In einem Hotel an der Côte d'Azur lernt Maxim de Winter eine junge Frau aus einfachen Verhältnissen kennen. Die beiden verlieben sich, und schon nach kurzer Zeit nimmt sie seinen Heiratsantrag an und folgt dem Witwer nach Cornwall auf seinen prachtvollen Landsitz Manderley. Doch das Glück der Frischvermählten währt nicht lange: Der Geist von Maxims toter Ehefrau Rebecca ist allgegenwärtig, und die ihr ergebene Haushälterin macht der neuen Herrin das Leben zur Hölle, sie droht nicht nur die Liebe des Paares zu zerstören. Als ein Jahr später plötzlich doch noch Rebeccas Leiche gefunden wird, gerät Maxim de Winter unter Mordverdacht …
Rebecca, Daphne du Mauriers berühmtester Roman, war bereits bei seinem Erscheinen 1938 ein Bestseller. Er wurde mehrfach verfilmt: 1940 entstand unter der Regie von Alfred Hitchcock die bekannteste Adaption, die mit zwei Oscars prämiert wurde.
Daphne du Maurier, geboren am 13. Mai 1907 in London, entstammt einer Künstlerfamilie. Sie wuchs in London und Paris auf und ließ sich im Alter von 19 Jahren dauerhaft in Cornwall nieder. Ihre schriftstellerische Tätigkeit begann sie 1928 mit Feuilletons und Kurzgeschichten. Sie veröffentlichte über 20 Romane, historische Biographien und Novellen-Sammlungen, die weltweit in Millionenauflagen erschienen. 1969 verlieh ihr die englische Königin den Titel »Dame«. Daphne du Maurier starb am 19. April 1989 im Alter von 82 Jahren in Kilmarth in Cornwall.
Christel Dormagen, geboren 1943 in Hamburg, hat Anglistik und Germanistik studiert und ist als Journalistin für Rundfunk und Printmedien und als Übersetzerin für angelsächsische Literatur tätig. Sie lebt in Berlin.
Brigitte Heinrich, geboren am Bodensee, lebt nach Verlagstätigkeit in etlichen Städten und Häusern als Übersetzerin, Herausgeberin und Lektorin in Frankfurt am Main.
Daphne du Maurier
REBECCA
Roman
Aus dem Englischen von Brigitte Heinrich
und Christel Dormagen
Insel Verlag
eBook Insel Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4434.
Originalausgabe
© Insel Verlag Berlin 2016
© Daphne du Maurier 1938
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Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg
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eISBN 978-3-458-74482-5
www.insel-verlag.de
Vergangene Nacht träumte ich, ich wäre wieder in Manderley. Mir war, als stünde ich vor dem eisernen Tor, das zur Auffahrt führte, und eine Weile konnte ich nicht eintreten, denn der Weg war versperrt. Am Tor hing eine Kette mit einem Vorhängeschloss. Im Traum rief ich nach dem Pförtner, erhielt aber keine Antwort, und als ich durch die rostigen Gitterstäbe spähte, sah ich, dass das Pförtnerhaus unbewohnt war.
Kein Rauch stieg aus dem Schornstein, und die kleinen Gitterfenster blickten dunkel und verloren. Dann verfügte ich wie jeder Träumende plötzlich über übernatürliche Kräfte und glitt wie ein Geist durch das Hindernis. Vor mir erstreckte sich der Weg, er wand und schlängelte sich wie damals, doch im Weitergehen fiel mir auf, dass er verändert war; er war schmal und verwahrlost, nicht mehr die Zufahrt, die wir gekannt hatten. Zunächst war ich verwirrt, verstand nicht, erst als ich den Kopf beugte, um dem tiefhängenden Ast eines Baumes auszuweichen, begriff ich, was geschehen war. Die Natur hatte wieder die Oberhand gewonnen und ergriff auf ihre beharrliche, hinterhältige Weise mit langen, zielstrebigen Fingern erneut davon Besitz. Der Wald, selbst damals schon eine ständige Bedrohung, hatte schließlich triumphiert. Dunkel und von niemandem in Schach gehalten, bedrängte er den Rand der Zufahrt. Die Buchen mit ihren hellen, nackten Stämmen standen dicht an dicht, ihre Äste waren in seltsamer Umarmung ineinander verflochten und wölbten sich über meinem Kopf wie der Mittelgang einer Kirche. Auch noch andere Bäume gab es, solche, die ich nicht kannte, wildwachsende, gedrungene Eichen und verkrüppelte Ulmen, die sich zwischen die Buchen drängten und im Verein mit gewaltigen Büschen und Pflanzen, an deren keine ich mich erinnerte, aus der stillen Erde sprossen.
Der Weg war jetzt ein schmales Band, ein Schatten seines früheren Erscheinungsbilds, der Kiesbelag war verschwunden und von Gras und Moos überwuchert. Die Bäume hatten tief herabhängende Äste ausgeschickt, die das Vorankommen behinderten; ihre knorrigen Wurzeln wirkten wie die Krallen eines Skeletts. Hier und da in diesem Dschungel erkannte ich Büsche, die zu unserer Zeit ein Blickfang gewesen waren, anmutige Kulturpflanzen, Hortensien, die für ihre blauen Blütendolden berühmt gewesen waren. Niemand hatte ihrem Wachstum Einhalt geboten, und inzwischen waren sie verwildert, blütenlos zu Riesengröße aufgeschossen, schwarz und hässlich wie die namenlosen Parasiten, die in ihrer Nachbarschaft gediehen.
Immer weiter, mal nach Osten, mal nach Westen, schlängelte sich der armselige Pfad, der einst unsere Zufahrt gewesen war. Manchmal dachte ich, ich hätte ihn verloren, doch dann tauchte er wieder auf, unter einem umgestürzten Baum vielleicht oder jenseits eines verschlammten Grabens, der durch den winterlichen Regen entstanden war. Ich hatte den Weg nicht für so lang gehalten. Sicherlich hatten die Meilen sich vervielfacht, so wie die Bäume, und dieser Pfad führte lediglich in ein Labyrinth, in eine wuchernde Wildnis, und keinesfalls zum Haus. Und plötzlich stand ich davor; der Zugang war von einem unnatürlich wuchernden Gebüsch versperrt, das sich in alle Richtungen ausbreitete. Mit klopfendem Herzen stand ich da und spürte das ungewohnte Brennen von Tränen unter meinen Lidern.
Da war Manderley, unser Manderley, geheimnisvoll und still wie immer, der graue Stein schimmerte im Mondlicht meines Traums, und in den Sprossenfenstern spiegelten sich die Terrasse und die grünen Rasenflächen. Die Zeit hatte der perfekten Symmetrie dieser Mauern nichts anhaben können, ebenso wenig wie dem Ort selbst, der dalag wie eine Perle in einer offenen Hand.
Die Terrasse ging in einen abschüssigen Rasen über, der sich bis zum Meer hinzog, und als ich mich umdrehte, konnte ich es sehen, eine friedliche, im Mondlicht silbrig schimmernde Fläche, wie ein von Wind und Wetter ungestörter See. Keine Wellen kräuselten dieses Traumgewässer, und keine vom Westwind herangetriebenen Wolkenwände verdunkelten die Klarheit des blassen Himmels. Ich wandte mich wieder dem Haus zu, und obwohl es unversehrt und unbehelligt dalag, als hätten wir es gestern erst verlassen, sah ich, dass der Garten, wie der Wald, sich dem Gesetz des Dschungels gebeugt hatte. Die Rhododendren standen fünfzehn Meter hoch zwischen ungebändigt aufgeschossenem Farngestrüpp und waren mit einem Heer namenloser Sträucher eine befremdliche Ehe eingegangen, armseligen Bastarden, die sich an ihre Wurzeln klammerten, als wüssten sie um ihre zweifelhafte Herkunft Bescheid. Ein Fliederbusch hatte sich mit einer Blutbuche zusammengetan, und um sie noch enger aneinanderzubinden, umschlang ein tückischer Efeu, der ewige Feind jeder Anmut, mit seinen Ranken das Paar und machte es zu Gefangenen. Efeu hatte in diesem untergegangenen Garten die Herrschaft übernommen, lange Triebe krochen über den Rasen, und bald würden sie sich auch über das Haus hermachen. Es gab noch eine weitere Pflanze, irgendein Waldgewächs, dessen Samen vor langer Zeit unter die Bäume gestreut und dann vergessen worden war; jetzt rückte es im Verein mit dem Efeu immer weiter vor und stürzte sich, hässlich wie eine gigantische Rhabarberpflanze, auf das weiche Gras, wo früher nickende Narzissen geblüht hatten.
Überall gab es Brennnesseln, die Vorhut. Die Terrasse erstickte unter ihnen, sie lagen über den Wegen und neigten sich vulgär und hoch aufgeschossen sogar bis zu den Fenstern des Hauses. Sie waren gleichgültige Wachposten, denn an vielen Stellen hatte die Rhabarberpflanze ihre Reihen durchbrochen, so dass sie mit welken Köpfen und kraftlosen Stielen herumlagen und den Kaninchen freie Bahn ließen. Ich verließ den Pfad und betrat die Terrasse, denn die Brennnesseln waren für mich als Träumende kein Hindernis. Ich spazierte wie verzaubert weiter, nichts hielt mich auf.
Mondlicht kann der Fantasie merkwürdige Streiche spielen, selbst der Fantasie einer Träumenden. Während ich still und stumm dastand, hätte ich schwören können, dass das Haus keine leere Hülle war, sondern lebte und atmete, so wie einst.
Mir schien, als fiele Licht aus den Fenstern, die Vorhänge wehten sachte in der nächtlichen Brise, und dort, in der Bibliothek, stand die Tür halb offen, wie wir sie hinterlassen hatten, mein Taschentuch lag noch auf dem Tisch neben der Schale mit Herbstrosen.
Das Zimmer bezeugte unsere Anwesenheit. Der kleine Stapel Bibliotheksbücher, der zurückgegeben werden sollte, und das zur Seite gelegte Exemplar der Times. Aschenbecher voller Zigarettenstummel, auf den Sesseln schlaffe Kissen mit dem Abdruck unserer Köpfe, verkohlte Scheite unseres Kaminfeuers, die noch gegen Morgen glimmten. Und Jasper, der gute Jasper, mit seinem seelenvollen Blick und den großen, hängenden Lefzen, lag ausgestreckt auf dem Fußboden und klopfte mit dem Schwanz, sobald er die Schritte seines Herrn hörte.
Eine bisher unbemerkte Wolke schob sich vor den Mond und verweilte einen Augenblick wie eine dunkle Hand vor einem Gesicht. Mit ihr verflüchtigte sich meine Illusion, und die Lichter in den Fenstern erloschen. Ich blickte auf eine trostlose Hülle, am Ende seelenlos, von keinen Geistern heimgesucht, ohne ein Flüstern der Vergangenheit in den düster starrenden Mauern.
Das Haus war eine Grabstätte, unsere Furcht und unser Leid lagen in der Ruine begraben. Es würde keine Wiederauferstehung geben. Wenn ich in wachem Zustand an Manderley dachte, sollte ich es ohne Verbitterung tun. Ich sollte daran denken, wie es vielleicht gewesen wäre, wenn ich ohne Furcht dort hätte leben können. Ich sollte mich an den Rosengarten im Sommer erinnern und an die Vögel, die in der Morgendämmerung sangen. An Teestunden unter der Kastanie und das Rauschen des Meeres, das über den Rasen von unten zu uns heraufdrang.
Ich sollte an den blühenden Flieder und an das Glückliche Tal denken. Diese Dinge waren von Dauer, man konnte sie nicht zum Verschwinden bringen. Es waren Erinnerungen, die nicht weh tun konnten. All das entschied ich in meinem Traum, während die Wolken vor dem Antlitz des Mondes lagen, denn wie die meisten Schlafenden wusste ich, dass ich träumte. In Wirklichkeit lag ich viele hundert Meilen entfernt in einem fremden Land und würde in wenigen Sekunden in einem kargen kleinen Hotelzimmer erwachen, in dem gerade das Fehlen jeglicher Atmosphäre tröstlich war. Ich würde einen kurzen Seufzer ausstoßen, mich recken und auf die andere Seite drehen, und wenn ich die Augen aufschlug, wäre ich verdutzt über das Glitzern der Sonne und den harten, klaren Himmel, so anders als das weiche Mondlicht meines Traums. Der Tag würde vor uns beiden liegen, zweifellos lang und ereignislos, jedoch von einer gewissen Stille erfüllt, einer liebgewonnenen Friedlichkeit, die wir davor nicht gekannt hatten. Wir würden nicht von Manderley sprechen, ich würde meinen Traum nicht erzählen. Denn Manderley gehörte uns nicht mehr. Manderley existierte nicht mehr.
Wir können niemals dorthin zurück, so viel ist sicher. Die Vergangenheit ist uns immer noch zu nah. Alles, was wir zu vergessen und hinter uns zu lassen versucht haben, würde wieder aufgewühlt, und dieses Gefühl der Angst, der verstohlenen Unruhe, das schließlich zu einem Kampf gegen blinde, kopflose Panik wurde – sich inzwischen jedoch barmherzigerweise gelegt hat –, könnte jäh wieder unser Leben begleiten, genau wie damals.
Er ist außerordentlich geduldig und beklagt sich nie, nicht einmal, wenn Erinnerungen ihn heimsuchen, was, wie ich glaube, wesentlich öfter vorkommt, als er mich wissen lassen möchte.
Ich merke es daran, dass er plötzlich verstört und verloren dreinschaut; wie von unsichtbarer Hand weggewischt, schwindet jeder Ausdruck aus seinem lieben Gesicht, es wird zu einer Maske, etwas Gemeißeltem, steif und kalt, immer noch schön, aber ohne Leben. Dann raucht er eine Zigarette nach der anderen, ohne sich die Mühe zu machen, sie auszudrücken; die glühenden Stummel liegen auf dem Boden wie Blütenblätter. Und er spricht schnell und angestrengt über Nichtigkeiten, greift als Heilmittel gegen den Schmerz nach jedem beliebigen Thema. Ich glaube, es gibt eine Theorie, wonach Männer und Frauen als bessere, stärkere Menschen aus Leiden hervorgehen, und dass wir solche Feuerproben bestehen müssen, um in dieser oder einer anderen Welt voranzukommen. Wir haben das in vollem Maße getan, so ironisch es klingen mag. Wir beide haben Angst und Einsamkeit kennengelernt und größten Schmerz. Ich vermute, früher oder später schlägt einem jeden die Stunde der Prüfung. Wir alle haben unseren ganz speziellen Teufel, der uns drangsaliert und quält, und am Ende müssen wir uns diesem Kampf stellen. Wir beide haben unsere Schlacht gewonnen, so glauben wir wenigstens.
Unser Teufel quält uns nicht mehr. Wir haben unsere Krise bewältigt, wenn auch natürlich nicht unversehrt. Seine Vorahnung aufziehenden Unheils war von Anfang an richtig; und wie eine exaltierte Schauspielerin in einem belanglosen Stück könnte ich sagen, dass wir für unsere Freiheit bezahlt haben. Aber mir reicht das Maß an Melodrama in meinem Leben, ich gäbe freiwillig meine fünf Sinne dafür, dass wir weiter so wie jetzt in Sicherheit und Frieden leben können. Glück ist nichts, was man kaufen kann, sondern eine Art des Denkens, eine innere Einstellung. Selbstverständlich haben wir unsere deprimierten Momente; aber es gibt auch andere, in denen die Zeit sich nicht nach der Uhr bemisst, sondern zur Ewigkeit wird, und wenn ich dann sein Lächeln sehe, weiß ich, dass wir zusammengehören, gemeinsam marschieren, und dass kein Streit über Vorstellungen und Meinungen uns trennen kann.
Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Alles wird geteilt. Unser kleines Hotel ist zugegebenermaßen öde und das Essen mittelmäßig, Tag für Tag erwartet uns mehr oder weniger das Gleiche; und doch wollen wir es nicht anders. In den großen Hotels würden wir zu vielen Menschen begegnen, die er kennt. Wir wissen beide Einfachheit zu schätzen, und manchmal sind wir gelangweilt – aber Langeweile ist ein willkommenes Mittel gegen die Angst. Wir führen ein sehr geregeltes Leben, und ich – ich habe ein Talent zum Vorlesen entwickelt. Ungeduldig erlebe ich ihn nur, wenn der Postbote sich verspätet, denn das bedeutet, dass wir noch einen Tag länger auf unsere englische Post warten müssen. Wir haben es mit dem Radio versucht, doch der Lärm ist sehr irritierend, und wir ziehen es vor, unsere Ungeduld zu zügeln; das Ergebnis eines Kricketmatches, das vor etlichen Tagen stattgefunden hat, bedeutet uns viel.
Oh, die Testspiele, die uns schon vor Langeweile bewahrt haben, die Boxkämpfe, selbst die Billardresultate. Endausscheidungen im Schulsport, Hunderennen, sonderbare kleine Wettkämpfe in abgelegeneren Ländern, sie alle sind Wasser auf unsere Mühlen. Manchmal stoße ich zufällig auf alte Exemplare der Zeitschrift Field und fühle mich von dieser unbedeutenden Insel mitten in den englischen Frühling versetzt. Ich lese von kreidehaltigen Bächen und der Maifliege, vom Sauerampfer, der auf grünen Wiesen wächst, von Saatkrähen, die über den Wäldern kreisen so wie einst über Manderley. Der Geruch feuchter Erde steigt aus diesen abgegriffenen, zerfledderten Seiten, das säuerlich-scharfe Aroma von Torfmooren, und ich habe das Gefühl von durchweichtem, hie und da von Reiherkot weiß gesprenkeltem Moos.
Einmal gab es einen Artikel über Ringeltauben, und beim Vorlesen schien es mir, als wäre ich wieder in Manderley, mitten im Wald, und Tauben flatterten über meinem Kopf. Ich hörte ihren leisen, zufriedenen Ruf, so angenehm und kühl an einem heißen Sommernachmittag, und nichts störte ihren Frieden, bis Jasper, die feuchte Schnauze schnüffelnd am Boden, durchs Unterholz preschte, um mich zu suchen. Wie alte Damen, die plötzlich bei ihrer Toilette gestört werden, stoben die Tauben lächerlich verstört aus ihrem Versteck auf und schwirrten, wild mit den Flügeln schlagend, ängstlich über die Baumwipfel davon. Kaum waren sie nicht mehr zu sehen und zu hören, senkte sich eine neue Stille über den Ort, und mit einem unbestimmten, bangen Gefühl stellte ich fest, dass die Sonne nicht länger ein Muster auf die raschelnden Blätter malte, dass die Äste dunkler geworden waren und die Schatten länger; zu Hause warteten frische Himbeeren zum Tee. Ich erhob mich von meinem Farnkrautbett, klopfte mir den fedrigen Staub der letztjährigen Blätter vom Rock und machte mich, nach Jasper pfeifend, auf den Rückweg; noch im Gehen verachtete ich mich für meine eiligen Schritte und den einen, verstohlenen Blick zurück.
Wie seltsam, dass ein Artikel über Ringeltauben so lebhaft die Vergangenheit wachrufen konnte, dass ich beim Vorlesen ins Stocken geriet. Es war sein aschgraues Gesicht, das mich jäh innehalten und weiterblättern ließ, bis ich auf einen Absatz über Kricket stieß, sehr praktisch und langweilig – der Middlesex Kricket Club, der auf schnellem, trockenem Boden endlose, einschläfernde Runs ansammelte. Wie dankbar ich diese handfesten Gestalten in feinem Flanell willkommen hieß, denn binnen weniger Minuten hatte sein Gesicht sich wieder entspannt, die Farbe kehrte zurück, und mit gesundem, verärgertem Spott machte er sich über die Bowler von Surrey lustig.
Eine Rückkehr in die Vergangenheit blieb uns erspart, und ich hatte meine Lektion gelernt. Englische Nachrichten vorlesen, ja, auch englischen Sport, englische Politik mit ihrer ganzen Wichtigtuerei, doch Dinge, die verletzen konnten, würde ich in Zukunft für mich behalten. Ich konnte insgeheim darin schwelgen. Farbe, Duft und Geräusch, Regen und schwappendes Wasser, selbst Herbstnebel und der Geruch der Flut – all das waren Erinnerungen an Manderley, die sich nicht unterdrücken ließen. Manche Menschen haben eine Schwäche für die Lektüre von Fahrplänen. Sie planen unzählige Reisen kreuz und quer durch das Land und haben Spaß daran, die unmöglichsten Orte miteinander zu verbinden. Mein Hobby ist weniger aufwendig, aber genauso merkwürdig. Ich bin eine Fundgrube des Wissens über das ländliche England. Ich kenne die Besitzer eines jeden englischen Moors mit Namen, ja – und deren Pächter obendrein. Ich weiß, wie viele Moorhühner geschossen werden, wie viele Rebhühner und wie viel Rotwild. Ich weiß, wo die Forellen aufsteigen und die Lachse springen. Ich nehme an sämtlichen Jagden teil und folge jeder Hatz. Ich weiß sogar, wer Jagdhundwelpen führt. Der Stand des Getreides, Viehpreise, mysteriöse Schweineseuchen, ich sauge alles in mich auf. Ein armseliger Zeitvertreib, vielleicht, und nicht gerade intellektuell, doch beim Lesen atme ich die englische Luft und kann mich diesem flimmernden Himmel beherzter stellen.
Die kümmerlichen Weinberge und bröselnden Steine werden nebensächlich, denn wenn ich will, kann ich meiner Fantasie die Zügel schießen lassen und in einer endlosen, feuchten Hecke Fingerhut und blasse Lichtnelken pflücken.
Bescheidene Wonnen der Fantasie, zärtlich und nicht verletzend. Sie sind das Gegenstück von Bitterkeit und Reue und versüßen dieses Exil, in das wir uns begeben haben.
Dank ihrer kann ich den Nachmittag genießen und mich danach lächelnd und erfrischt unserem kleinen Teeritual widmen. Wir bestellen stets das Gleiche. Für jeden zwei Scheiben Brot mit Butter und chinesischen Tee. Was für ein borniertes Paar wir abgeben müssen, weil wir an einer Gewohnheit festhalten, nur weil wir das alles auch schon in England hatten. Hier, auf diesem sauberen Balkon, weiß und unpersönlich nach Jahrhunderten unter der Sonne, denke ich an Manderley um halb fünf und an den Tisch vor dem Kamin in der Bibliothek. Pünktlich auf die Minute geht die Tür auf und das Teeritual nimmt unumstößlich seinen Lauf: das Silbertablett, der Kessel, das schneeweiße Tischtuch, während Jasper beim Anblick der Kuchen mit hängenden Spanielohren Gleichgültigkeit vorgibt. Immer wurde uns so üppig aufgetischt, und dennoch aßen wir so wenig.
Diese saftigen Crumpets, ich sehe sie vor mir. Winzige, knusprige Toastecken und brennend heiße, mehlbestäubte Rosinenbrötchen. Sandwichs mit unbekanntem Belag, geheimnisvoll gewürzt und ausgesprochen köstlich, und dann diese sehr speziellen Ingwerkekse. Ein Biskuitkuchen, der auf der Zunge zerging, und sein schwerer verdaulicher Kompagnon, strotzend vor Rosinen und Orangenschale. Es wurde so üppig aufgefahren, dass eine hungrige Familie eine Woche lang satt geworden wäre. Ich wusste nicht, was mit all dem geschah, und manchmal bedrückte mich diese Verschwendung.
Aber ich wagte nie, mich bei Mrs Danvers zu erkundigen, was sie damit machte. Sie hätte mir einen verächtlichen Blick zugeworfen und ihr kaltes, überlegenes Lächeln aufgesetzt, und ich kann mir vorstellen, dass sie gesagt hätte: »Als Mrs de Winter noch lebte, gab es nie Beschwerden.« Mrs Danvers. Was sie heute wohl macht? Sie und Favell. Ich glaube, es war ihr Gesichtsausdruck, der mir zuerst Unbehagen bereitete. Ich dachte instinktiv: ›Sie vergleicht mich mit Rebecca‹; und scharf wie ein Schwert senkte sich ihr Schatten zwischen uns …
Nun, das ist jetzt vorbei, passé und erledigt. Ich werde nicht länger gepeinigt, und wir beide sind frei. Mein treuer Jasper ist in die heiligen Jagdgründe eingegangen, und Manderley gibt es nicht mehr. Es liegt als leere Hülle inmitten tiefer, undurchdringlicher Wälder, genau wie in meinem Traum. Massen von Unkraut, eine Vogelkolonie. Gelegentlich verirrt sich vielleicht ein Landstreicher dorthin, der vor einem plötzlichen Regenschauer Schutz sucht, und wenn er beherzt genug ist, kommt er vielleicht ungeschoren davon. Doch für einen schüchterneren Kerl, einen nervösen Wilderer etwa –, für den ist der Wald von Manderley nichts. Er stieße vielleicht auf das kleine Cottage in der Bucht, würde aber unter dem baufälligen Dach nicht froh, wenn ein feiner Regen den Takt darauf klopft. Die Atmosphäre dort mochte noch immer gespannt sein … Auch die Biegung in der Zufahrt, wo die Bäume bis dicht an den Kies herandrängen, ist kein Ort zum Verweilen, zumindest nicht nach Sonnenuntergang. Das Rascheln der Blätter klingt dann fast wie die verstohlene Bewegung einer Frau im Abendkleid, und wenn sie jäh erzittern und zu Boden fallen, könnte dies gut das rasche Trippeln ihrer Schritte sein, und die Blätter auf dem Kies wären der Abdruck eines hochhackigen Satinschuhs.
Immer wenn ich an diese Dinge denke, wende ich mich erleichtert wieder der Aussicht vor unserem Balkon zu. Kein Schatten stiehlt sich in das harte Sonnenlicht, die steinigen Weinberge flimmern in der Sonne, und die Bougainvilleen sind weiß vor Staub. Eines Tages werde ich all das vielleicht liebgewonnen haben. Im Augenblick weckt es in mir zwar keine Liebe, jedoch zumindest Zuversicht. Und Zuversicht ist eine Eigenschaft, die ich sehr schätze, selbst wenn ich sie mir ein wenig spät erworben habe. Ich glaube, die Tatsache, dass er von mir abhängig ist, hat mich schließlich kühn werden lassen. Wie dem auch sei, ich habe meine Zaghaftigkeit, meine Schüchternheit und meine Befangenheit Fremden gegenüber verloren. Ich habe nichts mehr gemein mit der jungen Frau, die damals zum ersten Mal voller Hoffnung und Eifer nach Manderley fuhr, von dem tiefen Wunsch, zu gefallen beseelt und gehemmt durch eine verzweifelte, linkische Ungeschicklichkeit. Es war natürlich meine mangelnde Selbstsicherheit, die auf Menschen wie Mrs Danvers einen so schlechten Eindruck machte. Wie musste ich nach Rebecca wohl auf sie gewirkt haben? Meine Erinnerung schlägt eine Brücke in die Vergangenheit, und ich sehe mich jetzt, mit meinem glatten, zu einem Bob frisierten Haar und dem jugendlichen, ungeschminkten Gesicht, in schlecht sitzendem Mantel und Rock und einem selbstgestrickten Pullover, ein scheues, linkisches Reh im Schlepptau von Mrs Van Hopper. Sie rauschte stets vor mir her zum Mittagessen; der gedrungene Körper schwankte auf hohen Absätzen, die überladene Rüschenbluse eine Schmeichelei an den mächtigen Busen und die schwingenden Hüften, auf dem Kopf der neue, schief sitzende Hut mit der monströsen Hutnadel, der die breite Stirn freigab, nackt wie ein Schulbubenknie. In der einen Hand eine riesige Tasche von der Sorte, in der man Pass, Terminkalender und Bridgeergebnisse verstaut, während die andere mit ihrer unvermeidlichen Lorgnette spielte, diesem Feind der Privatsphäre anderer Leute.
Sie hielt auf ihren üblichen Tisch zu, in der Ecke des Restaurants, dicht beim Fenster, und hob ihre Lorgnette vor die Schweinsäuglein, um rechts und links die Umgebung zu mustern. Dann ließ sie die Lorgnette an ihrem schwarzen Band wieder fallen und stellte entrüstet fest: »Kein einziges prominentes Gesicht, ich werde den Direktor anweisen, mir einen Nachlass zu gewähren. Was glauben sie eigentlich, warum ich hierherkomme? Um mir die Pagen anzusehen?« Daraufhin pflegte sie den Kellner herbeizuzitieren, und ihre Stimme zerriss die Luft, scharf und abgehackt wie eine Säge.
Wie anders doch dieses kleine Restaurant, in dem wir heute speisten, im Vergleich zu jenem riesigen, protzig überladenen Speisesaal im Hôtel Côte d'Azur in Monte Carlo; und wie anders mein jetziger Gefährte, der mit ruhigen, wohlgeformten Händen methodisch und gelassen eine Mandarine schält, hin und wieder aufblickt und mir zulächelt, im Vergleich zu Mrs Van Hopper, wenn sie mit fetten, juwelengeschmückten Fingern einem vollbeladenen Teller mit Ravioli zu Leibe rückte, während ihr argwöhnischer Blick von ihrem Gericht zu meinem zuckte, aus Angst, ich könnte die bessere Wahl getroffen haben. Sie hätte beruhigt sein können, denn mit der schlafwandlerischen Schnelligkeit von seinesgleichen hatte der Kellner meine untergeordnete, dienende Stellung längst erfasst und einen Teller mit Schinken und Zunge vor mich hingestellt, den jemand vor einer halben Stunde als schlecht tranchiert ans kalte Büfett hatte zurückgehen lassen. Seltsam, diese Feindseligkeit von Dienstboten, ihre offensichtliche Unduldsamkeit. Ich erinnere mich an einen Aufenthalt mit Mrs Van Hopper in einem Landhotel, wo das Zimmermädchen nie auf mein schüchternes Läuten reagierte, mir nie die Schuhe brachte und frühmorgens den eiskalten Tee vor die Schlafzimmertür stellte. Genauso war es an der Côte d'Azur, wenn auch weniger schlimm, außerdem verwandelte sich die einstudierte Gleichgültigkeit manchmal in plumpe, anzüglich feixende Vertraulichkeit, was den Kauf von Briefmarken an der Rezeption zu einer Tortur machte, die ich zu vermeiden suchte. Wie jung und unerfahren musste ich gewirkt und mich auch gefühlt haben. Ich war einfach zu empfindlich, zu dünnhäutig; in so vielen leichthin geäußerten Worten verbergen sich Dornen und Nadelspitzen.
Ich erinnere mich noch gut an diesen Teller mit Schinken und Zunge. Das Fleisch war trocken und unappetitlich, in dicken Scheiben vom Rand abgeschnitten, doch ich hatte nicht den Mut, alles zurückgehen zu lassen. Wir aßen schweigend, denn Mrs Van Hopper konzentrierte sich gern auf ihr Essen, und daran, wie ihr die Sauce übers Kinn lief, konnte ich erkennen, dass ihr die Ravioli schmeckten.
Es war kein Anblick, der mir auf meine kalte Platte besonderen Appetit gemacht hätte, und als ich den Blick abwandte, sah ich, dass der Tisch neben uns, der drei Tage lang leer geblieben war, wieder besetzt wurde. Mit der speziellen Verbeugung, die er sich für besondere Gäste aufhob, komplimentierte der Maître d'hôtel den Neuankömmling an seinen Platz.
Mrs Van Hopper legte die Gabel beiseite und griff nach ihrer Lorgnette. Ich errötete an ihrer statt, als sie ihn anstarrte, doch der Gast warf einen zerstreuten Blick auf die Speisekarte, ohne ihr Interesse zu bemerken. Dann klappte Mrs Van Hopper ihre Lorgnette mit einem Knall zusammen, beugte sich mit vor Aufregung blitzenden Äuglein über den Tisch zu mir herüber und sagte mit etwas zu lauter Stimme: »Das ist Max de Winter, der Besitzer von Manderley. Sie haben natürlich davon gehört. Er sieht krank aus, nicht wahr? Man sagt, er kommt nicht über den Tod seiner Frau hinweg …«