Barbi Marković
Roman
Mit Übersetzungen von Mascha Dabić
Residenz Verlag
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Salzburg — Wien
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ISBN ePub:
978-3-7017-4521-0
ISBN Printausgabe:
978-3-7017-1662-3
Mascha war die Stütze der Gruppe – seelisch und körperlich stets bereit für sämtliche Herausforderungen der Zauberei wie etwa Auslöschungen und Blitze, sattelfest in Magie wie auch im Sozialbereich, mit anderen Worten: eine Gottheit für all jene Menschen, die vom Pech verfolgt waren.
Direktorka kam als Letzte dazu. Sie war noch dabei, unsere Reichweite und ihre Grenzen auszuloten – und vielleicht barg gerade sie aufgrund ihrer Experimentierfreudigkeit das Potenzial für etwas Großes in sich.
Ich war Maschas erste Partnerin, Marijas Enkelin. Enttäuscht vom Leben, mit einem dehnbaren Gewissen. Bilanz zu ziehen hatte mir schon immer Vergnügen bereitet.
Was machst du, wenn eine wütende, senile Hausfrau wie Marija dir den Fluch der Taube schickt? Alles, was sie von dir verlangt! Marija erlangte ihre Bedeutung erst, nachdem sie nach Belgrad gezogen war, in den Moloch.
Rabija war die halbierte Frau aus Maschas Vergangenheit gewesen. Eine Frau mit einer Mission und telepathischen Fähigkeiten, von denen wir nur träumen konnten. Hatte sie möglicherweise die Ereignisse vorhergesehen?
Das rotzige Kind war ein Waisenkind aus der Berliner Vorstadt, von Geburt an mit überdurchschnittlich entwickelten mentalen und paranormalen Fähigkeiten ausgestattet. Sein Äußeres war keineswegs furchterregend, aber hey, ganz Berlin zitterte vor ihm.
Keine von uns hatte jemals gelernt, ein normales, menschenwürdiges Leben zu führen. Überall waren wir von Mist und Misstrauen und Taubenscheiße umgeben. Alles war schrecklich. Viele waren verkatert. Die Welt war unbarmherzig. Die Menschen klebten am ganzen Körper vor Angstschweiß. Kopfweh und Schwindel und Kälte und jeden Tag zuviel Straßenpizza mit Tabasco. Das hätte alles sein können, aber wir waren entschlossen.
Druckfehler, Änderungen und Irrtümer vorbehalten.
Etwas Unerwartetes war passiert, und unsere Leben waren danach nicht mehr dieselben. Der entscheidende Tag war ein Samstag im Sette Fontane. Heute weiß ich, wie alles ausgegangen ist, und kann daher einiges aus unserer Vergangenheit erklären und unsere Gewohnheiten beschreiben. Ich spreche über Städte und darüber, was man in ihnen sehen konnte, in dem Jahr, als Rabija starb, das rotzige Kind auftauchte und ich den Sommer in Belgrad verbrachte, um Erbschaftsangelegenheiten zu regeln. Ich spreche auch darüber, wie ich mich zwei Jahre später mit meinen Freundinnen in Wien traf, in der Stadt unserer Wahl, um unser eingespieltes Samstagsritual zu vollführen. Was ich jetzt weiß, aber damals nicht wissen konnte, ist, dass wir alle drei geheime Motive hatten und dass wir, jede auf ihre Weise, vor allem im Sinn hatten, dem depressiven Zustand, in dem wir uns schon seit Jahren befanden, ein Ende zu bereiten. Es war ein Zustand, der uns zu Frauen unserer Zeit machte, zu Hauptstädterinnen, die ein schlechtes, zum Teil allergisches Verhältnis zur Natur pflegten. Wir kannten das Leben nur aus der städtischen Perspektive und leider zählten wir nicht zu denen, die in ihrer Kindheit Schweineblut in Eimern aufgefangen hatten. Häufig unterzogen wir Städte einem Vergleich, weil die Wahl des Wohnortes für uns eine große Freiheit und eine fürchterliche Verantwortung bedeutete. Jede von uns hatte bis zu dem entscheidenden Samstag mindestens einmal im Leben das Land gewechselt und die Konsequenzen dieser Entscheidung getragen. Eine relative Armut war unser kleiner Fluch. In Übereinstimmung mit der üblichen Rollenverteilung in einem Freundschaftsdreieck und den drei einzigen Möglichkeiten, mit Problemen fertigzuwerden (zu sterben, den Aufenthaltsort zu wechseln oder etwas zu verändern), verlangte jede von uns nach einer eigenen Intervention. An jenem Tag sprachen wir alle ausweichend und pokerten jede gegen jede, dann wieder eine mit der anderen gegen die Dritte, um unsere jeweiligen Ziele zu erreichen. In der Geschichte, die ich erzähle, triumphiert am Ende das produktive Prinzip der dritten Freundin und Retterin und die ganze Sache kulminiert in einem neoliberalen Roboterselftrackerastronautenhappyend.
Natürlich hat jeder das Recht auf seine eigene Meinung. Alles, was ich beschreibe, ist normal und logisch. Menschen fallen auseinander und tun seltsame Dinge. Das liegt daran, dass jeder irgendeine Schwäche hat sowie eine Vorstellung davon, was ihm helfen könnte.
Schon lange verfügten wir über geschärfte Sinne zur Vermeidung von Wiener Hundekot. Teenagerinnen wurden Mütter, die Internetplattformen baten die Menschen darum, ihnen ein Detail über ihre Präferenzen und Gewohnheiten zu verraten, und wir drei kannten weiterhin niemanden in der Stadt, der gestorben war, und fühlten uns nicht eingeengt, sondern beklommen. Wir fürchteten, der Wind könnte uns davontragen.
Bis zum Schluss deutete absolut nichts darauf hin, dass alles gut ausgehen würde. Die schlechten Vorzeichen waren allgegenwärtig. Auf dem Weg zum Siebenbrunnenplatz stieß ich an der Treppe auf einen Kotzfleck mit einem Durchmesser von einem halben Meter und dachte, dass nun die Zeit für Veränderungen gekommen war. Zumal mitten in der gelben Säure eine Taube stand und aß. Da die Masse flüssig war, warf die Taube von Zeit zu Zeit den Kopf nach hinten, um besser schlucken zu können, und von ihrem Gesicht ließ sich ablesen, dass sie glücklich war, während sich von meinem Gesicht ablesen ließ, dass ich nicht glücklich war. Dabei fiel mir ein, dass die Städte uns immer wieder kauten und ausspuckten; und wir zogen unermüdlich um, vergrößerten unsere Reichweite. Es fiel mir auch ein, dass die Tauben auf die gleiche Weise herumflogen, ständig auf der Suche nach schmutzigen Terrassen mit vollen Mistkübeln, von denen niemand sie mit einem Besen verjagen würde, darüber hinaus hegten sie sogar die Hoffnung, dass ein einsamer und kranker Mensch im Ruhestand ihnen erlauben würde, ein Nest unter seinem Bett zu bauen. Die Menschen vergifteten die Vögel, jagten sie mit spitzen Nadeln in die Flucht und bestraften all jene, die Tauben fütterten. Immer wieder passierte es mir, dass vor mir aus irgendeinem Loch eine todkranke Taube herausgekrochen kam.
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Wie dem auch sei, als ich die widerliche Szene auf der Treppe beobachtete und mir sagte, dass die Zeit reif war für Veränderungen, da dachte ich an ganz bestimmte Veränderungen.
An diesem Samstag hatten wir, so wie jeden Samstag in den zwei Jahren davor, ein Treffen im Café Sette Fontane am Siebenbrunnenplatz vereinbart. Es war März in Wien, und aufgrund des Sonnenmangels waren unsere Gesichter weiß wie die Wand. Die Depressionen rissen uns in Stücke, zerrten an uns und nagelten uns am Boden fest. Wir waren zu nichts zu gebrauchen. Obwohl, wie ich glaube, zwischen uns echte Freundschaft herrschte, begannen wir das Gespräch nicht mit Berichten über unseren jeweiligen inneren Zustand. Die Samstagstreffen im Sette Fontane drehten sich nicht um schlichtes Kaffeetrinken, Lachen, Weinen und den Austausch von privaten Informationen. Es waren ernstzunehmende Arbeitssitzungen, die strengen Konventionen und einer klaren Tagesordnung folgten. Wir begannen um etwa zehn Uhr morgens, wobei Direktorka immer fünf Minuten und Mascha zehn Minuten zu spät kam. Direktorkas fünfminütige Verspätung war einer Machtdemonstration innerhalb der Gruppe geschuldet (eine Folge ihres Komplexes), während Maschas zehn Minuten nichts anderes bedeuteten als ihren aufrichtigen Versuch, rechtzeitig anzukommen. Nachdem Mascha durch unzählige Stationen ihres voll ausgebuchten Universums gerast war, stürmte sie außer Atem herein, entschuldigte sich und holte eine riesige Menge an Material heraus, an dem sie im Laufe der letzten Woche gearbeitet hatte. Ein Blick auf ihre beeindruckende Datensammlung ließ jegliche Kritik an ihrer Verspätung im Keim ersticken. Wir waren uns der Verantwortung, die mit unseren besonderen Fähigkeiten einherging, bewusst. An jenem Samstag legte jede von uns ihren Stapel Fotos, Zeitungsausschnitte und Notizen auf den Tisch. Es konnte losgehen.
Im Café Siebenbrunnen an der Ecke Reinprechtsdorfer Straße servierten die Kellner den Gästen ein Putenschnitzel mit Nudeln für 7,50 €. Die Mistkübel riefen den Passanten zu: Host an Tschick? Bau keinen Mist! Für sämtliche Fragen bezüglich Mülltrennung stand den Bürgern das Misttelefon zur Verfügung. Den Menschen wurde geraten, sich auf das Leben einzulassen. Ein Ziel zu finden. Wenigstens ein Ausflugsziel. Eines von den 68 Topzielen in Niederösterreich. Zum Glück war alles einfach, dank Mobiltelefonie, Internet und Fernsehen. Die Bürger rappelten sich auf und nahmen am Bildungsvolksbegehren teil, aus Angst, Österreich könnte sitzenbleiben. Jede Unterschrift zählte. Der Siebenbrunnenplatz befand sich im Bezirk Margareten. Man trank Zipfer Bier, schon seit 1858. Man aß frische Gans mit Rotkohl und Knödel um 16,80 €. Man aß hausgemachte Mehlspeisen und trank Schaumwein mit Honigmelone. Zipfer war wie ein Glas heller Freude. Die Leute aßen Torte und Tiramisu und lasen Ankündigungen für Konzerte von Halid Bešlić und der alten Band Crvena Jabuka, und sogar für das Megakonzert von Lepa Brena, powered by ichliebeautos.com. Der allerwichtigste Medienpartner für die Konzerte der Folk-Stars aus dem ehemaligen Jugoslawien war jedoch die Zeitschrift für die Diaspora, Kosmo. Host an Tschick?, stand auf dem Mistkübel. Ein Händler kaufte gebrauchte Ware. Er rief die Wiener dazu auf, ihm alles zu bringen, das sie nicht mehr benützen konnten. Man tat besser daran, sich auf Fußball einzulassen als auf Rassismus. An der Ecke Kohlgasse saßen in kleinen, verrauchten Kabinen Menschen wie Lilis Sohn und spielten interaktive Spiele. In den Kabinen wurden sie von Kameras gefilmt. Personen unter 18 Jahren durften nicht hinein. Wenn die Spieler im Zuge ihrer Teilnahme an den interaktiven Spielen mit Verlusten konfrontiert wurden, rauchten sie, und wenn sie keine Zigaretten mehr hatten, konnten sie bei einem nahegelegenen Automaten welche kaufen. Auf jeden Fall bestand die Chance, dass sich das Rauchen am Ende als tödlich erweisen würde. Der Zigarettengeschmack änderte sich nicht, im Unterschied zum Design. Die Raucher schoben ihre Karten in die Automaten und bezahlten mit Münzen und Geldscheinen. Hier zahle ich, sagte ein zufriedener Supermarktkunde. In der Nähe jenes Ortes, an dem die Dinge sich zum Besseren gewandt hatten, hatte Amir seinen Namen auf einen Mast geschrieben. Das Management des Supermarkts veranlasste die Lieferanten, die Lieferverbotszeiten zu beachten und Lärm zu vermeiden. Die Zeiten waren traurig, und viele Menschen nahmen unter der Woche ausschließlich mittels Fernsehen am gesellschaftlichen Leben teil. Der Kurier war die echte Zeitung, die grausame Wirklichkeit. Die Billa-Filiale war videoüberwacht. Lange Finger hatten kurze Beine. Die Ware war elektronisch gegen Diebstahl gesichert. Alles war gesichert. Die Einkaufswagen warnten die Käufer: »Wir müssen drinnen bleiben!« Die Kunden, die das Vertrauen des Supermarkts genossen, hatten die Gelegenheit, der Epiphanie der extremen Billa-Qualität beizuwohnen, nämlich am Beispiel des Schweinsbratens ohne Knochen, gewürzt und backrohrfertig. Durch die Adern des Supermarkts floss grüner Strom, der aus der makellos sauberen österreichischen Wasserenergie stammte. Die Filiale dachte nachhaltig, scheute keine Verantwortung und bemühte sich, ihren Billa-Standards gerecht zu werden. Sie rief die Bürger auf, ihre Traumkarriere zu starten. Einige wollten Leiter der Delikatessenabteilung werden. Am 11. November war der Tag des Apfels. Vom Konsumenten wurde erwartet, den Feiertag des Apfels durch den Kauf eines ganzen Eimers Äpfel zu begehen. Knackige frische Äpfel, rote und Golden Delicious. Vor dem Geschäft befand sich ein Parkplatz für Hunde. Alles wurde immer besser und besser. Robert Sommer stellte in diesem Jahr sein Buch über die Armen vor, in dem stand, dass die Armen ohnehin schon am Rande wären, und dass sie, wenn sich nichts änderte, für immer am Rande bleiben würden. Robert Sommer war Autor, Gründer der Straßenzeitung Augustin und Co-Initiator des ersten offenen Bücherschrankes im Bezirk Margareten. Freier Eintritt. Spenden willkommen. Jeder, der wollte, konnte sich ein Buch nehmen. Der Bücherschrank befand sich im türkischen Restaurant Mimoza am Siebenbrunnenplatz. Manche wollten nicht im Restaurant sitzen, also packten ihnen die Angestellten ihre Mahlzeit in Alufolie und weiße Styroporschachteln ein, ungeachtet dessen, ob sie etwas Flüssiges, wie etwa eine Suppe, oder etwas Festes, wie eine gebratene Hühnerkeule mit Kartoffeln und Reis, mitnehmen wollten. Auf dem Platz spielte sich der ewige Kampf zwischen Amor und blankem Hass ab. Alles wurde immer besser und besser. Die Menschen mussten bis zu ein Jahr lang keine Kontospesen bezahlen. Das war ein typisches Angebot der Bank Austria. Eine Bank, die ihren Kunden ein Erfolgskonto versprach und Karten mit unterschiedlichen Motiven zur Verfügung stellte. Willkommen bei der Bank Austria. Das Leben war voller Höhen und Tiefen, aber die Bank war da für die Menschen, die ihre Kunden waren. Die Kontoführung war ein Jahr lang gratis, und das galt für alle neu eröffneten Erfolgskonten. Ausnahmen gab es. Das typische österreichische Leben, gelebt vom typischen Mann, Max Mustermann. Die Bank Austria schenkte ihm zum Beispiel ein gratis Konto für ein Jahr. Eine solche Großzügigkeit war typisch für Wien, typisch für die Bank Austria. Das Leben war voller Höhen und Tiefen. Die Bank belagerte ihre Kunden. Alles wurde immer besser. Host an Tschick?, fragte der Mistkübel. Der Siebenbrunnenplatz wurde videoüberwacht, zur Sicherheit der Bürger. Das Geld war im Umlauf. Für nur dreißig Euro konnte der österreichische Bürger einem Blinden in der dritten Welt das Augenlicht zurückgeben. Die Bewohner Wiens wussten, dass sie alles in der Hand hatten und dass sie keinen Mist bauen durften. Wien war anders als die anderen Städte. Die Menschen hatten sich mit dem Verbot herkömmlicher Glühbirnen einverstanden erklärt, weil sie Gut von Böse und Richtig von Falsch unterscheiden konnten. Dennoch wussten sie, dass ausgebrannte Energiesparlampen ihnen zu Lebzeiten gute Dienste erweisen, aber als Abfall nichts als Kopfzerbrechen bereiten würden. Helle Birnen entsorgten richtig. Viele wollten die Atomenergie hinter sich lassen. Sie kämpften für den Austritt Österreichs aus Euratom. Eine Familie suchte in der ganzen Stadt ihren sibirischen Husky. Der Hund war gestohlen worden, er hatte ein blaues und ein kastanienbraunes Auge sowie eine Narbe unter dem blauen Auge. Ballspielen war auf dem Platz verboten. Die Ware war gut. War alles zufällig? Host an Tschick?, fragte der Mistkübel den Passanten, und dieser hatte alles in der Hand, und er bemühte sich, keinen Mist zu bauen.
Ich hatte schon immer den Eindruck, dass unsere Kräfte auf eine gewisse Weise dark waren. Ich konnte mir selbst die Frage nicht beantworten, ob unser Pessimismus eine Folge dieser Kräfte war oder ob, im Gegenteil, unsere Kräfte in den finstersten, von Teer überzogenen Untiefen unserer pessimistischen Seelen entstanden waren, als Geschenke des Schicksals. Von Idealismus ließen wir uns nur bis zu einem gewissen Grad leiten. Wir übten den Blitz und die Auslöschung deshalb aus, weil wir es konnten. Wir waren einsam und gaben uns Mühe, unsere Selbstachtung zu retten. Einmal hatte mich ein Bekannter gefragt, warum meine Gedanken so schwarz waren, warum ich in unangenehmen Erinnerungen herumwühlte und warum ich so finster war, und ich hatte ihm geantwortet: »Eines Morgens um fünf Uhr musste ich auf der Kreuzung Reinprechtsdorfer Straße und Arbeitergasse das Glück an ein rotziges Kind verkaufen, und zwar für wenig Geld. Und wenn ich jetzt ansetze, etwas zu sagen, dann kommt nur der Blues aus mir heraus.« Das rotzige Kind wirkte eigentlich in einer anderen, viel größeren Stadt als Wien, aber das war ja nicht von Belang. Im Grunde stimmte die Aussage. Außer diesem Urpessimismus, diesem Gefühl, das sagt, dass nichts jemals gut wird, hatten wir drei noch etwas gemeinsam, nämlich unser Interesse für verfehlte Biografien und für das Scheitern. Direktorka hatten wir auserwählt, als wir wegen des kosmischen Gleichgewichts und der Akkumulation von Macht eine Dritte in der Gruppe brauchten. Ihre Empathie ließ sie aus allen anderen Kandidaten herausstechen. Im Gespräch mit ihr merkten wir, dass sie in der Lage war, in sehr kurzer Zeit und mit einem Minimum an Informationen abzuschätzen, was die Menschen in ihrer näheren Umgebung quälte. Sie wusste, ob sie Zahnschmerzen hatten oder dachten, ihr Oberteil stünde ihnen nicht gut, ob ihre Katze gestorben oder sie selbst gekränkt oder krank waren. Sie war unfehlbar, wenn auch eine Autodidaktin.
Ich weiß noch, wie wir alles (außer den Textilblumen, die angeklebt waren) vom Tisch räumten, damit der Kellner genug Platz hatte, um drei ovale Tabletts aus Blech mit drei Kaffees und drei großen Gläsern Wasser abzustellen. Er brachte uns jeweils ein großes Glas Wasser, weil er unsere Gewohnheiten schon kannte. Er wusste, dass wir im Laufe einiger Stunden im dunklen Kaffeehaus am Siebenbrunnenplatz ein oder zwei Getränke zu uns nehmen würden, und außerdem dachte er, dass unser Lebensstandard niedrig sei, so wie bei den meisten Gästen des Sette Fontane. Er war wahrscheinlich der Meinung, dass wir nicht viel verdienten, und er hatte recht. »Wir essen zu Hause«, sagten wir, obwohl uns niemand danach gefragt hatte. Wir waren mit wertlosen Fähigkeiten ausgestattet, und deshalb brachte uns nichts, was wir tun wollten und konnten, genug Geld ein. Auf der Rangliste der Menschen standen wir nicht besonders weit oben. Wir machten wirklich widerliche Dinge, um zu überleben. Man konnte uns alles Mögliche nachsagen, nicht jedoch, dass wir das Leben nicht kannten. Das Leben kannten wir in schlechtem Licht, wie den Körper eines kranken Klienten, den wir schon oft gebadet und an- und ausgezogen hatten. Wir hatten Erfahrung und wir hatten die Nase voll. Mascha begann. Sie holte ein Blatt Papier mit ihrem Vorschlag aus einer Klarsichthülle und gab es uns zu lesen. Ich musste verkehrt herum lesen, weil ich ungünstig saß: »Heute Abend denken wir an Alfred, der 54 Jahre alt ist und vor kurzem seine Arbeit verloren hat. Alfred war mehr als 20 Jahre bei einem Arbeitgeber angestellt, und jetzt hat er kaum Chancen, eine neue Arbeit zu finden. Richten wir unsere Gedanken auf ihn, am Mittwoch um 18 Uhr, und helfen wir ihm, sich zu sammeln und weiterzugehen.«
Manche Menschen sind schlicht aus besserem Material hergestellt. Sie haben weißere Zähne. Sie werden seltener krank. Mascha hatte mir und Direktorka vieles voraus. Sie lief schneller und kletterte höher. In magischen Unternehmungen ging sie einen Schritt weiter. Um innerhalb unserer Gruppe nicht herauszustechen, hielt sie sich zurück. Sie verheimlichte, dass sie über zusätzliche Kräfte verfügte, wie etwa die Visionen, die sie heimsuchten, seit sie in Rabijas Sarg geschaut und gesehen hatte, wie Rabijas Körper zwischen seiner Sichtbarkeit und dem Nichts flatterte. Gelegentlich war sie auch imstande, Gedanken zu lesen, was uns im Nachhinein, als wir davon erfuhren, ihr Verhalten bei unserem entscheidenden Treffen im Sette Fontane erklärte. Mascha verstand sich darauf, im Leben zwischen dem Wichtigen und dem Unwichtigen zu unterscheiden. Sie setzte nicht auf Schönheit, sondern auf Gesundheit. Sie schminkte sich nie. Bei unserem Treffen im Sette Fontane kam sie als Letzte hereingelaufen und ließ sich auf die samtüberzogene Bank fallen. Zuvor hatte sie noch heimlich nach den Gutscheinen in ihrer Hosentasche getastet. Aber dazu komme ich später. Sie wusste, dass wir an diesem Tag nicht produktiv sein würden, und offenbar wusste sie, was folgen würde, deshalb gab sie sich gar keine Mühe mit ihrem ersten Vorschlag. Ich wiederhole den Vorschlag: »Heute Abend denken wir an Alfred, der 54 Jahre alt ist und vor kurzem seine Arbeit verloren hat. Alfred war mehr als 20 Jahre bei einem Arbeitgeber angestellt, und jetzt hat er kaum Chancen, eine neue Arbeit zu finden. Richten wir unsere Gedanken auf ihn, am Mittwoch um 18 Uhr, und helfen wir ihm, sich zu sammeln und weiterzugehen.«
Unsere Reaktion fand sie belustigend, weil sie alle ihre Erwartungen bestätigte, aber sie lachte still in sich hinein. Geduldig wartete sie, dass ein Teil von dem geschah, was für diesen Tag vorgesehen war. Sie hörte sich nicht alles an, was wir sagten. Indessen machte sie sich für die Intervention bereit. Schon seit Monaten hatte sie gewusst, dass dieser entscheidende Samstag genau so stattfinden würde, und deshalb hatte sie sich voll darauf konzentriert, ein entsprechendes Script zu verfassen. Nach der Intervention blieb sie kühl und berechnend. Mascha war kein Kind des Glücks, sondern ein Kind des Überlebens. Sie plante die nächsten Schritte. Im Rahmen der vorgegebenen Grenzen stand sie über dem Leben.
Die Texte unserer Sonntagskolumne in der Zeitschrift Astroblick hatten stets einen religiösen Beigeschmack. Sie erinnerten an Gruppengebete von Laien, was ihnen bei den Lesern zusätzliche Popularität verschaffte. Der Krieg hatte Mascha schon als Kind nach Österreich katapultiert, an die Peripherie Österreichs, was in weiterer Folge dazu führte, dass sie beim Schreiben den herablassend-verächtlichen, passiv-aggressiven, wohltätigen katholischen Tonfall souverän beherrschte. Diese besondere Art der Kommunikation und den dazugehörigen Lifestyle hatte Mascha der Religionslehrer beigebracht, der Mann, der sich als Einziger bereit erklärt hatte, dem sprachlosen Mädchen in den ersten Monaten im neuen Land Deutsch-Nachhilfe zu geben. Direktorka und ich kamen über Mascha zum Kolumnenschreiben, für die das nur einer ihrer hundert Jobs war, und wir gaben uns ebenfalls Mühe, uns an die vorgegebenen Stilformeln zu halten, und inzwischen gelang es uns auch bis zu einem gewissen Grad. Naturgemäß fielen unsere Texte sprachlich nicht so sauber und ausgefeilt aus wie jene von Mascha. Ich kann mich noch erinnern, dass die Texte, die ich oder Direktorka ablieferten, anfangs nichts anderes als einen Alptraum für den Lektor von Astroblick darstellten. Er beklagte sich, die ungewöhnlichen Fehler würden ihn, den Lektor, in der Logik seiner eigenen Sprache erschüttern, wodurch er in seinem Beruf Schaden erleiden würde.
Doch unsere Tätigkeit als Gruppe beschränkte sich nicht auf die Texte, die wir wöchentlich in Astroblick publizierten. Das Handwerk, das wir unter dem Deckmantel einer esoterischen Kolumne in Wahrheit ausübten, ließ sich nicht in einer Schule erlernen. Vielmehr handelte es sich um ein Wissen, das unter äußerst improvisierten Bedingungen von einer Generation an die nächste weitergegeben wurde. Während mir meine Kenntnisse teils bewusst, teils unbewusst in meiner Belgrader Kindheit von meiner Großmutter Marija hineingestopft worden waren, zu deren Spezialgebiet im übrigen auch die Tauben gehört hatten, hatte Mascha ihr Wissen ebenfalls in ihrer Kindheit unter großen Mühen von ihrer wahnsinnigen Nachbarin Rabija in Sarajevo erworben. Rabija war eine unbarmherzige Pädagogin gewesen, und Mascha eine begabte Schülerin. Am besten beherrschte Mascha den Blitz des Schicksals. Nicht minder gut stand es um ihre Kunstfertigkeit in der verrufenen Praxis der Auslöschung. Meine Kraft, die schwächer, unberechenbar und finster war, erforderte die Kontrolle durch die Gruppe. Direktorka hatte sich uns mit einigermaßen entwickelten telepathischempathischen Radaren angeschlossen, allerdings war sie noch immer unsicher und unerfahren, trotz ihrer großen Begabung und der vorhandenen Bereitschaft, sich ihrem Handwerk zu widmen. Die Kolumne, die eine Tarnung für unsere paranormalen Aktivitäten darstellte, hatten wir, in Anlehnung an die gleichnamige magische Technik, Blitz des Schicksals genannt.