Eine Schriftstellerin reist im Hochsommer nach Athen, um dort einen Schreibkurs zu geben. Während ihre eigenen Verhältnisse vorerst im Dunkeln bleiben, wird sie zur Zuhörerin einer Reihe von Lebensgeschichten und -beichten. Beginnend mit dem Sitznachbarn auf dem Hinflug, seinen Schilderungen von schnellen Booten und gescheiterten Ehen, erzählen ihre Bekanntschaften von Unsicherheiten, Glückszuständen und Offenbarungen. In der erstickenden Hitze und dem Lärm der Stadt schaffen diese verschiedenen Stimmen so ein komplexes Tableau menschlichen Lebens. Und dabei wird, zunächst in Umrissen, zugleich das Bild einer Frau – der Schriftstellerin – kenntlich, die zu lernen beginnt, einem einschneidenden Verlust zu begegnen.
Outline ist ein Triumph der Literatur, eine Schule des Sehens, ein so kühner wie virtuoser Roman – ein Roman über uns alle: Menschen, die Geschichten erzählen, um zu leben.
»Von heftiger Intelligenz – Rachel Cusk ist eine der raffiniertesten Autorinnen der Gegenwart.« The New York Times Book Review
Rachel Cusk, 1967 in Kanada geboren, lebt in England, hat acht Romane sowie drei Sachbücher geschrieben und ist dafür vielfach ausgezeichnet worden. Die New York Times rühmt sie als »eine erstklassige Autorin mit beißender Intelligenz und kompromisslos genauer Beobachtungsgabe«. Outline ist der Auftakt zu einer Trilogie, einer »weiblichen Odyssee im 21. Jahrhundert«.
Eva Bonné, geboren 1970 in Westfalen, ist studierte Amerikanistin und übersetzt Literatur aus dem Englischen, u. a. von Sara Gran, Richard Flanagan und Michael Cunningham. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Rachel Cusk
OUTLINE
Roman
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2016
© Rachel Cusk, 2014
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Umschlaggestaltung und -illustration: Nurten Zeren, Berlin
eISBN 978-3-518-74433-8
www.suhrkamp.de
I
Vor meinem Abflug war ich in einem Londoner Club zum Lunch mit einem Milliardär verabredet, der, wie man mir versichert hatte, eine liberale Haltung hegte. Er trug den Hemdkragen offen und sprach über eine neue Software, die er gerade entwickelte und die es Unternehmen ermöglichen sollte, Mitarbeiter zu ermitteln, die ihren Arbeitgeber in der Zukunft am ehesten bestehlen und betrügen würden. Eigentlich wollten wir über die Literaturzeitschrift sprechen, die er zu gründen beabsichtigte, doch leider musste ich mich verabschieden, bevor wir bei dem Thema angelangt waren. Er bestand darauf, mir die Taxifahrt zum Flughafen zu bezahlen, was mir entgegenkam. Ich war spät dran und hatte einen schweren Koffer dabei.
Der Milliardär erzählte mir bereitwillig aus seinem Leben, das völlig unverdächtig begonnen und ihn – offensichtlich – zu dem gelassenen und wohlhabenden Menschen gemacht hatte, der mir nun gegenübersaß. Ich fragte mich, ob er nicht vielleicht selbst schreiben wollte und die Literaturzeitschrift als Einstieg brauchte. Viele Menschen möchten Schriftsteller sein; er hatte keinen Grund zu glauben, dass sich der Status nicht erkaufen ließe. Dieser Mann war schon in unzählige Projekte eingestiegen und hatte sich sicherlich aus ebenso vielen wieder herausgekauft. Unter anderem verfolgte er den Plan, allen Menschen ein Leben ohne Anwälte zu ermöglichen. Außerdem hatte er einen auf dem Wasser treibenden Windpark entworfen, groß genug, um die gesamte Belegschaft zu beherbergen, die für Betrieb und Wartung nötig war; die gigantische Plattform ließe sich weit aufs Meer hinausschleppen, so dass die unansehnlichen Turbinen von jenem Küstenstreifen aus, vor dem das Pilotprojekt stattfinden sollte und wo er zufälligerweise ein Haus besaß, nicht mehr zu sehen wären. Sonntags spielte er Schlagzeug in einer Rockband, nur so zum Spaß. Er wurde demnächst zum elften Mal Vater, was weniger dramatisch war, als es klang, wenn man berücksichtigte, dass er und seine Frau vor einiger Zeit Vierlinge aus Guatemala adoptiert hatten. Ich hatte Schwierigkeiten, alles zu verarbeiten, was ich zu hören bekam. Die Kellnerinnen trugen immer neue Speisen auf – Austern, Dips, erlesene Weine. Er ließ sich leicht ablenken, wie ein Kind mit zu vielen Weihnachtsgeschenken. Aber als er mich ins Taxi setzte, sagte er, viel Spaß in Athen, dabei konnte ich mich nicht erinnern, ihm mein Reiseziel genannt zu haben.
Auf der Rollbahn in Heathrow wartete eine Flugzeugladung schweigender Menschen darauf, in die Luft gehoben zu werden. Ein Tonband lief, die Stewardess stand im Gang und führte eine Pantomime mit Requisiten auf. Wir saßen auf die Sitze geschnallt, ein Feld aus Fremden, schweigsam wie eine Kirchengemeinde während der Liturgie. Sie zeigte uns die Schwimmweste mit der kleinen Trillerpfeife, die Notausgänge, die Sauerstoffmaske am Ende des transparenten Plastikschlauchs. Sie führte uns die Möglichkeit von Tod und Verderben vor Augen, wie der Priester seiner Gemeinde in allen Details Fegefeuer und Hölle vor Augen führt; und niemand sprang auf und versuchte zu entkommen, solange es noch möglich war. Stattdessen hörten wir halbwegs aufmerksam zu und dachten dabei an etwas völlig anderes, gerade so, als hätte die rituelle Darstellung des drohenden Verderbens eine abhärtende Wirkung. Als die Tonbandstimme über die Sauerstoffmasken sprach, brach niemand das Schweigen; keiner protestierte oder lehnte sich gegen das Gebot auf, den anderen erst zu helfen, wenn man selbst versorgt war. Ich bezweifelte allerdings, dass das so stimmte.
Links von mir saß ein dunkelhäutiger Junge mit wippenden Knien, dessen dicke Daumen über die Tasten einer Spielkonsole huschten. Der Mann zu meiner Rechten trug einen hellen Leinenanzug, seine Haut war tief gebräunt und sein Federhaar silbergrau. Draußen drückte der schwüle, leblose Nachmittag auf die Startbahn; kleine Flughafenfahrzeuge rasten ungehindert über die weite Ebene, schlitterten, wendeten und zogen Kreise wie Spielzeugautos, und dahinter schlängelte sich der silbrige Faden der Autobahn durch die Landschaft, glitzernd und fließend wie ein von eintönigen Feldern gesäumter Bach. Das Flugzeug setzte sich in Bewegung, rumpelte voran, die Aussicht begann zu tauen und zu verrutschen, zunächst langsam und dann immer schneller glitt sie an den Fenstern vorbei, und schließlich stellte sich das Gefühl des bemühten, halbherzigen Abhebens ein, als sich der Flieger vom Boden löste. Einen Moment lang schien unglaublich, dass es geschehen könnte, und dann geschah es doch.
Der Mann rechts von mir drehte den Kopf und fragte, warum ich nach Athen reise. Aus beruflichen Gründen, sagte ich.
»Hoffentlich wohnen Sie am Wasser«, sagte er. »In Athen ist es sehr heiß.«
Nein, erklärte ich, das sei leider nicht der Fall, worauf er die Augenbrauen in die Höhe zog, die silbergrau waren und unerwartet kraus und wild aus seiner Stirn herauswucherten, wie Grasbüschel aus einer steinigen Fläche. Dieses Merkmal allein hatte mich veranlasst, ihm überhaupt zu antworten. Manchmal ist das Unerwartete wie ein Ruck, den das Schicksal uns gibt.
»Dieses Jahr ist es schon früh heiß geworden«, sagte er. »Normalerweise geht es erst viel später los. Es kann in der Stadt sehr unangenehm werden, wenn man die Temperaturen nicht gewohnt ist.«
In der ruckelnden Kabine sprang mit einem Flackern die Beleuchtung an; Klappen wurden geöffnet und mit lautem Scheppern zugeschlagen, die Leute regten sich, fingen zu plaudern an, verließen ihre Plätze. Aus der Sprechanlage drang eine Männerstimme; es roch nach Kaffee und nach Essen; die Stewardessen stelzten zielstrebig durch den engen, mit Teppich ausgelegten Gang. Kam eine vorbei, hörte man ihre Feinstrumpfhose rascheln. Mein Sitznachbar erzählte mir, er fliege die Strecke ein- bis zweimal im Monat. Früher habe er eine Wohnung in London besessen, in Mayfair, »aber inzwischen«, sagte er mit nüchternem Zug um den Mund, »wohne ich lieber im Dorchester«.
Er drückte sich gewählt und förmlich aus, was ein wenig unnatürlich wirkte, als hätte man ihm seine Sprechweise sorgfältig, aber nachträglich angefügt, wie Farbe mit einem feinen Pinsel. Ich fragte ihn nach seiner Nationalität.
»Im Alter von acht Jahren wurde ich auf ein englisches Internat geschickt«, antwortete er. »Man könnte sagen, dass ich das Auftreten eines Engländers habe und das Herz eines Griechen. Angeblich«, fügte er hinzu, »wäre es andersherum viel schlimmer.«
Seine Eltern, fuhr er fort, stammten beide aus Griechenland. Vor langer Zeit hatten sie beschlossen, den gesamten Hausrat, sich, die vier Söhne, die Großeltern und eine Auswahl von Onkeln und Tanten nach London umzusiedeln. Dort hatten sie sich den Habitus der englischen Oberschicht angeeignet, die vier Söhne aufs Internat geschickt und ein Haus eingerichtet, das ein beliebter Treffpunkt zur gesellschaftlichen Kontaktanbahnung wurde; unaufhörlich strömten Adelige, Politiker und Geschäftsleute über die Schwelle. Ich wollte wissen, wie sie in einem fremden Land so erfolgreich Anschluss finden konnten, doch er zuckte nur die Achseln.
»Das Geld ist ein eigenes Land«, sagte er. »Meine Eltern waren Reeder; sie hatten Schiffe auf der ganzen Welt, auch wenn wir bis zum Umzug auf derselben winzigen Insel lebten, auf der beide zur Welt gekommen waren. Von der Insel haben Sie bestimmt nie gehört, trotz ihrer unvermittelten Nähe zu einigen bekannten Touristenattraktionen.«
Der unmittelbaren, sagte ich. Sicher meinten Sie die unmittelbare Nähe.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er. »Ja, natürlich meinte ich ›unmittelbar‹.«
Wie alle reichen Leute, fuhr er fort, waren seine Eltern ihrer Herkunft entwachsen und verkehrten bald in jener grenzenlosen Sphäre, zu der nur die wichtigen und wohlhabenden Menschen Zugang haben. Sie behielten natürlich ein prächtiges Haus auf der Insel, in dem sie wohnten, solange die Kinder noch klein waren; als es an der Zeit war, die Jungen einzuschulen, zog die Familie nach England um, wohin sie gute Kontakte pflegte, einige davon, fügte er ziemlich stolz hinzu, reichten sogar bis in das Umfeld des Buckingham Palace.
Die Familie war immer die bedeutendste auf der Insel gewesen; die Heirat der Eltern vereinte zwei regionale Adelshäuser und konsolidierte darüber hinaus das Vermögen zweier Reedereien. Die kulturellen Gegebenheiten waren ungewöhnlich, weil auf der Insel das Matriarchat regierte. Besitz wurde nicht vom Vater an den Sohn, sondern von der Mutter an die Tochter vererbt. Das, erklärte mein Sitznachbar, habe zu Spannungen innerhalb der Familie geführt und erst nach dem Umzug nach England seine angenehme Kehrseite gezeigt. In der Welt seiner Kindheit galt ein Sohn als Enttäuschung; er selbst, die letzte in einer langen Reihe von Enttäuschungen, wurde mit einer besonderen Zwiespältigkeit behandelt, denn seine Mutter wollte sich einreden, er wäre ein Mädchen. Seine langen Locken wurden nicht geschnitten, er wurde in Kleider gesteckt und bei dem Mädchennamen gerufen, den seine Eltern für die langersehnte Erbin ausgewählt hatten. Diese ungewöhnliche Situation, erklärte mein Nachbar, verdankte sich uralter Gründe. Immer schon war das Schwammtauchen der wichtigste Wirtschaftszweig der Insel gewesen. Die jungen Männer waren versierte Taucher, die weit draußen vor der Küste arbeiteten. Doch der Beruf war gefährlich, die Lebenserwartung ungewöhnlich niedrig. So hatten die Frauen, nachdem unzählige Männer den Tod gefunden hatten, das Regiment über alle Finanzangelegenheiten übernommen, mehr noch, sie gaben es an ihre Töchter weiter.
»Es ist schwierig«, sagte er, »sich die Welt meiner Eltern in ihrer Glanzzeit vorzustellen, einerseits so heiter und dann wieder so abgestumpft. Zum Beispiel bekamen meine Eltern noch ein fünftes Kind, einen Jungen, der bei der Geburt einen schweren Gehirnschaden erlitt. Als der Familienwohnsitz nach London verlegt wurde, ließen sie ihn einfach auf der Insel zurück, wo er von verschiedenen Kinderschwestern betreut wurde. Diese Pflegerinnen gaben sich die Klinke in die Hand, und kaum einer machte sich die Mühe – schon gar nicht zu jener Zeit und aus solcher Entfernung –, ihre Eignung zu überprüfen.«
Der Sohn wohnte immer noch dort, ein alternder Mann mit dem Verstand eines Kleinkindes, und natürlich wäre er nicht in der Lage gewesen, seine Sicht der Dinge darzulegen. Mein Sitznachbar und seine anderen Brüder wurden ins Eiswasser eines englischen Eliteinternats gestoßen und lernten, wie Engländer zu denken und zu sprechen. Die Locken meines Nachbarn wurden abgeschnitten, zu seiner großen Erleichterung, doch zum ersten Mal im Leben wurde er mit Härte behandelt. Er lernte neue Arten des Unglücks kennen: Einsamkeit, Heimweh, die Sehnsucht nach Mutter und Vater. Er wühlte in der Brusttasche seines Anzugs und zog eine schwarze Brieftasche aus weichem Leder heraus, und aus der Brieftasche nahm er eine zerknitterte Schwarzweißfotografie seiner Eltern. Der Mann hielt sich kerzengerade, trug einen taillierten, bis an den Hals geknöpften Gehrock, hatte gescheiteltes Haar, dichte, gerade Augenbrauen und einen breiten, gezwirbelten Schnurrbart, alles so schwarz, dass es ihm den Anschein besonderer Grausamkeit verlieh; neben ihm stand eine Frau mit ernstem Gesicht, so rund und hart und undurchschaubar wie eine Münze. Das Foto sei Ende der dreißiger Jahre aufgenommen worden, sagte mein Nachbar, lange vor seiner Geburt. Die Ehe sei damals schon unglücklich gewesen, die Grausamkeit des Vaters und die Verbissenheit der Mutter mehr als nur Schein. Sie waren in eine erbitterte Willensschlacht verstrickt gewesen, und keinem war es je gelungen, die Gegner zu trennen; außer ein Mal, für die kurze Zeit vor ihrem Tod. Aber das, fügte er mit einem schwachen Lächeln hinzu, ist eine andere Geschichte.
Während er erzählte, schob sich eine Stewardess langsam durch den Gang heran, vor sich einen Metallwagen, aus dem sie Essen und Getränke austeilte. Nun war sie auf unserer Höhe und reichte uns die weißen Plastiktabletts. Ich bot dem Jungen zu meiner Linken eines an, woraufhin er die Spielkonsole wortlos und mit beiden Händen in die Höhe hob, damit ich es auf dem Klapptisch abstellen konnte. Mein Sitznachbar und ich pellten die Folie von unseren, damit Tee in die mitgelieferten weißen Plastiktassen geschenkt werden konnte. Er fing an, mich auszufragen, als hätte er gelernt, sich daran zu erinnern, sein Gegenüber nicht zu vergessen, und ich wunderte mich, wer oder was ihm beigebracht hatte, was viele Menschen niemals lernen. Ich erzählte ihm, dass ich seit kurzem in London wohnte und vorher in einem Haus auf dem Land gelebt hatte, drei Jahre lang allein mit meinen Kindern und in den sieben Jahren davor mit dem Vater der Kinder. Mit anderen Worten, dieses Haus war unser Heim gewesen, ich hatte lange dort gelebt und beobachtet, wie es zu einem Grab geworden war, wobei ich im Nachhinein nicht mit Bestimmtheit sagen konnte, ob dort die Wirklichkeit begraben lag oder ein Traum.
In einer Schweigepause tranken wir Tee und aßen die kleinen, weichen, kuchenartigen Gebäckstücke, die dazu gereicht wurden. Hinter dem Fenster dämmerte es lila. Die Motoren brummten beständig. In der Kabine dämmerte es ebenfalls, das Halbdunkel wurde von den Lichtstrahlen der Leseleuchten über den Sitzen durchbohrt. Das Gesicht meines Nachbarn war von meinem Platz aus kaum noch zu erkennen, denn es hatte sich in der lichtdurchsetzten Dunkelheit in eine Landschaft mit Hügeln und Furchen verwandelt, aus deren Mitte eine außergewöhnliche Hakennase aufragte und zu beiden Seiten tiefe Schattentäler warf, so dass ich seine Augen nicht mehr sehen konnte. Seine Lippen waren schmal, der Mund breit und leicht geöffnet; die Partie zwischen Nase und Oberlippe war langgezogen und fleischig, und er berührte sie oft, so dass seine Zähne selbst dann verborgen blieben, wenn er lächelte. Das Ende meiner Ehe, sagte ich als Antwort auf seine Frage, sei unmöglich zu erklären; eine Ehe sei unter anderem ein Glaubenssystem, ein Narrativ. Obwohl sie sich in Dingen zeigt, die wirklich sind, bleiben die Impulse, die sie am Laufen halten, letztendlich rätselhaft. Wirklich war am Ende nur der Verlust des Hauses, das zum konkreten Ort von Gegenständen geworden war, die womöglich für etwas Verlorenes standen und für die Hoffnung, es möge eines Tages wieder auftauchen. Aus dem Haus auszuziehen bedeutet, sich einzugestehen, dass wir das Warten aufgegeben hatten; unter der gewohnten Nummer, der gewohnten Adresse würden wir nicht mehr anzutreffen sein. Mein jüngster Sohn, erklärte ich, hat die sehr lästige Angewohnheit, den vereinbarten Treffpunkt sofort zu verlassen, wenn man sich auch nur um eine Minute verspätet. Er wird ungeduldig, macht sich auf die Suche und verirrt sich. Ich habe dich nicht gefunden!, weint er danach und ist jedes Mal untröstlich. Dabei besteht die einzige Hoffnung darin, zu bleiben, wo man ist, am vereinbarten Ort. Es kommt allein darauf an, lange genug durchzuhalten.
»Meine erste Ehe«, sagte mein Nachbar nach einer Pause, »ist aus ganz banalen Gründen zerbrochen, so erscheint es mir heute. Als Junge habe ich oft die Heuwagen beobachtet, die von den Feldern zurückkamen, sie waren überladen, kippten aber wie durch ein Wunder niemals um. Sie holperten voran, das Heu schwankte bedrohlich von Seite zu Seite, aber erstaunlicherweise fiel nie etwas herunter. Und dann eines Tages sah ich es doch – der Wagen lag auf der Seite und das Heu überall verteilt, die Leute liefen schreiend hin und her. Ich fragte, was passiert sei, und ein Mann sagte mir, der Wagen sei in ein Schlagloch gefahren. Das werde ich nie vergessen«, sagte er, »es war abzusehen gewesen und doch unglaublich. Meiner ersten Frau und mir erging es ähnlich«, sagte er. »Auf unserem Weg war ein Schlagloch, und da hat es uns erwischt.«
Heute wisse er, dass die Beziehung glücklich gewesen war, die harmonischste seines Lebens. Er und seine Frau hatten sich im Teenageralter kennengelernt und verlobt. Sie stritten nie, bis zu dem einen Streit, der alles zerstörte, was zwischen ihnen war. Sie hatten zwei Kinder bekommen und ein beträchtliches Vermögen angehäuft; sie besaßen ein großes Haus bei Athen, ein Apartment in London und eine Wohnung in Genf. Sie fuhren in den Skiurlaub, besaßen Pferde und eine Zwölfmeterjacht in der Ägäis. Sie waren beide noch jung genug zu glauben, dass das Wachstum etwas Exponentielles war, dass das Leben sich ewig erweitern und in seinem Vergrößerungsdrang nach und nach jede Form sprengen würde, in die man es einzuschließen versuchte. Nach dem Streit mit seiner Frau zog mein Nachbar, weil er zögerte, sein Zuhause endgültig zu verlassen, vorübergehend auf die Jacht. Es war Sommer und das Boot luxuriös ausgestattet; er konnte schwimmen, angeln und Freunde einladen. Wochenlang lebte er in diesem Zustand der Illusion, der eigentlich nur Taubheit war; wie die Taubheit nach einer Verletzung, bevor der Schmerz sich einen Weg bahnt und langsam, aber unaufhaltsam die dichte Benommenheit durchdringt. Das Wetter schlug um, auf der Jacht wurde es kalt und ungemütlich. Sein Schwiegervater bestellte ihn ein und forderte ihn auf, keine Ansprüche auf das gemeinsame Vermögen zu erheben. Er willigte ein. Er hatte geglaubt, er würde ein zweites Vermögen anhäufen und könnte es sich daher leisten, großzügig zu sein. Er sei sechsunddreißig Jahre alt gewesen und habe die Kraft des exponentiellen Wachstums immer noch in seinen Adern gespürt, die Kraft des Lebens, das aus der Form, in die man es gezwängt hatte, ausbrechen wollte. Er habe geglaubt, noch einmal alles haben zu können, nur mit dem Unterschied, dass er diesmal wollen würde, was er hatte.
»Und dann habe ich gemerkt«, sagte er und legte sich einen Finger an die fleischige Oberlippe, »dass das leichter gesagt ist als getan.«
Natürlich kam alles anders als geplant. Das Schlagloch hatte nicht nur seine Ehe aus der Bahn geworfen, sondern ihn auf eine gänzlich neue Route gebracht, auf einen langen, sinnlosen Umweg, auf eine Straße, auf der er eigentlich nichts zu suchen hatte. Manchmal glaubte er heute noch, auf dieser Straße unterwegs zu sein. Wie bei einer Laufmasche, die das ganze Kleidungsstück zerstört, war es schwierig, die Ereigniskette bis zu dem einen, entscheidenden Fehltritt zurückzuverfolgen. Und doch hatten diese Ereignisse den Großteil seines Erwachsenenlebens geprägt. Fast dreißig Jahre lag das Ende seiner Ehe nun zurück, und je weiter er sich von seinem ersten Leben entfernte, desto wirklicher erschien es ihm. Oder vielleicht nicht unbedingt wirklich, sagte er – was seither passiert ist, war wirklich genug. Das Wort, das er meinte, war authentisch: Seine erste Ehe war authentischer gewesen als alles, was danach kam. Je älter er wurde, desto mehr betrachtete er sie als eine Heimat, in die er sich zurücksehnte. Dabei stellte sich, wenn er sich in aller Aufrichtigkeit erinnerte oder wenn er mit seiner ersten Frau sprach – was inzwischen nur noch selten vorkam –, das alte Gefühl der Beklemmung sofort wieder ein. Gleichzeitig hatte er den Eindruck, dass sein Leben damals fast unbewusst gelebt worden war, dass er darin aufgegangen war und sich darin verloren hatte, wie man sich in einem Buch verliert, an dessen Handlung man glaubt und mit und durch dessen Figuren man lebt. Nie wieder hatte er sich später wieder so in eine Sache versenkt, nie wieder hatte er so rückhaltlos geglaubt. Vielleicht war genau das, der Verlust des Glaubens, der Grund für seine Sehnsucht nach dem alten Leben. Was immer auch die Erklärung war, er und seine Frau hatten etwas aufgebaut, zusammen hatten sie erlebt, wie aus ihnen mehr wurde als die Summe dessen, was sie waren und besaßen; das Leben hatte ihnen bereitwillig gehorcht, es hatte sie überhäuft, und nur deshalb – das erkannte er jetzt – hatte er überhaupt gewagt, alles wegzuwerfen, und zwar mit einer, wie ihm jetzt schien, unfassbaren Gleichgültigkeit, weil er dachte, es käme noch mehr.
Mehr wovon?, fragte ich.
»Mehr … Leben«, sagte er und öffnete die Hand in einer annehmenden Geste. »Und mehr Liebe«, fügte er nach einer Weile hinzu. »Ich wollte mehr Liebe.«
Er steckte das Foto seiner Eltern in die Brieftasche zurück. Die Fenster waren jetzt schwarz. Die Leute in der Kabine lasen, schliefen, unterhielten sich. Ein Mann in weiten, ausgebeulten Shorts lief im Gang auf und ab und schuckelte ein Baby an seiner Schulter. Das Flugzeug schien stillzustehen, fast bewegungslos zu sein, so wenig Austausch, so wenig Reibung gab es zwischen innen und außen; kaum zu glauben, dass wir vorankamen. Bei der Stockfinsternis draußen ließ die künstliche Beleuchtung alle Passagiere fleischlich und überdeutlich erscheinen; alle Details waren unvermittelt, unpersönlich, unendlich. Wann immer der Mann mit dem Baby vorbeikam, sah ich das Netzwerk aus Knitterfalten in seiner Hose, die sommersprossige Haut seiner derben Unterarme unter rötlichem Fell, die bleiche Wölbung seiner Taille, wo das T-Shirt in die Höhe gerutscht war, die zarten, faltigen Babyfüße, den kleinen, gekrümmten Rücken, den weichen Kopf mit dem ersten Haarwirbel.
Mein Sitznachbar wandte sich wieder mir zu und wollte wissen, welche Arbeit mich nach Athen führe. Zum zweiten Mal merkte ich, dass er bewusst nachfragte, als hätte er Übung darin, einzufangen, was sich seinem Zugriff zu entziehen drohte. Ich erinnerte mich daran, wie meine Söhne im Kleinstkindalter absichtlich Sachen vom Hochstuhl warfen, um sie zu Boden fallen zu sehen. Das Loslassen war ebenso reizvoll, wie dessen Folgen unerträglich waren. Sie starrten auf den heruntergefallenen Gegenstand hinunter – ein angebissener Zwieback, ein Plastikball – und wurden immer unruhiger, weil er nicht von allein zurückkehrte. Irgendwann fingen sie dann zu weinen an, und sie lernten, dass der heruntergefallene Gegenstand auf diesem Wege wiederkam. Ihre gleichbleibende Reaktion verblüffte mich stets aufs Neue: Sobald der Gegenstand wieder in ihren Händen war, ließen sie ihn los und beugten sich vor, um ihn fallen zu sehen. Ihr Entzücken ließ nicht nach, so wenig wie das nachfolgende Leid. Ich wartete, dass sie einsahen, wie unnötig das Leid war, und dass es sich vermeiden ließ, aber an diesen Punkt gelangten sie nie. Die Erinnerung an den Schmerz hatte keinen Einfluss auf ihr weiteres Vorgehen, ganz im Gegenteil, sie zwang sie zur Wiederholung, denn im Schmerz verbarg sich ein Zauber, der den Gegenstand zurücktrug und sein erneutes Fallenlassen erst möglich machte. Wenn ich ihnen den Gegenstand nach dem ersten Wurf nicht zurückgegeben hätte, hätten sie vermutlich etwas anderes gelernt; was das hätte sein können, wusste ich nicht genau.
Ich erzählte ihm, dass ich Schriftstellerin war und ein paar Tage in Athen verbringen würde, um an der Sommerakademie zu unterrichten. Der Kurs hieß »Wie man schreibt«. Verschiedene Autoren waren als Dozenten eingeladen, und da es nicht die eine Art zu schreiben gibt, nahm ich an, dass wir den Teilnehmern widersprüchliche Ratschläge erteilen würden. Die meisten waren Griechen, man hatte mir allerdings gesagt, dass sie in diesem Kurs auf Englisch schreiben würden. Einige andere waren dem Vorschlag mit Skepsis begegnet, aber ich fand ihn in Ordnung. Sollten sie doch schreiben, in welcher Sprache sie wollten; mir war es einerlei. Manchmal, sagte ich, führe der durch die Übertragung entstandene Verlust zu einem Zugewinn an Deutlichkeit. Zu unterrichten sei einfach eine Möglichkeit, meinen Lebensunterhalt zu verdienen, fuhr ich fort. Ich hätte aber ein paar Freunde in Athen, die ich während meines Aufenthaltes vielleicht besuchen würde.
Eine Schriftstellerin, sagte mein Sitznachbar und legte den Kopf schief, was seine Hochachtung vor dem Beruf genauso zum Ausdruck hätte bringen können wie seine absolute Unkenntnis. Beim Hinsetzen war mir aufgefallen, dass er ein zerfleddertes Buch von Wilbur Smith las, was aber, wie er jetzt richtigstellte, für seinen literarischen Geschmack keinesfalls typisch sei; er müsse jedoch zugeben, dass ihm auf dem Gebiet der Belletristik das Urteilsvermögen fehle. Lieber las er Sachbücher, Bücher voller Fakten und Interpretationen von Fakten, und er bildete sich ein, in diesem Bereich nicht ganz unbedarft zu sein. Er wusste einen guten Prosastil zu schätzen; einer seiner Lieblingsautoren war beispielsweise John Julius Norwich. Nur in der Belletristik war er zugegebenermaßen ungebildet. Er zog das Buch von Wilbur Smith heraus, das bis zu diesem Moment in der Sitztasche gesteckt hatte, und ließ es in die Ledermappe zu seinen Füßen fallen, wie um es verschwinden zu lassen, es zu verleugnen; vielleicht hoffte er sogar, ich würde vergessen, es je gesehen zu haben. Dabei interessierte mich die Literatur als Ausdruck von Snobismus oder als Mittel der Selbstverwirklichung nicht mehr. Ich hatte keinen Ehrgeiz zu beweisen, dass irgendein Buch besser war als irgendein anderes; ganz im Gegenteil, ich musste feststellen, dass ich, wenn ich etwas Beeindruckendes gelesen hatte, immer öfter dazu neigte, gar nicht darüber zu sprechen. Was ich persönlich als wahr erachtete, schien sich von dem Bedürfnis, die anderen zu überzeugen, abgelöst zu haben. Ich wollte niemanden mehr überzeugen, von gar nichts.
»Meine zweite Frau«, sagte mein Nachbar schließlich, »hat in ihrem ganzen Leben kein einziges Buch gelesen.«
Sie sei vollkommen ungebildet gewesen, fuhr er fort, nicht einmal die Grundlagen von Geschichte und Geografie waren ihr bekannt, und manchmal gab sie im Beisein von anderen die größten Peinlichkeiten von sich, ohne das geringste Schamgefühl. Schlimmer noch, es ärgerte sie, wenn die Leute über Dinge sprachen, von denen sie keine Ahnung hatte. Als sie zum Beispiel Besuch von einer Bekannten aus Venezuela bekamen, weigerte seine Frau sich zu glauben, dass so ein Land überhaupt existierte, schließlich hatte sie noch nie davon gehört. Sie selbst war Engländerin und von solcher Schönheit, dass man ihr zwangsläufig eine gewisse Vornehmheit unterstellte. Und tatsächlich steckte sie voller Überraschungen, wenn auch selten der angenehmen Art. Oft lud er ihre Eltern ein, gerade so, als könnte er die Tochter durchschauen, wenn er nur die Eltern lange genug studierte. Die Eltern kamen auf die Insel, wo das Haus seiner Vorfahren stand, und blieben manchmal wochenlang. Nie zuvor hatte er so fade, so nichtssagende Leute getroffen, und wie sehr er sich auch abmühte, sie zu animieren, sie blieben unempfindlich wie zwei Lehnsessel. Irgendwann hing er an ihnen, wie man an zwei alten Sesseln hängen kann, ganz besonders am Vater, dessen Schweigsamkeit so ausgeprägt war, dass mein Nachbar irgendwann zu der Vermutung gelangte, der Mann müsse eine schwere seelische Verwundung erlitten haben. Es rührte ihn zu sehen, wie sehr das Leben einen Menschen verletzen konnte. In seinen jungen Jahren hätte er dem Mann vermutlich keine Beachtung geschenkt, geschweige denn über die Gründe für dessen Schweigen nachgedacht; aber indem er seinen Blick für das Leid des Schwiegervaters schärfte, erkannte er sein eigenes. Es klinge trivial, doch könne man fast behaupten, dass diese Erkenntnis sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte. Durch einen einfachen Perspektivwechsel erschien ihm sein Schicksal plötzlich als eine moralische Reise. Er hatte innegehalten und sich umgedreht, wie sich ein Bergsteiger umdreht, der nach dem anstrengenden Aufstieg ins Tal hinunterblickt und die Route betrachtet, auf der er gekommen ist.