Matthias Dohmen
Geraubte Träume,
verlorene Illusionen
Westliche und östliche Historiker
im deutschen Geschichtskrieg
Bibliografische Information
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D 61
Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades
der Philosophie (Dr. phil.) durch die Philosophische Fakultät
der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf u. d. T.:
Der Kalte Krieg und die Geschichtswissenschaft in den
1950er- und 1960er-Jahren. Die deutsche Arbeiterbewegung
des Jahres 1923 in ausgewählten Darstellungen aus der DDR
und der Bundesrepublik
Betreuer: Prof. Dr. Bernd-A. Rusinek M. A.
Zweitgutachter: Prof. Dr. Horst A. Wessel Düsseldorf, Juli 2014
Impressum
Originalausgabe 2015 / 2. Auflage
© Matthias Dohmen
Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency
© 110th / Chichili Agency 2016
EPUB ISBN 978-3-95865-750-2
MOBI ISBN 978-3-95865-751-9
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Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in
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Einleitung
1. Kapitel
Das »Schicksalsjahr«
2. Kapitel
»Die Stunde Nichts«
3. Kapitel
Die Historiker kämpfen weiter
4. Kapitel
Der Streit um die »Lehren«
5. Kapitel
Der »kalte Geschichtskrieg«
6. Kapitel
Das »Ende« des Kalten Krieges oder
Das neue Nachdenken über einen Sozialismus
Zusammenfassende Bemerkungen
Anhänge
Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen
Im Text erwähnte respektive zitierte Historiker
Quellen- und Literaturverzeichnis
Stichworte
Marxistisch/nichtmarxistisch
Arbeiterregierung
FDJ
Kulturbund
Antikommunismus
Das Buch, über das zu reden ist, eine Geschichte der Weimarer Republik in der Form von Biographien, ist vor rund zehn Jahren im Primus-Verlag, einer Gründung der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, erschienen. Ihr Autor, Friedrich-Christian Stahl, war ein renommierter Archivar und Militärhistoriker, darin nicht ungeübt, seine Worte mit Bedacht zu wählen. Gleichwohl ist in seinem Beitrag über eine der beherrschenden Gestalten des deutschen Militärs der Zwischenkriegszeit, den antidemokratischen Vordenker Hans von Seeckt, von der »verworrenen Lage« die Rede, in der sich 1923 »das Reich nach der Ruhrkrise, den Aufständen in Sachsen und Thüringen sowie der nun aufkeimenden völkischen Bewegung« befand1. Friedrich-Christian Stahl, Offizier in der alten Wehrmacht und der neuen Bundeswehr, war von 1967 bis zu seiner Pensionierung 1980 Leiter des zum Bundesarchiv gehörenden Militärarchivs in Freiburg.
Nicht nur Franzosen, Belgier und natürlich die Deutschen haben Ruhrkrise und Ruhrbesetzung beschäftigt und aufgewühlt. Die rechtsnationalistische Bewegung unternahm im Herbst jenes Jahres ihre – nach dem Kapp-Putsch – zweite ernstzunehmende Generalattacke auf den demokratischen Staat, aber Aufstände in Sachsen und Thüringen hat es nie gegeben. Sie gehören in das Reich der Legende, und zählebig scheinen sie auch zu sein, dienten sie schließlich schon im Jahr der angeblichen Existenz dieser Insurrektionen zur Rechtfertigung einer Militäroperation gegen die von SPD und KPD gebildeten »Landesarbeiterregierungen«.
Aufstände im Sinne von bewaffneten Erhebungen, auch Unruhen haben, jedenfalls in Sachsen und Thüringen, nicht stattgefunden, sogar in Hamburg nur in einem sehr eingeschränkten Sinne. Gleichwohl schrieb noch 2006 Ulrich Kluge über »kommunistisch gesteuerte Unruhen in Sachsen und Thüringen«. Sie nämlich »boten den Demokratiegegnern in Bayern einen willkommenen Anlass, gegen die Reichsregierung mobil zu machen«2. Bemerkenswert an dieser Veröffentlichung, die mehr als 90 Jahre nach den Ereignissen erschien, ist, dass die »Unruhen« jetzt schon als Rechtfertigung der völkischen Mobilisierung dienen beziehungsweise wahrgenommen werden.
1 Friedrich-Christian Stahl, Hans von Seeckt, in: Michael Fröhlich (Hrsg.), Die Weimarer Republik. Portrait einer Epoche in Biographien, Darmstadt: Primus 2002, S. 85-95, hier S. 92. Hervorhebung nicht im Original.
2
Ulrich Kluge, Die Weimarer Republik, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, S. 78.
Überhaupt: Wie wurden die Vorgänge des Jahres 1923, das von der französischen Ruhrbesetzung, einer Inflation ungekannten Ausmaßes, einer handfesten politisch-parlamentarischen Krise und einer allgemeinen Verunsicherung, schließlich einer neuen Situation für die Arbeiterbewegung des jungen demokratischen Staates geprägt war, wie also wurden diese Vorgänge in den beiden deutschen Staaten während der 1950er- und 1960er-Jahre historiographisch aufgearbeitet? Dienten sie nicht in erster Linie als Demonstrationsobjekt dafür, wie – in dem einen Fall – glorios die DDR aus der Geschichte gelernt hatte oder – die konkurrierende Version – wie verhängnisvoll ein in letzter Instanz auf sozialistische Veränderung zielendes Zusammengehen von SPD und KPD sein musste?
Was den Historikern, die, wie wir sehen werden, in einer langen und nur eingeschränkt gebrochenen, dann zur Disposition stehenden und schließlich wieder auflebenden Tradition der 1950er- und 1960er-Jahre stehen, Recht ist und was wir, pars pro toto, an einem Verdikt von Friedrich-Christian Stahl exemplifiziert haben, das ist den publizistischen Leitmedien wie dem »Spiegel« billig. In der Rubrik »Eines Tages« der Onlineausgabe des Hamburger Nachrichtenmagazins hieß es im September 2013: »Ein Land im Wahn: Im Herbst 1923 schien die Weimarer Republik am Ende«. Ereignisse, die zehn Jahre später erfolgen sollten, kühn vorausnehmend, hieß es wörtlich: »Aufgepeitscht von den Sorgen des Alltags marodierten Kommunisten und Rechtsradikale durch die Straßen der Großstädte und lieferten sich Straßenschlachten.« Und zwei Sätze weiter: »Kommunisten und Rechtsradikale« (ein offenbar feststehender Topos, den die Leser sich merken sollen) »witterten angesichts der aufgepeitschten Stimmung ihre Chance, die verhasste Republik ein für alle Mal aus dem Weg zu schaffen«3.
Um Versuche, historische Vorgänge für politische Aussagen zu instrumentalisieren, zu beschreiben, hat sich in den letzten Jahren der Begriff »Geschichtspolitik« durchgesetzt. Dann dient die Geschichte »als Steinbruch für höchst unterschiedliche Zwecke«, wie Klaus Schönhoven schreibt4. Das gilt in herausragender Weise für die Historiographie der DDR hinsichtlich ihrer Er- träge zur Weimarer Republik, aber auch für die Historiographie in der (alten) Bundesrepublik. Sie gegenüberzustellen bedeutet nicht, sie gleichzusetzen: Der Mannheimer Emeritus hat zweifellos Recht, wenn er feststellt, »dass in pluralistischen Gesellschaften immer verschiedene Geschichtsdeutungen miteinander konkurrieren«5, was hinwiederum nicht bedeuten muss, dass es in Bezug auf bestimmte Fragen und bestimmte Zeiten keinen main stream der Aussagen gibt, also etwa in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre zu den Ereignissen des »Schicksalsjahres« 19236.
Als »Meistererzählung« der DDR kann Wilhelm Ersils 1963 erschienene Untersuchung zum »Sturz« der Regierung Cuno im August 1923 gelten. Der ihm vorangehende Generalstreik fand »insgesamt gesehen bislang noch nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit und detaillierte Beleuchtung«, heißt es in der Einleitung7. Das, was in den 1920er Jahren geschah, lässt der Autor mit eschatologischer Zwangsläufigkeit auf die DDR zulaufen. Er beruft sich auf größere Zusammenhänge und zitiert aus dem Programm der SED: »Die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft stellen der deutschen Arbeiterklasse die geschichtliche Aufgabe, im Bündnis mit der werktätigen Bauernschaft und den anderen werktätigen Schichten in Deutschland die kapitalistische Ausbeuterherrschaft für immer zu beseitigen und den Sozialismus zum Sieg zu führen«8. Historiographie hat hier den Zweck nachzuweisen, dass die KPD unentwegt an der Spitze dieses »Kampfes« stand.
Zu dieser Strategie der Darstellung gehört auch eine scharfe Frontstellung gegen die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und deren »verräterische Spaltungspolitik«9. Schließlich und endlich vermitteln die historischen Vorgänge angeblich unverzichtbare Erkenntnisse für die Auseinandersetzung zwischen Ost und West und sogar noch für den »Kampf« in der Bundesrepublik, und zwar, weil »das Studium dieser Massenbewegung wichtige Lehren für das gegenwärtige Ringen um die Lösung der nationalen und sozialen Frage des deutschen Volkes vermittelt«10. Daran anschließend heißt es bei Ersil: »Die damals gemachten Kampferfahrungen sind noch heute bedeutsam und geben wichtige Hinweise, wie der Kampf um die Einigung der verschiedenen Abteilungen des Proletariats und um demokratische Zustände in Westdeutschland geführt werden muss.«11
3
www.spiegel.de/einestages/notstand-in-bayern-1923-a-951270.html <29.4.2014>. Das in spitze Klammern gesetzte Datum bezeichnet den Tag, an dem letztmalig die entsprechende Internetseite aufgerufen wurde.
4
Klaus Schönhoven, Geschichtspolitik: Über den öffentlichen Umgang mit Geschichte und Erinnerung, Bonn: Historisches Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung 2003, S. 4.
5
Ebda., S. 7.
6
So bei Waldemar Besson 1963: »Das Jahr 1923, so hat man gesagt, sei das Schicksalsjahr der Republik gewesen.« Siehe: Waldemar Besson, Friedrich Ebert. Verdienst und Grenze, Göttingen/ Berlin/Frankfurt am Main: Musterschmidt 1963, S. 85.
7
Wilhelm Ersil, Aktionseinheit stürzt Cuno. Zur Geschichte des Massenkampfes gegen die Cuno-Regierung 1923 in Mitteldeutschland, Berlin: Dietz 1963, S. 9.
8
Ebda., S. 5 f.
9
Ebda., S. 7.
10
Ebda., S. 9.
11
Ebda.
Die Darstellung Ersils entsprach zweifellos den Vorgaben der SED, von Zentralkomitee und Apparat der Partei sowie der DDR-Historikergesellschaft. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass die Ergebnisse der ostdeutschen Geschichtsschreibung in Bausch und Bogen inkriminierungswürdig, verdammenswert und ohne Belang wären, wie es Hans-Ulrich Wehler suggerieren möchte, der noch zu Beginn dieses Jahrhunderts schrieb, über die Entwicklung in Ostdeutschland brauche man »nur wenige Worte zu verlieren, da unter den Trümmern der verblichenen DDR auch der Großteil ihrer Historiographie end- gültig begraben« sei – bei der »mit riesigem Aufwand betriebenen Forschung zur Arbeiterbewegung« handle es sich »fast ausschließlich um eine pseudowissenschaftliche Hagiographie«12. Ilko-Sascha Kowalczuk ging noch weiter. In seinem Rückblick auf die DDR-Historiographie behauptete er: »Es gibt nur wenig zu bewahren. Die DDR-Geschichtswissenschaft ist eine historische Fußnote«13. Derartige pauschale Dicta verkennen, dass sich – in unterschiedlichem Maße – die Geschichtsschreibungen im Westen und im Osten Deutschlands, wie zu zeigen sein wird, gegenseitig beeinflusst haben. In einem Auf und Ab: Zeitweise nahm man im Westen die Ergebnisse der DDR-Historiographie nicht zur Kenntnis, zumal die Geschichte der Arbeiterbewegung nie ein Herzstück der Forschungen in München und Bonn, Berlin (Westberlin) und Köln war. Der ostdeutsche sozialistische Staat »rächte sich« durch die pauschale Diskreditierung der westlichen Wissenschaftler als »NATO-Historiker«.
Es ist die Sicht des Kalten Krieges, die an diesem Punkt durchschlägt, dessen Ende zwar allgemein mit dem Jahr 1989 oder auch 1990 datiert wird, der jedoch offensichtlich fortwirkt. Auch insofern, als eine Reihe maßgeblicher Historiker und Kulturwissenschaftler überzeugt ist, die DDR, ihre Wissenschaftler und Künstler hätten nichts von Wert hinterlassen.
Wehler und sein Verdammungsurteil über die historiographische Literatur der DDR wurden bereits angeführt. Bei Romanen und Erzählungen, Gedichten und Novellen soll es nicht anders gewesen sein. Jüngst erschien eine Untersuchung von Werner Fuld, dessen Erscheinen von einem lebhaften Echo begleitet war. So beschäftigte sich das Deutschlandradio ausführlich mit dem Autor, und die »Süddeutsche Zeitung« bedachte das Werk mit einer ausführlichen Kritik14.
Befragt, ob nicht doch »die Stücke von Heiner Müller, die Romane von Christa Wolf, die Bücher von Franz Fühmann, die Gedichtbände von Sarah Kirsch« Literatur seien, sagte der studierte Literatur- und Kunsthistoriker – vor allem Walter-Benjamin-Kenner -, der für die FAZ und die »Zeit« gearbeitet hat: »Die Zensur, durch die diese Texte gegangen sind, bringt eine ganz bestimmte Art von Literatur hervor, und die ist nicht vergleichbar mit der Literatur, die zur gleichen Zeit in anderen westeuropäischen Ländern erschienen ist. Sie ist eindimensional und sie kann natürlich ganz bestimmte Probleme nicht behandeln, und sie kann ganz bestimmte Formen nicht annehmen.«
Deswegen verdiene sie nicht den Namen Literatur. Auf die Autorin des »Geteilten Himmels« angesprochen, lautete sein Urteil kategorisch: »Ich kenne überhaupt keinen, der heute noch Christa Wolf oder was ähnliches liest.« In der »Süddeutschen Zeitung« las man im Rahmen einer durchaus würdigenden Kritik, im Kapitel über die Zensur in der DDR verliere der Autor »völlig die Kontenance«.
Bürgertum und Bürgerliches, selbstbewusste Kirchenmänner und -frauen, kritische Regungen in den so genannten Blockparteien der DDR: Das hat es nicht gegeben, oder es wird nicht zur Kenntnis genommen. In einer bitteren Bilanz hat der 2009 verstorbene Kirchenhistoriker, Hochschullehrer, Journalist und CDU-Politiker Günther Wirth folgende Bilanz gezogen: »Da gab es nur die Nacht über der DDR, in der alle Katzen grau sind, und das heißt, dass jegliche soziale, weltanschauliche und (eingegrenzt) politische Differenzierung der Bevölkerung der DDR außen vor blieb.«
Wirth spricht ausdrücklich von der Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung. »Nach diesem Welt- und Geschichtsbild gab es nur die diktatorisch Herrschenden und die Unterdrückten, dazwischen höchstens Dissidenten, und weder die einen noch die anderen wurden nach ihren Profilen und Signaturen untersucht.« Groteskerweise decke sich dieses Bild mit dem der »Herrschenden in der DDR – nur gleichsam seitenverkehrt«15.
10
Ebda., S. 9.
11
Ebda.
12
Hans-Ulrich Wehler, Historisches Denken am Ende des 20. Jahrhunderts. 1945-2000, Göttingen: Wallstein 2001 (= Essener Kulturwissenschaftliche Vorträge, 11), S. 43.
13
Eine Fußnote? Irgendeine Fußnote? Nein, »[...] eine historische Fußnote, über die es auch in Zukunft lohnen wird, zu forschen und Bücher zu schreiben«. Ilko-Sascha Kowalczuk, Legitimation eines neuen Staates. Parteiarbeiter an der historischen Front – Geschichtswissenschaft in der SBZ/ DDR 1945 bis 1961, Berlin: Links 1997 (= Forschungen zur DDR-Geschichte), S. 348. Es handelt sich um den letzten Satz des Buches.
14 Werner Fuld, Das Buch der verbotenen Bücher. Universalgeschichte der Verfolgten und Verfemten von der Antike bis heute, Berlin: Galiani 2012. – Die Rezension in der »Süddeutschen« aus der Feder von Jörg Magenau erschien am 10.5.2012 auf S. 14. Das Gespräch des Journalisten Frank Meyer wurde in DLF/Kultur am 19.4.2012 gesendet und steht im Internet unter www.dradio.de/ dkultur/sendungen/kritik/1737604 <7.1.2013>. Die folgenden Zitate sind diesem Interview und der angeführten Buchbesprechung entnommen.
15
Günther Wirth, Bürgertum und Bürgerliches in SBZ und DDR. Studien aus dem Nachlass, Berlin: epubli 2011, S. 7. Er fährt fort: »Darnach waren die einen die Sieger der Geschichte [...]«, ebda.
Ohne großes Federlesen wird der SED-Führung ex post das von ihr seinerzeit wortgewaltig beschworene Monopol auf sozialistisches Denken zuerkannt. Ignoriert werden dabei beachtenswerte und – in der Tradition von Diskussionen in der Novemberrevolution und den Jahren bis 1923 stehende – Sozialismusvorstellungen sowohl in der unmittelbaren Nachkriegszeit als auch während des Kalten Krieges, für die DDR-seitig die Namen Klaus-Peter Hertzsch, Rudolf Schottlaender und Gert Wendelborn stehen sollen. Wurden sie bis 1990 noch von einem kleinen Teil der Öffentlichkeit wahrgenommen und waren sie in beiden deutschen Staaten publizistisch tätig, scheinen sie nun aus der Zeit gefallen.
Gab es in den 1970er und den 1980er Jahren sowohl in der Historiographie als auch in der Politik deutliche Bestrebungen, sich mit der DDR kritisch-konstruktiv auseinanderzusetzen, scheint dies im Nachhinein überflüssig und obsolet geworden zu sein. So spricht der in der deutschen Hauptstadt angesiedelte renommierte Verlag Wolf Jobst Siedler im vorderen Klappentext eines auch im Osten Deutschlands vertriebenen Buchs von Lothar Steinbach betulich-herablassend von »unseren ehemaligen Brüdern und Schwestern«16.
Ein kompetenter Kenner der sächsischen SPD, der Zeithistoriker Karsten Rudolph, hat sich kürzlich über eine deutsch-deutsche Zeitgeschichtsschreibung beklagt, »welche die Systemauseinandersetzung nicht selten in die gemeinsame Vergangenheit hinein verlängerte«17.
16
Lothar Steinbach, Bevor der Westen war. Ein deutsch-deutscher Geschichtsdialog, Berlin: Siedler 2006. Der Autor (nicht sein Verleger) spricht auf S. 22 polemisch vom »schneidenden Tonfall westdeutschen Dünkels« der DDR-Historiographie gegenüber.
17
Karsten Rudolph, Linke Republikaner als streitbare Demokraten – Gedanken zur mitteldeutschen Geschichte. Erich Zeigner, die SPD und der »deutsche Oktober«, in: Bernhard H. Bayerlein/ Leonid G. Babičenko/Fridrich I. Firsov/Alexandr Ju. Vatlin (Hrsg.), Deutscher Oktober 1923. Ein Revolutionsplan und sein Scheitern, Berlin: Aufbau 2003 (= Archive des Kommunismus – Pfade des XX. Jahrhunderts, 3), S. 65.
Nämlich die gemeinsame mitteldeutsche Vergangenheit: Die sozialdemokratischen Landesregierungen Sachsens und Thüringens hingen in den 1920er Jahren Vorstellungen an, »die später unter dem Begriff ›Demokratischer Sozialismus‹ lose zusammengefasst wurden«18.
»Das Jahr 1922 wurde in Thüringen zum Jahr der großen Reformen. Ihr Kernstück war die Schulreform des Volksbildungsministers Max Greil (USPD). Sie zielte auf die Entkirchlichung, Republikanisierung und Vereinheitlichung des Schulwesens und erstrebte die Aufhebung der krassen sozialen Trennung im Bildungswesen.« Erstmals in Deutschland »wurde die Ausbildung der Volksschullehrer universitär geregelt, die Prügelstrafe verboten, der Einfluss der Kirche in der Schule zurückgedrängt«. Neue Lehrbücher und Lehrpläne sollten »den Einfluss der Arbeiterschaft zur Geltung bringen«, umreißt Steffen Kachel in seiner 2011 erschienenen Untersuchung das einem demokratischen Sozialismus verpflichtete Programm19.
Volksschullehrerinnen und Volksschullehrer sollten – für Theodor Litt ein rotes Tuch – an die Universitäten: »Eine ›Schulreform‹ – schrieb der 1923 nach Jena berufene Psychologe Wilhelm Peters 1921 – stehe und falle mit einer ›Reform der Lehrerbildung‹.« »Beides – Schulreform und Neuordnung der Lehrerbildung
– entsprach den Forderungen der damaligen ›Einheitsschulbewegung‹, die ihre Hoffnungen vor allem auf Thüringen und Sachsen richtete.«20
Von den beiden mitteldeutschen Ländern, die in der Zeit der DDR einer groß angelegten Länder- und Kommunalreform zum Opfer fielen, gingen wichtige Impulse für ganz Deutschland aus: »Die Greilsche Schulreform in Thüringen oder die sächsische Reform der Gemeindeverfassung besaßen für die sozialdemokratische Politik in der ganzen Republik Vorbildcharakter und zogen links- republikanische Reformpolitiker aus dem ganzen Reich an.«21 Dahinter stand die Absicht, »die 1919 steckengebliebene Revolution unter den Bedingungen der parlamentarischen Demokratie im Landesmaßstab gleichsam nachzuholen« – der sozialdemokratischen Führungsgruppe in Sachsen und Thüringen ging es darum, »die Republik in ihrer schweren sozialen und politischen Nachkriegskrise energisch gegen ihre Feinde von rechts mit dem Versuch zu verteidigen, die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung zu überbrücken«22.
Vor allem die – oftmals vorschnell als paramilitärisch beschriebenen – Proletarischen Hundertschaften sind in der im Kalten Krieg produzierten Literatur, aber auch bis in die jüngste Zeit als sinnfälliger Beweis für die problematische Stellung Sachsens und Thüringens im Verfassungsgefüge der Weimarer Republik angeführt worden. Sie entstanden jedoch aus der Befürchtung heraus, dass rechtsradikale und völkische Kräfte von Bayern aus – wie in den Tagen des Kapp-Putsches von Berlin aus – die Republik aufrollen könnten.
Klagen über gefährliche Umtriebe der Freikorps finden sich überreichlich etwa im Nachlass des langjährigen preußischen Innenministers Carl Severing. So hat die Regierung in Dresden in einem Schreiben vom 4. Januar 1923 an die Reichsregierung über die »zweideutige Haltung des Reichswehrministeriums und des Auswärtigen Amtes in Bezug auf die Selbstschutzorganisationen und des Versteckens von Waffen hingewiesen und dringend um Abstellung gebeten«23. Nachdrücklich, aber ohne Ergebnis.
Im »Scharnierjahr« 1923 vertrat die sächsische Regierung den Standpunkt, den sie mehrfach gegenüber dem Reichspräsidenten artikulierte, dass die Proletarischen Hundertschaften dann überflüssig würden, wenn die Weimarer Regierung die »rechtsradikalen Angriffsformationen« auflöse. Das Gewaltmonopol blieb eindeutig beim Staat, mochten dies Politiker der KPD auch anders sehen oder wünschen24.
Den Hundertschaften, die man durchaus als Vorläufer auch des SPD-dominierten Republikschutzverbandes Reichsbanner sehen kann25, kam eher eine ordnungsstabilisierende Rolle zu, was jedoch Historiker in Ost und West nicht hinderte, ihnen entweder einen Glorienschein umzuhängen oder sie als Schreckgespenst zu benutzen: »Auf dem platten Land, insbesondere in Ostsachsen, fungierten die von der DDR-Historiographie mythologisierten, zu Vorläufern der Betriebskampfgruppen stilisierten, von der westdeutschen Geschichtsschreibung dagegen dämonisierten ›roten Arbeiterwehren‹ als Ordnungsdienst, der hemmungslose Flur- und Felddiebstähle unterband.«26
Den »Beweis« für die Bedrohung der Weimarer Demokratie durch die KPD sehen sowohl zeitgenössische wie Nachkriegshistoriker im so genannten Hamburger Aufstand, der in der DDR-Historiographie ein wechselndes Schicksal durchlief und dessen Planung wie sein Ablauf heute als weitgehend geklärt betrachtet werden können. Es soll in dieser Arbeit untersucht werden, wie an diesem Punkt glorifiziert und missdeutet worden ist respektive bis in die jüngste Zeit glorifiziert und missdeutet wird.
18
Beate Häupel, Die Gründung des Landes Thüringen. Staatsbildung und Reformpolitik 1918-1923, Weimar/Köln/Wien: Böhlau 1995, S. 118, zit. nach: Karsten Rudolph, Linke Republikaner (Anm. 17), S. 72.
19
Steffen Kachel, Ein rot-roter Sonderweg? – Sozialdemokraten und Kommunisten in Thüringen 1919 bis 1949, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2011 (= Veröffentlichungen der Historischen Kom- mission für Thüringen. Kleine Reihe, 29), S. 162.
20
Traditionen – Brüche – Wandlungen. Die Universität Jena 1850-1995. Hrsgg. von der Senatskommission zur Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2009, S. 320.
21
Karsten Rudolph, Linke Republikaner (Anm. 17), S. 72.
22
Ebda., S. 72 f.
23
In dem Dokument wird auch die preußische Haltung problematisiert. Das Wort »Waffen« ist mit einem dicken Rotstift markiert. Siehe: Friedrich-Ebert-Stiftung/Archiv der sozialen Demokratie (Bonn), Nachlass Severing, Mappe 225.
24
Karsten Rudolph, Die sächsische Sozialdemokratie vom Kaiserreich zur Republik (1871-1923), Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 1995 (= Demokratische Bewegungen in Mitteldeutschland, 1), S. 356 f.
25
Für die SPD waren die Proletarischen Hundertschaften eine »bewaffnete Hilfspolizei« für den Fall eines bayerischen Einmarschs: »Diese rein defensiven Maßnahmen wurden von der bürgerlichen Rechten und der Reichswehr als Beweis angesehen, dass die sächsischen Sozialdemokraten völlig ins Fahrwasser der Kommunisten geraten waren.« Siehe: Carsten Voigt, Kampfbünde der Arbeiterbewegung. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und der Rote Frontkämpferbund in Sachsen 1924-1933, Köln/Weimar/Wien: Böhlau1995 (= Geschichte und Politik in Sachsen, 26), S. 56.
26
Karsten Rudolph, Die sächsische Sozialdemokratie (Anm. 24), S, 356. Ähnliches gilt für die Kontrollausschüsse, die sogar eine noch im Kaiserreich geschaffene Einrichtung bildeten. Ebda., S. 348. – Kontrollausschüsse wie Hundertschaften »standen voll im Einklang mit der Verfassung, denn sie erhielten ja keinerlei polizeiliche Funktionen, sondern beschränkten sich darauf, besondere Hilfsorgane der Arbeiterbewegung zu sein«, heißt es in einer zeitgenössischen Darstellung des nachmaligen Chefredakteurs der »Gewerkschaftlichen Monatshefte«. Siehe: Walter Fabian, Klassenkampf um Sachsen. Ein Stück Geschichte 1918-1930, Löbau: Ostsachsen-Druckerei (photomechanischer Nachdruck: Berlin: Die Arbeitswelt 1972), S. 133.
Die »Reichsexekution« im Herbst 1923, eine von der Reichswehrführung um den General von Seeckt, der Deutschen Volkspartei Gustav Stresemanns und dem Reichspräsidenten Friedrich Ebert vorbereitete und getragene Aktion, ist in der – bereits angerissenen – historiographischen Bewertung bis auf den heutigen Tag umstritten geblieben.
Die bitterste Bewertung stammt von Otto Braun, der in der Anwendung des Artikels 48 der Reichsverfassung von Anfang an ein »gefährliches Präjudiz« sah, das »für die Zukunft verhängnisvoll werden könnte«27 – und auch geworden ist:
»Es war bitter für mich, dass ich im Spätsommer 1932 nach der Reichsexekution gegen die preußische Regierung aus dem Munde Hindenburgs die Bestätigung der Richtigkeit meiner damaligen Auffassung vernehmen musste. ›Was wollen Sie‹, meinte er, ›Ihr verstorbener Freund Ebert ist ja seinerzeit gegen die sächsische Regierung viel schärfer vorgegangen als ich.‹«28 So musste die Anwendung des Notstandsparagraphen durch den sozialdemokratischen Präsidenten als Feigenblatt für den »Preußenschlag« herhalten.
Als bundesdeutsche »Meistererzählung« der Ereignisse des Jahres 1923 darf Otto Wenzels Dissertation von 1955 angesehen werden, die zur Zeit ihrer Entstehung aufgrund einer Intervention des Marburger Historikers Wolfgang Abendroth nicht veröffentlicht wurde und erst ein halbes Jahrhundert später von Manfred Wilke, der auch die Einleitung zur neuen Publikation schrieb, durch die Aufnahme in die Reihe »Diktatur und Widerstand« geadelt wurde29.
Wenzel, 1946 in die KPD beziehungsweise SED eingetreten, 1951 dann geflohen, habe, schreibt sein späterer Mentor, aus seiner »Lebenserfahrung« den »methodischen Ansatz für seine Dissertation« gewählt, die Wilke dann so zusammenfasst: »Wann begann die Fernsteuerung der KPD durch die Moskauer Zentrale? Für die Beantwortung dieser Frage bot sich das Jahr 1923 geradezu an, als die KPD sich auf dem Weg zur Macht wähnte«30. Zu welchen Ergebnissen Wenzel kam und wie seine Bewertungen vor der Folie des Kalten Krieges gesehen werden können, wird noch zu zeigen sein. So wie für die DDR das Jahr 1923 eine Art missglückte Premiere war, geriet es der Historiographie des Kalten Krieges zum Schreckgespenst einer kommunistischen oder gar sozialistisch- kommunistischen Revolution. Argumentationsmuster der Adenauer-Zeit kühn auf die Weimarer Republik übertragend, sprach Wenzel über die »Verfassungsfeindlichkeit« der KPD31.
27
Otto Braun, Von Weimar zu Hitler. New York: Europa-Verlag 21940, S. 133. »Mein Freund Ebert, dem ich das im Privatgespräch vorhielt, wollte das nicht gelten lassen.« Ebda.
28
Ebda.
29
Otto Wenzel, 1923. Die gescheiterte Deutsche Oktoberrevolution, Münster: Lit-Verlag 2003 (=Diktatur und Widerstand, 7). Die Dissertation trug ursprünglich den Titel »Die Kommunistische Partei Deutschlands 1923«. – In der genannten Reihe sind (Stand: März 2014) unter anderen folgende Werke erschienen: Kimmo Elo, Die Systemkrise eines totalitären Herrschaftssystems und ihre Folgen. Eine aktualisierte Totalitarismustheorie am Beispiel der Systemkrise in der DDR 1953, Münster/Hamburg 2005; Manfred Wilke, Die Streikbrecherzentrale. Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) und der 17. Juni 1953, Münster/Hamburg 2004; Michael Ploetz/ Hans-Peter Müller, Ferngelenkte Friedensbewegung? – DDR und UdSSR im Kampf gegen den NATO-Doppelbeschluss, Münster/Hamburg 2004; und Udo Baron, Kalter Krieg und heißer Frie- den. Der Einfluß der SED und ihrer Westdeutschen Verbündeten auf die Partei »Die Grünen«, Münster-Hamburg 2003. Siehe: fu-berlin.de/sites/fsed/veroeffentlichungen/reihen/diktaturund- widerstand/index.html <30.4.2014>.
30
Ebda., S. 2.
31
»Da die Partei 1919 mehrere Monate unterdrückt gewesen war und wegen ihrer verfassungsfeindlichen Tätigkeit jederzeit mit einem erneuten Verbot rechnen musste [...]«, ebda., S. 27.
Selbstverständlich gab es unterschiedliche Arbeitssituationen für Historiker der DDR und der Bundesrepublik, und sie waren vor allem in der DDR umso problematischer, je politiknäher die Themen lagen. Die SED achtete argwöhnisch darauf, dass »ihre« Politik, »ihre« Geschichte und »ihre« Traditionslinien »klassenmäßig« dargestellt wurden. Diese Herangehensweise hat viel dazu bei- getragen, dass die Ergebnisse der Geschichtswissenschaft im Osten Deutschlands westlich der Elbe wenn überhaupt, dann oft mit großen Vorbehalten entgegengenommen wurden.
Doch stieß auch in der DDR manches Werk aus dem Westen auf massive Vorbehalte. Die mit dem Beginn des Kalten Krieges aufkommende Gleichstellung von sozialistischer DDR und Drittem Reich löste bei vielen ostdeutschen Wissenschaftlern Verbitterung aus32.
Sie verstanden sich zu weiten Teilen als eine Generation, die von den Nationalsozialisten vertrieben und 1945 nach Deutschland zurückgekehrt war. In eigener Sache sprechend, hat der Faschismusexperte und 1990 als Lehrstuhlinhaber »abgewickelte« Kurt Pätzold festgestellt, dass »die Historiographie des deutschen antifaschistischen Exils bei der Konstituierung der Geschichtsschreibung in der Deutschen Demokratischen Republik eine Rolle spielte, mehr noch: eine ihrer Wurzeln darstellte«33.
Dort erschien in den 1950er und 1960er Jahren – oft aus der Feder sehr prominenter Historiker – eine ganze Reihe von Monographien zur Geschichte des Jahres 1923, darunter Werke von Wilhelm Ersil, Heinz Habedank, Günter Hortzschansky, Heinz Köller, Hans-Joachim Krusch und Manfred Uhlemann sowie, größere Zeiträume ins Auge fassend, Arnold Reisberg und Wolfgang Ruge, aber auch die gegen Ende unseres originären Beobachtungszeitraums erschienene achtbändige »Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« samt ihren begleitenden (überaus dienlichen) Veröffentlichungen wie »Dokumente und Materialien«, »Biographisches Lexikon« und »Chronik«.
Als »typisch« für die einschlägige DDR-Historiographie mag die Arbeit »Der nationale Verrat der deutschen Monopolherren während des Ruhrkampfes 1923« gelten: Kapitalismus und Anbindung an die USA seien zum Schaden, Freundschaft zur UdSSR zum Nutzen des gesamten deutschen Volkes, und die DDR sei die Verkörperung aller guten deutschen Traditionen, schließlich: die KPD setzt infolge ihrer »wissenschaftlichen Weltanschauung« die richtige Politik um... im Unterschied zur SPD.
In seinen zusammenfassenden Schlussbemerkungen schreibt der hochdekorierte und am Institut für Marxismus-Leninismus tätige Hortzschansky, die Ereignisse des Jahres 1923 lehrten34, »dass die Politik der ›Westorientierung‹, die Orientierung auf die imperialistischen Westmächte, nicht den Interessen des deutschen Volkes und der deutschen Nation entspricht«35. Die Politik der »reformistischen Führer der SPD« habe eine einheitliche Kampffront der Arbeiterklasse verhindert: »Aus dem Verrat der rechtsopportunistischen Führer der SPD und der Gewerkschaften, aus ihrem Verzicht auf den Kampf gegen den deutschen Imperialismus und Militarismus erwuchs ihr Verrat an der Nation.«36
Die Geschichte lehre, »dass die deutsche Arbeiterklasse unter der Führung der KPD am konsequentesten die Interessen der deutschen Nation vertrat«37. Und: Notwendig sei die Bändigung des BRD-Imperialismus und -Militarismus: »Gleichzeitig werden in diesem Ringen die Grundlagen für die friedliche Wiedervereinigung des deutschen Volkes auf demokratischer Grundlage geschaffen.«38 Bezeichnend ist das Schicksal einer Veröffentlichung von Heinz Habedank, der bei der Darstellung des Hamburger Aufstands, statt lediglich die Aussagen von Ernst Thälmann bis zu den Autoritäten der SED-Oberen zu illustrieren, »nicht benutzte Archivalien durchgesehen und Teilnehmer des damaligen Aufstands befragt« sowie den Überhistoriker Walter Ulbricht, ohne ihn beim Namen zu nennen, kritisiert hatte. Das Buch wurde in der »Zeitschrift für Geschichtswissenschaft« zuerst positiv bewertet, unmittelbar danach jedoch in einer
Sowjetischen Publikation verrissen, die 2. Auflage daraufhin eingezogen39.
32
Das setzte sich nach der Wende fort – oder nahm sogar einen kolossalen Aufschwung. Die Rolle der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist dabei nicht zu unterschätzen. So schrieb Petzold sieben Jahre nach dem Ende der DDR: »Das Hauptthema der vornehmlich durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Stiftung Volkswagenwerk finanzierten zeithistorischen Forschung in den neuen Bundesländern sollte sein, Vergleiche zwischen dem NS-Regime und der DDR an- zustellen. Das behinderte selbstkritische Reflexionen ehemaliger DDR-Historiker ungemein. Sie waren ihrem Selbstverständnis nach von antifaschistischen Positionen ausgegangen und hatten auch durchweg der Totalitarismustheorie widersprochen.« Siehe: Joachim Petzold, Politischer Auftrag und wissenschaftliche Verantwortung von Historikern in der DDR, in: Karl Heinrich Pohl (Hrsg.), Historiker in der DDR, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997 (= Kleine Vandenhoeck- Reihe, 1580), S. 94-112, hier S. 96 f.
33
Kurt Pätzold, Die Geschichtsschreibung in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in der Retrospektive – ein Diskussionsbeitrag, in: Gustavo Corni (Hrsg.), Die Mauern der Geschichte. Historiographie in Europa zwischen Diktatur und Demokratie, Leipzig: AVA 1996, S. 187-203, hier S. 188. Und weiter, S. 191: »Die Wissenschaftler, die sich gegen Ende der fünfziger Jahre zu jener Gruppe zu formieren begannen, die im eigentlichen Sinne und auf die frühen Wegbereiter folgend als Historikerschaft der DDR zu bezeichnen sind, wollten das nachfaschistische Deutschland mit- gestalten, und das stellten sie sich als sozialistische Gesellschaft vor. Die geschichtliche Tendenz [...] im westdeutschen Staat [...] galt ihnen als eine Fehlentwicklung und mit der Herausbildung des Kalten Krieges auch als eine Bedrohung [...].«
34
Ein Schlüsselwort von den 1920er Jahren bis 1990: Ständig wurden und werden »Lehren« gezogen, vermittelt und angewendet. Vielfach werden wir auf sie stoßen.
35
Promotion 1958 beim Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED: Günter Hortzschansky, Der nationale Verrat der deutschen Monopolherren während des Ruhrkampfes 1923, Berlin: Dietz 1961, S. 293.
36
Ebda., S. 294.
37
Ebda., S. 295.
38
Ebda., S. 298.
39
Martin Sabrow, Der staatssozialistische Geschichtsdiskurs im Spiel seiner Gutachterpraxis, in: ders. (Hrsg.), Verwaltete Vergangenheit. Geschichtsdiskurs und Herrschaftslegitimation in der DDR, Leipzig: AVA 1997, S. 35-65, hier S. 42 f., beleuchtet auch den weiteren Gang der Ereignisse, in die auch Albert Schreiner eingriff, ebda., S. 44.
SPD, quo vadis? Die Partei tritt uns immer wieder als einer der Hauptakteure entgegen: Am Beginn und am Ende der Weimarer Republik, vor allem aber – auf zwei Schultern tragend – im Jahr 1923, bei der Konstituierung des west- wie des ostdeutschen Staates, zum Start, auf dem Höhepunkt und am vorgeblichen Ende des Kalten Krieges. Für die erste deutsche Demokratie hat Heinrich August Winkler das »Dilemma« der SPD so beschrieben, dass sie »immer wieder« vor der Frage gestanden habe, »welchem Prinzip sie den Vorrang geben sollte: der Verpflichtung gegenüber dem wesentlich von ihr geschaffenen Staat oder der Bindung an die eigene ›Basis‹«40. Aber hat Winkler mit dieser Gegenüberstellung Recht? War denn dieser Staat schon so beschaffen, wie er von Philipp Scheidemann und Friedrich Ebert beschrieben worden war? Winkler: »Was es großen Teilen der Parteimitgliedschaft schwer machte, sich im Staat von Weimar wiederzuerkennen, hing aufs engste mit dem Ausgang der Revolution von 1918/19 zusammen: Sie hatte nicht das gebracht, was sich die Arbeiterschaft erhofft hatte.«41 »Und nicht nur die Kommunisten warfen der Sozialdemokratie vor, ihre ›Koalitionspolitik‹ sei Verrat am proletarischen Klasseninteresse; auch der linke Flügel der SPD, der nach der Wiedervereinigung im September 1922 wieder erstarkt war, hielt die Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien in jedem Fall für bedenklich«42.
Denn wo suchte und fand Gustav Stresemanns DVP ihren Platz im Weimarer Gefüge? Mitnichten verteidigte sie in ihrer Gesamtheit den Weimarer Staat.
»Der zeitweilige Koalitionspartner der SPD, die Deutsche Volkspartei, stand keineswegs fest auf dem Boden des parlamentarischen Systems: Im Herbst 1923 arbeitete ihr von schwerindustriellen Interessen beherrschter rechter Flügel darauf hin, die Demokratie durch eine auf die Reichswehr gestützte ›nationale Diktatur‹ abzulösen.«43 À la longue: Welche wichtige politische Kraft sah die Weimarer Republik nicht als vorübergehend an?
Zur Politik der Arbeiterparteien jener Jahre gibt es einen riesigen Bestand an Literatur und an Quellenveröffentlichungen, die infolge des ungebremst wach- senden Angebots im Internet, das nicht immer wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, ins quasi Unermessliche steigt. Nun ist der Reflex der Entscheidungen des Jahres 1923 in den historiographischen Arbeiten der Zeit des Kalten Krieges, die insofern zur Quelle werden, Thema der hier vorgelegten Arbeit. Gleichwohl, und um auch einen Blick hinter die Kulissen des Gedruckten zu werfen, hat der Autor Unterlagen aus dem Archiv des Verbandes der Historiker Deutschlands, das in Trier eine vorläufige Heimat gefunden hat, der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv mit Sitz in Berlin-Lichterfelde und des Archivs der sozialen Demokratie, das unverändert in der alten Hauptstadt West, Bonn, beheimatet ist, ausgewertet. Entscheidende Auseinandersetzungen zwischen den Historikern West und den Historikern Ost fanden nämlich auf der Bühne des VHD statt, wie man in dessen Akten, den Unterlagen der SAPMO oder des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich- Ebert-Stiftung nachlesen kann.
Führende Männer des VHD wie die Konservativen Aubin, Heimpel und Gerhard Ritter setzten früh, noch bevor der Kalte Krieg zur Gründung von zwei deutschen Staaten führte, auf Konfrontation zu einer marxistischen Methoden verpflichteten Geschichtsschreibung. Argwöhnisch wurde hinter den Kulissen der Kampf gegen die Markov, Jahnke, Klein und Kuczynski geführt. Der auf dem Historikertag in Trier als unrühmlicher Höhepunkt des innerdeutschen »Geschichtskrieges« erfolgte Bruch des Verbandes ist auch von bundesdeutscher Seite provoziert worden. Als Schreckgespenst galt Walter Markov und damit ausgerechnet jener Marxist, der schon früh seinerseits vor einem Monopol und davor gewarnt hatte, die Freiheit der Wissenschaft administrativ zu strangulieren: »Niemand wird den Wunsch hegen, den historischen Materialismus für seine Unterdrückung in anderen Teilen Deutschlands durch ein Monopol in der Ostzone zu entschädigen; es sei denn, dass er ihn vorsätzlich durch Inzucht ruinieren möchte.«44
40
Heinrich August Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924 (= Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts), Berlin: Dietz 21985, S. 12.
41
Ebda.
42
Ebda., S. 12 f.
43
Ebda.. S. 12. Und taucht diese schwerindustrielle Großwirtschaft nicht zehn Jahre später wieder auf? »Nicht nur die marxistisch-leninistische Forschung, sondern ein nicht geringer Teil der westlichen Historiographie vertritt seit langem die Ansicht, dass die Großindustrie einen entscheidenden Anteil am Aufstieg Hitlers zur Macht gehabt habe.« Siehe den Aufsatz von Wolfgang J. Mommsen in einem von Heinrich August Winkler mitherausgegebenen Werk: Wolfgang J. Mommsen, 1933: Die Flucht in den Führerstaat, in: Carola Stern/Heinrich August Winkler (Hrsg.), Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1990, Frankfurt am Main: Fischer 1994 (= Fischer-Taschenbücher Geschichte, 12234), S. 127-158, hier S. 143.
44 Walter Markov, Historia docet?, in: Forum. Zeitschrift für das geistige Leben an den deutschen Hochschulen, 1947, S. 8 f. Die Seitenangaben hier nach dem Wiederabdruck in: Walter Markov, Kognak und Königsmörder. Historisch-literarische Miniaturen, Berlin/Weimar: Aufbau 1979, S. 20.
Doch »Inzucht« und »Ruin« waren kaum zu stoppen. Zu den erschütterndsten Dokumenten in Trier zählt die »Spezialakte« über die Mittelalterhistorikerin Prof. Dr. Irmgard Höß, die früh in die Mühlsteine der deutsch-deutschen Auseinandersetzungen geriet und – ein exemplarisches Schicksal – in die Flucht getrieben wurde, wozu ihr als einer ultima ratio ein kommunistischer Kollege geraten hatte.
Manches Schriftstück aus der Sowjetischen Besatzungszone oder der DDR hat auf Umwegen seinen Platz im Archiv der sozialen Demokratie gefunden, vorzugsweise in den Akten des Ostbüros der SPD, das über enge Verbindungen zu Geheimdiensten und dubiosen Einrichtungen wie der »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« verfügte, die auch vor Sabotageakten in der SBZ nicht zurück- schreckte. Zahlreiche Dokumente, die an dieser Stelle gelagert sind, aber auch Artikel aus dem westlichen »Vorwärts« und dem östlichen »Neuen Deutschland« bezeugen die tiefen Verletzungen, die im Lauf der Jahrzehnte Kommunisten Sozialdemokraten und Sozialdemokraten Kommunisten beigebracht hatten.
Bei der Überfülle der historiographischen Arbeiten zum Thema lag ein Schwerpunkt – neben den Arbeiten über Conze, Schieder, Erdmann und Gerhard Ritter, die wichtige Rollen im Wissenschaftsbetrieb und im VHD spielten – bei den Erinnerungen von Geschichtswissenschaftlern wie der bereits erwähnten DDR-Historiker Jahnke, Klein, Kuczynski und Markov, aber auch von Wolfgang Ruge sowie ihrer in der Bundesrepublik wirkenden Kollegen Helga Grebing, des Niederlande- und Arbeiterbewegungsfachmanns Horst Lademacher und von Gerhard A. Ritter, den der flüchtige Leser bitte nicht mit Gerhard Ritter »ohne A« verwechseln möge (zumal beide zu unterschiedlichen Zeiten Vorsitzende des Verbandes der Historiker Deutschlands waren). Der guten Ordnung halber sei angeführt, dass der Doktorand vor vier Jahrzehnten eine bei Horst Lademacher geschriebene und mit »Gut« bewertete Magisterarbeit zum Thema »Die KPD im Jahre 1923 – Hauptelemente der Strategie und Taktik der Einheitsfront« an der Bonner Universität vorgelegt hat.
Die wie in allen Umbruchphasen tief greifenden Auseinandersetzungen der Historiker in West und Ost fanden vor dem Hintergrund einer politischen Agenda statt, in der sich »Meisterdenker« zu Wort meldeten, die oftmals quer zur politischen Großwetterlage standen, den Kalten Krieg, der früh einsetzte, nicht oder nur widerwillig mittrugen und deren Ideen in den 1980er Jahren reüssierten. Ein nichtkapitalistisches Gesamtdeutschland stand auf der Agenda nicht nur der aktiven Christen Walter Dirks und Eugen Kogon im Westen, son- dern auch der bereits erwähnten Klaus-Peter Hertzsch, Rudolf Schottlaender und Gert Wendelborn im Osten, die auch vor 1990, unverdrossen und Grenzen ignorierend, östlich und westlich der Elbe publizierten.
Wie der innerdeutsche »Geschichtskrieg«, so eine Formulierung des finnischen Historikers Seppo Hentilä, auf Intellektuelle einer Nation wirkte, die sich für neutral hielt, wird in einem kleinen Exkurs beleuchtet, der ein ungewohntes Licht auf bereits bekannte Vorgänge wirft. Finnland, dem im Kalten Krieg gerne eine zu große Nachgiebigkeit gegenüber der UdSSR und deren Lager und nicht selten ein schleichendes Abgleiten in die östliche Hemisphäre (Stichwort »Finnlandisierung«) nachgesagt wurde, hat von der Konkurrenz der beiden deutschen Staaten zu profitieren gesucht45.
In einem dieser beiden – sich jeweilig lange Zeit als provisorisch begreifenden Staatsgebilde lebten diejenigen Historiker, mit denen der Verfasser, über die Beschäftigung mit Quellen im weiteren und Quellen im engeren Sinne hinaus, kürzere oder längere Gespräche geführt hat: mit dem Wissenschaftshistoriker Dieter Hoffmann und mit Helga Schultz sowie mit Helga Grebing und Gerhard
A. Ritter. Sie waren teilweise über Jahrzehnte in der alten Reichshauptstadt tätig: Hoffmann und Schultz auf der östlichen, Grebing und Ritter auf der westlichen Seite der Mauer.
Die beiden Letztgenannten haben die Gründung der Freien Universität erlebt. Die Neuanfänge der Geschichtswissenschaft nach 1945 und vor allem in Berlin hat Gerhard A. Ritter als »einen großen Aufbruch empfunden«46. Diskutiert wur- de wie in allen »Scharnierjahren« über Sozialismus und Wirtschaftsdemokratie, Arbeiterräte und Basisdemokratie, die Verfasstheit der Republik, die »Mission« der Arbeiterparteien und die Einschränkung der Macht des großen Geldes.
Wie gehe ich vor, wie ist diese Arbeit aufgebaut?
Im Kapitel Eins finden sich, strukturiert, pointierte Aussagen von Historikern, aber auch von Politikern zum Jahr 1923, seiner Bedeutung für die Zeitgenossen und die Nachwelt, für die Arbeiterbewegung, für die »Reformländer« Sachsen und Thüringen. Schon hier wird deutlich, wie »1923« zum Gegenstand von Legenden und Lügen, vor allem aber von »Lehren« geworden ist, die bis auf den heutigen Tag von Bedeutung sind. Das bot sich an, weil die Fundstellen doch sehr verstreut sind und erst in der Kumulierung ihr Gewicht entfalten.
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Das finnische Dilemma und die Sicht des langjährigen Präsidenten Urho Kekkonen beschreibt Hentilä so: »Kekkonens Misstrauen war darauf zurückzuführen, dass die Politik der Bundesrepublik Deutschland aus finnischer Sicht der größte Unsicherheitsfaktor in Europa war. Der Präsident fürchtete vor allem, dass die Sowjetunion unter Hinweis auf die militärische Aufrüstung der Bundesrepublik Forderungen aufgrund des Beistandspakts erheben oder dass die Deutschland- frage eine internationale Krise auslösen könnte, in die auch Finnland hineingezogen würde. Das andere Deutschland, die DDR, war in den 1960er Jahren in Finnland auf andere Weise lästig. Die Ostdeutschen hefteten sich wie die Kletten an die Finnen und versuchten Finnland dazu zu bewegen, als erstes Land außerhalb des Ostblocks die DDR anzuerkennen. Besonders beun- ruhigend war aus finnischer Sicht die Vorstellung, dass die Sowjetunion Druck ausüben würde, um Finnland zur Anknüpfung diplomatischer Beziehungen mit der DDR zu zwingen.« Siehe: Seppo Hentilä, Neutral zwischen den beiden deutschen Staaten. Finnland und Deutschland im Kalten Krieg, Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag 2006 (= Schriftenreihe des Finnland-Instituts in Deutschland, 7), S. 10.
46
Interview mit Gerhard A. Ritter am 3.7.1999 in Berlin zum Thema: Neubeginn und Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft in den 1950/60er Jahren, siehe: web.archive. org/web/20010119115600/http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/beitrag/intervie/ritter.htm
<24.1.2013>.