in der Enge des Wagens wie Hanswurste auf einer schmalen Bühne. Leopold Grün trug jetzt sein rotweiß gestreiftes Trikot mit den halblangen Beinen, das aussah wie ein Badeanzug um die Jahrhundertwende.
»Geh mir aus dem Weg!« knurrte Leopold. »Was hast du da ständig ’rumzuwuseln, wenn ich mich schminke!«
Sorgfältig zog er die Linien seines Gesichts nach, vergröberte die Mundpartie mit Rot und Weiß, legte schwarze Dreiecke unter die Augen, die nun melancholisch wurden.
»Es ist unser letzter Abend«, seufzte Emil.
Leopold wandte sich vom Spiegel ab und blickte Emil an, der auf einer der Kojen saß. Seine krummen Beinchen baumelten im Sitzen herunter, ohne den Boden zu erreichen.
Sie warteten auf ihren Auftritt.
So hatten sie oft gesessen und gewartet. Die Glühbirne leuchtete sie an. Sie waren wie Karikaturen von Männern.
Das Hundefell lag schon bereit, und Leopold Grün würde bald sagen:
»Hilf mir in das Fell …«
»Erinnerst du dich«, fragte Emil, »als ich zu dir in den Wagen kam? Das war in Holland. Wie hieß diese Stadt wieder? Damals war der Zirkus noch groß.«
»Ja, ich erinnere mich.«
»In Schweden war es kalt, aber Schweden war schön. Wir standen neben einem Jahrmarkt. Du gingst jeden Tag zu einer Schaubude, einem Flohzirkus. Die Flöhe hatten es dir angetan. Als dein Hund starb, hast du da nicht davon gesprochen, daß du vielleicht selbst einen Flohzirkus aufmachen würdest?«
»Ja, ich erinnere mich. Man könnte davon leben. Ich habe mit dem Schausteller manchen Aquavit getrunken. Er hat mir alles über Flöhe beigebracht.«
»Jetzt ist der Zirkus tot. Du wirst sehen, das geht nicht mehr lange. Ich bin bei den ersten, die abgetakelt werden. Und wo soll ich dann hingehen – als Liliputaner?«
»Zu mir! Glaubst du etwa, ich ließe dich im Stich? Ich werde ein Restaurant führen. Du hast meine Adresse. Wenn es dir schlecht geht, dann kommst du zu mir!« Leopold Grün sprach mit Pathos.
»Ich will es mir merken«, sagte Emil. »Du hast es gerade noch geschafft, noch rechtzeitig abgesprungen. Willst du sie gleich heiraten? Du kennst sie doch gar nicht.«
»Doch, wir kennen uns, wir schreiben uns schon seit Monaten.«
»Hoffentlich geht nichts schief … Du warst schon einmal verheiratet …«
»Erinnere mich nicht daran!« rief Leopold.
»Ich glaube nicht, daß ich heiraten werde«, murmelte Emil. Sie schwiegen, saßen sich gegenüber auf den Kojen. Vom Zelt her war Lachen und prasselnder Beifall zu hören.
Sie waren schon beklommen vom Abschied. Emil, der Liliputaner, erwog seine Heiratsmöglichkeiten, dachte daran, daß ihm vielleicht eine hübsche Liliputanerin über den Weg laufen könne, dämpfte jedoch diese Hoffnung mit der Erkenntnis: Leider gibt es nur wenige hübsche Liliputanerinnen.
Die Kapelle schmetterte den Tusch. Dann rief der Ansager durch das Mikrophon: »Jetzt kommt der große Adolfo!«
Hereinmarschiert kam dieses Muskelbündel mit dem lockigen Blondhaar, mit wehendem Seidenmantel über dem Trikot, mit herausgedrücktem Brustkorb, mit wichtigem Gesicht, aufgeplustert in dem Bewußtsein, ein starker Mann zu sein. Und dazu spielte die Kapelle den Einzugsmarsch der Gladiatoren.
Eilfertige Diener nahmen dem stolz Umherblickenden den Seidenmantel von der Schulter. Dann stand er inmitten der Manege, breitete die Arme aus zum Gruß an alle. Er spreizte sich wie ein Pfau, zeigte seine Muskeln in der Bewegung, ließ sie schwellen, daß die Muskelstränge aussahen wie Schlangen, die sich um seine Glieder ringelten.
Alles an diesem Mann mißfiel Leopold Grün, der sich im Hundefell hinter dem Vorhang am Eingang der Manege herumdrückte und auf sein Stichwort wartete.
Aber noch blieb etwas Zeit. Der Sprecher deutete auf den Athleten und rief: »Sie sehen den großen Adolfo in seiner einmaligen Nummer, wie er Eisenstangen und Hufeisen biegt, als wären sie aus dünnem Draht! Sodann hantiert Adolfo mit Zentnergewichten – einarmig und beidarmig! Er stößt, stemmt und reißt! Sodann fängt er mit dem Genick Granaten und Bomben auf, die mittels eines Schleuderbrettes hochgeschnellt werden! Im vorigen Jahr hat in England einer der stärksten Männer der Welt diese Nummer nachmachen wollen. Die Bombe zerschmetterte ihm das Genick! Meine Damen und Herren: Sie sehen den großen Adolfo in seinem Spiel mit dem Tode!«
Danach kamen die Helfer und rollten unter Grimassen die Bomben und Granaten in die Manege. Jeder konnte sehen, welche Gewichte dort transportiert wurden. Die Bomben fielen einige Male um, rissen auch zwei oder drei der Helfer mit zu Boden. Stolz lächelte der große Adolfo.
Leopold Grün kannte diese einstudierte Vorstellung. Er nannte das Theater, und es gefiel ihm nicht. Außerdem schien ihm seine Nummer völlig sinnlos. Sie war eingefügt worden, paßte nicht in den Kraftakt. Der große Adolfo brauchte Atempausen. Er war in den letzten zwei Jahren kurzatmig geworden, denn der große Adolfo soff. Er schüttete beträchtliche Mengen Bier, Wein und Schnaps in sich hinein und hatte sich mit dieser Lebensweise auch schon einen Bauch angesoffen. Unter dem Trikot mußte er deshalb ein Korsett tragen. Er war der Bruder des Inhabers, und oft polterte es in dem Wagen der Brüder, wenn sie sich schlugen, weil der Besitzer keinen Schnaps, kein Bier und kein Geld spendieren wollte.
»Wir sind ruiniert!« warnte der Bruder.
»Du kannst mich am Arsch lecken! Ich brauche Bier!« rief der große Adolfo.
So ging das seit zwei Jahren. Es war ein Zirkus auf Abruf, ein gefährdetes Unternehmen, das sich von heute auf morgen in ein Nichts auflösen konnte.
Adolfo bog Eisenstangen. Seine Muskeln hüpften. Tusch der Kapelle! Beifall! Ein lächelnder Athlet. Und nun wurden die zentnerschweren Gewichte gehoben, gestemmt, gerissen. Beifall! Das Schleuderbrett wurde vorbereitet. Und diese Vorbereitung war das Stichwort für Leopold Grün.
In die Manege trottete ein Hund – schwarzweiß gefleckt, mit hängenden Ohren, mit einem traurigen Hundegesicht. Und dies war der erste Teil seiner Nummer. Er wedelte mit dem Schweif, schnupperte an den Granaten, hob auch das Bein. Der große Adolfo scheuchte das Tier entrüstet fort. Hundsgeschnupper, Hundsgebaren, das hatte er gelernt, der Hundemensch. Jahre hatte er damit verbracht, seinen Hund zu belauschen, die Seele seines Hundes zu erkennen. Und nun war jeder Schritt echt.
Es war eine Anstrengung. Der Mann in dem Hundefell keuchte bereits nach wenigen Sprüngen. Die Zuschauer lachten. Aus zwei Löchern im Fell konnte er sie sehen. Sein Auftritt hatte Nuancen. Jetzt mußte er an den Rand der Manege hoppeln und einige der Frauen beschnuppern, nur in der Andeutung. Das Bein heben! Die Zuschauer kreischten auf. Ein komischer Tapser mit der rechten Vorderpfote, alles einstudiert, tausendmal vorgeführt, dem Hundeleben nachgeahmt.
Adolfo schnaufte. Die Eisenstangen und Gewichte hatten ihn angestrengt. Er stand mit verschränkten Armen, musterte mit gemäßigter Verachtung die Mühen der Manegehelfer. Er stand jetzt im Scheinwerferlicht wie sein eigenes Denkmal.
Leopold Grün lief seine Kreise. Vier Minuten lang mußte er die Lücke füllen, sie zum Lachen bringen, seine Pflicht erfüllen. Auf dem Manegenrand kreiste er, trieb seine Hundespäße.
Und plötzlich, die Zuschauer fanden es komisch, stutzte der Hund, hielt wie erschreckt mitten in der Bewegung inne, ließ die aufgehobene Vorderpfote wie erstarrt eine Sekunde oben und sprang dann mit einem Satz zurück in die Manege.
Auf allen vieren hatte er vor Rosa gekauert. Mit einem Silberfuchs um die wuchtigen Schultern saß sie in der Loge, lachte und hieb sich mit der rechten Hand auf den Schenkel. Sie war bereit gewesen, auf den Spaß des Hundes einzugehen, lachte noch immer schallend, während der Hund hinaustrottete und sich noch einmal furchtsam nach ihr umwandte, als sei er beleidigt worden.
Adolfo fing die Granaten auf. Sie landeten in seinem Genick. Die Zuschauerrunde spendete Beifall. Leopold Grün stand wieder hinter dem Vorhang. Er schnaufte nicht weniger als der große Adolfo. Der Schreck steckte ihm noch in den Gliedern. Um Gottes willen! dachte er. Um Gottes willen!
Und jetzt kam die erste Bombe, der Stahlmantel einer Bombe, immerhin noch schwer genug, einem Mann das Genick zu zerschmettern.
Aufgefangen und Bravo!
Der Athlet lächelte. Ein Sieger, der für den Applaus dankte, der aber eine Pause brauchte.
Nun begann der letzte Teil der Hundenummer, vor der schweren Bombe, der Krönung des Kraftakts.
Leopold Grün trottete herein. Er äugte hinüber nach der Loge. Ja, da saß sie: eine markante Erscheinung im Pelz. Und während er seine Späßchen wiederholte, dachte er: etwas Solides!
Jetzt mußte er sich heranpirschen an den Fußtritt, der seine Nummer beendete. Adolfo wartete, bis die letzte, die schwerste Bombe, auf das Schleuderbrett gerollt wurde. Der Hund hob das Bein, schien den Athleten anzupissen. Dies war der Höhepunkt der Hundenummer: der empörte Adolfo trat zu. Der Hund überkugelte sich. Und während er ins Sägemehl kullerte, riß Leopold Grün die Druckknöpfe des Hundefells auf. Heraus kam ein Clown in einem rotweißen Badetrikot, heraus kam die Maske, ein plärrender Hanswurst, der, sich den Hintern reibend, mit seinem Geplärre davonstob, aus der Manege hinaus. Die Zuschauer brüllten vor Lachen. Leopold Grün war fertig mit dem Zirkus, fertig mit dem Hundeleben. Dies war der letzte Tritt, den er in seinem Leben hinnehmen mußte.
Langsam dämmerte ihr die Erkenntnis, daß sie sich begegnet waren. Auge in Auge, wie sie verblüfft feststellte. Und dabei hatte sie sich diese erste Begegnung ganz anders gedacht.
Sie war in der Stadt angekommen, hatte ein Taxi genommen und war zum Zirkus gefahren. Der beste Logenplatz mußte es sein. Aber ehe sie sich dort auf die Samtpolster setzte, fragte sie nach dem Artisten Leopold Grün. Irgendwer hatte ihr gesagt, das sei der Hundemensch. Aber sie dürfe jetzt nicht stören.
Nein, das schien ihr auch nicht klug. Sie wollte keine Fehler machen. Schließlich würde sie ihn während der Vorstellung sehen. Sie hoffte, daß auch er sie erkennen, daß er ihre Erscheinung und den teuren Logenplatz würdigen würde.
Sie rückte ihren Pelz zurecht, stellte die Krokodilledertasche auf die Knie – jeder konnte sehen, daß es tatsächlich Krokodilleder war. Sie hielt beide Hände so auf die Tasche gestützt, daß ihre zwei Brillantringe in Richtung der Manege funkelten. Sie war aufgeregt, aber entschlossen. Die Warze auf der rechten Wange war überpudert, das Korsett saß stramm. Die Lippen geschminkt, die Haare frisch onduliert, so wartete sie, daß ihr Athlet erscheinen würde. Aber sie sah ihn nicht. Als die Vorstellung zu Ende war, begriff sie, daß ihr Leopold in dem schäbigen Hundefell gesteckt hatte.
Sie hatte sich durchgefragt, war über Pflöcke und Halteseile weggestiegen, war vor einem Schild »Vorsicht Löwen!« kurz erschrocken, hatte aber nicht aufgegeben und kam an, als Leopold gerade die Reste seiner Maske abwischte. Er stand über eine Waschschüssel gebeugt.
Die beiden Männer erstarrten, als sie plötzlich erschien. Sie füllte den Rahmen der Wagentür aus. Der Liliputaner hopste erschrocken von der Koje herunter. Leopold Grün regte sich nicht. Er stand in seinem rotweißen Badetrikot und fühlte sich wie ertappt.
Noch atemlos von der Suche nach ihm sagte sie: »Aber Leopold, du bist ja gar kein Artist! Du bist ja nur …« Sie war enttäuscht, fürchtete aber bei der ersten Begegnung einen Fehler zu machen.
Und dabei hatte sie schon mit ihm geprahlt. Es gab da einige Menschen, denen sie von ihrem Glück erzählt hatte. Ein Artist! Man hatte an verschiedene Möglichkeiten gedacht – Elefanten, Löwen, Tiger, Akrobat.
»Einen Augenblick«, entschuldigte er sich und trocknete sein Gesicht ab. Er wandte ihr den Rücken zu, begann nun, seine Hände zu waschen, war verlegen, hatte ihre Enttäuschung nicht übersehen können. Er wollte Zeit gewinnen, wollte retten, was vielleicht noch zu retten war. Aber ganz gegen seinen Willen griff er an: »Ich bin dir wohl nicht gut genug, wie?«
Und da dachte Rosa: Seine Stimme ist nicht schlecht. Sie war zufrieden, etwas gefunden zu haben, das ihr gefiel. Außerdem mußte man abwarten, wie er aussehen würde, wenn er aus diesem lächerlichen Trikot herausgestiegen wäre.
»Du hast wohl gedacht, ich mache in meinem Alter noch den Salto mortale oder so etwas?«
Ob er wohl schon gepackt hatte? Wie lange dauerte das hier noch? Und es roch schlecht in diesem Wagen.
Nein, an den Salto mortale habe sie nicht gedacht. Sie suchte nach Worten. Aus den halblangen Trikotbeinen sah sie seine behaarten Waden hervorlugen. Emil, der Liliputaner, drehte sein Hütchen in den Händen. Er wäre gern zur Tür hinausgeschlüpft, aber da stand dieses einschüchternde Weib und versperrte den Weg.
Leopold wusch noch immer seine Hände, sprach in die entgegengesetzte Richtung, mit dem Rücken zu ihr: »Ich denke, meine Nummer war so gut wie viele andere.«
Er hatte ruhig gesprochen, ein wenig unsicher, noch zögernd. Aber jetzt hob er plötzlich die Stimme: Was denke sie wohl! Sie solle doch mal hineinsteigen in so ein Hundefell! Da würde sie staunen, wie schwierig das wäre. Und dann immer so hopp-hopp-hopp durch die Manege, auf allen vieren. Da würde ihr sehr bald die Luft ausgehen!
»Jawohl!« sagte der Liliputaner.
Noch immer stand er mit dem Rücken zu ihr. Und nun setzte er an zu seiner großen Verteidigungsrede – in die verkehrte Richtung. Er hielt ein Plädoyer zur Ehrenrettung seines Lebens. Jawohl! In diesem Hundefell sei er jahrelang durch die Manege gehopst. Aber was mache das schon aus, daß er einer der Kleinen sei? Sie solle doch gefälligst mal nachdenken: die Kleinen wären es, die ein großes Unternehmen hochhielten. Das wäre genauso wie im Staat. Die Großen ständen auf den Schultern der Kleinen.
Und dann sprach er über den Fußtritt. Ob sie sich etwa einbilde, das sei ein Vergnügen? Und dabei müsse er einen Salto nach vorn machen und sich während des Fallens aus dem Hundefell herauspellen. Ob das wohl gar nichts wäre! Das sehe so ungefährlich aus, aber oho, da täusche sie sich! Spuren könne er zeigen, Spuren seiner Artistentätigkeit: die blauen Flecke aus der Hundenummer …
Er hielt mitten in seiner Verteidigungsrede ein. Es schien ihm doch zu lächerlich, bereits jetzt sein Hinterteil zu erwähnen. Er faßte seine Ansprache zusammen, rief, ihr noch immer den Rücken zukehrend: »Ich habe die Welt gesehen! Und die Welt hat mich gesehen und hat über mich gelacht!«
»Jawohl!« bekräftigte der Liliputaner.
Sie hatte Atem geholt und den Mund geöffnet, aber seine Rechtfertigung lief ab wie eine Grammophonplatte. Sie war nicht dazu gekommen, ihn für ihren ersten Fehler zu entschädigen.
»Aber Leopold«, sagte sie jetzt, »ich habe das doch gar nicht so gemeint. Und die Nummer war ja wirklich sehr lustig. Hast du nicht gesehen, wie ich gelacht habe? Und wie du das gemacht hast … wie ein richtiger Hund. Und dann der Salto, wie du da im Sägemehl herumgerollt bist. Man hätte meinen können, er hätte dich wirklich so getreten …«
»Aber das hat er doch auch!« rief Leopold Grün. »Schon seit Monaten sage ich diesem Schwein, er solle nicht so hart treten. Aber es macht ihm Spaß …«
Sie sah ihn einen Augenblick verdutzt an, dann sagte sie leise: »Ach Gottchen …«
Er machte zwei Schritte auf sie zu. Sie wollte ihm erst die Hände entgegenstrecken, war eine Sekunde verlegen, faßte sich aber resolut und breitete die Arme aus. Leopold Grün, etwas steif noch, ließ sich von ihr umfangen.
»Leopold!« flüsterte sie. »Leopold.«
Er sagte: »Guten Tag, Rosa! Guten Tag.«
Dann schauten sie sich an, nur kurz, machten kleine Abstriche, einer beim andern, waren aber doch noch zufrieden, einer mit dem andern.
»Darf ich bekannt machen«, sagte Leopold mit Würde.
»Mein Freund Emil. Meine Braut: sie heißt Rosa.«
Drei Koffer waren gepackt. Rosa war vor die Tür gegangen, während Leopold sich umzog. Als er herauskam, im Anzug, im leichten Mantel, mit den Koffern, betrachtete sie ihn wohlwollend und sagte: »Jetzt siehst du wirklich aus, wie ich es mir vorgestellt habe.«
Er räusperte sich gewichtig, in Haltung und Gesichtsausdruck ein veränderter Mann.
Emil schleppte einen der Koffer. Er hatte ihn an sich gerissen, war unerschütterlich in dem Vorsatz, sich nützlich zu machen. Er trug ihn auf dem Rücken. Von hinten sah es aus, als ginge da ein Koffer auf zwei kurzen Beinen. Auch Rosa hatte darauf bestanden, einen Koffer zu tragen. Und so zogen sie aus, zu dritt, an dem Zelt vorbei, dann kamen die Wagen der elektrischen Anlage, wo die Generatoren summten. Sie gingen vorbei an den Eisbären, die hinter den Gittern träge zu ihnen hinblickten. Eines der riesenhaften, stinkenden Tiere wiegte seinen Kopf hin und her, hin und her.
»Vorsicht, Gorilla!« Und wieder der scharfe Raubtiergeruch. Dann waren sie fast draußen. Die Scheinwerfer erloschen, einer nach dem anderen.
Emil stand vor ihnen. Er sagte zweimal: »Es ist schade, daß er fortgeht.« Er fuhr Rosa plötzlich an: »Er ist ein guter Mensch. Jawohl! Vergessen Sie das nie!«
Sie sahen, daß er um Fassung rang. Ehe sie etwas sagen konnten, rannte er unvermittelt davon – eine Winzigkeit von Mann. Aber er blieb noch einmal stehen, zog sein Tirolerhütchen und winkte ihnen von weitem zu. Dann verschwand er hinter einem Wagen.
Da sagte Rosa zum zweitenmal seufzend: »Ach Gottchen.«
Sie gingen schweigend nebeneinander und waren fast wieder Fremde. Sie wußte nicht, worüber sie sprechen sollte. Er dachte daran, Fragen zu stellen. Aber er fand keine mühelose Einleitung.
Die Straße führte leicht bergan. Sie setzten die Koffer ab, machten eine Verschnaufpause und schauten zurück.
»Bleib mal stehen«, sagte er. »Siehst du, jetzt bauen sie ab.«
Kleine Trecker zogen die Wagen an die Straße. Kommandorufe schallten bis zu ihnen her. Dann kam Pferdegetrappel die Straße entlang. Stallknechte führten die Tiere, die nervös schnaubten, unruhig tänzelten und mit den langen Schweifen peitschten.
»Siehst du«, erklärte Leopold, »die Pferde werden jetzt zum Verladen gebracht.«
Aus dem Dunkel tauchten mächtige Schatten auf, nahmen Gestalt an – Elefanten. Wie eine Prozession lautloser Fabelwesen kamen die gewaltigen Tierleiber heran. Und dann sahen sie, wie das große Zelt schlaff in sich zusammensank. Die vier Masten ragten spitz in die Höhe, als hätten sie das Zeltdach durchstochen.
Leopold Grün und Rosa gingen weiter. Sie schleppten die Koffer, sprachen davon, daß sie ein Taxi nehmen wollten, und standen unversehens vor der Frage, wo sie diese Nacht verbringen würden.
Sie sprachen nicht darüber, waren befangen und fürchteten, diese erste Stunde mit Fehlern zu beladen.
Als sie schließlich einen Taxistand gefunden hatten und im Wagen saßen, schauten sie sich zögernd an. Sie einigten sich: Sie wollten ins Zentrum der Stadt fahren und dort in einem Lokal essen.
»In einem gepflegten Lokal«, sagte Rosa.
»In einem erstklassigen!« ergänzte Leopold wichtig, als er dem Fahrer Anweisungen gab.
Sie nahmen die Koffer mit in das Lokal, das sie wirklich erstklassig und gepflegt fanden. Der Kellner im Frack wartete dezent neben ihrem Tisch. Rosa sagte: »Ich bin die Hausfrau. Ich lade dich zum Essen ein.«
Nein, dagegen sträubte sich Leopold. Schließlich sei er der Mann. Und er wisse nun mal, was sich gehöre. Er habe zwar noch nie davon in seinen Briefen geschrieben, aber er habe immerhin die Welt gesehen und auch eine anständige Erziehung genossen. Er hielt die Gelegenheit für günstig, jetzt von seinem Herkommen zu reden.
Der Kellner zog sich wieder zurück, beobachtete den Mann und die Frau von weitem.
Leopold sagte: »Ich komme aus dem Mittelstand. Mein Vater war Oberbuchhalter.«
Und warum er zum Zirkus gegangen sei, fragte sie.
»Aus Abenteuerlust. Früher war ich Dompteur. Ich hatte eine Tigernummer …« Er räusperte sich bedeutsam. »Mit sechs Tigern. Sie sprangen durch Feuerreifen.«
»Und dann?« fragte sie interessiert.
»Wie? Und dann?«
»Was geschah dann mit den Tigern?«
»Sie starben. In Schweden, in einem sehr kalten Winter. Ich glaube, es war damals an die vierzig Grad kalt. Das hielten sie nicht aus.«
Sie bestellten ein reichhaltiges Essen: Fisch, Fleisch, Gemüse, Käse und Wein.
»Den besten!« betonte Leopold. Das gefiel Rosa. Sie dachte: Er hat Auftreten.
Wohlgelaunt sagte sie: »Jetzt muß ich erst einen Schnaps haben.«
Danach erschrak sie leicht. Es war ihr herausgerutscht, und sie fürchtete, die Probestunde mit diesem alkoholischen Wunsch belastet zu haben. Aber Leopold sagte nichts. Er schien es selbstverständlich zu finden, daß sie nach einem Schnaps verlangte.
Sie sagte: »Ich komme auch aus dem Mittelstand.« Dazu kicherte sie verlegen, ergänzte: »So weit wäre das dann wohl recht.«
»Ja, soweit wäre das in Ordnung«, stimmte er zu.
Er staunte über ihren Appetit. Sie aß und trank wie ein Mann, der schwer gearbeitet hatte. »Es geht nichts über gutes Essen und Trinken«, sagte sie und legte sich noch Fleisch, Gemüse und Kartoffeln auf. Er konnte sehen, wie fröhlich sie das Essen und Trinken machte. Sie lachte auch wieder über seine Hundenummer, was ihm wenig gefiel. Aber sie tätschelte herzhaft seinen Unterarm und erklärte: »Also, wenn du mich fragst … Mir hat deine Nummer gefallen.«
Später, als sie wieder draußen standen, vor der Frage, wohin sie jetzt gehen würden, zögerten sie.
Sie schleppten die Koffer in eine kleine Bar, wo sie gemeinsam einen Schnaps nahmen, von dem sie sich Auflockerung erhofften. Sie fanden auch noch ein Tanzlokal, wagten aber nicht den ersten Tanz miteinander. In diesem Lokal wurden sie zutraulicher.
Bei der dritten Flasche Wein sagte Leopold: »Und wo gehen wir jetzt hin?«
Natürlich könnte man noch in der Nacht fahren, aber das wäre doch umständlich. Schließlich gingen sie in ein Hotel. Er trug sich ein – »mit Ehefrau«. Und so gingen sie auf ein Zimmer: ein Ehepaar in reiferen Jahren, auf Reisen, das sich dann in der Stille des Zimmers noch immer wie fremd gegenüberstand.
Sie schauten auf die Betten. Zwei waren es, nebeneinanderstehend, ein eheliches Schlafzimmer, den Beischlaf herausfordernd.
Noch einmal prüften sie sich. Derb war sie, stramm, ein vollsaftiges Weib, das Lachen liebend, den Genüssen zugetan. Und das alles war ihr anzusehen. Ihr gesundes Fett verriet die Neigung zu gutem Essen und Trinken. Vielleicht war sie zu jugendlich herausgeputzt. Aber das nahm er in Kauf. Das Übermaß an Schminke und Lippenstift, den unübersehbaren Fuchspelz, die roten Fingernägel waren für ihn die Beweise, daß sie noch lange versuchen würde, für ihn jung zu sein.
Er war zufrieden, wußte, daß er nicht darben würde bei ihr. Sie sah so aus, als gebe es bei ihr immer große Fleischportionen. Die Frage nach dem Haus lag ihm auf der Zunge, aber er wartete noch. Morgen, dachte er.
Sie fand ihn zu zögernd, aber sie schob es auf seine Anständigkeit, die, wie sie dachte, auch durch den Zirkus nicht beeinträchtigt worden war.
Natürlich war er kein Kraftmensch wie dieser Adolfo, bei dessen Kraftakt sie ins Schnaufen geraten war, aber er schien ihr noch ganz passabel. Allerdings sah sie auch, daß die Glatze in einigen Jahren unvermeidlich sein würde. Die Schultern waren etwas zu schmal. Sein Gesicht schien ihr etwas mürrisch. Kein ganz leichtes Leben mußte er gehabt haben. Sie würde ihn hätscheln. Sie würde ihn auf Trab bringen, wie sie jetzt dachte. Sie würde die Überlegene sein an Vitalität, an Durchschlagskraft. Und das schienen ihr gute Voraussetzungen für eine haltbare Ehe, in die sie sich beide retten würden.
Das Haus wartete, das kleine Restaurant brauchte den Mann, sie brauchte ihn auch. Es war noch nicht zu spät. Sie dachte, daß sie beide noch rechtzeitig die entscheidenden Weichen gestellt hatten.
Sie sagte: »Ja, ja, Leopold, jetzt fängt die Ordnung an!«
Er applaudierte diesem Satz im stillen, aber er lief noch einmal aus dem Zimmer hinaus.
Sie rief bestürzt hinter ihm her: »Leopold! Wohin gehst du?« »Ich bin sofort wieder da!«
Er ging hinunter und bestellte sich zwei doppelte Schnäpse. Der Nachtkellner schaute ihn verwundert an, als Leopold in der halbdunklen Halle saß und die beiden Gläser schnell hintereinander hinunterschüttete.
»Es ist wegen meines Magens«, sagte er. »Eine Magenverstimmung …«
Danach hastete er wieder hinauf, war jetzt entschlossen, hatte sich genug Mut angetrunken.
Sie lag schon im Bett und erwartete ihn. Sie fragte nicht, schaltete mit einem leisen Lachen das Licht aus. Er zog sich im Dunkeln aus. Dann stieg er ins Bett, und es war so erregend für ihn, daß er zu zittern begann.
Sie lag bereitwillig, als er zu ihr kam. Er tastete mit den Händen über ihren Leib, über diese Hügel und Mulden, die sie ihm bot.
Später, als sie schwer zu atmen begann unter seinen Händen, brüstete er sich: Jawohl, er war noch in der Lage, sich als Mann zu zeigen. Er war noch fähig dazu. Und nun hatte er das Gefühl, daß er von jeher bei Frauen kräftig gewesen war. Ein paar Erinnerungen gaben ihm Zutrauen.
Die Nacht war leidlich erfolgreich.
Die Straße war nicht lang. Es gab da sechs, acht neue Mietshäuser, Bretterzäune, Garagen, ein Stück freies Feld bis zum Bahndamm hin. Und dieser Bahndamm hatte verhindert, daß die Straße gewachsen war. Auf dem Hinweisschild, oben an der Ecke, wo sie in die Hauptstraße mündete, war sie amtlich erklärt: »Sackgasse«.
Die rote Backsteinfront einer kleinen Seifenfabrik war häßlich. Danach kam ein Bretterzaun, auf dem mit großen Buchstaben gemalt war: Baumann – Altmetall – Lumpen – Papier – Baumann. Daneben stand das Haus. Von dort bis zum Bahndamm waren es kaum fünfzig Meter.
Im Jahr 1913 hatte ein pensionierter Rangiermeister das Grundstück von der Bahnverwaltung gekauft. Es war ihm zu einem günstigen Preis überlassen worden. Zum Bauen war er allerdings nicht mehr gekommen, denn der Krieg brach aus.
Ein Sohn des Rangiermeisters erbte das Grundstück nach dem Krieg und hatte die feste Absicht, bald mit dem Bau zu beginnen. Die Inflation hinderte ihn daran. Er mußte verkaufen und schlug den bereits ausgeschachteten Platz für zwölf Milliarden los. Da er aber unschlüssig war, schrumpfte sein Kapital so schnell, daß er schließlich noch fünf Pfund Butter und einen Kleiderschrank für den Grundstückspreis erstehen konnte.
Im Jahre 1930 wurde endlich gebaut. Ein Gastwirt ließ vier Stockwerke hochziehen, richtete im Parterre einen Schankraum mit einer Dreizimmerwohnung ein und lebte dort fast zehn Jahre. Dann brach wieder Krieg aus.
Der Gastwirt wurde Soldat.
Vier Jahre später traf eine Brandbombe, das Haus brannte, war aber nicht ganz zerstört. Im Jahr 1947 verkaufte der Erbe des Gastwirts. Der Preis war dreißigtausend Reichsmark, zwanzig Stangen amerikanische Zigaretten und ein Leichtmotorrad. Der neue Besitzer war wiederum Gastwirt, aber der Kaufpreis hatte seine Reserven aufgebraucht. Er war nicht in der Lage, das Haus renovieren zu lassen, in dem er, wie er Freunden klagte, nicht leben und nicht sterben konnte.
Im Jahr 1960 verkaufte er an eine Frau mit dem Vornamen Rosa, die ihr langsam dahinsiechendes Vermögen für ihr Alter retten wollte. Sie zahlte dreißigtausend Mark in bar, nahm noch eine Hypothek auf und wurde Besitzerin dieses Außenseiters unter den Häusern.
Sie war gezwungen, eine zweite Hypothek aufzunehmen, die aber auch noch nicht ausreichte. Die Bank war skeptisch, besaß jedoch Sicherheiten der Dame, die sich als Geschäftsfrau vorgestellt hatte. Ihre Legitimation waren die dreißigtausend Mark in bar.
Sie hatte Hoffnungen. Ging diese Straße nicht von einer der verkehrsreichsten Hauptstraßen ab? Hatte sie nicht davon gehört, daß man eine Unterführung durch den Bahndamm bauen wolle? Das Haus verschlang ihre Mittel, aber noch immer war es kein vollständiges Haus. Die Mansarden im obersten Stockwerk waren noch nicht ausgebaut, noch keine der kleinen Wohnungen war vermietet. Sie träumte von einem intimen Restaurant, aber im Schankraum fehlten noch die Stühle und Tische. Sie war allein, und sie war einsam. Da hatte sie in der Zeitung gelesen: »Artist mit Ersparnissen … Zwecks späterer Heirat.«
Als Leopold Grün dieses Haus sah, sagte er kein Wort. Er schaute hinauf bis zum Dach und wieder hinunter. Dann musterte er die Straße. Seine Augen blieben am Bahndamm hängen. Er sah den Eingang zur Gaststätte und schwieg noch immer.
»Komm nur erst herein«, sagte Rosa aufmunternd. »Drinnen wird es dir schon gefallen.«
Sie stapfte vor ihm her durch den halbdunklen Hausflur, schloß die Wohnungstür auf und machte eine einladende Bewegung mit der Hand. Sie erklärte, sie war stolz: »Hier, das ist die Dreizimmerwohnung. Alles komplett eingerichtet! Da ist das Schlafzimmer!«
Er sah die zwei Betten, die den Raum fast ausfüllten, den Kleiderschrank, einen Spiegel an der Wand. Und da war ein kleines Bad nebenan. »Das habe ich neu machen lassen«, erklärte sie. Dann öffnete sie das Wohnzimmer. »Alles komplett eingerichtet!«
Ja, da war die Couch, ein kleiner Rauchtisch, zwei Sessel, eine Vitrine, ein Ölgemälde: weidende Kühe auf der Alm.
Sie war stolz: »Schau dir den Teppich an!«
Leopold Grün schwieg noch immer.
»Nun?« Sie sah ihn herausfordernd an, wartete auf ein Zeichen seiner Begeisterung.
Zögernd erklärte er: »Ja, das ist alles recht hübsch.« Er fand dies alles tatsächlich nicht so übel, aber er hatte mehr erwartet: eine Laufgegend, hatte er gedacht, ein großes Haus, hatte er gehofft, und darin würde eine Wohnung sein, angefüllt mit dem Wohlstand eines seit Jahren florierenden Restaurants.
»Nun?« fragte sie. »Vermißt du etwas? Ist etwa nicht alles da, was wir brauchen? Und hier, da ist noch ein kleines Zimmer. Drei Zimmer haben wir …«
»Ja, ja, doch.« Er nickte zustimmend.
Sie betrachtete ihn argwöhnisch von der Seite, hoffte noch immer, ihn zu überzeugen. »So!« sagte sie, »jetzt zeige ich dir das Restaurant!«
Sie war überzeugt. Sie hatte dies alles erworben, sie besaß, und sie wollte seine Anerkennung.
Die Tür schwang auf. Es war noch kein Restaurant. Der Raum war nackt. Eine Theke stand da, die in eine kurze Bar auslief. Es roch nach Tapetenkleister, nach Renovierung. Rosa begann zu reden, und ihre Stimme schallte zwischen den leeren Wänden.
»Und die Küche?« unterbrach er. »Wo ist die Küche?«
»Hier!« sie wies auf eine Tür hinter der Theke. Von dort war ein Durchgang zur Dreizimmerwohnung.
»Die Küche ist komplett eingerichtet!« erklärte sie.
Er stand wortlos vor dem elektrischen Herd, öffnete den Kühlschrank, sah das Spülbecken, den Tisch zum Anrichten, die Töpfe, Teller, Pfannen, Schöpfkellen und Fleischmesser. Es war alles da, aber die Küche schien ihm zu klein.
Er erinnerte sich an seine Träume der letzten Wochen. Meister über gewaltige Braten, klare Fleischsuppen und alle möglichen Beilagen zu werden. Mindestens zwei Köchen hatte er Befehle gegeben, Serviererinnen schleppten die dampfenden Platten, Gäste bestellten, Weine wurden aus dem Keller geholt. Sekt stand in Eiskübeln – und das Geräusch der sich täglich füllenden Registrierkasse war bereits zu einer vertrauten Melodie für ihn geworden.
»Zu klein!« sagte er.
»So!« wiederholte sie. »Zu klein, sagst du?«
Er ging aus der Küche hinaus, um die Theke herum und stand im Gastzimmer. Sie folgte ihm langsam. Immer den Blick auf ihn gerichtet, blieb sie hinter der Theke stehen. Sie stützte ihre schweren Arme auf. Sie begann zu sprechen, fühlte sich nun auch gezwungen, eine Verteidigungsrede zu halten, aber sie sprach zu ihm, während er ihr in Scham den Rücken zugekehrt hatte.
Was glaube er wohl! In diesem Haus stecke ein Vermögen. Was habe er eigentlich erwartet? O ja, das sehe sie jetzt ganz deutlich: in ein gemachtes Nest habe er sich setzen wollen! Den großen Mann spielen und nichts dafür leisten, das kenne man zu Genüge. Und hier, er solle sich das Lokal gefälligst einmal ansehen! »Da kommen Tische und Stühle hin, an die Wände Polsterbänke. Dazu einige Sessel. Ein intimes kleines Lokal wird es werden!« rief sie.
Sie mußte Atem schöpfen, wartete auf seine Reaktion.
Sie sehe schon, er sei nicht der richtige Mann dafür. Keinen Unternehmungsgeist habe er, keinen Wagemut! Und was bilde er sich ein? Sei das etwa keine Leistung für eine alleinstehende Frau? Dieses Haus mit fünf Wohnungen und ausbaufähigen Mansarden habe sie allein erworben, aus eigener Kraft!
Sie stand hinter der Theke, als wäre es ein Rednerpult.
»Hier!« rief sie und machte eine umfassende Gebärde mit der Hand, »das ist, was ich zu bieten habe! Und dazu noch mich!« Sie schlug sich dabei an die Brust. »Und jetzt kommst du und stehst da herum und stotterst vor dich hin. Was hast du denn zu bieten? Ich frage nur mal, wieviel bringst du denn?«
»Ich?« sagte er. »Ich bringe neuntausend.«
»Hahahaha!« lachte sie. »Nun hör sich das mal einer an – neuntausend! Zu wenig, sage ich! Viel zu wenig!« rief sie.
Er zuckte verlegen mit den Schultern.
»Mit neuntausend, da kann ich gerade ein paar Stühle und Tische kaufen!«
Er nickte betrübt mit dem Kopf. »Dann kann ich ja wieder gehen«, murmelte er und wollte sich bereits abwenden.
»Halt!« rief sie. »Hiergeblieben wird! Laß uns überlegen! Wir könnten uns einteilen, wir könnten anbezahlen und dann abstottern. So werden heute alle großen Geschäfte angekurbelt! Es ist alles nur Anzahlung, alles nur Abstottern, wo du hier hinguckst! Außerdem: haben wir uns nicht die Ehe versprochen, Leopold?«
Ihr Ton wurde sanfter. Sie beschwor die Hoffnungen herauf, die sie beide in ihren Briefen geäußert hatten.
»Wenn du meinst«, sagte er kleinlaut. »Wir können es ja einmal versuchen.«
»Wir werden es versuchen!« rief sie. »Du wirst sehen, an diesem Haus haben wir noch viel Freude!«
Er nickte. Sie schwieg, seufzte laut und sagte dann: »Jetzt muß ich einen Schnaps haben.«
Diesen Schnaps nahmen sie gemeinsam. Sie hoben die Gläser hoch und prosteten sich zu. Dann holte Rosa zwei Biergläser vom Regal und füllte sie aus dem zischenden Zapfhahn.
Das gefiel ihm sehr. Schon dachte er, wie dieser Hahn immer für ihn fließen würde. Außerdem interessierten ihn die fünf Wohnungen und die ausbaufähigen Mansarden. Davon konnte man zur Not leben. Es schien also doch ein sicherer Hafen zu sein.
Er nahm einen Schluck Bier, sagte, um etwas Freundliches zu sagen: »Ein gutes Bier hast du!«
»Nicht wahr!« rief sie. »Es ist ein erstklassiges Bier, und du sollst sehen, wie wir das Geschäft ankurbeln! Diese Stadt hat fast eine Million Einwohner. Glaubst du nicht, daß da auch genug für uns hängenbleibt? Und hinten der Bahndamm soll durchbrochen werden. Dann haben wir hier Durchgangsverkehr. Und von vorn, wo die Hauptstraße läuft, da kommen ja schließlich auch Gäste.
O ja, er glaubte das auch. Sie schenkte die beiden Schnapsgläser voll. Und dann Prost! Und dann noch ein Bierchen und wieder ein Schnäpschen.
»Neuntausend«, überlegte sie. »Damit könnten wir die gesamte Bestuhlung kaufen. Wir zahlen ein Drittel an …« Sie rechnete: »Zwanzig Sitzplätze auf den gepolsterten Sitzbänken und Sesseln. Das ist was für die Intimen, weißt du? Dann hier, in der Mitte, noch drei Tische mit einfachen Stühlen – das sind zwölf Sitzplätze für die Durchgehenden.«
Sie schritt die Gruppierung ab. Er folgte ihr, rechnete mit: »Das sind schon zweiunddreißig Plätze.«
»Und hier, an der Bar, stellen wir fünf Barhocker hin. Hier wird Sekt gesoffen, du wirst es sehen. Außerdem stehen da immer noch ein paar an der Theke ’rum. Also alles in allem haben wir Platz für fünfzig Gäste. Ist das etwa nichts?«
»Doch, das ist schon was«, sagte er.
Sie schenkte wieder Schnaps nach.
»Hier kommt die Musikbox hin!« Sie deutete auf die Stelle. Es war ein Platz zwischen zwei Fenstern in der Nähe der Theke.
»Gut«, sagte er.
»Die Toiletten sind neu installiert und leicht sauberzuhalten.« Sie schritt voran, zeigte ihm Damen- und Herrenabort, drückte auch auf die Knöpfe, beeindruckte ihn mit der Wasserspülung und der gekachelten Sauberkeit. »Bei mir muß alles blitzen!« erklärte sie.
»Bei mir auch. Blitzen muß es«, stimmte er zu.
»Reinlichkeit ist die Visitenkarte eines Lokals!«
»Das ist wahr«, sagte er.
Und dann wieder ein Schnäpschen und ein Bierchen. Sie sprachen über die Eröffnung. Sie würden Freibier geben. Das müsse man schon anlegen. Außerdem hielt sie eine Notiz in der Zeitung für zweckmäßig. Die Lampen, die Vorhänge – sie besprachen, diskutierten, legten den äußeren Rahmen fest.
»Prost!« sagten sie.