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Seit Jenny Aaron bei einem missglückten Einsatz vor fünf Jahren das Augenlicht verlor, arbeitet sie als Vernehmungsspezialistin beim BKA. Sie versteht es perfekt, zwischen den Worten zu tasten und das dahinter Verborgene zu erspüren. Als ihre früheren Berliner Kollegen sie bei einem Mordfall um Mithilfe bitten, wird Aaron jäh in ihre Vergangenheit gerissen: Reinhold Boenisch, für dessen Verurteilung sie als junge Polizistin sorgte, soll im Gefängnis eine Psychologin getötet haben. Aaron nimmt den Fall an und muss schon bald erkennen, dass Boenisch nur der Anfang ist – eine Schachfigur in einem Komplott. Nach und nach wird ihr offenbar, dass ihr bisheriges Leben eine einzige Vorbereitung auf die folgenden beiden Tage war. Um dieses Leben wird Aaron kämpfen müssen wie nie zuvor.

Andreas Pflüger wurde 1957 in Thüringen geboren, wuchs im Saarland auf und lebt seit vielen Jahren in Berlin. Er ist einer der renommiertesten deutschen Drehbuchautoren und schrieb die Vorlagen für über dreißig Filme, darunter viele Tatorte. Außerdem zeichnete er mitverantwortlich für die mehrfach preisgekrönten Werke Der neunte Tag und Strajk, beide in der Regie von Volker Schlöndorff. Endgültig ist sein zweiter Roman.

Andreas Pflüger

ENDGÜLTIG

Roman

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4770.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

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eISBN 978-3-518-74492-5

www.suhrkamp.de

Für Anne. Immer.

Sollte am Ende noch Zeit sein,

will ich mich nicht fragen,

warum ich sterben muss,

sondern wissen,

warum ich gelebt habe.

LA SAGRADA FAMILIA

Nichts beruhigt sie so wie das Reinigen ihrer Waffe. Jeder andere müsste die Patronenkammer kontrollieren, um sicherzugehen, dass sie leer ist. Sie nicht. Sie kennt das Gewicht des Magazins, das in ihre Hand gleitet, aufs Gramm genau. Sie weiß, dass keine Patrone im Lauf der Browning High-Power ist, wie sie weiß, dass ihre Augen grün sind. Und manchmal schwarz.

In vier Sekunden hat sie den Fanghebel nach unten gedrückt, den Schlitten entriegelt, ihn abgezogen, Feder und Lauf flüssig herausgenommen. Belgische Wertarbeit.

Wie oft war sie dankbar dafür.

Das erste Mal tötete sie mit zweiundzwanzig, als ein Drogendealer ihr das Leben nehmen wollte und nicht bedachte, dass es dazu zwei braucht.

Ein Jahr später war sie bei der Lösegeldübergabe auf den Moment vorbereitet, in dem die Tasche mit den Zeitungsschnipseln geöffnet wurde, aber nicht auf den Zwei-Zoll-Revolver, den der Entführer des kleinen Jungen in einem Wadenholster hatte. Die nächsten Monate konnte sie nur mit Licht schlafen.

Er war nicht der Letzte.

Sie wird sich für alle Zeit an jeden erinnern.

In Moskau fand sie der Killer, der sie von Ilja Iwanowitsch Nikulin grüßen sollte. Er spielte in der Tiefgarage des Hotels Aralsk Katz und Maus mit ihr, bis sie die Katze war und er die Maus und sie ihn fiepen hörte. Sein Bauchschuss kümmerte sie nicht. Aber noch heute starrt die junge Hotelangestellte sie an, die ein Querschläger aus ihrer Browning ins Herz getroffen hatte, sieht sie die Augen der Frau, deren Hand sie hielt, so lange es dauerte.

Über dem Waschbecken des luxuriösen Badezimmers pinselt sie Lauf und Verschluss sorgsam mit Waffenöl ein und denkt daran, dass sie ihre Pistole ein einziges Mal nicht gereinigt hat.

Neapel. Die Gasse bei der Basilica di Santa Chiara, wo der Capo des Mazzarella-Clans wartete, mit dem sie über den Scheinankauf von zehn Millionen Euro Falschgeld verhandelt hatten. Als das hingerotzte Wort »Puttana« ihr verriet, dass sie enttarnt war, spielte es keine Rolle, wie schnell sie war.

Sie drückte ab, aber der Schuss löste sich nicht.

Am Vortag hatten Niko und sie für einige Stunden nach Berlin zurückfliegen müssen. Der Innenstaatssekretär verlangte, persönlich über den Stand der Dinge informiert zu werden; ein Schildkrötenmensch, der nie verstehen würde, was der Unterschied zwischen einer Aktennotiz und dem Kaliber .357 Magnum ist. Hinterher reagierte sie sich im Schießkino ab, dreihundertfünfzig Patronen, musste in aller Eile zum Flughafen, wieder nach Neapel zu ihrem Treffen mit dem Capo, wo die Browning wegen der Kondensate, der Verbrennungsgase und Pulverrückstände eine Ladehemmung hatte.

Das wird ihr für immer eine Lehre sein.

Der Lauf seiner Luger saß auf ihrer Nasenwurzel. Verwundert wurde sie gewahr, dass sie keine Angst hatte. Sie dachte nur, dass die Zahnlücke des Capos, die er wölfisch entblößte, das Letzte war, was sie in ihrem Leben sehen würde.

Doch er fiel vor ihre Füße ohne einen Laut.

Niko.

Ein Kopfschuss aus hundert Metern mit einem Colt.

So was kann man nicht lernen.

Sie schrubbt alle Teile der Waffe mit einer Kinderzahnbürste ab, achtet darauf, dass sie keine Ritze auslässt, sieht zufrieden, dass das Öl tiefschwarz wird; nur dann ist es richtig. Sie schiebt die Zahnbürste in den Lauf und reinigt ihn von innen. Es ist ihr bewusst, wie gern sie den Stahl anfasst, der unzerstörbar ist und dabei weich und warm.

So war es, seit ihr Vater sie als zwölfjähriges Mädchen zum ersten Mal in den alten Steinbruch mitgenommen hatte. Er lehrte sie alles übers Schießen, was ein Polizist seiner Tochter weitergeben kann.

Ihre erste eigene Waffe bekam sie an ihrem achtzehnten Geburtstag. Eine gebrauchte, aber gepflegte Starfire 9 mm, die nur vierhundert Gramm wog und sich in ihre Hand schmiegte. Sie liebte diese Pistole, ein Tausendschönchen.

Jetzt reibt sie den Stahl ab und schnuppert daran.

Genießt den Geruch. Nussig. Süß. Rein.

Vier Sekunden, um die Browning wieder zusammenzusetzen.

Das satte Schmatzen, mit dem der Schlitten einrastet, ist der beste Betablocker.

Aber nicht heute.

Jenny Aaron geht ins Schlafzimmer der Suite. Niko Kvist liegt auf dem Bett. Er studiert zum dritten Mal das Dossier. Aaron muss das nicht. Ihr Gedächtnis ist eine Hochleistungssoftware; sie brauchte nur fünf Minuten, um alles abzuspeichern:

Im Februar 1912 malte Marc Chagall in Paris »Die Traumtänzer«; zwei Liebende, engumschlungen auf einem schwindelerregend hohen Seil zwischen den Türmen von Notre Dame. Er mochte das Bild so sehr, dass er es behielt. Als er kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges in seine russische Heimat zurückkehrte, schenkte er es seiner Muse und späteren Frau Bella.

Anfang der Zwanzigerjahre nahmen sie es mit nach Berlin, wo es in ihrem Schlafzimmer hing und Bella verzückte. Doch als Chagall ihr eine Affäre beichtete, verkaufte sie »Die Traumtänzer« einem jüdischen Galeristen, um ihren Mann zu strafen.

Vier Jahre nach ihrer Machtergreifung ließen die Nazis alle Werke Chagalls, derer sie habhaft wurden, konfiszieren und verspotteten sie und andere im Münchner Haus der Kunst als »entartet«. Anschließend sollten die Ausstellungsstücke in Luzern verscherbelt werden. Aber der Nachtwächter des Museums, einsam seit dem frühen Tod seiner Frau, hatte sich in »Die Traumtänzer« verliebt und betrachtete sie in vielen Stunden. Er war kein mutiger Mann. Dennoch war ihm der Gedanke, das Bild nie mehr anschauen zu können, so unerträglich, dass er es vor dem Abtransport verschwinden ließ und sich erfolgreich dumm stellte. Bis zum Kriegsende versteckte er es auf seinem Dachboden. Danach hing es in seinem Wohnzimmer gegenüber einer Schrankwand im Gelsenkirchener Barock.

Als er hochbetagt gestorben war, ließen seine Kinder das Gemälde schätzen. Natürlich durften sie »Die Traumtänzer« nicht behalten. Sie fielen der wohlhabenden Enkelin des Galeristen zu, der sie von Bella Chagall erworben hatte. Sie wusste, was ihrem Großvater dieses Bild bedeutet hatte, und wollte sein Andenken in Ehren halten; darum überließ sie es der Berliner Nationalgalerie als Dauerleihgabe.

Dort wurde es gestohlen. Mitten am Tag aus dem Rahmen geschnitten. Kaltblütig. Präzise. Spurlos.

Zwei Jahre: nichts.

Anfang November erhielt Niko den Tipp eines Informanten: Ein Mann namens Egger habe den Chagall. Niko benötigte drei Wochen, um in Brügge den Kontakt herzustellen.

Seine Legende: Investmentbanker, kunstverrückt.

Egger wollte drei Millionen Pfund Sterling. In Barcelona.

Deshalb sind sie hier. Zwei Verdeckte Ermittler mit einer Tasche voll Geld.

Aarons Legende: die Expertin, die das Bild begutachten soll.

Niko steht auf. Er legt den Arm um Aaron und streicht zärtlich über ihre Wange. Er riecht gut. Sie sind seit einem Jahr zusammen. In der Abteilung darf keiner davon wissen, sonst wäre es ihnen verboten, gemeinsam zu arbeiten. Sie können gut mit Geheimnissen. Aber sie haben so wenig Zeit füreinander. Dreimal war Niko in diesem Jahr auf Einsätzen, die es ihm nicht erlaubten, nach Berlin zurückzukehren. Und Aaron zweimal. Warschau, Helsinki. In den vierzehn Tagen Urlaub kamen sie in Marrakesch aus dem kleinen Riad am Djemaa el Fna kaum heraus. Sie waren Traumtänzer in der Gluthitze der Tage und der Kälte der Nächte. Eisig drängte der Wind vom Atlas in die Gassen. Es war ihnen ebenso egal wie Essen und Trinken.

Barcelona ist nach Neapel erst ihr zweiter gemeinsamer Auftrag. Aber damals in Neapel schlichen sie noch umeinander herum wie zwei Katzen, die sich einen Milchtopf teilen. Sie weiß jetzt: Es macht einen Unterschied, ob man mit dem Mann, den man liebt, im Urlaub schläft oder vor einem Einsatz. Warum ist sie so verkrampft? Sie versteht es nicht. Barcelona ist Routine, sie hat schwierigere Missionen ausgeführt. Und doch konnte sie letzte Nacht nicht schlafen, war beherrscht von einem Zittern, während Niko neben ihr atmete wie ein Kind.

Einsam suchte sie nach der Zahl hinter diesem Zittern.

Jeder Zahl von eins bis zehn hat sie ein Gefühl zugeordnet. Die Eins steht für die Lust; zwei bedeutet Dankbarkeit; vier ist die perfekte Kontrolle; fünf sagt Verachtung; sechs Mitleid; sieben, etwas nicht erwarten zu können; acht meint den Stolz; neun heißt fast glücklich sein. Die Zehn ist das Adrenalin.

An die Zahl Drei versucht sie nie zu denken.

Es wird Zeit.

Sie legt die Browning zu Nikos Colt in den Zimmersafe. Wo sie hingehen, können sie keine Waffen mitnehmen.

Die Fahrstuhltür schließt sich. Drei Stockwerke. Aaron verlagert ihr Gewicht von einer Seite auf die andere und wieder zurück, dehnt ihren Nacken, schiebt die Schulterblätter zusammen, lässt sie kreisen, dreht die Arme, spreizt die Zehen in den Ballerinas, lockert sich, um Körperspannung aufzubauen.

Ohne dass es ihr bewusst ist, fasst sie an die Narbe auf ihrem linken Schlüsselbein. Nicht ihre einzige. Aber die Eine.

Niko sagt: »Ich kenne ein tolles Restaurant am Park Güell. Wie wär’s, wenn wir einen Tag dranhängen und morgen feiern?«

»Andermal.« Nicht ums Verrecken bleibt sie länger hier.

In der Lobby sitzt ein Junge neben seiner Mutter. Er hat ein uraltes Gesicht, Augen wie Steine, auf denen Meersalz trocknet. Er liest einen Comic. Daredevil, der blinde Rächer. Aaron spürt den Blick des Jungen im Rücken. Sie schaut zurück. Seine Mutter ist aufgestanden und will ihn zum Fahrstuhl ziehen, doch er rührt sich nicht, bleibt sitzen, starrt Aaron an.

Der Kollege von der Spezialeinheit der Mossos d’Esquadra, der ihren Chauffeur mimt, hält den Wagenschlag des Daimlers auf. Jordi. Die beiden anderen, Ruben und Josue, spielen die Bodyguards und folgen mit einer zweiten Limousine.

Die Jungs sind ihre Lebensversicherung.

Jordi fährt schnell. Wuchtige Rechtecke aus Stahlbeton, Siebziger, hingeklotzt. Aaron mag alles, was geometrisch ist.

Barcelona atmet das letzte Licht. Der Himmel ist ein Feuerläufer über glühende Kohlewolken.

Eine Zehn Plus. Das Adrenalin brandet gegen ihre Herzkammern. Sie kennt vier Arten. Das Adrenalin unmittelbar vor dem Kontakt: Erwartet mich ein Händedruck oder eine Kugel? Das Adrenalin in Todesnähe. Das Adrenalin der Verwundung. Das Adrenalin, wenn man an den Fehler denkt.

Mit einem Fehler muss man immer rechnen.

Niko sagt: »Schau.«

Aaron weiß, dass sie La Sagrada Família sehen wird, Gaudís Tempel des Wahnsinns, Triumph des Glaubens, Ruine des Katholizismus, Monument des größten Sieges und grausamsten Scheiterns, atemberaubend, herrlich, aber zugleich die verstörende Abwesenheit jeder Ordnung, maßlos, furchteinflößend.

Sie wendet den Kopf und blickt aus dem Fenster.

Doch dort ist nichts. Gar nichts.

Die Kathedrale ist verschluckt von einem schwarzen Loch, einem Schlund, in den das Licht hineinstürzt, der sich ausdehnt wie das Universum, Jordi, Niko und Aaron einsaugt, als seien sie Asteroiden am Rand einer Galaxis.

Panisch will sie nach Niko tasten, doch ihre Hand ist von ihrem Körper abgeschnitten und gehorcht ihr nicht.

Aaron schließt die Augen und öffnet sie wieder.

Sie stehen an der Kreuzung zur Carrer de Mallorca. Laternen glimmen auf. Taxifahrer lachen am Stand. Liebende finden sich vor einem Kino. Ein Hund zerrt an der Leine. Ein Kind weint.

Aaron flüstert: »Nenn eine Zahl zwischen eins und zehn.«

Nikos Blick ist verwundert, spöttisch.

»Bitte.«

»Drei.«

Sie sind zu dritt und warten bereits vor dem Lagerhaus am Hafen. Schwarzer Audi. Sie sieht sofort, dass er optimiert wurde.

Egger ist groß, hager; geschmeidig trotz der Fünfundvierzig, auf die sie ihn taxiert. Budapester Schuhe. Der Anzug ist maßgeschneidert, der Krawattenknoten messerscharf. Im Knopfloch steckt eine weiße Kamelienblüte. Die Hand, die er ihr reicht, ist manikürt, kühl, glatt. Er hat die Gelassenheit eines Mannes, der Dostojewski im Original liest. Aber die austrainierten Halsmuskeln sind gespannt wie Stahlseile, selbst als er den Kopf nur leicht neigt und mit weicher, sonorer Stimme zu Aaron sagt: »Auf Sie hätte ich sogar zwei Minuten gewartet.«

Er ist arrogant. Vermutlich weil er selten Menschen begegnet, deren Intelligenz sich mit seiner messen kann. Aaron zweifelt nicht, dass er weiß, wie kostbar das Bild ist. Sicher kennt er nicht allein den Marktwert. Nein, den wirklichen Wert, die Wahrheit und Hellsicht und Tiefe, die Chagall »Die Traumtänzer« in nur einem Tag malen ließen, die Kraft, die auch Aaron fühlte, als sie sich eine Reproduktion ansah.

Wie schön das Original sein muss.

Plötzlich fragt sie sich, warum Egger es nicht behalten, sondern verscherbeln will.

Er macht keine Anstalten, ihnen die Frau und den vielleicht zehn Jahre jüngeren Mann vorzustellen, die bei ihm sind. Die Frau ist attraktiv und selbstbewusst. Sie verrät einen bemerkenswerten Gleichgewichtssinn, als sie auf Zwölf-Zentimeter-Stilettos ums Auto herumstöckelt. Hielte sie ein randvolles Wasserglas in der Hand, würde sie nicht einen Tropfen verschütten.

Der Jüngere hat Augen wie schwarze Plastikjetons, flach und leblos. Ohne die Kippe, die im Mundwinkel gammelt, könnte man denken, er hätte keine Lippen. Die Nase war gebrochen und wurde schlampig gerichtet. Auf dem rechten Handrücken wuchert ein Feuermal, angeboren.

Aber die Ähnlichkeit mit Egger ist nicht zu übersehen.

Brüder. Seltsam.

Beide tragen Holster, das kann Egger selbst mit dem Zweireiher aus der Savile Row nicht kaschieren. Aaron wettet, dass Jetonauges ganzer Stolz eine Glock 33 ist. Egger hat so etwas bestimmt nicht nötig. Er ist keiner, der mit Munition protzt. Außerdem hat er Stil; eine Waffe mit Plastikgriff würde nicht zu ihm passen. Eher eine Remington 1911 oder eine Beretta Target.

Die Holster sind leer, auch das erkennt Aaron auf Anhieb.

Eine vertrauensbildende Maßnahme.

Niko fragt: »Wo ist das Bild?«

»Wo ist das Geld?«

Niko nickt Jordi zu, der die große Tasche auf dem Beifahrersitz des Daimlers öffnet. In Berlin war erwogen worden, Blüten zu verwenden. Aber der Zugriff würde erst erfolgen, wenn sie das Bild hatten. Da sie damit rechnen mussten, dass es sich nicht am Ort der »Vorzeigeaktion« befindet, hatte man sich für saubere gebrauchte Banknoten entschieden.

Eggers Blick huscht derart beiläufig darüber, dass es an Hohn grenzt. Er hebt das Jochbein einen Millimeter; eine Art Lächeln. »Nur Sie, die Frauen und ich. Ihre Männer bleiben hier mit ihm.« Dem Bruder. »Betrachten Sie ihn als Pfand.«

Niko denkt kurz darüber nach. »Einverstanden.«

Sie folgen Egger und der Frau ins Lagerhaus.

Und Aaron weiß: Das war der erste Fehler.

Sie wollte bewaffnet gehen, ein Wadenholster unter ihrer weiten Hose, doch die Entscheidung lag bei Niko, der Egger schon kannte. »Er traut nicht einmal jemandem, der so schön ist wie du. Er wird uns beide filzen.«

Hat er nicht. Warum?

Sie schaut über die Schulter zurück. Die Katalanen schütteln die Köpfe, als Jetonauge ihnen seine Zigarettenschachtel hinhält. Gute Jungs, davon hatte sie sich bei einem Schießtraining überzeugt. Danach waren sie alle bei Ruben zum Abendessen eingeladen. Kinder, die über die Möbel tobten, Lachen, Paella, Schnaps aus Andorra, der ihnen Tränen in die Augen trieb.

Später ging sie auf die Terrasse, um zu rauchen. Bäume verhandelten mit dem Wind. Durch das Blattwerk schimmerten Fenster wie in einem Adventskalender. Was würde am 3. Dezember für Aaron drin sein? Partymusik, nah. Aber Aaron war weit fort. Jordi kam und schnorrte eine. Sie rauchten wie zwei, die wissen, dass nicht hinter jedem Fensterchen Schokolade ist.

Jordi sagte: »Ich bin zu lange dabei. Ich schlafe nicht mehr. Im Januar kriege ich einen Schreibtisch.«

Die Tür des Lagerhauses fällt hinter Aaron ins Schloss. Ein Kaffeedepot. Die Aromen sind so intensiv, dass ihr kurz die Luft wegbleibt. Löwenzahn, karamellisierter Zucker, feuchter Pfeifentabak, frisch gespaltenes Holz.

Auf einem Kaffeesack eine Kartusche. Das Bild.

Aaron fragt: »Darf ich?«

Die Frau reicht ihr die Kartusche.

Sie hat ein außergewöhnliches Gehör. Einmal kullerten Pavlik im Schießkino einige Patronen von der Waffenablage.

Aaron wusste, ohne hinzusehen: fünf.

Als sie jetzt draußen ein dreifaches trockenes Ploppen hört, weiß sie, dass in der Kartusche kein Bild ist.

Dass Jordi den Schreibtischjob nie antreten wird.

Wie durch Magie hat der Mann, der sich Egger nennt, eine Remington in der Hand. Aaron fliegt über Säcke, spürt den Luftzug von Kugeln, rollt sich ab, schnellt in derselben Bewegung hoch, sieht Niko zusammenbrechen, rennt im Zickzack in die hintere Halle, während eine glühende Zange nach ihrem Arm schnappt und sie nichts anderes denkt als: Niko! Niko! Niko!

Zwei Türen, Roulette. Sie setzt alles auf Rot, reißt die rechte auf und ist in einem stockdunklen Gang. Stolpernd tastet sie sich voran, bis sie gegen eine Wand stößt. Falsche Tür, Sackgasse. Sie presst sich in eine Nische. Etwas Heißes rinnt über ihren Arm. Kein Schmerz. Das Licht geht an. Ihr Herz pumpt wie eine Maschine rasende Angst in die Blutbahn. Tänzelnde Schritte. Die Frau hat die Stilettos ausgezogen und ist barfuß.

Noch fünf Meter. Aaron sieht den Lichtschalter an der Wand gegenüber. Zu weit weg. Sie dreht den Gedanken wie eine Münze, sucht nach der Alternative.

Keine.

Noch vier.

Drei.

Aaron fliegt aus der Nische. Die Frau feuert. Rechte Hand, Streifschuss. Aarons Faust drischt auf den Schalter. Finsternis. Sie lässt sich fallen, zwei Schüsse ins Leere. Ihre Beinschere holt die Frau von den Füßen. Zeige- und Mittelfinger stechen steif gegen den Solarplexus der anderen, die röchelnd nach Luft giert. Aaron merkt, dass die Frau den Waffenarm anwinkelt, packt ihren Kopf über Kreuz, reißt ihn mit aller Gewalt herum und hört, wie das Genick bricht.

Sie nimmt die Pistole, ertastet eine Walther, zieht das Magazin raus. Leer. Die Herzmaschine jagt Verzweiflung in die Venen. Aber vielleicht ist eine Kugel im Lauf.

Bitte, bitte, bitte.

Sie zittert zu stark, hat kein Gefühl für das Gewicht. Traut sich nicht, den Schlitten zum Check zurückzuziehen, zu laut.

Ihr Puls ist viel zu hoch. Er muss auf sechzig bis siebzig runter, und sie ist bei über zweihundert. In diesem Zustand könnte sie nicht einmal abdrücken.

Aaron zwingt sich, langsam mit dem Zwerchfell zu atmen, vergrößert ihr Lungenvolumen, versorgt ihre Muskeln mit reinem Sauerstoff und gestattet sich dreißig Sekunden, um den Puls zu drosseln. Genug?

Sie steht im Finstern. Atmet ein letztes Mal tief ein, aus. Halb ein, halb aus. Ihre rechte Hand fühlt den Lichtschalter.

Jetzt.

Aaron macht das Licht an. Jetonauge. Fünfzig Meter. Ihr Finger zuckt gegen den Abzug. Nie hat sie ein besseres Geräusch gehört als diesen Schuss. Sie trifft Jetonauge in den Hals. Er dreht sich halb und kippt um. Sechzig trommelnde Schritte. Jetonauge starrt zur Decke. Die Schlagader ist nicht verletzt, aber er kann sich nicht bewegen. Schock. In seiner Glock 33 mit Schalldämpfer fehlen drei Patronen. Jordi, Ruben, Josue.

Sprung in die Halle, Stand, beidhändig zielen, Körperfläche verkleinern. Kein Egger.

Niko! Niko! Niko!

Er liegt in Fötusstellung neben der Kartusche. Das Hemd ist nass von Blut. Zwischen den Lippen tritt roter Schaum hervor. Die Stimme ist so leise wie sein Atem im Schlaf. »Verschwinde.«

Aaron versucht, ihn hochzuhieven, neunzig Kilo Muskeln, schafft es nicht. Versucht es wieder. Versucht und versucht es.

Wo ist Egger?

Niko packt ihre Hand. Er zieht sie zu sich heran, ihr Ohr an seinen Mund. Sie versteht die Worte, aber begreift sie nicht.

»Du musst«, quält er sich ab.

Egger zaubert sich in die Halle wie auf eine Bühne. Aaron wirft sich hin. Sie feuern gleichzeitig. Fünf Schüsse, die wie ein einziger klingen. Er taucht weg. Sie weiß nicht, ob sie getroffen hat. Nein. Sie hört, dass er ein neues Magazin in den Schaft treibt.

Nikos Blick. Eine Ewigkeit.

Sie rennt los. Die Remington hämmert. Sie klemmt die Glock zwischen die Zähne und katapultiert sich mit einem doppelten Flickflack nach draußen. Wird getroffen, wieder der rechte Arm, verliert die Balance, kracht auf den Rücken, gibt über Kopf zwei Schüsse durch die Tür ab, rollt sich in Deckung.

Sieht die drei Leichen.

Aaron will hochfedern, aber spürt ihren Körper nicht mehr. Sie betet, dass das Notaggregat anspringt und die fünf Prozent Reserve freigibt, die ein Mensch noch hat, wenn er denkt: aus.

Sie krümmt einen kleinen Finger.

Geht.

Zwei Finger.

Geht.

Beweg dich!

Sie kriecht zum Daimler. Fällt hinters Steuer.

Der Schlüssel steckt.

Die schwere Limousine springt fauchend los. Egger hechtet aus der Halle. Kugeln zerfetzen die Seitenscheibe. Ein Projektil brennt eine Schneise in Aarons Nacken. Der Wagen schlingert in die Via de Circulació. Fünfhundert Meter Vollgas. Sie fliegt über den Zubringer auf die Stadtautobahn. Links ahnt sie schroffe Felsen, rechts rasen Hafenlichter vorbei wie Photonen in einem Teilchenbeschleuniger.

Jetzt erst spürt sie die Schusswunden. Ihr rechter Arm ist wie aus Eis, die Hand ein Feuerball. Blut läuft ihren Rücken hinab.

Aaron schaut in den Spiegel.

Und sieht den Audi.

Sie tritt das Gaspedal bis zum Kickdown durch und treibt das Fahrzeug auf zweihundertfünfzig. Trotzdem holt Egger auf. Sein Wagen ist fünfhundert Kilo leichter und hat doppelt so viel PS. Vor ihr schert ein Van aus, der einen Laster überholen will. Sie zieht von der Überholspur auf den Standstreifen. Der Außenspiegel schrammt ein Verkehrsschild, wird abgerissen und in die Finsternis gewirbelt.

Egger klebt an Aarons Heck. Sie tauchen in den Tunnel an der Plaça de les Drassanes ein.

Zweihundertsechzig.

Verzweifelt erkennt sie: Alles rausgeholt.

Er setzt den Audi mühelos links neben Aaron.

Sie sehen einander an.

Ein Moment, der alle Zeit überdauert.

Vor sich ahnt sie einen Schatten, ein Auto. Ihr Blick zuckt auf die Fahrbahn, kein Standstreifen mehr, sie kann nicht ausweichen, weiß, ihr bleiben nur noch Wimpernschläge, während sie mit dem verletzten Arm die Waffe hochreißt.

Ihr Finger ist am Abzug, doch Egger ist schneller.

Etwas explodiert in Aarons Kopf. Ein Blitz zerschneidet die Welt wie Papier. Sie sieht alles extrem verlangsamt, in blendendem Weiß wie in einem grotesk überbelichteten Film: den Himmel des Autos, der sich dreht, bis er unter ihr ist, die Scheine, die wie welke Blätter aus der Geldtasche flattern, ihr Gesicht im Rückspiegel, amorphe Landschaft, Schneewüste, ewiges Nichts.

Dann dasselbe noch einmal, aber in tausendfacher Geschwindigkeit, ein einziger Wirbel, Schmerz, Schrei.

Und erneut ein Blitz.

Innerhalb einer Nanosekunde ist die Welt weg.

Aaron hört, wie Stahl sich in Beton frisst und es schließlich still still still ist. Das Letzte, an das sie sich erinnern wird, ist der Kaffeegestank, widerlich wie kalte Asche.

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Die Stewardess fragt zum zweiten Mal: »Mit Milch?«

»Schwarz.« Aaron streckt die Hand aus und spürt, wie der Becher hineingedrückt wird. Der Pilot gibt durch: »In dreißig Minuten landen wir in Berlin. Es schneit bereits den ganzen Morgen. Bleiben Sie angeschnallt, wir rechnen mit Turbulenzen.«

Sie zwingt sich, den Kaffee zu trinken.

Seit Aaron beim BKA in Wiesbaden arbeitet, boten sich mehrfach Anlässe für Dienstreisen nach Berlin. In Treptow besitzt das Amt eine wichtige Dependance, in der unter anderem die Sicherungsgruppe, das Terrorabwehrzentrum und das Referat »Spezialeinsätze« angesiedelt sind. Aaron konnte das jedoch immer abwenden.

Sie wuchs im Rheinland auf, aber mit Anfang zwanzig wurde Berlin ihre Heimat, und obwohl sie fünf Jahre nicht mehr dort war, blieb es das irgendwie bis heute. Das fühlt sie ganz deutlich, mit jedem Kilometer, den sie sich der Stadt nähert. Ungeduld greift Raum in ihr, die Freude aufs Ankommen, ein Kribbeln. Es irritiert sie, denn bei dieser Rückkehr, den vierundzwanzig Stunden, die sie bleiben wird, ist die Angst ihr Gepäck.

Fünf Jahre. Aaron hat nicht einmal ihre Schöneberger Wohnung aufgelöst, das tat ihr Vater für sie.

In Berlin ließ sie nur wenige Menschen zurück, die sie vermisst. Das Leben, das sie führte, erlaubte ihr kaum Freunde. Eigentlich gab es nur Pavlik und seine Frau Sandra. Als sie mit fünfundzwanzig zu der Abteilung ohne Namen stieß, kümmerte er sich gleich um sie.

Die einzige Frau unter vierzig Männern.

Von Pavlik erfuhr sie, dass alle, ganz gleich, wie lange sie dabei waren, die Nächte kannten, in denen das Zittern kommt.

Das war für Aaron eine große Erleichterung: in den Arm genommen zu werden und auch andere trösten zu dürfen.

Dennoch hat sie Pavlik in den Jahren, die seit Barcelona vergangen sind, nicht mehr gesprochen. In den ersten Monaten telefonierten sie. Pavlik versuchte, so zu tun, als sei in Spanien nichts Großes passiert, flüchtete sich in Coolness, weil er nur so damit umgehen konnte. Und Aaron fand keine Worte dafür, was es für sie bedeutet, bis heute nicht. Irgendwann hörten sie einander nur noch atmen. Dann blieben die Anrufe aus.

Werde ich seine Stimme erkennen?

»Wir beginnen jetzt unseren Landeanflug auf Berlin-Schönefeld. Bitte klappen Sie die Tische hoch und bringen Sie die Lehnen in eine aufrechte Position.«

»Na toll!«

Als der Sitznachbar Aaron wütend den Kaffeebecher zuwirft, wird ihr klar, dass sie ihn halbvoll auf dem Tisch vergessen und über die Hose des Mannes gekippt haben muss.

»Sind Sie blind?« faucht er.

»Ja.«

Die Bodenstewardess führt Aaron in die Halle. »Sie werden sicher in Empfang genommen?« Lässt sie allein.

Wie sie so dasteht, mit dem ruhigen Blick, das Köfferchen neben sich, könnte sie eine ganz normale Frau Mitte dreißig sein, hochgewachsen, attraktiv. Auch dass Aaron innerlich bebt, weil sie weiß, wer sie abholen wird, verrät sie durch nichts. In der allerersten Zeit trug sie eine gepunktete Binde. Doch es kam vor, dass sie auf dem Trottoir stand oder im Kaufhaus, in Gedanken, mit keinem besonderen Ziel. Und plötzlich wurde sie ohne Anrede gepackt und weggezerrt, weil ein übereifriger Helfer dachte, dass sie über die Straße wollte oder zur Rolltreppe. Wenn sie protestierte, konnte es sein, dass der Mensch sie, völlig überfordert, einfach irgendwo zurückließ, um sich zu verkrümeln. Und sie wusste nicht mehr, wo sie war.

Aaron tippt auf ihre Armbanduhr. Die Computerstimme teilt mit: »Sechster Januar. Mittwoch. Acht Uhr, vierzehn Minuten, siebzehn Sekunden.«

Vielleicht wurde der Flug verwechselt. Und dann? Taxi?

Ein Horror. Man stellt sich dorthin, wo das erste Taxi sein könnte, hört, dass Koffer verladen und Adressen genannt werden, nächstes Auto, Türenschlagen, Abfahrt, und man selbst hält Mahnwache wie ein Zeuge Jehovas. Winken würde lächerlich wirken. Hat man Glück, raunzt einen irgendwann ein Kutscher an: »Mensch, warum steigen Sie nicht ein?«

Mit einem Mal weiß Aaron, dass Niko schon die ganze Zeit da ist und sie betrachtet.

Milz- und Lungensteckschuss. Zwei Liter Blut verloren.

Überlebt.

Endlich berührt er sie an der Schulter. »Hallo.« Er umarmt sie, als hätten sie sich gestern verabschiedet.

Aaron riecht Jodtinktur. Beim Rasieren geschnitten. Sie will nicht, aber ihre linke Hand will, fasst unter seine Lederjacke und streift den Griff der Waffe. Eine Makarov Single Action.

Er nimmt ihren Koffer, sie gehen zum Ausgang. Früher trug Aaron meist flache Schuhe. Als Blinde sind die stählernen Absätze der Hochhackigen ihr Echolot. Auf hartem Untergrund wie hier, doch nur an ruhigeren Orten, in geschlossenen Räumen. Im Terminal ist es zu laut. Aaron driftet durch einen Dom aus Lärm, dem Raunen, Rufen, Palavern vieler Stimmen, rumpelnden Gepäckwagen, bimmelnden Handys, Babygezeter, einer scheppernden Durchsage in schlechtem Englisch und einer zweiten, deutschen, die sich dazwischenschummelt und mit der anderen kabbelt. Sie muss sich bei Niko einhängen.

Draußen springt ihr die Kälte ins Gesicht. Schneeflocken tanzen auf der Haut. Nikos leichter, wiegender Gang, der sie nicht täuschen kann, weil sie einmal ein Raubtier war wie er.

Aaron schnipst wiederholt kräftig mit ihren Fingern, weiß, dass Niko sich wundert, erklärt es nicht, orientiert sich. Jedes Ding reflektiert den Schall anders, hat seine eigene Welle. Aber ein Problem ist natürlich die Geräuschkulisse. Wenn sie länger in der Stadt unterwegs war, hat sie abends Kopfschmerzen und ist wie zerschlagen.

»Vorsicht, Mülleimer«, sagt er.

Weiß sie längst. Auch weil sie vergammelte Bananenschalen und einen ollen Hamburger riecht.

Noch besser wäre Schnalzen, Aarons Klicksonar, mit dem sie die Laute dicht am Ohr erzeugt, so dass sie vom Boden nicht abgelenkt und versprengt werden. Die Echos modellieren die Welt, leuchten diese wie ein Stroboskop aus. Auf fünf bis zweihundert Meter kann Aaron Größe und Dichte von Objekten definieren und erhält ein grob gepixeltes Bild.

Wie eine Fledermaus oder ein Delphin.

Anfangs konnte sie es selbst nicht glauben. In der Rehaklinik gab es eine Frau, die schon lange blind war und täglich kam, um den Patienten in den ersten verzweifelten Wochen zur Seite zu stehen. Sie ging mit Aaron im Park der Klinik spazieren. Blieb stehen, schnalzte mit der Zunge und sagte: »Rechts sind sechs Bäume. Sehr hoch und dick. Buchen, Kastanien oder Eichen. Links zwei, aber kleiner, vielleicht Platanen.« Aaron dachte, die Frau will sie verulken. Doch ein Arzt, der vorbeikam, war nicht verwundert und bestätigte es. »Allerdings sind es keine Platanen, sondern junge Birken.«

Die Frau schnalzte erneut und tippte Aaron an. »Da drüben steht ein Haus. Ich schätze in hundert Metern. Und circa zwanzig Meter vor uns parkt ein Auto.«

Stimmte auch.

Aaron wusste: Das muss ich können.

Späterblindete erlangen darin selten die Meisterschaft. Aber Aaron hat trainiert wie besessen, so wie sie alles nur auf diese Weise vermag.

Ihr erstes Erfolgserlebnis war die Gasse zwischen zwei Klinikgebäuden, die sie zuerst am Luftzug erkannte und dann hörte. Aarons Schnalzen prallte von den Hauswänden ab, schwirrte hin und her, zu ihr zurück, bis der Schall sich ein zweites Mal brach. Sie erforschte die Gasse und stieß gegen den Container, den sie geortet hatte. Ha!

Das Klicksonar käme ihr in Nikos Beisein albern vor. Soll er sie für Flipper halten?

Sie bleibt stehen. »Lass mich erst eine rauchen.« Niko ahnt sicher nicht, wie lange sie gebraucht hat, um mit der Flamme so selbstverständlich die Zigarette zu treffen und dabei locker auszusehen.

Er fragt: »Wie ist es beim BKA

»Gut. Und bei dir?«

»Viel Papierkram.«

Klar. Darum sitzt auch die Makarov an deiner Hüfte. Für das Schmuckstück spricht ein gutes Argument: der extrem geringe Abzugswiderstand.

Er lässt seine Augen nicht von ihr. Sie wendet den Kopf in die andere Richtung. »Ich hol das Auto«, sagt er.

»Okay.«

Als sie sicher ist, dass er sie nicht mehr hören kann, schnalzt sie, ein Power-Klick mit offenen O-Lippen. Aaron lokalisiert einen Lichtmast. Oder zwei? Links eine massive Säule. Werbung? Belüftung? Rechts steht ein Bus, laufender Motor, johlende Schulklasse, Wortfetzen, skandinavische Sprache.

Das, was Niko Sehen nennt, ist auch nur ein Echo aus Licht. Darum sieht er den Lichtmast, die Säule, den Bus, die Schüler.

Jetzt ist sie also in Berlin. Woher weiß sie das? Weil der Pilot gesagt hat: »Wir beginnen den Landeanflug auf Schönefeld«? Weil einer aus einem vorbeifahrenden Auto pestet: »Leck mir am Schuh, ick krieg die Motten mit die Parkplätze«? Wiesbaden, das sind die stillen Flure im BKA, auf denen sie anfangs dachte: Bin ich hier allein? Frankfurter Grüne Soße in der Kantine, Kinderlachen auf dem Spielplatz hinter ihrem Haus, das Rattern der Nerobergbahn. Von den Städten, in die sie reist, bleiben die Texturen der Hände, die sie geschüttelt hat, die Gewürze im Essen, der Ruf eines Muezzin, der andere Klang der Polizeisirenen, ein Windstoß auf einem riesigen Platz. Das sind für sie London, Kairo, Paris. Und Berlin? Ein warmes, atmendes Fell, das sich an sie kuschelt, ein Aufschrei in der Nacht, aber auch manchmal fast glücklich gewesen zu sein.

Sie will sich an Nikos Gesicht erinnern. Schafft es nicht.

Er fasst sie am Arm. Ist plötzlich wieder da.

Stadtautobahn nach Norden. Aaron konzentriert sich auf das Geräusch der Scheibenwischer, die den Schnee wegschieben. Sie versucht, ihren Herzschlag mit dem konstanten, gleichförmigen Intervall zu synchronisieren.

Ich bin dir für vieles dankbar, doch am meisten dafür, dass du in Barcelona nie allein an meinem Bett warst. Ich hätte das Schweigen zwischen uns nicht ertragen. Du hast mir mit keinem Wort einen Vorwurf gemacht. Aber ich werde mich für immer schämen, abgrundtief.

Bis zu meiner letzten Stunde.

Kein Angehöriger der Abteilung ließ je einen verwundeten Kameraden zurück.

Nur sie.

Mit einem Einzigen konnte sie darüber sprechen.

Ihr Vater war der Wichtigste, seit sie denken konnte. Ist das nicht bei allen Mädchen so? Später wurde er ihr Lehrmeister, dann ihr Ratgeber, Vertrauter. Lange Jahre sahen sie einander nur selten. Das genügte. Sie waren verbunden durch vieles, aber eins durch das Wissen, wie lang der Bruchteil einer Sekunde ist.

Jörg Aaron. GSG-9-Urgestein. 18. Oktober 1977, 23.45 Uhr, Baracke des Flughafens Mogadischu. Kanzler Schmidt hat das Go zur Stürmung der »Landshut« gegeben. Oberst Wegener steht vor der Truppe und fragt: »Wer geht zuerst rein?«

Zehn Mann treten einen Schritt vor.

Jörg Aaron noch einen.

Er ist es, der auf der rechten Tragfläche den Notausstieg aufstößt und die ersten beiden Terroristen erschießt.

Fünfzehn Jahre an vorderster Front. Später Kommandeur der GSG 9. Duzfreund von Jitzchak Rabin. Großes Bundesverdienstkreuz. Legende.

Auf jeder beruflichen Station sah sie die Blicke.

Das ist also die Tochter von Jörg Aaron.

Im Krankenhaus war er der Erste, der ihre Hand hielt. Sie fütterte, badete und in seinen Armen wiegte, wenn sie weinte. Der dafür sorgte, dass das Fenster im dritten Stock sich nicht mehr öffnen ließ.

»Ich bin fortgerannt. Ich habe Niko einfach seinem Schicksal überlassen.«

»Du hattest Angst, das ist normal.«

»Wie soll ich damit leben?«

»Denk nicht mehr daran.«

»Sag es.«

»Du lernst wieder Aufstehen und Einschlafen. Essen, Trinken, Atmen. Es wird viele Tage geben, gute Tage, an denen du es vergisst. Aber los wirst du es nie mehr.«

Ihn fragte sie: »Wie sehen meine Augen aus?« Weil sie wusste, er würde ihr die Wahrheit sagen, schonungslos.

»Perfekt und wunderschön.«

Der beste Satz aller Zeiten.

Nach einer Woche war sie vernehmungsfähig. Zwei Beamte der Internen saßen in Barcelona an ihrem Bett. Sie waren wie alle anderen, denen sie über die Jahre Rechenschaft ablegen musste. Buchhalter, in deren Protokollen es kein Adrenalin gibt, keine Todesangst, keinen Schmerz.

Ihr Vater bestand darauf, dabei zu sein. Sie wagten nicht, es ihm zu verweigern.

Er war Jörg Aaron.

Sie lasen ihr Nikos Aussage vor: »›Ich hatte eine Kugel in der Milz, eine in der Lunge. Jenny konnte mich nicht bewegen. Sie war unter Beschuss. Traf die richtige Entscheidung.‹«

»Frau Aaron, bestätigen Sie diese Darstellung?«

Die Frage war nicht kompliziert. Sie wollte auch darauf antworten. Nur wusste sie nicht, was.

»Frau Aaron?«

»Ja.«

Wie oft sie über dieses »Ja« nachgedacht hat. Irgendwann redete sie sich ein, es hätte »Ja – können Sie die Frage bitte wiederholen?« bedeutet und nicht: »Ja, so war es.« Aber das »Ja« blieb in den Akten als Zustimmung.

»Sie hatten es mit drei Gegnern zu tun. Zwei hatten Sie bereits ausgeschaltet. Ist das korrekt?«

»Ja.« So hatte man es ihr gesagt.

»Es war Ihnen gelungen, an eine Schusswaffe zu gelangen.«

»Ja.«

»Frau Aaron, Sie gehören zur Abteilung. Sie wurden im Combatschießen und in vier Nahkampftechniken ausgebildet, sind außergewöhnlich stressresistent und haben sich in Extremsituationen ausgezeichnet. Sie konnten den dritten Mann nicht eliminieren?«

Sie hätte die Wahrheit sagen müssen: dass sie sich nicht erinnert. Sie weiß, dass sie noch einmal zu Jordi, Ruben und Josue zurückblickt, ehe die Hallentür sich schließt. Das nächste Bild ist, dass sie vor dem Lagerhaus liegt und sich nicht rühren kann. Dass sie den kleinen Finger krümmt. Es irgendwie zum Auto schafft. Dass die Seitenscheibe platzt. Dass sie über die Autobahn fliegt, neben sich, wo Niko sein müsste, nur Geld.

Dass sie den Audi im Rückspiegel sieht und weiß: vorbei.

Ein Blick, ein Schuss. Vorbei.

»Vom Lagerhaus bis zum Tunnel müssen Sie den Berechnungen zufolge vier Minuten gebraucht haben. Trifft das zu?«

Die Stimme ihres Vaters war wie ein Fingernagel auf einer Schiefertafel. »Denken Sie, meine Tochter hat auf eine Stoppuhr geschaut?«

»Es geht um Folgendes, Frau Aaron: Sie hätten das MEK und einen Notarzt anfordern müssen, spätestens im Auto. Warum haben Sie das nicht getan?«

Vier Minuten.

Sie rasten vorbei wie Sekunden und dauerten Jahrhunderte.

»Frau Aaron?«

Wieder sprang ihr Vater ihr bei. »Ich sage Ihnen was, Sie Komiker. Keiner von Ihnen ist je schwerverletzt mit Vollgas über eine dichtbefahrene Autobahn gerast und hatte einen Killer am Heck. Aus meiner bescheidenen Erfahrung kann ich Ihnen versichern: Dabei telefoniert es sich schlecht.«

Man bat Aaron zu unterschreiben.

Die Männer gingen. Die Hand ihres Vaters legte sich auf ihre. Sie fühlte sein Blut pochen. Sie sprachen nicht.

Aber er liebte sie.

Er hatte noch anderthalb Jahre bis zur Pensionierung und quittierte den Dienst, der alles für ihn war und doch nicht halb so viel wie seine Tochter. Er suchte für sie die Rehaklinik in Siegburg, nahe bei Sankt Augustin, wo ihr Elternhaus stand. Las ihr jeden Morgen aus der Zeitung vor, bevor er mit ihr arbeitete. Gab kein Pardon, wenn sie an den einfachsten Dingen scheiterte. Übte mit ihr Einkaufen und am Gewicht der Gabel zu erkennen, ob sie ein Stück Fleisch oder eine Kartoffel aufgespießt hatte, half ihr, das Schminken neu zu lernen, trieb sie bei allem an: Nochmal! Nochmal! Nochmal!

Wie oft ihr Mobilitätstrainer mahnte: »Sie wollen zu viel, Perfektion erreichen nur Geburtsblinde.«

Immer sagte ihr Vater: »Meine Tochter kann das!«

Auch im Umgang mit dem verhassten Stock triezte er sie, leider mit überschaubarem Erfolg. Bis heute beherrscht Aaron ihn nur mäßig, weil ihr Widerwille, sofort als Blinde identifiziert zu werden, zu groß ist.

Er büffelte mit ihr Braille und war ihr Versuchsobjekt, dem sie erwartungsvoll ihr erstes selbstgebratenes Steak servierte. Da wusste sie noch nicht, wie man Salz und Pfeffer unterscheidet, dass Salz beim Schütteln ein Geräusch macht und Pfeffer nicht. Als ihr Vater hustend krächzte: »Sehr lecker!«, mussten sie lachen wie zwei Irre.

Vor allem aber lehrte er sie, was das Schwerste war: Hilfe anzunehmen, zu akzeptieren, dass sie ihr Leben lang auf andere angewiesen sein würde und sie das nicht als Last empfinden dürfe, sondern als Notwendigkeit.

An dem Tag, an dem sie zum ersten Mal wagte, die Rehaklinik allein zu verlassen, gab es nur ein Ziel: zu ihm. Die halbe Nacht hatte sie sich auf den Augenblick gefreut, in dem er die Tür öffnen und sie ihn überraschen würde. Aaron wusste, dass er zuhause sein würde, weil ein Freund ihn besuchen wollte. Sie war so stolz, als sie den richtigen Bus nahm und sich nach dem Aussteigen an den erlernten Leitlinien orientierte, sich wie in der Kindheit von Gerüchen und Lauten führen ließ und endlich wusste: Ich bin daheim.

Sie ertastete die Pforte, hörte Gemurmel. Wurde gebeten, zur Seite zu treten. Männer gingen mit einer Last vorbei. Die raue Stimme des Freundes ihres Vaters drang zu ihr: »Ich bin’s, Butz.«

Er war umgefallen nach dem Satz: »Den Whiskey hat mir der Innenminister zu meinem Ausstand geschenkt.« Sie wird nie darüber hinwegkommen, dass sie sich nicht von ihm verabschieden und ihm sagen konnte, dass sie ohne ihn tot wäre.

Der Verkehr fließt zäher, sie nähern sich dem Dreieck Funkturm. Aaron merkt an Nikos Atem, dass er sie immer wieder anschaut. Sie richtet ihre Augen direkt auf seine. Er lenkt sich ab. Beschleunigen, bremsen, beschleunigen.

»Das mit deinem Vater tut mir leid.«

Sie nickt nur.

Niko diente unter ihm. Hatte sich nicht bewerben müssen, war von ihrem Vater unter tausend ausgewählt worden. Irgendwann ließ er Niko gehen, warum, behielt er für sich. Von keinem war er so enttäuscht wie von ihm, das spürte Aaron, wenn Nikos Name fiel. Dass sie beide ein Paar wurden, war für ihren Vater ein Schlag. Einmal fragte sie ihn, was damals zwischen ihnen vorgefallen war. Ihr Vater sagte nur: »Er ist ein Schiff, das seinen Eisberg sucht.«

Herzklopfen beendet die Erinnerung. Niko hat die Wischer ausgeschaltet. Er fährt vom Stadtring ab. »Die Vierte hat eine Abschrift der Akte in Braille für dich erstellen lassen.«

Mit der sie nichts anfangen kann. Aaron verflucht, dass sie sich letzten Freitag am Herd zwei Fingerkuppen verbrannt hat. Sie liest mit dem linken Zeigefinger, den wird sie noch mindestens eine Woche nicht gebrauchen können. »Du kennst die Fakten. Erzähl mir alles.«

Reinhold Boenisch, achtundfünfzig, lebenslänglich wegen vierfachen Mordes, seit sechzehn Jahren in Haft. Vorgestern ging eine Gefängnispsychologin kurz vor ihrem Feierabend in seine Zelle, weil er sie auf eine Tasse Tee eingeladen hatte.

Boenisch hat sie getötet und seitdem kein Wort gesprochen.

Außer diesem Satz: Ich rede nur mit Frau Aaron.